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Die dokumentarische Methode in der Bild- und Fotointerpretation

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Die dokumentarische Methode und ihre Forschungspraxis

Zusammenfassung

Eines der anspruchsvollsten und zugleich einflussreichsten Modelle der Bildinterpretation stammt von dem Kunsthistoriker Erwin Panofsky. Jene Sinndimension, die im Zentrum seiner Methode steht, nämlich die ikonologische, bezeichnete Panofsky (1932, 115) auch als diejenige des „Dokumentsinns“. Er bezog sich damit explizit auf den Wissenssoziologen Karl Mannheim und dessen „dokumentarische Methode der Interpretation“. Während damals, d.h. Ende der 1920er, Anfang der 1930er Jahre, Panofsky die sozialwissenschaftlichen Arbeiten seines Zeitgenossen und (was die Zwangsemigration beider anbetrifft) auch Schicksalsgenossen Mannheim daraufhin befragt hat, inwiefern sie für die Kunstgeschichte Relevanz gewinnen können, soll im Folgenden die umgekehrte Fragerichtung im Zentrum stehen: Inwiefern vermag die kunstgeschichtliche Methodik — vor allem diejenige, die in der Tradition von Panofsky steht und somit bereits durch die dokumentarische Methode beein-flusst ist — mit ihrer umfangreichen Erfahrung zur Entfaltung von Grundprinzipien der dokumentarischen Bild- und Fotointerpretation beizutragen.

Dieser Beitrag wurde ursprünglich verfasst für den Sammelband: Ehrenspeck/Schäffer (Hg.) (2001): Film- und Fotoanalyse in der Erziehungswissenschaft. Eine Einführung. Opladen (Leske u. Budrich). Die hier abgedruckte Version unterscheidet sich von der ursprünglichen nur geringfügig.

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Literatur

  1. Vgl. dazu die Bestimmung der „phänomenologischen Methode“ bei Heidegger (1986, 7), demzufolge diese „nicht das sachhaltige Was der Gegenstände der philosophischen Forschung, sondern das Wie dieser“ charakterisiert.

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  2. „Um-zu-Motive“ verstehe ich im Sinne der phänomenologischen Soziologie von Alfred Schütz (1971), welche auf die Analyse dieser, also der ikonographischen Sinnebene als derjenigen der „Common-Sense-Typenbildung“ (vgl. Bohnsack i. d. Band) spezialisiert, aber auch eingeschränkt ist.

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  3. Dass es sich bei der Ikonik um eine grundlegend rekonstruktiv gewonnene Methode handelt (s. dazu: Bohnsack 2000a, Kap. 2 u. 10), wird dort deutlich, wo Imdahl (1995b, 617) auf die Schwierigkeiten ihrer Vermittlung eingeht. Um erläutern zu können, was Ikonik ist, „bedarf es unverzichtbar der Anschauung und der durch Anschauung zu gewinnenden Erfahrung (...) Denn eine abstrakte Erörterung trägt zur möglichen Klärung dessen, was Iko-nik ist und was in ikonischer Anschauung offenbar wird, nichts eigentlich bei.“

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  4. Diesen Gebärden auf der vorikonographischen oder auch „primären“ Sinnebene entsprechen in der Fotoanalyse von Goffman (1979, 24) die ‚‚‚small behaviors‘ — whose physical forms are fairly well codified even though the social implications or meaning of the acts may have vague elements, and which are realized in their entirety, from beginning to end, in a brief period of time and a small space.“ Diese „small behaviors“ oder Gebärden sind also noch keine Handlungen im eigentlichen Sinne (so, wie Handlungen u.a. bei Schütz 1971 definiert sind). Es gilt somit zu beachten, „daß auf einem Foto nur Gesten und Arrangements von Dingen, aber nie Handlungen abgebildet sind. Diese werden erst vom Betrachter in das Bild gelegt“ (Fuhs 1997, 272). Unter methodischen Gesichtspunkten ist hier wesentlich, dass die dokumentarische Interpretation sowohl ‚unterhalb‘ bzw. unabhängig von derartigen Handlungskonstruktionen und das bedeutet: Motivunterstellungen (Unterstellung von Um-zu-Motiven) anzusetzen vermag wie auch im Anschluss an derartige Konstruktionen.

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  5. Panofsky selbst (1932, 105) unterscheidet im übrigen auf der Ebene des „Phänomensinns“ zwischen „Sach-Sinn“ und „Ausdrucks-Sinn“, zieht hieraus aber nicht die Konsequenz, dass der Ausdruckssinn auch ohne das Medium der Ikonographie, also unvermittelt Gegenstand dokumentarischer Interpretation sein kann.

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  6. Zum Begriff des „konjunktiven Erkennens“ siehe Mannheim (1980b, 217 ff).

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  7. Der Unterscheidung von »kommunikativer‘ und ‚konjunktiver‘ Bedeutung korrespondiert in Goffmans Arbeit zur Fotoanalyse (1981, 92; Original: 1979, 22) die Unterscheidung von „flüchtig wahrgenommener Welt“ und jenen „Welten, die longitudinal organisiert sind, die längere, ineinandergreifende Handlungsverläufe und unverwechselbare Beziehungen zu anderen Menschen aufweisen.“

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  8. Für eine derartige „Sinnkomplexität des Übergegensätzlichen“ stellt im Bereich der Erziehungswissenschaft die von Dieter Lenzen (1993) vorgelegte Interpretation zweier Säuglingsbilder von Otto Dix („Neugeborenes auf Händen“ und „Neugeborener mit Nabelschnur auf Tuch“) ein schönes Beispiel dar. Denn es ist eine „Koinzidenz der Gegensätze“, eine „coincidentia oppositorum“ (ebd., 62 ff.) der Darstellung des Neugeborenen zwischen liebenswertem Wesen und komisch-hässlicher Kreatur, die im Zentrum der Interpretation steht.

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  9. Vgl. zum mimetischen Erkennen oder Handeln Bourdieu (1992a, 105). Die Mimesis ist nicht mit „Imitation“ zu verwechseln. Wie Gebauer/Wulf (1998, 25) erläutern, nimmt der mimetisch Lernende ein „Modell in sich hinein, paßt diesem seine Motorik an und führt es schließlich als eigene, dem Vorbild angeglichene Bewegung aus.“

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  10. „Poetische Metaphern kommunizieren auf diese Weise innerhalb der Sprache mit Bildlichkeit. Sie sind in dem Sinne absolut, als sie einen Sinn präsentieren, für den es keine diskursive Übersetzung gibt“ formuliert Boehm (1978, 470; Anm. 7) im Zuge seiner Suche danach, „wie Bild und Sprache an einer gemeinsamen Ebene der ‚Bildlichkeit‘ partizipieren“ (ebd., 447).

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  11. Insofern ist es nicht nachvollziehbar, wenn es bei Müller-Doohm (1993, 448) nicht nur im Hinblick auf die ikonologische, sondern auch die ikonische Interpretation heißt: „Das iko-nologisch-ikonographische Interpretationsschema sowie das Analysemodell der Ikonik implizieren die Annahme einer Textförmigkeit des Bildes, die es überhaupt lesbar und herme-neutisch deutbar macht.“ Müller-Doohm fährt dann fort: Dies „läßt Parallelen zur struktu-ralen Hermeneutik vermuten, der die Annahme zugrunde liegt, daß die soziale Realität selbst beschaffen ist wie ein Text“ (ebd.). Derartige Annahmen, wie sie fiir die strukturale bzw. objektive Hermeneutik konstitutiv sind, sind einer verengten Perspektive auf den Charakter der alltäglichen Handlungs- und Verständigungspraxis geschuldet. Wie an anderer Stelle (Bohnsack 2000a, Kap. 4 u. 10) weiter ausgeführt ist, bietet uns die objektive Hermeneutik kein Modell alltäglicher Verständigungspraxis jenseits einer begrifflich-explizie-renden und somit textförmigen Verständigung, die wir mit Mannheim als Interpretation‘ bezeichnen. Im Sinne der objektiven Hermeneutik sind die Akteure jenseits ihrer wechselseitigen Interpretationen (wie sie sich im Modus des subjektiv-intentionalen Sinns vollziehen) nicht — wie in wissensoziologischer Perspektive, also im Sinne der dokumentarischen Methode — durch atheoretisches Wissen, sondern lediglich durch (‚latente‘) Strukturen aufeinander bezogen, die auf Seiten der Akteure nicht wissensmäßig repräsentiert sind, sondern lediglich auf Seiten des (wissenschaftlichen) Beobachters in Form von Interpretationen. In dieser Hinsicht unterscheiden sich Ikonik und dokumentarische Methode einerseits und objektive Hermeneutik andererseits sehr deutlich. Insofern ist Jo Reichertz (1992, 144) zuzustimmen, wenn er an der objektiven Hermeneutik kritisiert, dass Foto und Text als „strukturgleich“ definiert werden. Allerdings erfahren wir bei Reichertz nichts darüber, worin sich denn nun das Foto bzw. Bild in seiner Struktur von derjenigen des Textes unterscheidet, d.h. welche — im Unterschied zum Text — andere und besondere Bedeutung und Funktion der Ikonizität im Kontext des sozialen Handelns und der interaktiven Verständigung zukommt. Dies hängt damit zusammen, dass auch der (von Reichertz vertretenen) „hermeneutischen Wissenssoziologie“ der Zugang zu den „atheoretischen“ Sinnzusammenhängen fehlt.

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  12. Dies ist in der objektiven Hermeneutik immer wieder versucht worden. Deren Anhänger suchen im Zuge der selbst gesetzten Aufgabe, die an der Textinterpretation gewonnene Methodik der Sequenzanalyse auf die Bildinterpretation zu übertragen, nach einem „Ausweg, der an (...) der Temporalität der Sequanzanalyse festhält“ (Englisch 1991). So unternimmt Loer (1994) den Versuch, sequentiell strukturierte „ikonische Pfade“ aufzufinden und muss dabei von zwei Unterstellungen ausgehen: zum einen, dass der „Malprozess“ (ebd., 351) einem solchen sequentiell strukturierten Pfad folgt, und zum anderen, dass dieser Pfad bzw. mehrere mögliche Pfade (Loer spricht von der „Mehrdimensionalität von möglichen Sequenzen“; ebd., 353) fur den Bildinterpreten in ihrer je spezifischen Sequen-tialität rekonstruierbar sind. Bei Englisch (1991, 148) führt die Suche nach einem „Korre-spondens“ für die Sequenzanalyse in der Bildinterpretation schließlich zu „allgemeinen Organisationsgesetzen der Wahrnehmung“ in der Gestaltpsychologie, wie sie die Wahrnehmung des Rezipienten/Interpreten strukturieren, und somit (auch wenn sie das selbst nicht so zugesteht) weg von der Sequenzanalyse. Sinnvoller erscheint hier wohl die Anknüpfung an formale ästhetische Prinzipien der Komposition, zu denen die Kunstgeschichte viel Präzises und Konkretes anzubieten hat. In ihrer Forschungspraxis bewegt sich Englisch mit ihrer ertragreichen Interpretation in Richtung dessen, was ich im folgenden als Kompositionsvariation bezeichnen werde — mit dem allerdings erheblichen Unterschied, dass sie beansprucht, über so etwas wie einen „Normalkontext“ zu verfügen, also eine bzw. die „normale“ Kompositionsvariante (zur Kritik am Normalitätsanspruch der Hermeneutik im Bereich der Textinterpretation vgl. auch Bohnsack 2000a, Kap. 4, 5 u. 10).

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  13. Dies ist eine sehr grobe Charakterisierung der für die Textinterpretationen im Rahmen der dokumentarischen Methode konstitutiven Sequenzanalyse bzw. komparativen Analyse. Für eine genauere Darstellung sowie für die Unterschiede zur objektiven Hermeneutik siehe: Bohnsack 2001a sowie 2000a, 203 ff.

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  14. Zur komparativen Analyse siehe auch den Beitrag von Nohl i. d. Band.

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  15. Nach Panofsky dokumentiert sich in der Einführung der Zentralperspektive ein Wandel hin zur Anerkennung von Subjektivität in dem Sinne, dass in der Zentralperspektive die Vorstellung von einem Subjekt impliziert ist, welches seinen Blickpunkt, seine Perspektive frei zu wählen vermag (vgl. Panofsky 1964b, 123 sowie dazu auch Imdahl 1996, 18).

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  16. Siehe dazu den Beitrag von Bohnsack zur Typenbildung sowie den Beitrag von Nohl i. d. Band; siehe auch Bohnsack 2000a, Kap. 10.

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  17. Diese Ebene des Phänomensinns bei Panofsky korrespondiert (insbesondere in ihrer spezifischen Ausprägung des „Sachsinns“) in gewisser Weise mit der Ebene der „nicht-kodierten bildlichen Botschaft“ oder auch mit dem „buchstäblichen“ oder „denotierten Bild“ bei Roland Barthes (1990, 32 ff.).

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  18. Wie sehr nicht allein die Produktion von Fotos, sondern auch deren Interpretation eine Funktion des gruppenspezifischen, genauer: des kollektiven Habitus ist, zeigt die empirische Analyse von Michel (i. d. Band; siehe auch Michel 2001). Die Analyse von Bourdieu ist allerdings nicht primär auf die an den Fotos selbst rekonstruierbaren ästhetischen Prinzipien gerichtet, um auf dieser Grundlage dann die gesellschaftliche Funktion der Fotos herauszuarbeiten. Vielmehr stützt sich Bourdieu im wesentlichen auf die Äußerungen, also die Texte der fotografischen Akteure. Somit kann diese Arbeit keinen direkten Beitrag zur Entfaltung einer Methodik der Fotointerpretation leisten.

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  19. „Unter diesem Gesichtspunkt ist die Ikonik eine weniger historisch als vielmehr ästhetisch orientierte Betrachtungsweise, wie immer noch zu beurteilen bleibt, ob nicht gerade das in ikonischer Betrachtungsweise zu ästhetischer Gegenwart gebrachte und insofern verselbständigte Kunstwerk den religiösen und geschichtlichen Zusammenhang, aus dem es hervorgegangen ist, wachhält, also tradiert“ (Imdahl 1996, 97 f.).

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© 2001 Leske + Budrich, Opladen

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Bohnsack, R. (2001). Die dokumentarische Methode in der Bild- und Fotointerpretation. In: Bohnsack, R., Nentwig-Gesemann, I., Nohl, AM. (eds) Die dokumentarische Methode und ihre Forschungspraxis. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-92213-7_4

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  • DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-322-92213-7_4

  • Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften

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  • Online ISBN: 978-3-322-92213-7

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