Zusammenfassung
Autobiographie ist „die Beschreibung (graphia) des Lebens (bios) eines Einzelnen durch diesen selbst (auto)“ — so erläutert Georg Misch in seiner grundlegenden Arbeit von 1907 den Begriff.1 Der Autor macht sich zur Hauptperson, wenn er sein Leben erzählt. Der Leser erwartet eine wahre Geschichte.
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Anmerkungen
Georg Misch: Begriff und Ursprung der Autobiographie, wiederabgedruckt in Günter Niggl (Hg.): Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung, Darmstadt 1989, S. 38. — Dieser Sammelband der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft enthält neben wichtigen Aufsätzen zum Thema eine umfassende Bibliographie.
Die Forschung zur Autobiographie orientiert sich meist an der „klassischen” Autobiographie, der des 18. Jahrhunderts, in der die Autonomie des bürgerlichen Individuums gestaltet wird, und erhebt diese traditionelle Form zur idealtypischen. Die Historizität der Gattung und ihre Bedeutung kann damit nicht erfaßt werden. Mit diesem Mangel der Forschung hängt ein anderer eng zusammen: Es gibt nur wenige übergreifende Studien zur Autobiographie im 20. Jahrhundert. Wichtige Arbeiten sind: Manfred Schneider: Die erkaltete Herzensschrift. Der autobiographische Text im 20. Jahrhundert, München 1986
Sylvia Schwab: Autobiographik und Lebenserfahrung. Versuch einer Typologie deutschsprachiger autobiographischer Schriften zwischen 1965 und 1975, Würzburg 1981
Hans Rudolf Picard: Autobiographie im zeitgenössischen Frankreich. Existentielle Reflexion und literarische Gestaltung, München 1978
Peter Sloterdijk: Literatur und Organisation von Lebenserfahrung. Autobiographien der Zwanziger Jahre, München 1978
Ursula Hartmann: Typen dichterischer Selbstbiographien in den letzten Jahrzehnten, Bonn 1940.
Ralph-Rainer Wuthenow: Das erinnerte Ich. Europäische Autobiographie und Selbstdarstellung im 18. Jahrhundert, München 1974, S. 214.
Ralph-Rainer Wuthenow: Autobiographie, autobiographisches Schrifttum, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hrsg. von Gert Ueding, Tübingen 1992, Bd. 1, S. 1275.
Vgl. Ralph-Rainer Wuthenow: Europäische Tagebücher. Eigenart — Form — Entwicklung, Darmstadt 1990. — Und hier: S. 393–407.
Misch, S. 50.
In Deutschland taucht der Begriff Autobiographie erstmals um 1790 auf, in Frankreich um 1760.
Stendhal: Leben des Henri Brulard, in: Stendhal (Henri Beyle): Werke, hrsg. von Carsten Peter Thiede u.a., Berlin o.J., S. 184.
Vgl. ebd., S. 242.
Vgl. Alain Robbe-Grillet: Argumente für einen neuen Roman, München 1965, S. 29.
Wuthenow: Das erinnerte Ich, S. 214.
Mein Hauptaugenmerk gilt den experimentellen Formen autobiographischen Schreibens. Da vom professionellen Autor am ehesten Innovationen zu erwarten sind, werden ausschließlich Schriftsteller-Autobiographien zur Untersuchung herangezogen. Stark ans Schema traditioneller Autobiographien angelehnte Werke bleiben ebenso unberücksichtigt wie interessante Übergangsformen zu Memoiren, Tagebüchern und Essays.
Fernando Pessoa: Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalter Bernardo Soares, aus dem Portugiesischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Georg Rudolf Lind, Frankfurt/M. 1988, S. 61.
Ebd., S. 65.
Zitiert nach Rudolf Lind: Nachwort des Übersetzers, in: Pessoa, S. 298.
Pessoa, S. 64.
Theodor W. Adorno: Standort des Erzählers im zeitgenössischen Roman, in: Noten zur Literatur I, Frankfurt/M. 1975, S. 64.
Ebd., S. 71.
Nathalie Sarraute: Das Zeitalter des Mißtrauens, in: Das Zeitalter des Mißtrauens. Essays über den Roman, aus dem Französischen übersetzt von Helmut Scheffel, Frankfurt/M. 1975, S. 52.
Virginia Woolf: Der gewöhnliche Leser. Essays Bd. 2, hrsg. von Klaus Reichert, deutsch von Hannelore Faden und Helmut Viebrock, Frankfurt/M. 1990, S. 307.
Walter Benjamin: Berliner Kindheit um neunzehnhundert. Fassung letzter Hand, mit einem Nachwort von Theodor W Adorno, Frankfurt/M. 1988, S. 9.
Theodor W. Adorno: Nachwort, in: Benjamin, S. 111.
Peter Szondi: Hoffnung im Vergangenen. Über Walter Benjamin, in: Satz und Gegensatz, Frankfurt/M. 1976, S. 90f.
Benjamin, S. 61.
Vgl. Anna Stüssi: Erinnerungen an die Zukunft. Walter Benjamins „Berliner Kindheit um neunzehnhundert”, Göttingen 1977.
Peter Szondi: Die Städtebilder Walter Benjamins, in: Der Monat 14 (1961/62), Nr. 166, S. 56.
Witte hat zu zeigen versucht, daß auch die Fassung letzter Hand eine bipolare Struktur aufweist: „In der letzten Fassung ist das ganze Buch wie jedes seiner Teile als eine Konstellation von Antinomien konzipiert.“ (577), „wobei die Aufhebung des Widerspruchs in einer Synthes dem Leser als Aufgabe vorbehalten bleibt“. (582) — Bernd Witte: Bilder der Endzeit. Zu einem authentischen Text der „Berliner Kindheit“ von Walter Benjamin, in: Deutsche Vierteljahresschrift 58 (1984), S. 570–592.
Adorno: Nachwort, S. 111.
Benjamin, S. 58.
Vgl. Walter Benjamin: Der Sürrealismus. Die letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligenz (1929), in: Angelus Novus. Ausgewählte Schriften 2, Frankfurt/M. 1966, S. 207.
Virginia Woolf: Moments of Being. Edited With an Introduction by Jeanne Schulkind, London 1990 (2. Aufl.), S. 90.
Virginia Woolf: Essays 2, S. 163.
Unter dem Titel „Moments of Being“ veröffentlichte Jeanne Schulkind 1976 erstmals eine Sammlung autobiographischer Schriften Virginia Woolfs. Diese Sammlung enthält neben „A Sketch of the Past“ einen frühen biographisch-autobiographischen Entwurf, „Reminiscences“, und drei Memoir Club Beiträge („22 Hyde Park Gate“, „Old Bloomsbury”, „Am I a Snob?“).
Virginia Woolf: Augenblicke. Skizzierte Erinnerungen, aus dem Englischen von Elisabeth Gilbert, mit einem Essay von Hilde Spiel, Frankfurt/M. 1986, S. 102.
Vgl. Jeanne Schulkind: Introduction, in: Woolf: Moments of Being, S. 17.
„Yet in this great autobiographical project one often feels that something is missing, and that the missing thing is Virginia Woolf.“ — Daniel Albright: Virginia Woolf as Autobiographer, in: The Kenyon Review 6:4 (1984), S. 2; zum Schluß seiner Ausführungen versteigt sich Albright gar zu der riskanten Spekulation „whether Virginia Woolf did not in some sense feel that her proper place was that of a muse, with all a muse’s frustration and impotence.” (17).
Albright argumentiert: Virginia Woolf „does not struggle towards selfhood; instead, a self is thrust upon her. Possibly she would have regarded this as the female equivalent of Auden’s masculine selfachievement.“ (10) Sein Resümee fällt entsprechend negativ aus: „Virginia Woolf s program of self-suppression and impersonality is a continuation of (…) feminine anonymity.“ (17) — Ob Woolfs Verhalten „typisch weiblich“ ist, diese Frage möchte ich offen lassen.
Vgl. Woolf: Augenblicke, S.98f.
Virginia Woolf nennt die moments of being „manchmal auch ‘Augenblicke der Vision, der Offenbarung, der Erleuchtung’, und meint damit Momente eines unverstellten Sehens, einer plötzlichen sinnlichen Offenbarung, in denen sich das ‘hinter der Watte verborgene Muster’ oder ‘das wirkliche Ding’ zu erkennen gibt. Das erinnert an die ‘unwillkürliche Erinnerung’ von Proust und die ‘Epiphanien’ von Joyce. Es sind vergleichbare Erfahrungen. Sie werden allerdings von Virginia Woolf stärker ontologisiert. In den ‘Augenblicken des Seins’ zeigt sich uns die wahre Realität des Lebens“ — Dieter Wellershoff: Der Roman und die Erfahrbarkeit der Welt, Köln 1988, S. 224f.
Woolf: Augenblicke, S. 92.
So hatte Bohrer die surrealistische Zertrümmerung des bürgerlichen Persönlichkeitsbegriffs beschrieben; vgl. Karl Heinz Bohrer: Die Ästhetik des Schreckens. Die pessimistische Romantik und Ernst Jüngers Frühwerk, Frankfurt/M./Berlin/Wien 1983, S. 370.
Vgl. Woolf: Augenblicke, S. 133.
Hans Rudolf Picard: Autobiographie im zeitgenössischen Frankreich. Existentielle Reflexion und literarische Gestaltung, München 1978, S. 154.
Vgl. ebd., S. 194–216.
Vgl. Helmut Heißenbüttel: Anmerkungen zu einer Literatur der Selbstentblößer, in: Zur Tradition der Moderne. Aufsätze und Anmerkungen 1964–1971, Neuwied/Berlin 1972, S. 80–94.
Jean-Paul Sartre: Die Wörter, übersetzt und mit einem Nachwort von Hans Mayer, Reinbek 1988, S. 137.
Das, was Sartre in seinen Flaubertanalysen als „Gleitflug“ beschrieben hat, nimmt er offensichtlich auch für sich selbst in Anspruch — so zumindest stellt es sich dar.
Sartre, S. 137.
Vgl. hierzu Sandra Frieden: Autobiography. Self into Form. German-Language autobiographical Writings of the 1970s, Frankfurt/M./Bern/New York 1983
Sowie Hermann Schlösser: Subjektivität und Autobiographie, in: Gegenwartsliteratur seit 1968, hrsg. von Klaus Briegleb und Sigrid Weigel, München/Wien 1992, S. 404–423.
Heißenbüttel, S. 89.
Thomas Anz: Neue Subjektivität, in: Dieter Borchmeyer und Viktor Zmegac (Hg.): Moderne Literatur in Grundbegriffen, Frankfurt/M. 1987, S. 283–286.
Ferdinand Menne (Hg.): Neue Sensibilität. Alternative Lebensmöglichkeiten, Darmstadt/Neuwied 1974; zur kritischen Diskussion der „Betroffenheitsliteratur“ siehe: Literaturmagazin 11. Schreiben oder Literatur, hrsg. von Nicolas Born, Jürgen Manthey und Delf Schmidt, Reinbek bei Hamburg 1979.
Letzter Satz aus Gertrude Stein: Die Autobiographie von Alice B. Toklas, aus dem Amerikanischen von Elisabeth Schnack, Zürich 1988 (2. Aufl.), S. 296.
Vgl. Gertrude Stein: The Autobiography of Alice B. Toklas, London 1966, S. 170.
Vgl. Earl Fendelman: Gertrude Stein Among the Cubists, in: Journal of Modern Literature 2 (Nov. 1972), S. 484.
Vgl. Stein: Die Autobiographie von Alice B. Toklas, S. 93.
L.T. Fritz: Gertrude Stein and Picasso: The Language of Surfaces, in: American Literature 45 (May 1973), S. 232.
Gertrude Stein: What Are Master-pieces and Why Are There So Few of Them, in: Writings and Lectures, 1911–1945, ed. by Patricia Meyerowitz, London 1967, S. 146f.
Vgl. M. Wedekind, in: Bd. 1 des vorliegenden Sammelwerkes, S. 243–252.
Nancy Blake: Everybody’s Autobiography: Identity and Absence, in: Recherches Anglaises et Américaines 15 (1982), S. 144f.
Vgl. Nöelle Batt: Le cas particulier de l’autobiographie d’Alice Toklas, in: Recherches Anglaises et Américaines 15 (1982), S. 132.
Vgl. Neil Schmitz: Portrait, Patriarchy, Mythos: The Revenge of Gertrude Stein, in: Salmagundi 40 (winter 1978), S. 87.
Blake, S. 137.
Vgl. Schmitz, S. 71 und S. 87.
Vgl. Batt, S. 130.
Philippe Lejeune: Je est un autre, Paris 1980, S. 53f.
Schmitz, S. 71.
Dieses Foto von Man Ray ist wiederabgedruckt in Renate Stendhal (Hg.): Gertrude Stein. Ein Leben in Texten und Bildern, Zürich 1989, S. 101.
James E. Breslin: Gertrude Stein and the Problems of Autobiography, in: Georgia Review 33 (1979) 3.4, S. 911.
Gertrude Stein: Jedermanns Autobiographie, aus dem Amerikanischen von Marie-Anne Stiebel, Frankfurt/M. 1986, S. 7.
Ebd., S. 352.
Alain Robbe-Grillet: Neuer Roman und Autobiographie, übersetzt von Hans Rudolf Picard, Konstanz 1987, S. 24. (Der Originaltitel des auf französisch gehaltenen Vortrages lautet „Nouveau roman et autobiographie“.)
Vgl. Alain Robbe-Grillet: Pour un Nouveau Roman, Paris 1963.
Alain Robbe-Grillet: Der wiederkehrende Spiegel, aus dem Französischen von Andrea Spingier, Frankfurt/M. 1989, S. 64.
Ebd., S. 126; „Ich finde, daß man jene autobiographischen Texte, die der nouveau roman hervorgebracht hat, ‘Neue Autobiographie’ nennen müßte. Wenn es einen neuen Roman in bezug auf den alten, einen Roman der Freiheit in bezug auf einen Roman der Wahrheit gibt, dann gibt es wahrscheinlich auch eine neue Autobiographie.“ — Robbe-Grillet: Neuer Roman und Autobiographie, S. 23.
Die experimentelle, noch nicht zu neuer Dogmatik verfestigte Moderne heißt in Lyotards Sprachgebrauch Postmoderne. Sie „wäre dasjenige, das im Modernen in der Darstellung selbst auf ein Nicht-Darstellbares anspielt; das sich dem Trost der guten Form verweigert (…); das sich auf die Suche nach neuen Darstellungen begibt (…) Postmodern wäre also als das Paradox der Vorzukunft (post-modo) zu denken.“ — Jean-François Lyotard: Beantwortung der Frage: Was ist postmodern?, in: Postmoderne und Dekonstruktion. Texte französischer Philosophen der Gegenwart, mit einer Einführung, hrsg. von Peter Engelmann, Stuttgart 1990, S. 47f.; ich vermeide diesen in Deutschland meist sehr vage verwendeten und negativ besetzten Begriff und spreche von „experimenteller Moderne“.
Die Episode vom wiederkehrenden Spiegelbild stößt Corinthe zu. Ihre Bezüge sind weniger in der realen Lebensgeschichte des Autors zu suchen als in der spätromantischen Dichtung. Ist Robbe-Grillet vielleicht von deren Trivialisierung, einer in die Schauerromantik gezogenen Version, in zentraler Weise geprägt?
Alain Robbe-Grillet im Interview mit Jürg Altwegg, in: FAZ-Magazin vom 8.8.1986.
Robbe-Grillet: Der wiederkehrende Spiegel, S. 209.
Ebd., S. 38.
Alain Robbe-Grillet: Vom Anlaß des Schreibens, Tübingen 1989, S. 33.
Picard, S. 125.
Ebd., S. 126f.
Heimito von Doderer: Meine neunzehn Lebensläufe und neun andere Geschichten, München 1966, S. 8.
Roland Barthes: Über mich selbst, aus dem Französischen von Jürgen Hoch, München 1978, S. 8. (Originalausgabe: Roland Barthes par Roland Barthes, Paris 1975.)
Albrecht Wellmer: Adorno, Anwalt des Nicht-Identischen. Eine Einführung, in: Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne. Vernunftkritik nach Adorno, Frankfurt/M. 1990, S. 163f.
Die künstlerische Moderne, verstanden als Permanenz des Experiments, gebietet Dogmatik ebenso Einhalt wie naivem Fortschrittsdenken. Demgegenüber schreibt die sogenannten Postmoderne eine Beliebigkeit fest, taumelt zwischen „rien ne va plus“ und „anything goes“. Damit wird leicht die Möglichkeit verschenkt, sich selbst immer neu auf die Probe zu stellen. Davon aber zeugen gerade die modernen Autobiographien. Sie sind noch nicht ins Paradigma der sogenannten Postmoderne übergewechselt. — Ich möchte noch einmal ausdrücklich betonen, daß das Stereotyp der Postmoderne der philosophischen Auffassung Lyotards entgegengesetzt ist. Er schreibt: „Ein Werk ist nur modern, wenn es zuvor postmodern war. So gesehen bedeutet der Postmodernismus nicht das Ende des Modernismus, sondern dessen Geburt, dessen permanente Geburt.“ (Lyotard, S. 45.)
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Hilmes, C. (1994). Moderne europäische Autobiographie. In: Piechotta, H.J., Wuthenow, RR., Rothemann, S. (eds) Die literarische Moderne in Europa. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-93545-8_22
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