Zusammenfassung
Trotz wachsenden Interesses ist die Thematisierung von Migrationsprozessen in der Wissenschaftslandschaft der Bundesrepublik nicht in gleichem Ausmaß etabliert wie etwa in den Vereinigten Staaten, Kanada, Australien oder Frankreich. Köfner/Nicolaus sind sogar der Auffassung, daß es in der Bundesrepublik “keine wirklich fundierte und auch nur in Ansätzen an bereits vorgegebene amerikanische Maßstäbe heranreichende Migrationsforschung gibt.”14 Ein Grund für die vergleichsweise geringere Resonanz liegt sicherlich in der Tatsache begründet, daß sich Deutschland im Unterschied zu den genannten Staaten nie als Einwanderungsgesellschaft definiert hat. Das kollektive Selbstverständnis basiert vielmehr auf einer statisch und in gewisser Weise romantisch verstandenen Interpretation der eigenen Nationalität, deren Elemente in vermeintlich unveränderlicher Form durch die Generationen vererbt werden, statt, wie es tatsächlich der Fall ist, ständig verändert und angepaßt zu werden. Diese Haltung findet ihren besonderen Ausdruck im ius-sanguinis-Prinzip der Staatsbürgerschaft, demzufolge auch jene Personen als Deutsche gelten, die seit Generationen außerhalb des Landes leben und zu Deutschland in vielen Fällen keine substantiellen Beziehungen mehr unterhalten. Andererseits werden Menschen (Einwanderer) auch bei einem über Generationen fortgeführten Aufenthalt und vollzogener Integration weiterhin als Ausländer betrachtet.
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Literatur
Köfner, Gottfried/Nicolaus, Peter 1986: Grundlagen des Asylrechts in der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, Mainz/München, S. 27.
Grawert, Rolf 1973: Staat und Staatsangehörigkeit. Verfassungsgeschichüiche Untersuchung zur Entstehung der Staatsangehörigkeit, Berlin, S. 191.
Teitelbaum, Michael 1980: Right Versus Right. Immigration and Refugee Policy in the United States, in: Foreign Affairs, Nr. 3, S. 21–59, hier S. 23.
Vgl. Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (Hrsg.) 1986: Situation der ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen in der Bundesrepublik Deutschland — Repräsentativuntersuchung ‘85 -, Bonn; Fijalkowski, Jürgen (Hrsg.) 1990: Transnationale Migranten in der Arbeitsweit. Studien zur Ausländerbeschäftigung und zum internationalen Vergleich, Berlin.
Ein den aktuellen Status Deutschlands treffend kennzeichnender Begriff ist der von Thränhardt verwandte Terminus des ‘unerklärten Einwanderungslandes’. Vgl. Thränhardt, Dietrich 1988: Die Bundesrepublik Deutschland — ein unerklärtes Einwanderungsland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, В 24, S. 3–13.
Vgl. u.a. Leggewie, Claus 1990: Multi-Kulti. Spielregeln für die Vielvölkerrepu-blik, Nördlingen;
Schulte, Axel 1990: Multikulturelle Gesellschaft. Chance, Ideologie oder Bedrohung?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, В 23–24, S. 3–15;
Dittrich, Eckhard J./Radtke, Frank-Olaf (Hrsg.) 1990: Ethnizität. Wissenschaft und Minderheiten, Opladen.
Vgl. Newland, Kathleen 1981: Die Flüchtlingsfrage als Problem der internationalen Politik, in: Europa-Archiv. Zeitschrift für internationale Politik, Nr. 17, S. 512–520.
Opitz, Peter J. 1988: Das Weltflüchtlingsproblem. Ursachen und Folgen, München, S. 15.
Aus den deutschsprachigen migrationstheoretisehen Untersuchungen ragen die bereits vor zwei Jahrzehnten veröffentlichten Arbeiten von Hoffmann-Nowomy, Hans-Joachim 1970: Migration. Ein Beitrag zu einer soziologischen Erklärung, Stuttgart sowie Albrecht, Günter 1972: Soziologie der geographischen Mobilität, Stuttgart und Franz, Peter 1984: Soziologie der räumlichen Mobilität. Eine Einführung, Frankfurt heraus.
Siehe auch: Horstmann, Kurt 1969: Horizontale Mobilität, in: König, Rene (Hrsg.): Handbuch der Empirischen Sozialforschung, Band II, Stuttgart, S. 43–64;
Esser, Hartmut/Friedrichs, Jürgen (Hrsg.): 1990: Generation und Identität. Theoretische und empirische Beiträge zur Migrationssoziologie, Opladen.
Vgl. die knappe Zusammenfassung unterschiedlicher Forschungsperspektiven, in: Széll, György 1972: Regionale Mobilität als Forschungsgegenstand, in: Ders. (Hrsg.): Regionale Mobilität, München, S. 12–40.
Einen Überblick über neuere Forschungen zur Migrationstheorie liefert: Molho, Ian 1986: Theories of Migration. A Review, in: Scottish Journal of Political Economy, Vol. 33, Nr. 4, S. 396–419.
Böhning, Wolf-Rüdiger 1984: Studies in International Labour Migration, London/Basingstoke, S. 61. In einem weit verbreiteten, fast 700 Seiten starken Lexikon für Wirtschaftswissenschaftler
Woll, Arthur (Hrsg.) 1987: Wirtschaftslexikon, München — ist von Arbeitskräftemigration an keiner Stelle die Rede.
Kammerer, Peter 1980: Arbeitsmigration. Zusammensetzung der Arbeiterklasse und sozio— ökonomische Stabilität, in: Blaschke, Jochen/Greussing, Kurt (Hrsg.): ‘Dritte Welt’ in Europa. Probleme der Arbeitsimmigration, Berlin, S. 86–94, hier S. 86.
Treibel trägt insgesamt neun verschiedene Definition sansätze zusammen. Vgl. Treibel, Annette 1990: Migration in modernen Gesellschaften. Soziale Folgen von Einwanderung und Gastarbeit, Weinheim/München, S. 18f.
Nicht gefolgt werden kann Langenheder, der die Auffassung vertritt, zwischen Migration und einem kurzfristigen Wechsel des Aufenthaltsortes bestehe “kein prinzipieller, sondern nur ein gradueller” Unterschied. Siehe: Langenheder, Wernеr 1968: Ansatz zu einer allgemeinen Verhaltenstheorie in den Sozialwissenschaften. Dargestellt und überprüft an Ergebnissen empirischer Untersuchungen über Ursachen von Wanderungen, Köln/Opladen, S. 20.
Petersen, William 1968: Migration, in: International Encyclopedia of the Social Sciences, Vol. 13, S. 286.
Zolberg, Aristide 1983a: Contemporary Transnational Migrations in Historical Perspective: Patterns and Dilemmas, in: Kritz, Mary M. (Hrsg.): U.S. Immigration and Refugee Policy. Global and Domestic Issues, Toronto, S. 15–51, hier S. 16.
Albrecht, Günter 1972, S. 278f.
Salt, John 1989: A Comparative Overview of International Trends and Types, 1950–1980, in: International Migration Review, Vol. 23, Nr. 3, S. 431–456, hier S. 431. Ravenstein, der oft als der eigentliche Begründer der Migrationstheorie genannt wird, vertrat bei seinen berühmt geworden Londoner Vorträgen vor der Royal Statistical Society 1885 und 1889 noch die Auffassung, quasi naturwissenschaftliche Gesetze der Wanderung aufdecken zu können.
Vgl. Ravenstein, Ernest George 1972: Die Gesetze der Wanderung I und II, in: Széll, György (Hrsg.), S. 41–94. Sein Versuch mußte jedoch scheitern, weil er die Zeitgebundenheit seiner Resultate unterschätzte. Diese sind für die komplexen Verhältnisse heutiger Industriegesellschaften nur noch von beschränkter Aussagekraft.
31a Vgl. auch: Heberle, Rudolf 1955: Theorie der Wanderungen. Soziologische Betrachtungen, in: Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft, 76. Jg., Nr. 1, S. 1–23, hier S. 2.
Vgl. Glismann, Hans Heinrich/Horn, Ernst Jürgen/Nehring, Sighart/Vaubel, Roland 1987: Weltwirtschaftslehre. Eine problemorientierte Einführung. Bd. II: Entwicklungs- und Beschäftigungspolitik, S. 207–222.
Stark betont entsprechend: “The fact that the modal unit of (voluntary) international migration is the individual does not necessarily imply that the individual is decision ally accountable for his migration. A larger entity — the family — is very often the effective decision-making unit.” Siehe: Stark, Oded 1984: Discontinuity and the Theory of International Migration, in: Kyklos, Vol. 37, Nr. 2, S. 206–222, hier S. 207.
Vgl. Rhode, Gotthold 1968: Terminologie zum Weltflüchtlingsproblem, in: Reichling, Gerhard (Hrsg.): Das Weltflüchtlingsproblem. Bericht über ein internationales Forschungsvorhaben zur Terminologie und Statistik, Bad Homburg vor der Höhe, S. 24–36.
Für die deutsche Flucht- und Migrationsforschung sind zu nennen: Opitz, Peter J. 1988; Thränhardt, Dietrich/Wolken, Simone (Hrsg.) 1989: Flucht und Asyl. Informationen, Analysen, Erfahrungen aus der Schweiz und der Bundesrepublik Deutschland, Freiburg;
Nuscheier, Franz 1988: Nirgendwo zu Hause. Menschen auf der Flucht, München; Ashkenasi, Abraham (Hrsg.) 1988: Das weltweite Flüchtlingsproblem. Sozialwissenschaftliche Versuche der Annäherung, Bremen;
Germershausen, Andreas/Narr, Wolf-Dieter (Hrsg.) 1988: Flucht und Asyl. Berichte über Flüchtlingsgruppen, Berlin;
Blaschke, Jochen/Germershausen, Andreas (Hrsg.) 1992: Sozialwissenschaftliche Studien über das Weltflüchtlingsproblem, 3. Bd. Berlin.
Bade, Klaus J. 1983: Vom Auswanderung sland zum Einwanderungsland? Deutschland 1880–1980, Berlin, S. 12f.
Horstmann, Kurt 1969, S. 50.
Treibel, Annette 1990, S. 7.
Martin, David A. 1988: The New Asylum Seekers, in: Ders. (Hrsg.): The New Asylum Seekers. Refugee Law in the 1980s. The Ninth Colloquium on International Law, Dordrecht, S. 1–20.
Bull spricht von “crypto-refugees” in der Folge einer “economic persecution”. Siehe: Bull, Hedley 1987: Population and the Present World Structure, in: Alonso, William (Hrsg.): Population in an Interacting World, Cambridge (Mass.)/London, S. 74–94, hier S. 86 bzw. S. 87.
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Santel, B. (1995). Migration: Begriffserläuterung und wissenschaftliche Diskussion. In: Migration in und nach Europa. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-93694-3_3
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