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Lebensverlauf, Zufall und individuelle Kriminalprognose

Gefahren beim Erstellen einer Biografie

Life course, contingency and individual criminal prognosis

Pitfalls of writing a biography

  • Originalarbeit
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Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie Aims and scope Submit manuscript

Zusammenfassung

Retrospektiv den Lebensverlauf eines anderen Menschen zu beschreiben, ist ein Akt der Geschichtsschreibung, mit all ihren Problemen. Zu unterscheiden ist zwischen den historischen Geschehnissen und ihrer zeitlichen Abfolge, also der im besten Fall einigermaßen vollständigen und durch Indizien, Spuren, Dokumente gesicherten Chronik (res gestae) einerseits. Ihr gegenüber steht die ordnende, Zusammenhänge herstellende Repräsentation dieser Geschehnisse in einem von Menschen geschaffenen, um Nachvollzug oder Rekonstruktion bemühten Narrativ, die Geschichtsschreibung (historia rerum gestarum). Narrativ heißt zu Deutsch: eine Geschichte. Forensische Psychiater und Psychologen sind in einem erheblichen Umfang mit dem Verfassen von Biografien befasst, bei denen es sinnvoll wäre, sich der Irrtumsmöglichkeiten und auch der Möglichkeiten zu fahrlässigem Handeln bewusst zu sein. Das Verfassen der Biografie über einen anderen erfolgt in einem Machtzusammenhang; die erstellte Lebensgeschichte hat möglicherweise schwerwiegende Folgen für den Biografierten. Sie steht unter Wahrheitspflicht, auch wenn nur Annäherungen an die Wahrheit möglich sind, v. a. durch größtmögliche Sorgfalt und Unvoreingenommenheit. Zu den Hauptgefahren zählen die vorschnelle Formatierung und Reduktion der Biografie auf erlernte kriminologische oder psychologische Schemata. Abgelehnt wird jedoch das Angebot, die Reduktion der Informationen auf die Spitze zu treiben und für die Prognostik künftigen Legalverhaltens nur noch die systematisch reduzierten Informationen der standardisierten Instrumente zu verwenden.

Abstract

To retrospectively describe the course of life of another person is an act of writing history, with all its problems. A differentiation must be made between the historical events and their temporal sequence, in the best case scenario by a somewhat complete chronicle (res gestae) confirmed by indications, hints and documents. In contrast, there is the regulatory, association-forming representation of these events in a narrative construed by people for re-enactment or reconstruction, history writing (historia rerum gestarum). In German, narrative means: a history. Forensic psychiatrists and psychologists are concerned to a considerable extent with the drafting of biographies, in which it would be reasonable to be conscious of the possibilities for errors and also the possibilities for negligent actions. The composition of a biography about another person is carried out in association with power; the prepared life history possibly has severe consequences for the subject of the biography. It is duty bound to present the truth even if only approximations to the truth are possible, particularly by high diligence and impartiality. The main dangers include the premature formatting and reduction of the biography to previously learnt criminological or psychological schemata; however, the proposal to carry the reduction of information to extremes and to use only the systematically reduced information of the standardized instruments for the prognosis of future legal behavior is rejected.

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Kröber, HL. Lebensverlauf, Zufall und individuelle Kriminalprognose. Forens Psychiatr Psychol Kriminol 12, 73–82 (2018). https://doi.org/10.1007/s11757-017-0457-9

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