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Die Verzeitlichung der Gattungspoetik 1768–1951

Zur Wissensgeschichte einer Fehlauslegung

Temporalization of the Poetics of Genre 1768–1951

On the Knowledge History of a Misinterpretation

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Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte Aims and scope Submit manuscript

Zusammenfassung

Goethe und Schiller erklären in ihrer Programmschrift »Ueber epische und dramatische Dichtung« (1797/1827) den wesentlichen Unterschied zwischen epischer und dramatischer Dichtung für darin begründet, dass der Epiker die Begebenheit als ›vollkommen vergangen‹ vortrage, und der Dramatiker sie als ›vollkommen gegenwärtig‹ darstelle. Der Gedanke erscheint auf den ersten Blick auffallend ›neu‹. Der traditionellen Poetik ist eine solche, unter dem Aspekt der dargestellten Zeitlichkeit erfolgende, Unterscheidung von Dichtungsgattungen unbekannt. Bei der Unterscheidung zwischen Epos und Drama stand, von der griechischen Antike über die europäische Renaissance bis in die Zeit von Goethe und Schiller, in aller Regel das Redekriterium im Vordergrund, das danach fragte, ob der Dichter selbst spreche oder andere Personen sprechen lasse. Wie kommt es zur ›Erfindung‹ des Zeitkriteriums in der Gattungspoetik? Der vorliegende Beitrag geht dem noch weitgehend unerforschten Ursprung der Goethe-Schiller’schen Unterscheidung nach.

Abstract

Goethe and Schiller announce in their programmatic essay »On Epic and Dramatic Poetry« (1797/1827) that the essential difference between epic and dramatic poetry consists in that the epic poet presents the event as ›perfectly past‹, and the dramatic poet represents it as ›perfectly present‹. The idea appears, at first sight, conspicuously ›new‹. The traditional poetics knows of no such distinction of poetic genres under the aspect of represented temporality. So far as the distinction between epic and drama is concerned, from the Greek antiquity through the European Renaissance up until the time of Goethe and Schiller, it was generally the speech criterion that used to frame the determining question by asking whether the poet spoke himself or let other persons speak. How does the ›invention‹ of the time criterion in the poetics of genre occur? The present article delves into the yet largely unexplored origin of the Goethe-Schillerian distinction.

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Notes

  1. Johann Wolfgang Goethe, Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe, hrsg. Karl Richter, 21 Bde., München 1985–1998, IV/2 (1986), 126, Hervorhebung im Original.

  2. Vgl. Aristoteles, Poet. 1, 1447a13–18; 3, 1448a24–25.

  3. Vgl. Aristoteles, Poet. 5, 1449b9–14; 6, 1449b21–31; 17, 1455b15–16; 24, 1459b17–18.

  4. Aristoteles, Poetik, Griechisch/Deutsch, übers. und hrsg. Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1994, 9.

  5. Vgl. Platon, Rep. III, 392c6–394c7. Der platonische Sokrates erklärt im Gespräch mit Adeimantos – zitiert sei aus Friedrich Schleiermachers Übersetzung –, »daß von der gesamten Dichtung und Fabel einiges ganz in Darstellung [μίμησις] besteht, wie du sagst, die Tragödie und Komödie, anderes aber in dem Bericht [ἀπαγγελία] des Dichters selbst, welches du vorzüglich in den Dithyramben finden kannst, noch anderes aus beiden verbunden, wie in der epischen Dichtkunst und auch vielfältig anderwärts, wenn du mich verstehst« (Platon, Werke in acht Bänden, Griechisch und deutsch, hrsg. Gunther Eigler, 2., unveränderte Aufl., Darmstadt 1990, IV, 205; vgl. auch 201; 203).

  6. Vgl. Klaus R. Scherpe, Gattungspoetik im 18. Jahrhundert. Historische Entwicklung von Gottsched bis Herder, Stuttgart 1968, 9.

  7. Anstatt eines umfassenden Literaturüberblickes sei hier auf eine zwar ältere, aber materialreiche und nach wie vor wertvolle Gesamtdarstellung verwiesen, die entgegen der Titelgebung auch die Gattungspoetik der Antike und des Mittelalters eingehend berücksichtigt: Irene Behrens, Die Lehre von der Einteilung der Dichtkunst vornehmlich vom 16. bis 19. Jahrhundert. Studien zur Geschichte der poetischen Gattungen, Halle a. d. S. 1940. Klaus R. Scherpes differenzierter Befund, dass das Redekriterium im 17. Jahrhundert stellenweise an Bedeutung einbüße, bevor es im 18. Jahrhundert erneut entscheidende Bedeutung erlange (vgl. Scherpe [Anm. 6], 14), ficht dessen überragenden Stellenwert in der Geschichte der Gattungspoetik nicht an. Als paradigmatisches Zeugnis dafür darf das historisch-kritisch intendierte Urteil Hermann Baumgarts angeführt werden: »Der ganze, in der Erscheinung so überaus stark hervortretende Unterschied der Gattungen beruht demnach auf der Verschiedenheit der Art und Weise der Nachahmung, die bei der einen durch Erzählung, bei der andern durch Handelnde geschieht; alle technischen Vorschriften über die grundverschiedene Einrichtung des Dramas und des Epos sind aus diesem einen Unterschiede herzuleiten« (Hermann Baumgart, Handbuch der Poetik. Eine kritisch-historische Darstellung der Theorie der Dichtkunst, Stuttgart 1887, 329, Hervorhebung im Original).

  8. Diesen Eindruck kann man gewinnen bei Albert Meier, »Lyrisch – episch – dramatisch«, Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, hrsg. Karlheinz Barck u. a., Stuttgart, Weimar 2000–2005, III (2001), 709a–723a, hier: 716b–717a.

  9. Manfred Pfister, Das Drama. Theorie und Analyse, 11. Aufl., München 2001, 23.

  10. Wolfgang Kayser, Das sprachliche Kunstwerk. Eine Einführung in die Literaturwissenschaft, 20. Aufl., Tübingen, Basel 1992, 205.

  11. Wilhelm Voßkamp, »Dialogische Vergegenwärtigung beim Schreiben und Lesen. Zur Poetik des Briefromans im 18. Jahrhundert«, DVjs 45 (1971), 80–116, hier: 92.

  12. Goethe (Anm. 1), VIII/1, 470, Hervorhebung im Original; vgl. Voßkamp (Anm. 11), 100.

  13. Peter Szondi, Schriften, hrsg. Jean Bollack u. a., mit einem Nachwort von Christoph König, 2 Bde., Berlin 2011, I, 19.

  14. Georg Lukács, Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik, Berlin 1920, 135.

  15. Emil Staiger, Grundbegriffe der Poetik, 6. Aufl., Zürich, Freiburg i. Br. 1963, 62. In Abgrenzung zum Lyriker heißt es an späterer Stelle: »Der Epiker nämlich vertieft sich nicht erinnernd in das Vergangene wie der Lyriker, sondern er gedenkt. Und im Gedenken bleibt der zeitliche wie der räumliche Abstand erhalten. Das Ferne wird vergegenwärtigt, so, daß es uns vor Augen und eben deshalb gegenübersteht, als eine andere, wunderbare und größere Welt« (87).

  16. Szondi (Anm. 13), I, 74.

  17. Käte Hamburger, »Zum Strukturproblem der epischen und dramatischen Dichtung«, DVjs 25 (1951), 1–26, hier: 3.

  18. Vgl. Hamburger 1951 (Anm. 17); Käte Hamburger, »Das epische Praeteritum«, DVjs 27 (1953), 329–357; Käte Hamburger, »Die Zeitlosigkeit der Dichtung«, DVjs 29 (1955), 413–426; Käte Hamburger, Die Logik der Dichtung, Stuttgart 1957, 27–72.

  19. Vgl. Hamburger 1953 (Anm. 18), 332–338; Hamburger 1957 (Anm. 18), 32–49.

  20. Hamburger selbst attestiert neben Staiger und Kayser auch Roman Ingarden, mit Bezug auf dessen bekannte Untersuchung Das literarische Kunstwerk (1931), eine analoge Auffassung (vgl. Hamburger 1951 [Anm. 17], 3, Anm. 1; 4–5; Hamburger 1953 [Anm. 18], 329). Zwar nimmt Ingarden in Kapitel 7, § 36, »Die dargestellte Zeit und die Zeitperspektiven«, eine ontologisch-phänomenologische Unterscheidung zwischen der dargestellten und der wirklichen Zeit vor und bestimmt die im literarischen Werk dargestellte Zeit als »nur ein Analogon der wirklichen Zeit« (Roman Ingarden, Das literarische Kunstwerk, 4., unveränderte Aufl., Tübingen 1972, 250; vgl. auch 247; 248), aber eben im Rahmen eines solchen Analogons werden »die Geschehnisse, an denen die dargestellten Gegenstände teilnehmen«, als »wesensmäßig zeitlich« (247) aufgefasst, nicht zuletzt in dem Sinne, dass sie entweder »im Lichte der Vergangenheit zur Darstellung gebracht werden« oder »in der Gegenwartsform« (250).

  21. Im Gegensatz dazu wusste Walter Benjamin um diese Zeit – 1929, um genauer zu sein – sehr wohl um das Potenzial der erzählenden Literatur, die »Evidenz des Hier und Jetzt« zu suggerieren, und zwar mit besonderem Bezug auf »die Prosadichtung von Johann Peter Hebel«: »Alle Beschäftigung mit diesem großen und nie genug geschätzten Meister läuft darauf hinaus, ihn als diesen Vergegenwärtiger ohnegleichen uns selber gegenwärtig zu machen« (Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, hrsg. Rolf Tiedemann, Hermann Schweppenhäuser, 7 Bde., Frankfurt a. M. 1972–1989, II/2 [1977], 635).

  22. Eine literaturwissenschaftliche Propädeutik aus dem Jahre 2006 etwa gibt im Abschnitt über »Dramatik (Szenisch-dramatische Texte)« die Auskunft: »Im Gegensatz zur epischen Berichtform wird im Drama die Handlung nicht im Nachhinein erzählt und von einer Erzählinstanz vermittelt, sondern als aktuell sich auf einer begrenzten Bühnenplattform vollziehendes Geschehen dargeboten« (Sabina Becker, Christine Hummel, Gabriele Sander, Grundkurs Literaturwissenschaft, Stuttgart 2006, 148); am Ende desselben Absatzes folgt der Hinweis auf Pfister (Anm. 9), 23. Vor dem Hintergrund solcher persistenten Nachwirkungen des hier interessierenden Wissens im 21. Jahrhundert ist es erinnernswert, dass zwei ältere einschlägige Studien aus dem 20. Jahrhundert, Robert Petschs Wesen und Formen der Erzählkunst (1934) und Eberhard Lämmerts Bauformen des Erzählens (1955), bei der Diskussion über Gattungsmerkmale sinnvollerweise von dem Aspekt der dargestellten Zeitlichkeit abgesehen haben. Petsch verzichtete bei aller engen Orientierung an Goethes und Schillers Theoriebeiträgen auf jegliche Bezugnahme auf die Unterscheidung zwischen epischer und dramatischer Dichtung anhand des Zeitkriteriums und definierte »[a]lle Erzählkunst« vielmehr als »betonte Vorgangsdichtung« unter Verschränkung wechselvoller dargestellter Zusammenhänge, die »verschiedenen Seins- und Sinngebieten an[gehören]« (Robert Petsch, Wesen und Formen der Erzählkunst, 2. vermehrte und verbesserte Aufl., Halle a. d. S. 1942, 90–91). Lämmert, dem Hamburgers Untersuchungen von 1951 und 1953 vorlagen, hob ausdrücklich hervor: »Grundsätzlich besitzt die erzählerische Fiktion ebenso eine eigene Zeit-Raum-Konstellation wie sie überhaupt einen Lebenszusammenhang darbietet, der von der realen Wirklichkeit schon durch seine Abrundung kategorial verschieden ist« (Eberhard Lämmert, Bauformen des Erzählens, 8., unveränderte Aufl., Stuttgart 1988, 26).

  23. Lukács (Anm. 14), 128–129.

  24. Vgl. Hamburger 1951 (Anm. 17), 2; Hamburger 1953 (Anm. 18), 329; Hamburger 1955 (Anm. 18), 419; Hamburger 1957 (Anm. 18), 28.

  25. Hamburger 1951 (Anm. 17), 5; vgl. auch 3: »Seit Goethe hat man, soweit ich sehe, das epische Präteritum ohne weiteres dahin aufgefaßt, daß der Erzähler die Handlung als eine vergangene, ja erinnerte berichtet, so daß also das Präteritum der Erzählung dieselbe Funktion wie das der realen (mündlichen oder schriftlichen) Aussage über ein reales vergangenes Ereignis hätte«. In »Die Zeitlosigkeit der Dichtung« nennt Hamburger zwei »Fehlerquellen, aus denen offenbar, direkt oder indirekt, Verwirrung in die aktuelle Zeitproblematik der Dichtung geflossen« sei: Diese hätten »ihren Ursprung einerseits in Lessings Laokoontheorie, andererseits in Goethes und Schillers Auffassung über die epische und dramatische Dichtung« (Hamburger 1955 [Anm. 18], 413). Der erstere Hinweis bezieht sich allgemein auf die im Laokoon (1766) entwickelte »Annahme Lessings, daß Dichtung einer Kunst der Zeit sei« (414, Hervorhebung im Original) – »die Zeitfolge ist das Gebiete des Dichters« (Gotthold Ephraim Lessing, Werke, hrsg. Herbert G. Göpfert, 8 Bde., München 1970–1979, VI [1974], 116) –, und die daraus entstandene Vorstellung, gedichtete Vorgänge gäben natürliche Zeitverläufe wieder (vgl. Hamburger 1955 [Anm. 18], 414–418); der letztere Hinweis hingegen gilt speziell der »vornehmlich durch Goethe[] – mehr als durch Schiller[] –« angestoßenen »Zuordnung der fiktionalen Gattungen zu den natürlichen Zeit- und Tempusbedeutungen« (419). Bei Staiger finden wir die beiden »Fehlerquellen« in einer poetologischen Betrachtung vereinigt: »Als auf die Sprache angewiesener Dichter schreitet der Epiker fort und folgt dem Nacheinander der Zeit, im Gegensatz zu dem bildenden Künstler, der dasteht und das Nebeneinander und Hintereinander des Raumes erfaßt. Bei jedem Schritt aber hält der Epiker inne und sieht sich von festem Standpunkt aus einen festen Gegenstand an. Jetzt dies, jetzt jenes: die Zeit vergeht, indem der Dichter ein Bild nach dem anderen wahrnimmt und dem Hörer zeigt« (Staiger [Anm. 15], 109).

  26. Hamburger 1953 (Anm. 18), 329.

  27. Goethe (Anm. 1), VIII/1, 470.

  28. Vgl. Klaus Gerlach, »Zur Datierung eines Aufsatzes von Goethe und Schiller«, Goethe-Jahrbuch 104 (1987), 379–381; vgl. dagegen Agnes Kornbacher, »August Wilhelm Schlegels Einfluß auf den Aufsatz ›Über epische und dramatische Dichtung von Goethe und Schiller‹ (1797)«, Goethe-Jahrbuch 115 (1998), 63–67, hier: 67.

  29. Goethe (Anm. 1), VIII/1, 474.

  30. Vgl. Hamburger 1951 (Anm. 17), 2; Hamburger 1957 (Anm. 18), 28; 48; vgl. auch Gabriele Kalmbach, Der Dialog im Spannungsfeld von Schriftlichkeit und Mündlichkeit, Tübingen 1996, 7.

  31. Goethe (Anm. 1), VIII/1, 474.

  32. Franz Grillparzer, Sämmtliche Werke, 4. Ausg., 16 Bde., Stuttgart 1887, XII, 176.

  33. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke in zwanzig Bänden. Theorie-Werkausgabe, Red. Eva Moldenhauer, Karl Markus Michel, Frankfurt a. M. 1970, XV, 323, Hervorhebung im Original; vgl. auch 474: »[…] unter den besonderen Gattungen der redenden Kunst wiederum [ist] die dramatische Poesie diejenige, welche die Objektivität des Epos mit dem subjektiven Prinzip der Lyrik in sich vereinigt, indem sie eine in sich abgeschlossene Handlung als wirkliche, ebensosehr aus dem Inneren des sich durchführenden Charakters entspringende als in ihrem Resultat aus der substantiellen Natur der Zwecke, Individuen und Kollisionen entschiedene Handlung in unmittelbarer Gegenwärtigkeit darstellt. Diese Vermittlung des Epischen durch die Innerlichkeit des Subjekts als gegenwärtig Handelnden erlaubt es dem Drama nun aber nicht, die äußere Seite des Lokals, der Umgebung sowie des Tuns und Geschehens in epischer Weise zu beschreiben, und fordert deshalb, damit das ganze Kunstwerk zu wahrhafter Lebendigkeit komme, die vollständige szenische Aufführung desselben« (vgl. auch 519).

  34. Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Kunst. Berlin 1823. Nachgeschrieben von Heinrich Gustav Hotho, hrsg. Annemarie Gethmann-Siefert, Hamburg 1998, 282–284; vgl. auch 298–300; Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Philosophie der Kunst oder Ästhetik. Nach Hegel. Im Sommer 1826. Mitschrift Friedrich Carl Hermann Victor von Kehler, hrsg. Annemarie Gethmann-Siefert, Bernadette Collenberg-Plotnikov, München 2004, 204–205; vgl. auch 221–227.

  35. Vgl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Sämmtliche Werke, hrsg. Karl Friedrich August Schelling, 2 Abt., 14 Bde., Stuttgart, Augsburg 1856–1861, I/V (1859), 692: »Es ist also nur Eine mögliche Darstellung, bei welcher das Darzustellende ebenso objektiv als im epischen Gedicht, und doch das Subjekt ebenso bewegt ist als im lyrischen Gedicht: es ist nämlich die, wo die Handlung nicht in der Erzählung, sondern selbst und wirklich vorgestellt wird (das Subjektive objektiv dargestellt wird). Die vorausgesetzte Gattung, welche die letzte Synthese aller Poesie seyn sollte, ist also das Drama«; Johann Georg Sulzer, Allgemeine Theorie der Schönen Künste in einzeln, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter auf einander folgenden, Artikeln abgehandelt, 4 Tle., neue vermehrte 3. Aufl., Frankfurt, Leipzig 1798, I, 764b (»Drama. Dramatische Dichtkunst«, 764a–806b): »Die Epopee erzählt dieselben [sc. die Handlungen der Menschen], doch so, daß sie uns in den wichtigsten Vorfällen die handelnden Personen gleichsam abmahlt, und daß wir uns einbilden, sie handeln zu sehen; die Schaubühne aber stellt uns würklich handelnde Menschen vors Gesicht, und das Drama enthält ihre Reden, und jede Aeußerung ihrer Gedanken und Empfindungen«. Umlaute mit hochgestelltem e werden hier und im Folgenden in der heute gebräuchlichen Form wiedergegeben.

  36. Allenfalls bringt Sulzer den Aspekt der imaginierten Zeitlichkeit ins Spiel, die für alle Dichtung charakteristisch sein soll, und zwar in dem Sinne, dass der Dichter (im Unterschied zum Redner) »seinen Gegenstand anders sieht, als andre Menschen, daß ihm das Vergangene und Zukünftige, als gegenwärtig, das blos Eingebildete, als würklich vorhanden vorkommt« (Sulzer [Anm. 35], I, 670b–671a [»Dichtkunst. Poesie«, 670b–711a], Hervorhebung im Original). Dementsprechend heißt es in Sulzers Theorie der Dichtkunst (1788–1789) vom »epischen Dichter«: »[…] weil er alles, was er besingt, in seiner Einbildungskraft als gegenwärtig, und sehr umständlich vor sich sieht, so ist es ganz natürlich, daß er viel mehr malerische Beywörter braucht, als der, welcher historisch erzählt« (Albrecht Kirchmayer, Johann Georg Sulzers Theorie der Dichtkunst. Zum Gebrauch der Studirenden bearbeitet, 2 Tle., München 1788–1789, II [1789], 64–65, § [24]).

  37. Vgl. Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe, hrsg. Michael Knaupp, 3 Bde., München 1992–1993, II (1992), 102–107.

  38. Vgl. Goethe (Anm. 1), V, 305–307. Vielsagend ist hier, dass die Diskussion über den Unterschied zwischen Roman und Drama mit der Relativierung des Redekriteriums beginnt, womit gleichzeitig der allgemein übliche Rekurs auf dasselbe bestätigt wird: »Der Unterschied beider Dichtungsarten liegt nicht bloß in der äußern Form, nicht darin, daß die Personen in dem einen sprechen, und daß in dem andern gewöhnlich von ihnen erzählt wird. Leider viele Dramas sind nur dialogierte Romane, und es wäre nicht unmöglich ein Drama in Briefen zu schreiben« (306). Rund ein Vierteljahrhundert später wiederum werden Epos und Drama, im Abschnitt über »Naturformen der Dichtung« der Noten und Abhandlungen zu besserem Verständniß des West-östlichen Divans (1819), ganz nach Maßgabe des Redekriteriums definiert: Ersteres als »klar erzählend[]«, Letzteres als »persönlich handelnd[]« (Goethe [Anm. 1], XI/1/2, 194).

  39. Jean Paul, Sämtliche Werke, hrsg. Norbert Miller, Wilhelm Schmidt-Biggemann, 2 Abt., 10 Bde., München, Wien 1959–1985, I/V (1963), 238, § 66.

  40. Die Stelle lautet weiter: »Die Vergangenheit ist eine versteinerte Stadt; – die Außenwelt, die Sonne, die Erde, das Tier- und Lebenreich stehen auf ewigem Boden. Aber die Gegenwart, gleichsam das durchsichtige Eisfeld zwischen den Zeiten, zerfließt und gefrieret in gleichem Maße, und nichts dauert an ihr als ihr ewiges Fliehen – Und die innere Welt, welche die Zeiten schafft und vormißt, verdoppelt und beschleunigt sie daher; in ihr ist nur das Werden, wie in der äußern das Sein nur wird; Sterben, Leiden und Fühlen tragen in sich den Pulsschlag der Schnelligkeit und des Ablaufs« (Jean Paul [Anm. 39], I/V, 238–239, § 66, Hervorhebung im Original).

  41. Ernst Platner, Philosophische Aphorismen nebst einigen Anleitungen zur philosophischen Geschichte, Tl. 1, neue durchaus umgearbeitete Ausg., Leipzig 1784, 189, § 599.

  42. Vgl. Alexander Košenina, Ernst Platners Anthropologie und Philosophie. Der ›philosophische Arzt‹ und seine Wirkung auf Johann Karl Wezel und Jean Paul, Würzburg 1989, 118, Anm. 23.

  43. Wilhelm von Humboldt, Ästhetische Versuche. Erster Theil. Über Göthe’s Herrmann und Dorothea, Braunschweig 1799, 221; vgl. auch 218–219.

  44. Vgl. David E. Wellbery, »Stimmung«, Ästhetische Grundbegriffe (Anm. 8), V, 703b–733b, hier: 711a–712b.

  45. Humboldt (Anm. 43), 222.

  46. Vgl. Wilhelm von Humboldt, Gesammelte Schriften, hrsg. Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften, Berlin 1903–1936, II (1904), 403 (Kommentar von Albert Leitzmann).

  47. Friedrich Schiller, Werke und Briefe in zwölf Bänden, hrsg. Otto Dann u. a., Frankfurt a. M. 1988–2004, XII (2002), 396.

  48. Auch die anschließenden Sätze sind aus Schillers Brief zum größten Teil wortgleich übernommen: »Jene erlaubt Klarheit, Freiheit, Gleichgültigkeit; diese bringt Erwartung, Ungeduld, pathologisches Interesse hervor. Daher drängt die letztere das Gemüth in sich selbst zurück, da die Epopee den Menschen vielmehr in die Klarheit der Gedanken herausführt« (Humboldt [Anm. 43], 225, Anm. *). Auf den Unterschied zwischen Epos und Tragödie ging Humboldt in seinem Antwortbrief an Schiller vom 12. Juli 1798 gesondert ein: »Ueber den Begriff der Tragödie bin ich, denke ich, mit Göthe und Ihnen einiger, als Sie meynen. Auch ich unterscheide Tragödie und Epos wie gegenwärtige und vergangene Zeit, eben darum aber scheint mir die erste lyrisch. Auch müssen Sie nicht vergessen, daß ich hier nur von der Tragödie, insofern sie vom Epos verschieden ist, spreche, und also ihre plastische Natur mehr zur Seite liegen lasse. Ich werde dies in einer eignen Anmerkung erinnern« (Neue Briefe Wilhelm von Humboldts an Schiller 1796–1803, bearb. und hrsg. Friedrich Clemens Ebrard, Berlin 1911, 234, Hervorhebung im Original). In Humboldts ›Aneignung‹ ganzer Sätze aus Schillers Brief liegt eine gewisse Ironie, wenn man bedenkt, dass Schiller in demselben Brief Humboldt vor »unsre[n] neuen Kunstmetaphysiker[n]« gewarnt hatte, die ihn »studieren und benutzen, aber es wohl bleiben lassen [würden], die Quelle zu bekennen, aus der sie ihren Reichthum hohlten« (Schiller [Anm. 47], XII, 398).

  49. [August Wilhelm Schlegel], »Berlin, b. Vieweg d. ält.: Taschenbuch für 1798. Herrmann und Dorothea von J. W. von Göthe. Mit Kupfern. 174 S. ohne den Calender. Taschenformat«, Allgemeine Literatur-Zeitung 393–396 (1797), Sp. 641–662; 665–668; hier: Sp. 659.

  50. Otto Behagel, Die Zeitfolge der abhängigen Rede im Deutschen, Paderborn 1878, 79.

  51. Schlegel (Anm. 49), Sp. 648. Dass es Schlegel bei seiner Bemerkung über die vorgestellte Zeitlichkeit im Epos nicht um eine historische Beschreibung, sondern um ein ästhetisches Urteil zu tun ist, wird einmal mehr deutlich, wenn er kurz später das virgilische Epos zu einem Gattungshybrid erklärt: »Virgil schuf mit Römischem Nachdrucke eine ganz eigne Art der Epopöe. An ihm, der den Neueren weit mehr Vorbild geworden ist als Homer, kann man den Unterschied der vermischten Gattung, der wir jenen Namen geben, von dem reinen ursprünglichen Epos auffallend zeigen« (Sp. 648). Mit seinen tiefer gehenden Überlegungen über den Unterschied zwischen Epos und Drama beginnt Schlegel schon an früherer Stelle, indem er, an die Unterhaltung über den Unterschied zwischen Roman und Drama in Buch 5, Kapitel 7 von Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahren anknüpfend, dem Redekriterium die Zulänglichkeit vorsichtig abspricht: »Der Unterschied der epischen und dramatischen Dichtart, die neuere Theoristen unter dem Namen der pragmatischen dem Wesen nach für einerley erklärt haben, möchte also doch, wenigstens wenn wir dabey stehen bleiben, was Epos und Tragödie bey den Alten wirklich war, etwas tiefer liegen als in der äußern Form, als darin, ›daß die Personen in dem einen sprechen, und daß in dem andern gewöhnlich von ihnen erzählt wird‹« (Sp. 644–645; vgl. Goethe [Anm. 1], V, 306). Dabei gelangt Schlegel im Laufe seiner Argumentation zu einer wesentlich komplexeren Vorstellung des Verhältnisses von Vergangenheit und Gegenwart im Vortrag des epischen Gesanges: »Die Zeitverhältnisse der Wirklichkeit werden aufgehoben, und alles fügt sich in eine nach den Gesetzen schöner Anschaulichkeit geordnete dichterische Zeitfolge, wo das Dauernde, wenn die Einbildung es auf einmal erschöpfen kann, nur einen Moment der Darstellung einnimmt, und das noch so schnell Vorübergleitende bis zur vollendeten Entfaltung des in ihm sich drängenden Lebens festgehalten wird. Nirgends ein Stillstand des Gesanges; aber auch nirgends ein unzeitiges Forteilen, sondern das schönste Gleichgewicht und Maaß der stätigen und unermüdlichen Bewegung. Der Sänger verweilt bey jedem Punkte der Vergangenheit mit so ungetheilter Seele, als ob demselben nichts vorher gegangen wäre, und auch nichts darauf folgen sollte, wodurch das Erquickliche einer lebendigen Gegenwart überall gleichmäßig verbreitet wird. In jedem Augenblicke ist daher zugleich sanfte Anregung und Beruhigung; und das epische Gebiet gleicht einem Garten des Alcinous, wo die Früchte ununterbrochen nach einander reifen, und jede zu ihrer Zeit sich willig vom Baume löst, um dem Genießenden in die Hand zu fallen« (Schlegel [Anm. 49], Sp. 646).

  52. Goethe (Anm. 1), VIII/1, 468.

  53. Vgl. Kornbacher (Anm. 28).

  54. Goethe (Anm. 1), VIII/1, 474.

  55. Schiller hält zunächst fest, die Tragödie sei »erstlich – Nachahmung einer Handlung. Der Begriff der Nachahmung unterscheide[] sie von den übrigen Gattungen der Dichtkunst, welche bloß erzählen oder beschreiben« (Friedrich Schiller, Sämtliche Werke in fünf Bänden, hrsg. Peter-André Alt, Albert Meier, Wolfgang Riedel, München, Wien 2004, V, 388). Damit greift Schiller, abweichend von Aristoteles’ gattungsübergreifendem μίμησις-Begriff (vgl. Aristoteles, Poet. 1, 1447a13–18), auf Platons spezifisch dramatisches μίμησις-Verständnis zurück (vgl. Platon, Rep. III, 392c6–394c7).

  56. Schiller (Anm. 55), V, 388; vgl. auch 383.

  57. Siehe die Stellenverweise auf die Untersuchungen Hamburgers in Anm. 24 und 25. Die durchaus interessante Frage danach, in welchem Ausmaß die jüngere Forschung Hamburger in diesem Punkt gefolgt ist, kann hier nicht untersucht werden.

  58. Vgl. Schiller (Anm. 55), I, 484.

  59. Vgl. Johann Joachim Eschenburg, Entwurf einer Theorie und Literatur der schönen Wissenschaften. Zur Grundlage bey Vorlesungen, Berlin, Stettin 1783, 37, Hervorhebung im Original.

  60. In der 1836 posthum veranstalteten, von Moritz Pinder gänzlich umgearbeiteten Ausgabe, die in den Zeitraum nach dem Erscheinen des Goethe-Schiller’schen Aufsatzes fällt, wird das Wissen um das Zeitkriterium deutlicher hervortreten: »Das Wesen des Drama’s«, heißt es dort, »besteh[e] in der als gegenwärtig dargestellten Handlung« (Johann Joachim Eschenburg, Entwurf einer Theorie und Litteratur der schönen Redekünste, 5., völlig umgearbeitete Ausg. von Moritz Pinder, Berlin 1836, 219, § 277); durch »die Vorstellung auf der Bühne« seien »die Vorgänge unserm Gemüthe, ja unseren Sinnen ganz nahe gerückt«, sodass »nicht, wie im Epos, der Schleier der Vergangenheit darüber ruh[e]« (220, § 277). Diese Sichtweise wird in einer Anmerkung weiter vertieft: »Wenn der Gegenstand des erzählenden Epos eine feststehende Vergangenheit ist, auf welcher gern der Blick ruhig verweilt, als auf einer vom Ideale erfüllten Welt der Erscheinung; wenn hingegen das lyrische Gedicht nur für die zeitlose flüchtige Spur der unverkörperten Idee gelten kann: so findet im Drama eine gegenseitige Einwirkung, ein Conflict des Idealen und der Wirklichkeit gegenwärtig statt« (220, § 277, Anm. *).

  61. Vgl. Johann Jakob Engel, Schriften, 12 Bde., Berlin 1801–1806, XI (1806), 535–537.

  62. Der Ausdruck »die Supposition der Gegenwart« kehrt vielsagenderweise in Grillparzers weiter oben zitierter Abhandlung »Ueber den gegenwärtigen Zustand der dramatischen Kunst in Deutschland« wieder, wobei Grillparzer mit »Supposition« die »willkürlich selbst übernommene Täuschung« meint, »in die der Zuschauer eingeht, auf die stillschweigende Bedingung, sie wegzuwerfen, wenn ihre Wirkungen lästig, wenn sie quälend würden«: »Die Aufgabe der dramatischen Kunst, als Form, besteht nun darin, daß diese Supposition einer Gegenwart (ja nicht mit Wirklichkeit zu verwechseln) aufrecht erhalten, ihre Bewahrung dem Zuschauer erleichtert und nicht gestattet werde, daß er sie aus Langeweile oder Zerstreuung fallen lasse, oder wohl gar im Widerwillen wegwerfe« (Grillparzer [Anm. 32], XII, 176, Hervorhebung im Original).

  63. [Johann Jakob Engel], »Ueber Handlung, Gespräch und Erzehlung«, Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste 16/2 (1774), 177–256, hier: 231–232, Hervorhebung im Original; vgl. auch 204–205; 255. Wenig später führt Engel aus: »Die Spuren der Vergangenheit lassen sich in der Erzehlung durchaus nicht vertilgen; selbst nicht da, wo der Erzehler von sich selbst, und in der gegenwärtigen Zeit spricht; vielweniger wo er in der vergangenen Zeit, oder von einer dritten Person redet. Er muß doch immer, auch in jenem Falle, von den übrigen, mit denen er zu thun hat, in der dritten sprechen; er muß doch immer ihre Reden, so lange er aus dem Ton des Erzehlers nicht herausgeht, an seine eigenen hangen. Führt er sie selbstredend ein; ja führt er seine eigne Person so ein, indem er sich aus der gegenwärtigen Zeit in die vergangne zurücksetzt: so ist er nicht mehr Erzehler; er wird auf diesen Augenblick dramatischer Schriftsteller. Der Erzehler kann also zwar der Gegenwart durch verschiedene Stufen näher rücken; er kann der Imagination, durch Verwechselung der Zeitfälle, in ihrem Bestreben nach Gegenwart und Anschauen zu Hülfe kommen; aber so ganz kann er sie doch nie in die Wirklichkeit hineinsetzen, als der Dialogist, bey welchem alles Gegenwart, alles jetziger Augenblick ist« (232–233). In diesem Zusammenhang sei noch erwähnt, dass im selben Jahr Christian Friedrich von Blanckenburg im Versuch über den Roman auffallend ähnliche Überlegungen anstellt, allerdings in Bezug auf zwei verschiedene Behandlungsmodi innerhalb der erzählenden Dichtung – als Vergleichsbeispiele dienen Wielands Musarion (1768) und Johann Timotheus Hermes’ Sophiens Reise von Memel nach Sachsen (1769–1773) –: »In dem erstern Falle sehn wir die sich zutragende Begebenheit so erfolgen, wie alles in der Natur erfolgt, werdend; in dem letztern hören wir die bloße Erzehlung der sich zugetragenen Sache« (Christian Friedrich von Blanckenburg, Versuch über den Roman, Leipzig, Liegnitz 1774, 283, Hervorhebung im Original).

  64. Dabei erfolgt Engels Unterscheidung zwischen »Erzehlung und Gespräch«, deren besondere Eigenschaften im Verlauf der Abhandlung herausgearbeitet werden, zunächst nach nichts anderem als dem althergebrachten Redekriterium: »[…] der Dichter spricht entweder ganz in seiner eigenen Person, oder legt seine Gedanken andern in den Mund, sein Werk ist entweder fortgehende Rede, oder es ist Gespräch (ἀυτοπρόσωπὸν ἠ διαλογικὸν συγγράμμα)« (Engel [Anm. 63], 181).

  65. Vgl. Engel (Anm. 61), VIII, 216–222.

  66. Johann Jakob Engel, »Fragmente über Gegenstände der schönen Wissenschaften«, Kleine Schriften, Berlin 1795, 203–338, hier: 210.

  67. Engel (Anm. 63), 193.

  68. Vgl. Eschenburg (Anm. 59), 163; 164.

  69. Vgl. Schiller (Anm. 55), V, 1197 (Kommentar von Wolfgang Riedel).

  70. Lessing (Anm. 25), IV, 588, 77. St.

  71. Aristoteles (Anm. 4), 19.

  72. Vgl. Gotthold Ephraim Lessing, Gesammelte Werke, hrsg. Paul Rilla, 10 Bde., Berlin 1954–1958, VI (1954), 391, Anm. 2; Gotthold Ephraim Lessing, Werke, hrsg. Kurt Wölfel, 3 Bde., Frankfurt a. M. 1967, II, 717, Anm. zu 428 (Kommentar von Bodo Lecke).

  73. Die Frage danach, wie und über welche Stationen dieser Sachverhalt der Lessing-Philologie bewusst wurde, ist einer gesonderten Untersuchung wert. Wir beschränken uns hier auf einige interessante Momentaufnahmen aus dem 20. Jahrhundert und ein vergessenes Forschungswissen aus dem Jahrhundert davor. Oskar Walzel teilte 1908 ohne Wiedergabe des griechischen Textes mit, dass der Lessing vorliegende Text »ein ›sondern‹« enthielt, »das aus neueren Texten der ›Poetik‹ längst verschwunden [sei]« (Oskar Walzel, »Lessings Begriff des Tragischen [1908 mit Nachwort von 1921]«, Vom Geistesleben alter und neuer Zeit. Aufsätze, 2. vermehrte Aufl. des Werkes »Vom Geistesleben des 18. und 19. Jahrhunderts«, Leipzig 1922, 232–261, hier: 245; vgl. auch 247). John George Robertson nahm 1939 diese »unjustified interpolation« (J. G. Robertson, Lessing’s Dramatic Theory: Being an Introduction to & Commentary on His »Hamburgische Dramaturgie«, Cambridge 1939, 352) näher in Augenschein, wobei er den griechischen Text, der Lessing mutmaßlich vorlag, fehlerhaft wiedergab und so den genauen Hintergrund des Problems eher verdunkelte als aufhellte (vgl. 351–352). Nachdem Max Kommerell 1940 den Textunterschied im griechischen Original scharf ins Licht gestellt hatte (vgl. Max Kommerell, Lessing und Aristoteles. Untersuchung über die Theorie der Tragödie, 5. Aufl. mit Berichtigungen und Nachweisen, Frankfurt a. M. 1984, 66), zitierte Keith A. Dickson noch in den Jahren 1965 und 1967, Lessings ›kreativer‹ Fehlauslegung von Aristoteles nachgehend, zum Vergleich die aristotelische Tragödiendefinition in neuerer Textgestalt, bei ersterer Gelegenheit auch in Begleitung einer modernen Übersetzung von William Hamilton Fyfe (vgl. K. A. Dickson, »A Creative Misinterpretation of Aristotle«, Pegasus 3 [1965], 14–20, hier: 15; 19, Anm. 4; K. A. Dickson, »Lessing’s Creative Misinterpretation of Aristotle«, Greece & Rome 14/1 [1967], 53–60, hier: 54; vgl. auch Lessing [Anm. 25], IV, 896–897, Anm. zu 588); so konnte zeitweilig der Eindruck entstehen, Lessing habe die Textstelle nicht nur falsch verstanden, sondern auch und vor allem falsch gelesen. Klärung in diese philologische Verwirrung brachte 1968 Michael Anderson, »A Note on Lessing’s Misinterpretation of Aristotle«, Greece & Rome 15/1 (1968), 59–62. Auf diesen Aufsatz verweist Klaus Bohnen, wenn er im Kommentar der Frankfurter Lessing-Ausgabe schreibt: »[…] den Widerspruch zwischen den bekannten Fassungen – auf die sich auch Curtius […] stützte – und Lessings Behauptung, er habe die Stelle ›Wort zu Wort‹ wiedergegeben, hat die neuere Forschung klären können« (Gotthold Ephraim Lessing, Werke und Briefe in zwölf Bänden, hrsg. Wilfried Barner u. a., Frankfurt a. M. 1985–2003, VI [1985], 1040, Anm. zu 567, Z. 16–20, wobei die Bemerkung über Michael Conrad Curtius nicht zutrifft: Auch dieser konnte bei seiner Poetik-Übersetzung von 1753, zu der Lessing polemisch Stellung bezieht [vgl. Lessing (Anm. 25), IV, 589, 77. St.], keine andere als die korrumpierte Fassung vorliegen haben). Dabei lässt der Kommentar nicht nur die Hinweise Walzels und Kommerells außer Acht, sondern vor allem eine ältere, philologisch fundierte, Einsicht, die zwischen dem späten 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts vielerorts ausgesprochen wurde. Schon 1869 wies Léon Crouslé in seinen Anmerkungen zu Édouard de Suckaus französischer Übersetzung der Hamburgischen Dramaturgie überaus hellsichtig auf das Problem des Überlieferungsirrtums hin, indem er es am griechischen Text veranschaulichte und, nicht ohne Verwunderung über Lessings ›Vorurteil‹, eingehend kommentierte (vgl. E.-G. Lessing, Dramaturgie de Hambourg, traduction de M. Ed. de Suckau, revue et annotée par M. L. Crouslé, avec une introduction par M. Alfred Mézières, Paris 1869, 358–359, Anm. 1–2). In den darauf folgenden drei Jahrzehnten war die Einsicht in einschlägigen Forschungsbeiträgen, Erläuterungen zu Schulausgaben und didaktischen Lehrbüchern verbreitet anzutreffen (vgl. u. a. Emil Gotschlich, Lessing’s Aristotelische Studien und der Einfluss derselben auf seine Werke, Berlin 1876, 23; Wilhelm Cosack, Materialien zu Gotthold Ephraim Lessing’s Hamburgischer Dramaturgie. Ausführlicher Commentar nebst Einleitung, Anhang und Register zusammengestellt, Paderborn 1876, 356; Friedrich Schröter, Richard Thiele, Lessing’s Hamburgische Dramaturgie. Für die oberste Klasse höherer Lehranstalten und den weiteren Kreis der Gebildeten erläutert, Halle 1877, 435, Anm. 6 [später: Ausg. für Schule und Haus, Halle 1895, 387, Anm. 7]; Josef Buschmann, Lessings Hamburgische Dramaturgie für den Schulgebrauch eingerichtet und mit Erläuterungen versehen, Trier 1882, 166, Anm. zu XVIII. B. 12, 2; Gotthold Ephraim Lessing, Extraits de la Dramaturgie de Hambourg, traduction française par M. A. Desfeuilles, avec le texte allemand en regard, Paris 1889, 322, Anm. zu 250, 1; Adolf Lichtenheld, Die hamburgische Dramagurie in Auswahl von Gotthold Ephraim Lessing. Mit Einleitung und Anmerkungen, Wien [1893], 154, Anm. 29; Hugo Gaudig, Wegweiser durch die klassischen Schuldramen. Vierte Abteilung. H. v. Kleist. Shakespeare. Lessings »Hamburgische Dramaturgie«, Gera, Leipzig 1899, 582). Charles Harris konnte 1901 feststellen: »[…] that Lessing was using a faulty Greek text of the passage […] is now universally admitted« (Charles Harris, Lessings Hamburgische Dramaturgie. Abridged and Edited with Introduction and Notes, New York 1901, 335, Anm. zu 209, 29). Walzel und Kommerell schöpften offenbar noch aus diesem einst geläufigen Wissen. Die meisten Lessing-Werkausgaben, die zwischen dem späten 19. und dem frühen 20. Jahrhundert veranstaltet wurden, verzichteten unterdessen auf die Kommentierung des Problems; zu den wenigen Ausnahmen zählen die Meyers Klassiker-Ausgaben von Franz Bornmüller und Georg Witkowski (vgl. Gotthold Ephraim Lessing, Werke, hrsg. Franz Bornmüller, kritisch durchgesehene und erläuterte Ausg., 5 Bde., Leipzig, Wien 1884, IV, 342, Anm. 1; Gotthold Ephraim Lessing, Werke, hrsg. Georg Witkowski, kritisch durchgesehene und erläuterte Ausg., 7 Bde., Leipzig, Wien 1911, V, 424, Anm. zu 261, Z. 24).

  74. Lessing (Anm. 25), IV, 699–700, 101.–104. St.

  75. Die Stelle besagt in Christof Rapps Übersetzung: »Da die Widerfahrnisse, die nahe erscheinen, mitleiderregend sind, man aber über das, was im Abstand von zehntausend Jahren geschehen ist oder geschehen wird und was man weder erwartet noch in Erinnerung hat, kein Mitleid empfindet, sind notwendigerweise diejenigen, die ihren Auftritt durch Gesten, durch die Stimme, durch die Kleidung und überhaupt durch den Vortrag [ὑποκρίσει] verstärken, in höherem Maße mitleiderregend« (Aristoteles, Werke in deutscher Übersetzung, hrsg. Christof Rapp, 20 Bde., Berlin 1956–[2013], IV/1 [2002], 92).

  76. Vgl. Aristoteles (Anm. 75), IV/2, 656, Anm. zu 1386a28–1386a34.

  77. Anderson (Anm. 73) hat gefolgert: »Lessing’s misunderstanding of Aristotle reinforces the conception, important in eighteenth- and nineteenth-century German literary theory, that drama, because it is set in the present, works directly on the strongest emotions of the spectator, while epic is set in the past and consequently encourages a more reflective response on the part of the listener or reader« (62); richtiger ist, dass Lessing diese Vorstellung erst hervorbringt und nicht lediglich eine vorhandene verstärkt.

  78. Lessing (Anm. 25), IV, 589–590, 77. St.; vgl. auch 588, 77. St.; 601, 80. St.

  79. Vgl. etwa András Horn, Theorie der literarischen Gattungen. Ein Handbuch für Studierende der Literaturwissenschaft, Würzburg 1998, 77; Meier (Anm. 8), 717a; Peter W. Marx, »Analytisches Drama«, Handbuch der literarischen Gattungen, hrsg. Dieter Lamping, Stuttgart 2009, 9–11, hier: 9; Gesa von Essen, »Epos«, ebd., 204–220, hier: 208; Stefan Scherer, Einführung in die Dramen-Analyse, Darmstadt 2010, 14; Dirk Oschmann, »Gattungstheorie um 1800«, Handbuch Gattungstheorie, hrsg. Rüdiger Zymner, Stuttgart, Weimar 2010, 206b–209b, hier: 207b; Peter W. Marx, »Dramentheorie«, Handbuch Drama. Theorie, Analyse, Geschichte, hrsg. Peter W. Marx, Stuttgart, Weimar 2012, 1a–11b, hier: 4b; Michael Bachmann, »Dramatik – Lyrik – Epik: Das Drama im System der literarischen Gattungen«, ebd., 52b–72a, hier: 66b. Marx gibt zwar zu verstehen, dass die der Goethe-Schiller’schen Unterscheidung zugrunde liegende Vorstellung sich seit dem 18. Jahrhundert im poetologischen Diskurs herausbildet (vgl. »Analytisches Drama«, 9), bleibt aber bezüglich der Frage der Originalität des Gedankens sehr vage. Seine Behauptung, die bei Goethe und Schiller besonders ausgeprägte »Argumentationslinie [lasse] sich […] durchaus bis hin zu Aristoteles’ Gegenüberstellung des Dramatikers und des Historikers zurückverfolgen« (»Dramentheorie«, 4b), ist nicht haltbar, da an den einschlägigen Stellen (Poet. 9, 1451a36–1451b11; 23, 1459a17–29) einmal der Historiker und der Dichter im Allgemeinen, einmal der Historiker und der Epiker einander gegenübergestellt werden und es dabei auch nicht um das Problem der dargestellten Zeitlichkeit, sondern vielmehr um die Seinsweise der dargestellten Handlung bzw. die Art und Weise der zeitlichen Rahmung geht. Oschmann verweist immerhin darauf, dass die Goethe-Schiller’sche Unterscheidung sich an Lessings Annahme über »die zeitliche Verfasstheit der Dichtung« (207b, Hervorhebung im Original), also die kunsttheoretischen Überlegungen im Laokoon, anschließt.

  80. Stefan Trappen ist in seiner Analyse von Lessings Aristoteles-Auslegung im Kontext der Entwicklung der Gattungsdiskurse einer solchen Beziehung durchaus auf der Spur gewesen (vgl. Stefan Trappen, Gattungspoetik. Studien zur Poetik des 16. bis 19. Jahrhunderts und zur Geschichte der triadischen Gattungslehre, Heidelberg 2001, 184–187); doch sein Erkenntnisinteresse galt nicht, wie im vorliegenden Beitrag, der Entstehung und Wanderung eines spezifischen gattungstheoretischen Wissens, sondern vielmehr der historischen Umbildung des allgemeinen gattungspoetischen Paradigmas. Das Problem des Überlieferungsirrtums scheint Trappen – ähnlich wie Dickson (Anm. 73) – nicht gesehen zu haben (vgl. 186–187). Scherpe hat in seiner Studie zur Entwicklung der Gattungspoetik im 18. Jahrhundert die von Lessing ermittelten Wirkungsgesetze der Erzählung und des Dramas (vgl. Scherpe [Anm. 6], 129–132) und Engels Erkenntnisse über »den Präteritalcharakter der Erzählung und den präsentischen Charakter des Gesprächs« (149) unabhängig voneinander behandelt und ferner bewusst darauf verzichtet, Engels gattungspoetische Überlegungen denen von Goethe und Schiller vergleichend gegenüberzustellen (vgl. 152, Anm. 66). Besondere Erwähnung verdient Ernst Theodor Voss’ umfangreiches Nachwort zu Johann Jakob Engel, Über Handlung, Gespräch und Erzählung. Faksimiledruck der ersten Fassung von 1774 aus der ›Neuen Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste‹, hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Ernst Theodor Voss, Stuttgart 1964, 1*–171*: Voss hat unter Verweis auf Lessings Auslegung der kritischen Poetik-Passage – und auch Schillers relevante Passagen aus »Ueber die tragische Kunst« – mit seltener Klarheit die einschlägig verbreitete Behauptung kritisiert, »die Bestimmung des Epischen durch den Modus der Vergangenheit, die des Dramatischen durch den der Gegenwart mitsamt den daraus sich ergebenden Folgerungen rühre von Goethe und Schiller her, sei erstmalig überhaupt zu bündiger Formulierung gelangt im Briefwechsel beider vom Jahr 1797« (104*; vgl. auch 166*–167*, Anm. 294, in der wertvolle Literaturverweise dazu zusammengetragen sind). Aber anstatt die – ihm durchaus nicht entgangenen – Parallelen zwischen Lessing, Engel und Goethe/Schiller bezüglich des Zeitkriteriums spezifisch zu fokussieren, ging Voss vielmehr den weitergreifenden Übereinstimmungen zwischen Engel und Goethe/Schiller nach (vgl. 105*–116*). Des Weiteren verwies Voss auf Käte Friedemann, Die Rolle des Erzählers in der Epik, Leipzig 1910, 21, die trotz ihres Hinweises auf das Wissensgeflecht zwischen Lessing, Engel und Goethe/Schiller Letzteren die mit dem Zeitkriterium verbundene Theorieleistung zuschrieb, sowie auf Ernst August Paepcke, Johann Joachim Engel als Kritiker, Diss. Freiburg i. Br., 79 und Adalbert Elschenbroich, »Johann Jakob Engel«, Neue Deutsche Biographie, Berlin 1953–[2016], IV (1959), 504a–505a, hier: 504b, die immerhin bei Engel eine Vorwegnahme der Goethe-Schiller’schen Unterscheidung konstatierten. Bezüglich Goethes und Schillers eigener Theoriewahrnehmung jedenfalls urteilte Voss: »Offensichtlich waren Goethe und Schiller selbst der Meinung, ihre Definition gerade in diesem Punkte sei ›neu‹« (Voss, »Nachwort«, 105*, wobei die Jahreszahl im Datum des als Beleg dafür angeführten Briefes von Schiller an W. von Humboldt vom 27. Juni 1798 – nicht 1797 – zu berichtigen ist). Die seltenen Hinweise auf die Übereinstimmung zwischen Lessings Aristoteles-Auslegung und der Goethe-Schiller’schen Unterscheidung – jedoch ohne weitergehende Folgerungen – gaben Julius Petersen und Theodor Matthias (vgl. Gotthold Ephraim Lessing, Hamburgische Dramaturgie, hrsg. und erläutert von Julius Petersen, Berlin u. a. [1916], 506–507, Anm. zu 322, Z. 29 f.; Gotthold Ephraim Lessing, Werke in acht Teilen, hrsg. Theodor Matthias, Leipzig [1923], IV, 511–512, Anm. zu 348, Z. 20 ff.).

  81. Man denke beispielsweise an die auflagenreiche Textsammlung Deutsche Dramaturgie vom Barock bis zur Klassik, hrsg. Benno von Wiese, 4., unveränderte Aufl., Tübingen 1979, in der die relevanten Stellen aus Lessings Hamburgischer Dramaturgie, dem Goethe-Schiller’schen Aufsatz und Schillers »Ueber die tragische Kunst« in einem gut überschaubaren Rahmen versammelt sind (vgl. 36–37; 84; 99).

  82. Vgl. Engel (Anm. 61), XI, XXXIII–XXXIV.

  83. Voss hat es vorsichtig im Konjunktiv formuliert: Es »ließe […] sich denken, daß jene […] auffällige Stelle im 77. Stück der ›Hamburgischen Dramaturgie‹, die Engel bei ihrer Nähe zu dem von ihm Durchdachten gewiß nicht überlesen haben wird, nicht ohne direkte Wirkung auf die Abhandlung gewesen wäre, ohne daß allerdings Engel den Furcht- und Mitleid-Komplex noch in seine Überlegungen hätte mit einzubeziehen brauchen oder wollen« (Voss [Anm. 80], 103*).

  84. Vgl. Schiller (Anm. 55), V, 388.

  85. Vgl. etwa Schiller (Anm. 47), VIII, 1302, Anm. zu 269,30 ff. (Kommentar von Rolf-Peter Janz); Schiller (Anm. 55), V, 1199, Anm. zu 388 (Kommentar von Wolfgang Riedel). Beide Kommentare verweisen in Bezug auf die von Schiller gegebene Tragödiendefinition genau auf das 77. Stück der Hamburgischen Dramaturgie, gehen jedoch nicht auf die darauf folgende Erörterung über die erzählende und die dramatische Form der Dichtung ein.

  86. Winstanley gab in seiner Poetik-Ausgabe von 1780 die kritische Passage 1449b26–28 nach wie vor in der überlieferten Textgestalt wieder (vgl. Thomas Winstanley, Ἀριστοτέλους περὶ Ποιητικῆς. Aristotelis de Poetica Liber ex Versione Theodori Goulstoni. Lectionis varietatem e Codd. IV. Bibliothecæ Mediceæ, Verborum Indicem et Observationes suas adjunxit, Oxford 1780, 18; vgl. auch 135), schlug aber in einer Anmerkung dazu die Lesart δρώντων καὶ οὐ δι’ ἀπαγγελίας, δι’ ἐλέου καὶ φόβου περαίνουσα τὴν τῶν τοιούτων παθημάτων κάθαρσιν unter Athetierung der Konjunktion ἀλλὰ vor und wunderte sich über die Interpreten, darunter auch »coryphæus Lessing«, die an der herkömmlichen Lesart nichts auszusetzen gehabt hätten (vgl. 278, Anm. zu 18, l. 3). Zugleich verwies er darauf, wie der von Lessing kritisierte André Dacier (vgl. Lessing [Anm. 25], IV, 589, 77. St.) und auch schon Lodovico Castelvetro richtigerweise versucht hatten, bei der Übersetzung der Textstelle das deplatzierte ἀλλὰ zu ignorieren (vgl. [André Dacier], La Poëtique d’Aristote. Traduite en François. Avec des Remarques, Paris 1692, 70–71; Lodovico Castelvetro, Poetica d’Aristotele vulgarizzata, et sposta, Riueduta, & ammendata secondo l’originale, & la mente dell’autore. Aggiuntoui nella fine vn racconto delle cose piu notabili, che nella spositione si contengono, Basel 1576, 113).

  87. Twining übersetzte 1789 die kritische Passage unter Berufung auf Winstanleys Lesart: »in the way, not of narration, but of action – effecting through pity and terror, the correction and refinement of such passions« (Thomas Twining, Aristotle’s Treatise on Poetry, Translated: With Notes on the Translation, and on the Original; and Two Dissertations, on Poetical, and Musical, Imitation, London 1789, 75, Hervorhebung im Original; 230, Note 44, Anm. a), und drückte in einer Anmerkung dazu seine Verwunderung über die herkömmliche Lesart aus: »It is surprising, that so strange a phrase as εἰδωνδρωντωνformisagentibus – should have passed as genuine with any Greek scholar. It is still more so, that the obvious opposition of δρωντων to ἀπαγγελια, and the no less obvious absurdity of opposing narration to pity and terror, (οὐ δι’ ἀπαγγελιας, ΑΛΛΑ δι’ ἐλεου και φοβου) should have escaped the notice of any commentator« (230, Note 44, Hervorhebung im Original). Allerdings behielt er in seiner anschließend vorgeschlagenen Lesart die Konjunktion ἀλλὰ bei und betrachtete die Textstelle weiterhin als unvollständig und lückenhaft (vgl. 230–231, Note 44). Drei Jahre zuvor hatte Renatus Gotthelf Löbel ebenfalls die Konjunktion ἀλλὰ zu verteidigen versucht (vgl. Renatus Gotthelf Löbel, In Aristotelis notionem tragoediae commentatio I, Leipzig 1786, VII). Was die Auslegung von δρώντων betrifft, wussten weder Winstanley noch Twining, dass Lorenzo Giacomini Tebalducci Malespini in seiner nie veröffentlichten, nur als Handschrift erhaltenen, Poetik-Übersetzung von 1573 den richtigen Textsinn der kritischen Passage getroffen hatte: »[imitazione] di negozianti, et non per narrazione: ma per misericordia et terrore conducente à fine la purgazione di cotali passioni« (Bernhard Weinberg, A History of Literary Criticism in the Italian Renaissance, 2 vols., Chicago, London 1961, I, 524, Hervorhebung von B. W.).

  88. Die Poetik-Ausgaben von Friedrich Wolfgang Reiz (1786), Thomas Tyrwhitt (1794) und Gottfried Hermann (1802) bringen, Winstanleys Konjekturvorschlag folgend, die kritische Passage in neuerer Textgestalt (vgl. Friedrich Wolfgang Reiz, Ἀριστοτέλους περὶ Ποιητικῆς. Aristotelis de Poetica liber. Recensuit Fridericus Volgangus Reizius, Leipzig 1786, 10–11; Thomas Tyrwhitt, Aristotelis de Poetica Liber Græce et Latine. Lectionem constituit, Versionem refinxit, Animadversionibus illustravit, Oxford 1794, 18–19; 141–142, Anm. zu 18, v. 11; Gottfried Hermann, Aristotelis de arte poetica liber cum commentariis Godofredi Hermanni, Leipzig 1802, 15). Johann Gottfried Buhle übersetzt 1798 die Textstelle: »dramatisch, und nicht erzählend; um durch Mitleid und Furcht die Veredlung gewisser Leidenschaften zu bewirken« (Johann Gottfried Buhle, Aristoteles über die Kunst der Poësie. Aus dem Griechischen übersetzt und erläutert. Nebst Thomas Twining’s Abhandlungen über die poëtische und musikalische Nachahmung. Aus dem Englischen, Berlin 1798, 49). Einen nützlichen Überblick über einundzwanzig verschiedene Übersetzungen der aristotelischen Tragödiendefinition von 1597 bis 1827, anhand dessen die Entwicklung im Detail zu ersehen ist, bietet Friedrich von Raumer, Über die Poetik des Aristoteles und sein Verhältniß zu den neuern Dramatikern, gelesen in der Königlichen Akademie der Wissenschaften am 18. Januar 1828, Berlin 1829, 13–21, wobei er Lessings Auslegung nicht mit berücksichtigt.

  89. Vgl. Winstanley (Anm. 86), 278, Anm. zu 18, l. 3; Johann Gottlieb Buhle, Ἀριστοτέλης. Aristotelis Opera omnia Graece. Ad optimorum exemplarium fidem recensuit, annotationem criticam, librorum argumenta, et novam versionem Latinam adiecit Io. Theophilus Buhle, 5 voll., Zweibrücken 1791–1793, Strasbourg 1800, V (1800), 312, Anm. zu Aristotelis de Poëtica liber, VII, § 2.

  90. Vgl. Twining (Anm. 87), xviii; Hermann (Anm. 88), 114, Anm. zu VI, 2. Twining hatte Lessings Hamburgische Dramaturgie – mit großem Vergnügen und voller Wertschätzung – in gekürzter französischer Übersetzung gelesen: Dramaturgie, ou Observations critiques sur plusieurs Pieces de Théâtre, tant anciennes que modernes. Ouvrage intéressant, traduit de l’Allemand, de feu M. Lessing, par un François [François Cacault]. Revue, corrigé & publié par M. Junker, 2 ptes., Paris 1785. Lessings Erörterung über die kritische Poetik-Passage steht zu lesen in Teil 2, 24–26; der griechische Text der referierten Rhetorik-Passage ist dort nicht wiedergegeben.

  91. Jacob Bernays, Grundzüge der verlorenen Abhandlung des Aristoteles über Wirkung der Tragödie, aus den Abhandlungen der hist. phil. Gesellschaft in Breslau, I, Breslau 1857, 135.

  92. Vgl. Lessing (Anm. 25), IV, 589, 77. St. Allerdings bleibt merkwürdig, dass Bernays ohne Weiteres von ›Missverständnissen‹ sprechen konnte; zu dem Zeitpunkt war vielmehr klar, dass gerade in Bezug auf die zur Diskussion stehende Passage Dacier und Curtius sich nicht durch die korrumpierte Textgestalt hatten irreführen lassen (vgl. Winstanley [Anm. 86], 278, Anm. zu 18, l. 3).

  93. Bernays (Anm. 91), 187.

  94. Vgl. die Ausführungen in Anm. 73. Während Crouslé 1869 Lessings irrtumsbasierter Erörterung immerhin »des observations bonnes à recueillir« (Lessing, Dramaturgie de Hambourg [Anm. 73], 359, Anm. 2 [358]) zugestand, erklärte Emil Gotschlich 1876 unter Verweis auf die inzwischen berichtigte Textüberlieferung, Lessings Auslegungsversuch habe »nur noch ein historisches Interesse« (Gotschlich [Anm. 73], 23). Gottschlich machte klar, dass Lessing sowohl in seiner Annahme, Aristoteles sei der Ansicht gewesen, »daß unser Mitleid durch die Erzählung wenig oder gar nicht […] erreget [werde]« (Lessing [Anm. 25], IV, 589, 77. St.), als auch in seinem Verständnis der angeführten Rhetorik-Passage irrte (vgl. Gotschlich [Anm. 73], 24; vgl. auch Schröter/Thiele [Anm. 73], 436, Anm. 9–10 [Ausg. für Schule und Haus, 388, Anm. 10–11]; Gaudig [Anm. 73], 582). Josef Buschmann bemerkte 1882 angesichts der falschen Lesart, auf die Lessing sich stützte: »Natürlich sind auch die aus dieser Lesart geschlossenen Folgerungen als solche nicht haltbar« (Buschmann [Anm. 73], 166, Anm. zu XVIII. B. 12, 2), ebenso wie rund dreißig Jahre später Witkowski: »Infolgedessen sind auch alle Folgerungen, die Lessing daraus zieht, unrichtig« (Lessing, Werke, hrsg. Georg Witkowski [Anm. 73], 424, Anm. zu 261, Z. 24; vgl. auch Anm. zu 262, Z. 15 ff.). Harris ging 1901 sogar so weit, in seiner Studienausgabe der Hamburgischen Dramaturgie – »abridged by the omission of passages which seem to the editor of the least present value and interest« (Harris [Anm. 73], iii) – Lessings Erörterung über die kritische Poetik-Passage ganz fortzulassen; im Kommentar begründete er dies mit dem fehlerhaften Text, den Lessing benutzte: »So much of Lessing’s argument in the omitted paragraphs as was based on this faulty text is therefore necessarily fallacious« (335, Anm. zu 209, 29). Gegenpositionen gab es zu jener Zeit nur vereinzelt: Adolf Lichtenheld meinte 1893 in seiner Auswahlausgabe der Hamburgischen Dramaturgie, obgleich Lessing eine falsche Lesart vor sich gehabt habe, habe »er, ein Beweis seines Scharfsinnes, den Sinn der ganzen Stelle doch richtig [gefasst]« (Lichtenheld [Anm. 73], 154, Anm. 29; vgl. auch 154, Anm. 28). In der Einleitung, in der zur Begründung der Auswahl der negative und der positive Teil der Lessing’schen Dramaturgie kurz abgewogen werden, verstieg Lichtenheld sich sogar zu der Behauptung: »Der positive Theil gipfelt in der Erörterung der aristotelischen Definition der Tragödie, die, so lange es eine Dramatik geben wird, auch ihre Geltung behaupten wird« (XI).

  95. Vgl. Walzel (Anm. 73), 245; 247; Kommerell (Anm. 73), 66.

  96. Walzel (Anm. 73), 246.

  97. Kommerell (Anm. 73), 96; vgl. auch 100. Lessing selbst sprach in dem Zusammenhang von »der dramatischen Form« (Lessing [Anm. 25], IV, 589, 77. St.; vgl. auch 588–590, 77. St.; 601, 80. St.).

  98. Walzel (Anm. 73), 247.

  99. Die bei Walzel wiedergegebene Übersetzung der Rhetorik-Passage, die seit Ende des 19. Jahrhunderts in den Anmerkungsapparaten verschiedener Lessing-Ausgaben figuriert, liest sich im Vergleich zu Rapps Übersetzung (Anm. 75) etwas tendenziös: »Weil nur die in der Nähe erscheinenden Leiden Mitleid erregen, solche aber, die man etwa nach tausend Jahren erwartet, oder deren man sich tausend Jahre nachher erinnert, entweder gar kein oder nur wenig Mitleid finden, so ist es nötig, daß die Darstellenden durch ihre Gebärden, ihre Stimme, ihre Kleidung und überhaupt durch ihr Spiel das Mitleid unmittelbar erregen« (Walzel [Anm. 73], 247–248).

  100. Kommerell (Anm. 73), 100.

  101. Mann hatte nach kurzer Klarstellung des Überlieferungsirrtums festgehalten: »Doch tastet dies Lessings These nicht an, daß nur durch Darstellung des dramatischen Vorgangs auf der Bühne die durchgreifende tragische Erschütterung bewirkt werden könne« (Gotthold Ephraim Lessing, Werke in drei Bänden, nach den Ausg. letzter Hand, 3. [I–II] und 2. [III] Aufl., Darmstadt 1994–1995, II [1995], 1206, Anm. zu 593; vgl. auch Gotthold Ephraim Lessing, Hamburgische Dramaturgie, kritisch durchges. Gesamtausg. mit Einleitung und Kommentar von Otto Mann, 3. Aufl., Stuttgart 1978, 463, Anm. zu 302).

  102. Robertson (Anm. 73), 352.

  103. Lessing scheint schon lange vor seiner ›originellen‹ Aristoteles-Auslegung ein bedeutenderes Differenzkriterium zwischen Epos und Tragödie als das althergebrachte vorgeschwebt zu haben. Im Postskriptum seines Briefes an Moses Mendelssohn vom 18. Dezember 1756 schrieb Lessing: »[…] es wäre elend, wenn diese beiden Dichtungsarten [sc. Epopee und Tragödie] keinen wesentlichern Unterschied, als den beständigen oder durch die Erzählung des Dichters unterbrochenen Dialog, oder als Aufzüge und Bücher haben sollten« (Lessing [Anm. 25], IV, 194). Der ›Erfindung‹ des Zeitkriteriums ging also ein Defizitbewusstsein bezüglich des Redekriteriums voraus – ein Bewusstsein, das mehrere Jahrzehnte später bei Goethe und A. W. Schlegel wieder virulent wird (vgl. Goethe [Anm. 1], V, 306; Schlegel [Anm. 49], Sp. 644–645). Zudem mag folgende Bemerkung Mendelssohns aus seinem Brief an Lessing von Anfang/Mitte Dezember 1756, auf den Lessing am 18. Dezember antwortete, einen nachhaltigen Denkansatz dazu geliefert haben: »Der Dichter muß uns sinnlich überzeugen, daß sein Held die Gefahr kennt, über welche ihn seine Unerschrockenheit hinweg setzt. Durch eine bloße Erzählung der bedrängten Umstände, in welchen sich sein Held befindet, wird die Nachahmung nicht sinnlich genug« (183–184). Eine weitere Anregung gab möglicherweise eine längere Passage aus Diderots Abhandlung »De la Poésie Dramatique« (1758), die Lessing 1759/1760 ins Deutsche übersetzte: »Der Romanschreiber hat die Zeit und den Raum, der dem dramatischen Dichter fehlet. Ich werde daher immer, wenn beide gleich gut sind, ein theatralisches Stück höher schätzen, als einen Roman. Uebrigens ist keine Schwierigkeit zu finden, der jener nicht ausweichen könnte. Er spricht z. E. ›Auf die schweren Augenlieder, durch den ermatteten Körper des müden Wandrers, fließt süsser nicht der Balsam des Schlafes, als die schmeichelnden Worte der Göttin flossen; doch immer widerstand ihr eine geheime Macht, und vereitelte ihre Reitze. – Aber Mentor, in seinen weisen Rathschlägen unveränderlich, lies vergebens in sich dringen; manchmal zwar ließ er sie hoffen, als setzten ihn ihre Fragen in Verlegenheit; doch wenn sie nun eben ihre Neugierde zu befriedigen glaubte, verschwand ihre Hoffnung wieder auf einmal. Was sie fest zu halten glaubte, war ihr entwischt, und eine kurze Antwort stürzte sie in ihre erste Ungewißheit zurück. –‹ Und damit hat sich der Romanschreiber glücklich aus dem Handel gezogen. So schwer aber ein dergleichen Gespräch auszuführen ist, so muß dennoch der dramatische Dichter, entweder seinen ganzen Plan verändern, oder die Schwierigkeit überwinden. Welch ein Unterschied zwischen, eine Wirkung beschreiben, und sie hervorbringen!« (Denis Diderot, »Von der dramatischen Dichtkunst«, Das Theater des Herrn Diderot, aus dem Französischen, 2 Tle., Berlin 1760, II, 229–480, hier: 299–300) Dennoch bleibt festzuhalten, dass weder im Umfeld des so genannten Briefwechsels über das Trauerspiel (1756/1757) zwischen Lessing, Mendelssohn und Friedrich Nicolai noch im Kontext von Diderots Abhandlung »Von der dramatischen Dichtkunst« der Aspekt der dargestellten Zeitlichkeit effektiv Eingang in die Diskussion findet.

  104. Schwer haltbar ist etwa Voss’ Annahme, dass die von »Lessing und Engel« erkannte Unterscheidung »im Grunde im Redeverteilungskriterium der aristotelischen Poetik angelegt[]« gewesen und »mehr oder weniger deutlich in den verschiedenen älteren Poetiken des ausgehenden 17. und des frühen bis mittleren 18. Jahrhunderts ausgesprochen« (Voss [Anm. 80], 104*) worden sei (vgl. auch Marx, »Dramentheorie« [Anm. 79], 4b). Die – tatsächlich auf Platon zurückgehende (Anm. 5) – Unterscheidung zwischen (lebendiger) Darstellung und (einfacher) Erzählung in der dichterischen Rede beinhaltet an sich keine spezifischen Zeitbezüge; vielmehr kann bei Platon das dichterische Erzählen ausdrücklich alle Zeitdimensionen betreffen: »[…] alles, was von Fabellehrern und Dichtern gesagt wird, [sei] eine Erzählung entweder geschehener Dinge oder jetziger oder künftiger« (Platon [Anm. 5], 199/201; vgl. Platon, Rep. III, 392d2–4). Bezüglich des Wissens der »älteren Poetiken« verwies Voss auf Wolfgang Lockemann, Die Entstehung des Erzählproblems. Untersuchungen zur deutschen Dichtungstheorie im 17. und 18. Jahrhundert, Meisenheim a. Gl. 1963, aber diese Studie beweist nicht wirklich seine Annahme. Allerdings enthält die Studie eine interessante Beobachtung. Lockemann hat Gottscheds Ausführungen über die epischen und dramatischen ›Fabeln‹ im Hinblick auf die Wahrscheinlichkeit der dargestellten Gegenstände im Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen (1729, vordatiert auf 1730) dahingehend ausgelegt, dass Gottsched etwas Neues »über das Verhältnis der beiden Darstellungsarten zur Zeit zu sagen [habe]«: »Alles, was das Drama vorführt, muß zum Zeitpunkt der Aufführung möglich sein; es versetzt den Stoff, ob er historisch ist oder nicht, in die Gegenwart, in der die Aufführung stattfindet. Das ›epische‹ Sprechen dagegen ist auf die Vergangenheit festgelegt, d. h. die vorgeführte Begebenheit spielt in der vom Dichter angegebenen Zeit« (111). Auch wenn diese Formulierungen schon sehr durch die Vorstellung des Zeitkriteriums vorgeprägt erscheinen, so folgerte Lockemann doch richtig: »Damit hat Gottsched zwar über die Beziehungen beider Formen zur Gegenwart des Aufnehmenden entschieden, nicht aber über den historischen Charakter des Erzählens gegenüber dem Gegenwartscharakter der dramatischen Darbietung. Hier liegt ein Unterschied« (111–112). Tatsächlich geht es in Gottscheds Ausführungen über den epischen und den dramatischen Darstellungsmodus nicht um die dargestellte Zeitlichkeit, sondern um die dargestellten Gegenstände, deren Wahrscheinlichkeit von medialen Bedingungen abhängt: »Tausend Dinge lassen sich gar wohl erzählen; aber den Augen läßt sich nichts vorstellen, als was glaublich ist« (Johann Christoph Gottsched, Ausgewählte Werke, hrsg. Joachim Birke [I–IV], Joachim Birke, Brigitte Birke [VI/1–VI/3], P. M. Mitchell [V, VI/4, VII–XII], 12 Bde., Berlin, New York 1968–2015, VI/1 [1973], 207). Für unsere Problemstellung interessanter ist Gottscheds Betrachtung über »die Erzählung oder die Art, wie der Poet seine Fabel vorträgt«, mit spezifischem Bezug auf die ›Epopee‹ bzw. das ›Heldengedichte‹: »Man kann vergangene Sachen auf zweyerley Art zu verstehen geben. Einmal erzählt man schlechterdings mit eigenen Worten, was dieser und jener gethan oder gesagt, und begnügt sich, alles der Wahrheit gemäß, ordentlich, deutlich und zierlich vorzutragen. Und so machen es die Historienschreiber. Die Poesie aber ist mit dieser einfältigen Erzählung nicht zufrieden. Man weis, daß eine gar zu einträchtige Rede endlich die Leute einschläfert: daher sucht sie ihren Vortrag lebhafter zu machen, und die Einbildung ihrer Leser zu erhitzen. Sie weckt derowegen die Verstorbenen gleichsam auf, malt sie so deutlich ab, als wenn sie uns noch vor Augen stünden, ja läßt sie reden und handeln, wie sie bey ihrem Leben würden gethan haben. Dieses ist nun die poetische Art zu erzählen, die sonderlich in epischen Gedichten statt findet« (VI/2, 298–299). Diese »poetische Art zu erzählen« – in der vierten Auflage (1751) lesen wir: »die dramatische Art zu erzählen« (vgl. VI/3, 125) – besitze also, genauso wie das Drama, die unmittelbar evokative Wirkung.

  105. Einen auffälligen Anhaltspunkt dafür bietet etwa Thornton Wilder, der 1941 die Wirkungsweisen des Romans und der Bühne miteinander so kontrastierte: »Novels are written in the past tense. The characters in them, it is true, are represented as living moment by moment their present time, but the constant running commentary of the novelist (›Tess slowly descended into the valley‹; ›Anna Karenina laughed‹) inevitably conveys to the reader the fact that these events are long since past and over. | The novel is a past reported in the present. On the stage it is always now. This confers upon the action an increased vitality which the novelist longs in vain to incorporate into his work« (Thornton Wilder, »Some Thoughts on Playwriting [1941]«, Playwrights on Playwriting: From Ibsen to Ionesco, ed. Toby Cole, introduction by John Gassner, New York 2001, 106–115, hier: 114; vgl. auch 106).

  106. Auf diesen Zusammenhang hat Anderson einen bedeutsamen Hinweis gegeben: »Brecht’s arguments in favour of ›epic‹ theatre and ›alienation‹ devices to counter the theatre of empathy are, like Lessing’s, based on a ›creative misinterpretation‹ of Aristotle, and may well prove to be quite as influential a contribution to the history of dramatic literature« (Anderson [Anm. 73], 62).

  107. Goethe (Anm. 1), XVI, 457–458.

  108. Anschließend würdigt Goethe den Vortrag Herders ausdrücklich: »Doch hatte diese Art des Vortrags, aus seinem Munde, einen unendlichen Reiz; denn weil er alles auf tiefste empfand, und die Mannigfaltigkeit eines solchen Werks hochzuschätzen wußte, so trat das ganze Verdienst einer Produktion rein und um so deutlicher hervor, als man nicht durch scharf ausgesprochene Einzelheiten gestört und aus der Empfindung gerissen wurde, welche das Ganze gewähren sollte« (Goethe [Anm. 1], XVI, 458). Bemerkenswert ist allerdings, dass der Vortrag auf den jungen Goethe ›subjektiv‹ doch nicht die Wirkung ausübt, die der späte Goethe ›objektiv‹ schildert: Herder »tadelte das Übermaß von Gefühl, das bei mir von Schritt zu Schritt mehr überfloß. Ich empfand als Mensch, als junger Mensch; mir war alles lebendig, wahr, gegenwärtig. Er, der bloß Gehalt und Form beachtete, sah freilich wohl, daß ich vom Stoff überwältigt ward, und das wollte er nicht gelten lassen« (460). Diese rezeptionsästhetische Spannung erklärt Goethe aus dem Generationenunterschied: »Man sieht hieraus, daß er [sc. Herder] das Werk bloß als Kunstprodukt ansah und von uns das Gleiche verlangte, die wir noch in jenen Zuständen wandelten, wo es wohl erlaubt ist, Kunstwerke wie Naturerzeugnisse auf sich wirken zu lassen« (460).

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Takeda, A. Die Verzeitlichung der Gattungspoetik 1768–1951. Dtsch Vierteljahrsschr Literaturwiss Geistesgesch 93, 157–189 (2019). https://doi.org/10.1007/s41245-019-00076-0

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