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Krise des politischen Alltags?

Eine ethnografische Parlamentsstudie zur gesellschaftlichen Entfremdung des Politischen

Crisis of political everyday life?

An ethnographic study on the societal alienation of politics

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Zusammenfassung

Wie kommt es, dass sich Politik gemäß der öffentlichen Wahrnehmung in einem permanenten Krisenzustand zu befinden scheint? Auf der Basis einer ethnografischen Studie auf vier parlamentarischen Ebenen geht dieser Beitrag zwei Erklärungsansätzen nach: zum einen der These einer durch insuffizientes politisches Personal hervorgerufenen Krise, zum anderen der These der kriseninduzierenden Überlastung des politischen Alltags in inhaltlicher, zeitlicher und normativer Hinsicht. Anhand des empirischen Materials lässt sich zeigen, dass beide Thesen so nicht zutreffen. Stattdessen tritt das Verhältnis von Politik und Öffentlichkeit selbst als Krisenmoment in den Fokus: Erkennbar wird die Diskordanz der Strukturen alltäglicher gegenüber parlamentarischer Lebenswelt, die sich insbesondere in Bezug auf Zeit-, Relevanz- und Interaktionsordnung drastisch unterscheiden. Nicht zuletzt, weil von politischen RepräsentantInnen demokratienormativ genuin Gleichheit erwartet wird, führt diese Diskordanz zu Entfremdungserfahrungen auf Seiten der politisch nicht aktiven Öffentlichkeit, die das Potential für eine Krise der Demokratie besitzen.

Abstract

Politics seems to be in a permanent state of crisis, at least according to public discourse. But why? Based on an ethnographic study on four parliamentary levels, this article evaluates two assumptions: Are contemporary politicians simply not up to the task, are they incapable and incompetent? Or is their task so very difficult, do they suffer from an overload with respect to content, time and idealistic norms to an extent that it induces crisis? The empiric data presented here suggest that neither explanation is appropriate. Instead, the potential for crisis seems to lay in the relation of politics and public itself: the structures of everyday and parliamentarian lifeworlds are drastically discordant. This especially applies to the structuring of time, content relevance and interaction. As a consequence, a major degree of discordance is discernable where there is supposed to be congruence between the public and its representatives. Alienation is the result and may hold the potential for a true democratic crisis.

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Notes

  1. Das gesamte Datenmaterial wurde nach Maßgabe des § 40 Bundesdatenschutzgesetz anonymisiert. Im Sinne der Verhinderung einer Rückverfolgbarkeit personaler Identitäten wurden Namen geändert, Gremien anonymisiert, die Inhalte parlamentarisch behandelter Themen abstrahiert und zufällig die Geschlechtszuschreibung agierender Personen gewechselt.

  2. Zur leichteren Zuordnung haben die einzelnen Beobachtungsprotokolle Kürzel erhalten, die auf den Kontext ihrer Entstehung hindeuten. So steht „Inf“ für ein informelles Treffen des begleiteten Abgeordneten, „Ver“ steht für eine größere Öffentlichkeitsveranstaltung, „OV“ steht für ein Treffen eines lokalen Parteiverbands. Weiter unten tauchen noch auf: „Ple“, was für Plenarsitzung, „Fra“, was für Fraktionssitzung, „Ort“, was für Ortstermin und „Aus“, was für Ausschusssitzung steht.

  3. So der recht einhellige Tenor einer Studierendengruppe, mit der ich gemeinsam im Rahmen eines Seminars die (vergleichsweise wirklich sehr unspektakuläre, sehr unkontroverse und sehr kurze) Sitzung eines Ausschusses im Stadtrat besucht habe.

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Brichzin, J. Krise des politischen Alltags?. Österreich Z Soziol 41 (Suppl 1), 191–212 (2016). https://doi.org/10.1007/s11614-016-0214-x

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