Zusammenfassung
Der 1986 erschienene Prosaband steht im Zeichen einer von Grass befürchteten Endzeitkatastrophe mit der Auslöschung jeglicher Zivilisation, wie sie sich damals in atomarer NATO-Nachrüstung und bundesdeutscher Kernpolitik abzuzeichnen schien. Eine zukunftslos gewordene Wirklichkeit schlägt sich in der Schreibobsession eines Erzähler-Ichs nieder, für den eine Jungratte zur narrativen Initialzündung und zum diskursiven Widerpart wird. Wie in einem permanenten Albtraum erscheint sie dem Erzähler bei Tag und Nacht, oft in virtueller Gestalt auf einer Videowand, um mit ihm einen endlosen Disput über den Zustand der Welt aufzunehmen. Dieses Erzählen kommt einem Verspiegelungssystem gleich, das mit verschiedenen Zeit- und Raumvorstellungen jongliert, es prägt sich aus in einem Wirbel von Wahrnehmungen, Debatten, Argumenten und Gegenargumenten, von Visionen, Bildern, Geschichten, Erinnerungen und Einbildungen. Vor allem die Idee des Erzählers vom erziehbaren Menschengeschlecht, seine Hoffnung, „daß es weitergeht“, wird einem medialen Reflexions- und Negationsspiel ausgeliefert. Als eine Art Realfiktion oszilliert die Rättin in den versuchsartigen Welt- und Zeit-Projektionen des Erzähler-Ichs: „Sie spricht. Oder erlaubt sie mir, indem sie mich träumt, ungetrübt noch immer zu glauben, sie träume mir und habe, damit ich schweige, als Rättin eindeutig wieder das Wort genommen.“ Was mediale Konstruktion und was das hiervon unterscheidbare Wahrhaftige ist, kann ein Erzähler, der hoffnungslos um sein kognitives Ich zu kämpfen hat, nicht mehr aufklären.
Ursprünglich veröffentlicht unter © J.B. Metzler’sche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH
Bibliographie
Literatur
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Zimmermann, H. (2020). Grass, Günter: Die Rättin. In: Arnold, H.L. (eds) Kindlers Literatur Lexikon (KLL). J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-05728-0_6534-1
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