Zusammenfassung
Die Idee des Sozialkontrakts als eines Vertrags, durch den alle Mitglieder einer Gesellschaft in einem vorpolitischen Zustand ursprünglicher Freiheit und Gleichberechtigung die Verfassung ihres künftigen Zusammenlebens einmütig beschließen, war über Jahrhunderte hinweg die vorherrschende Leitvorstellung, derer man sich zur normativen Rechtfertigung oder Kritik politischer Institutionen bediente, bis sie im 19. Jahrhundert durch utilitaristische, sozialistische und sozialdarwinistische Vorstellungen immer mehr verdrängt wurde und nach und nach in Vergessenheit geriet. Doch es scheint, daß die Idee des Sozialkontrakts nach einer Periode der Stagnation nun wieder zunehmend an Boden gewinnt und neuerlich — wenn auch in aktualisierter Gestalt — als Legitimationsmodell politischen Handelns ernstgenommen wird.
Diese Arbeit ist auch erschienen in: Theorie der Normen. Festgabe für Ota Weinberger zum 65. Geburtstag, hrsg. von Werner Krawietz, Helmut Schelsky, Günther Winkler, Alfred Schramm, Berlin 1984 (Duncker and Humblot), S. 241–275.
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Anmerkungen
Zur Idee des Gesellschaftsvertrags und ihren vielfältigen Ausgestaltungen siehe den instruktiven Artikel von Karl Graf Ballestrem, Vertragstheoretische Ansätze in der politischen Philosophie, in: Zeitschrift für Politik N.F. 30 (1983), S. 1–17. Über die Geschichte der Vertragstheorien informiert in umfassender Weise das vorzügliche Buch von J.W. Gough, The Social Contract. A Critical Study of its Development, Oxford 1936, 2. Aufl. 1957 ( Oxford UP).
Vgl. hierzu David Hume, Of the Original Contract, 1748, abgedruckt in: Hume, The Philosophical Works, Bd. 3, Aalen 1964 (Scientia), S. 443–460; auszugsweise dt. Übersetzung unter dem Titel: Die wertlose Fiktion vom Gesellschaftsvertrag, in: Klassische Texte der Staatsphilosophie, hrsg. von Norbert Hoerster, München 1976 (dtv), S. 163–176.
Immanuel Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, 1793, in: Kant, Werke in zwölf Bänden, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Bd. XI, Frankfurt/M. 1968 (Suhrkamp), S. 153 (A 250).
Ronald Dworkin, The Original Position, zuerst in: University of Chicago Law Review 40 (1973), S. 500–533; wiederabgedruckt in: Norman Daniels (Ed.), Reading Rawls. Critical Studies an Rawls’ “A Theory of Justice”, Oxford 1975 (Blackwell), S. 16–53, Zitat S. 18 (meine Übersetzung).
Wenn Karl Graf Ballestrem in seiner in Anm. 1 genannten Abhandlung die Ansicht vertritt, jede Vorstellung eines hypothetischen Sozialkontrakts sei fragwürdig, weil sie letztlich immer auf willkürlichen Annahmen beruhe, so übersieht er, daß, um zu einer hypothetischen Vertragsvorstellung zu gelangen, die einen brauchbaren Ausgangspunkt der Rechtfertigung politischer Institutionen ergeben soll, nicht schon die beliebige Unterstellung irgendeines Gesellschaftsvertrags allein genügen kann (was die Konstruktion des Gesellschaftsvertrags in der Tat zu einer völlig willkürlichen Annahme machen würde), sondern daß eine Vertragsvorstellung nur dann eine akzeptable Legitimationsgrundlage darstellt, wenn ihre Annahmen ihrerseits auf Gründen beruhen, die als hinreichede Gründe für die Rechtfertigung politischen Handelns gelten können. Sofern es aber solche Gründe für eine Vertragsvorstellung gibt, dann tut der Umstand, daß es sich dabei um einen hypothetischen Vertrag handelt, ihrem normativen Anspruch keinen Abbruch. Wenn Ballestrem andererseits für die Konzeption eines impliziten Gesellschaftsvertrags plädiert, die die Legitimität politischer Institutionen auf die stillschweigende Zustimmung der Betroffenen unter realen Bedingungen zurückzuführen versucht, so muß er, um das Stillschweigen der Betroffenen als einen brauchbaren Indikator ihrer freien Zustimmung deuten zu können, eine ganze Reihe normativer Bedingungen als erfüllt postulieren, die — wie mir scheint — ihrerseits nur durch die hypothetische Vorstellung einer idealen vertraglichen Übereinkunft aller Betroffenen als freier und gleicher Personen gerechtfertigt werden können.
So bereits Ota Weinberger, Begründung oder Illusion. Erkenntniskritische Gedanken zu John Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit, zuerst in: Zeitschrift für philosophische Forschung 31 (1977), S. 234–251; wiederabgedruckt in: ders., Logische Analyse in der Jurisprudenz, Berlin 1979 (Duncker and Humblot), S. 195–216, S. 203. Vgl. auch Ota Weinberger, Die Rolle des Konsenses in der Wissenschaft, im Recht und in der Politik, in: Methodologie und Erkenntnistheorie der juristischen Argumentation, hrsg. von A. Aarnio, I. Niiniluoto u. J. Uusitalo (Rechtstheorie Beiheft 2), Berlin 1981 (Duncker and Humblot), S. 147–165, S. 151.
Zum folgenden siehe: Thomas Hobbes, Leviathan, erste engl. Ausgabe 1651, zitiert nach der von Iring Fetscher hrsg. dt. Ausgabe, zuerst Neuwied 1966, Nachdruck Frankfurt/M. — Berlin 1976 (Ullstein); James M. Buchanan, The Limits of Liberty. Between Anarchy and Leviathan, Chicago 1975 ( University of Chicago Press).
Hobbes, Leviathan (Anm. 7), S. 96.
Vgl. Hobbes, Leviathan (Anm. 7), S. 121; Buchanan, Limits of Liberty (Anm. 7), S. 32 ff.
Siehe dazu Hobbes, Leviathan (Anm. 7), S. 131 ff.
Die zweite und die vierte Annahme ergeben sich jeweils aus dem Kontext der bereits referierten Überlegungen Hobbes’; zur ersten und zur dritten Annahme siehe insbesondere Hobbes, Leviathan (Anm. 7), S. 75 ff. bzw. 94 f.
Zu den Grundsätzen oder „natürlichen Gesetzen“, deren allgemeine Anerkennung Hobbes im Interesse eines für alle gedeihlichen Zusammenlebens für notwendig hielt, gehören vor allem die folgenden, um nur die wichtigsten zu nennen: das Gebot, sich um Frieden zu bemühen; die Goldene Regel; die Pflicht, Versprechen und Verträge zu halten; die Pflicht, sich für empfangene Wohltaten dankbar zu erweisen; das Gebot, sich anderen nach Möglichkeit anzupassen; die Pflicht, Beleidigungen zu vergeben, wenn der Beleidiger dies reuevoll wünscht; und das Verbot, andere zu beleidigen. Siehe hierzu Hobbes, Leviathan (Anm. 7), S. 99 f.
Zur normativen Grundlage von Buchanans Ansatz (die mit der von Hobbes’ Ansatz im wesentlichen übereinstimmt) siehe Buchanan, Limits of Liberty (Anm. 7), S. 1 f.; hinsichtlich der genannten Abweichungen seines Vertragsmodells gegenüber Hobbes siehe vor allem S. 25 f., 51 und 54 f.
Vgl. Buchanan, Limits of Liberty (Anm. 7), S. 23 ff.
Siehe Buchanan, Limits of Liberty (Anm. 7), S. 58 f.
Vgl. Buchanan, Limits of Liberty (Anm. 7), S. 60 ff.
So Buchanan, Limits of Liberty (Anm. 7), S. 59 f.
Siehe dazu Buchanan, Limits of Liberty (Anm. 7), S. 64 ff.
Eine erste Erläuterung dieses zweistufigen Vertragsprozesses findet sich bei Buchanan, Limits of Liberty (Anm. 7), S. 31 ff.
Für eine eingehendere Darstellung von Buchanans Vertragskonzeption siehe Peter Koller, J.M. Buchanans Versuch einer ökonomischen Begründung rechtlicher Institutionen (in Druck).
So auch Derek L. Phillips, Equality, Justice and Rectification. An Exploration in Normative Sociology, London - New York - San Francisco 1979 (Academic Press), S. 215.
Siehe hierzu Hobbes, Leviathan (Anm. 7), S. 98 f.; Buchanan, Limits of Liberty (Anm. 7), S. 21 ff.
Siehe John Locke, Two Treatises of Government, 1690, zitiert nach der von Walter Euchner hrsg. dt. Ausgabe: Zwei Abhandlungen über die Regierung, Frankfurt/M. 1977 (Suhrkamp), Zweite Abhandlung, S. 201 ff.
Vgl. Locke, Abhandlungen über die Regierung (Anm. 23), S. 207 f. u. 278 ff.
Siehe hierzu Robert Nozick, Anarchy, State, and Utopia, New York 1974 (Basic Books); dt.: Anarchie, Staat, Utopia, München o.J. (1976) ( Moderne Verlagsgesellschaft ), S. 25.
Vgl. Nozick, Anarchie, Staat, Utopia (Anm. 25), S. 167 ff.
Locke, Abhandlungen über die Regierung (Anm. 23), S. 203.
Locke, Abhandlungen über die Regierung (Anm. 23), S. 213.
Siehe dazu Locke, Abhandlungen über die Regierung (Anm. 23), S. 215 ff.
So Locke, Abhandlungen über die Regierung (Anm. 23), S. 127 ff.
Vgl. Nozick, Anarchie, Staat, Utopia (Anm. 25), S. 164 f.
Locke, Abhandlungen über die Regierung (Anm. 23), S. 222.
Locke, Abhandlungen über die Regierung (Anm. 23), S. 220.
Siehe Nozick, Anarchie, Staat, Utopia (Anm. 25), S. 167 ff.
Ausführlicher hierüber Peter Koller, Zur Kritik der libertären Eigentumskonzeption. Am Beispiel der Theorie von Robert Nozick, in: Analyse and Kritik 3 11981 ), S. 139–154.
So Jean-Jacques Rousseau, Du contrat social ou principes du droit politique, 1762, zitiert nach der von Hans Brockard hrsg. dt. Ausgabe: Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts, Stuttgart 1977 (Reclam), 1. Buch, 6. Kapitel, S. 17 f.
Siehe hierzu Rousseau, Gesellschaftsvertrag (Anm. 36), S. 19 ff.
Rousseau, Gesellschaftsvertrag (Anm. 36), S. 17.
Vgl. Rousseau, Gesellschaftsvertrag (Anm. 36), S. 22 f.
Kant, Über den Gemeinspruch (Anm. 3), S. 145 (A 235 f.).
Kant, Über den Gemeinspruch (Anm. 3), S. 154 (A. 251 f.).
Siehe hierzu John Rawls, A Theory of Justice, Cambridge, Mass. 1971 (Harvard UP), Paperback London 1973 (Oxford UP); dt.: Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt/M. 1975 (Suhrkamp(, S. 34 ff.
So Rawls, Theorie der Gerechtigkeit (Anm. 421, S. 36 f. u. 159 ff.
Vgl. Rawls, Theorie der Gerechtigkeit (Anm. 42), S. 36 f.
Siehe hierzu Rawls, Theorie der Gerechtigkeit (Anm. 42), S. 166 ff.
Vgl. Rawls, Theorie der Gerechtigkeit (Anm. 42), S. 111 ff.
Siehe dazu Rawls, Theorie der Gerechtigkeit (Anm. 42(, S. 30 f., 150 f. u. 167 f. 48) Vgl. hierzu Rawls, Theorie der Gerechtigkeit (Anm. 42), S. 168 f.
Für eine ausführlichere Diskussion von Rawls’ Konzeption der Begründung von Gerechtigkeitsgrundsätzen einerseits und eines ihrer zentralen Ergebnisse andererseits siehe: Peter Koller, Die Konzeption des Überlegungs-Gleichgewichts als Methode der moralischen Rechtfertigung, in: Conceptus Bd. 15 (1981), Nr. 35/36, S. 129–142, sowie ders., Rawls’ Differenzprinzip und seine Deutungen, in: Erkenntnis 20 119831, S. 1–25
Siehe hierzu etwa folgende Arbeiten: P.H. Nowell-Smith, A Theory of Justice?, in: Philosophy of the Social Sciences 3 (1973), S. 315–329, dt.: Eine Theorie der Gerechtigkeit?, in: Otfried Höffe (Hrsg.). Über John Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt/M. 1977 (Suhrkamp), S. 77–107; Benjamin Barber, Justifying Justice: Problems of Psychology, Politics and Measurement in Rawls, in: Daniels (Ed.), Reading Rawls (Anm. 4), S. 292–318, dt.: Die Rechtfertigung der Gerechtigkeit: Probleme der Psychologie, der Politik und der Messung bei Rawls, ebenfalls in: Höffe (Hrsg.), Ober John Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit, S. 224–258; Brian Barry, The Liberal Theory of Justice. A Critical Examination of the Principal Doctrines in “A Theory of Justice” by John Rawls, Oxford 1973 (Clarendon Press), S. 10 ff.; Thomas Nagel, Rawls on Justice, in: The Philosophical Review 82 (1973), S, 220–234, wiederabgedruckt in: Daniels (Ed.), Reading Rawls (Anm. 4), S. 1–16; C.B. Macpherson, Rawls’ Models of Man and Society, in: Philosophy of the Social Sciences 3 (1973), S. 341–347; Charles Frankel, Justice, Utilitarianism, and Rights, in: Social Theory and Practice 3 (1974), S. 27–46; Robert Paul Wolff, Understanding Rawls. A Reconstruction and Critique of “A Theory of Justice”, Princeton, N.J. 1977 (Princeton UP), S. 119 ff.
Eine eingehendere Erörterung der Unterschiede zwischen universalistischen und individualistischen Konzeptionen der Moralbegründung unternehme ich in meinem Artikel: Rationalität und Moral, in: Grazer Philosophische Studien (in Druck).
Siehe hierzu Otfried Höffe, Diskussionsbemerkung im Rahmen einer Diskussion über Habermas’ Ansatz der Normenbegründung, abgedruckt in: Materialien zur Normendiskussion, Bd. 1: Transzendentalphilosophische Normenbegründungen, hrsg. von Willi Oelmüller, Paderborn 1978 (UTB), S. 143.
Zum Konzept des moralischen Standpunkts siehe vor allem: Kurt Baier, The Moral Point of View, Ithaca — London 1958 (Cornell UP), dt.: Der Standpunkt der Moral, Düsseldorf 1974 (Patmos), S. 178 ff.; in ähnlichem Sinne bereits David Hume, An Enquiry Concerning the Principles of Morals, 1751, dt.: Eine Untersuchung über die Prinzipien der Moral, Hamburg 1972 (Meiner), IX. Abschn., S. 121; siehe auch: Richard B. Brandt, Ethical Theory, Englewood Cliffs, N.J. 1959 (Prentice-Hall), S. 244 ff.; David P. Gauthier, Practical Reasoning, Oxford 1963 (Clarendon Press), S. 81 ff.; William K. Frankena, Ethics, Englewood-Cliffs, N.J. 1963 (Prentice-Hall), dt.: Analytische Ethik, München 1972 (dtv), S. 136 ff.; Thomas Nagel, The Possibility of Altruism, Oxford 1970 (Clarendon Press), S. 99 ff.
Hierin zeigt sich auch die frappante Ähnlichkeit zwischen der universalistischen Konzeption des Sozialkontrakts und der Theorie des praktischen Diskurses von Habermas: dient in Rawls’ Vertragsmodell die Vorstellung des Urzustandes als Ausgangspunkt einer fiktiven vertraglichen Einigung aller Betroffenen, so betrachtet Habermas die kontrafaktische Unterstellung einer idealen Sprechsituation, in der gleichberechtigte und vernünftige Gesprächspartner ohne Entscheidungsdruck einen Konsens über praktische Geltungsanprüche herbeizuführen versuchen, als normatives Ideal, das in jedem praktischen Diskurs immer schon vorausgesetzt wird und dem wir uns in realen Diskursen möglichst annähern sollen. Vgl. hierzu Jürgen Habermas, Wahrheitstheorien, in: Wirklichkeit und Reflexion. Walter Schulz zum 60. Geburtstag, hrsg. von Helmut Fahrenbach, Pfullingen 1973 (Neske), S. 211–265, sowie neuerdings ders., Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt/M. 1983 (Suhrkamp), darin vor allem das Kapitel: Diskursethik — Notizen zu einem Begründungsprogramm, S. 53–125. Für einen Vergleich von Rawls und Habermas siehe Herbert Kitschelt, Moralisches Argumentieren und Sozialtheorie. Prozedurale Ethik bei John Rawls und Jürgen Habermas, in: ARSP 66 (1980), S. 391–429.
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Koller, P. (1986). Theorien des Sozialkontrakts als Rechtfertigungsmodelle Politischer Institutionen. In: Kern, L., Müller, HP. (eds) Gerechtigkeit, Diskurs oder Markt?. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-94348-4_2
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