Zusammenfassung
In diesem Beitrag werden Befunde eines Forschungsprojekts präsentiert, das anhand der Bilanz- und Perspektivgespräche (BPG), die das Praxissemester in Nordrhein-Westfalen abschließen, die Begleitung der Lehramtsstudierenden in den Blick nimmt. An den Gesprächen sind neben den angehenden Lehrkräften sowohl schulische Akteure als auch Ausbildende der Zentren für schulpraktische Lehrerausbildung (ZfsL) beteiligt. Auf der Basis von 17 audiografierten BPGs wird danach gefragt, welche Professionalisierungsverständnisse sich in diesen Gesprächen bei Studierenden und Ausbildenden aus ZfsL und Schule zeigen und wie diese im Lehrerbildungsdiskurs zu verorten sind. Mithilfe der Dokumentarischen Methode konnten Orientierungsrahmen in Bezug auf implizite Professionalisierungsverständnisse rekonstruiert werden, die durch komparative Analyse zu einer Typologie verdichtet wurden. Erste Ergebnisse weisen auf vier Typen hin: Zum einen lässt sich Professionalisierung als autonomer Lern- und Entscheidungsprozess, zum anderen als erfahrungsorientierter Entwicklungsprozess rekonstruieren. Auch zeigen sich Orientierungen, die durch stabile Personen-Eigenschaften einen Entwicklungsprozess obsolet machen und somit im Widerspruch zur Programmatik des Praxissemesters und zur Lehrerbildung insgesamt stehen.
Abstract
In this article, we present a research project which focuses on mentoring students by analyzing the “results and perspectives conversation” (BPG), a counselling conversation at the end of the student teaching semester in North Rhine-Westphalia between the student, stakeholders from the corresponding school and the second phase of teacher education (ZfsL). Our research interest is to reconstruct the students’ as well as the teacher trainers’ understanding of professionalization in the BPG and to locate them in current research discourses. We interpret 17 audiographed BPGs by using the documentary method. First results show that there are four ways to understand professionalization in the BPG: On the one hand, professionalization can be reconstructed as an independent learning and deciding process, on the other hand as a development process based on experience. There are also orientations based on the opinion that there are unchangeable, determined personal characteristics, which makes a development impossible and stands in contrast to the intentions of the student teaching semester.
Access this chapter
Tax calculation will be finalised at checkout
Purchases are for personal use only
Notes
- 1.
Auf die Darstellung des in den letzten Jahren stark expandierten Forschungsdiskurses zu Praxisphasen in der Lehrerbildung wird an dieser Stelle verzichtet. Es sei jedoch u. a. auf den Forschungsüberblick zur Wirksamkeit schulischer Praxisphasen von Besa und Büdcher (2014) sowie auf die Darstellung des Forschungsstandes zu verlängerten Praxisphasen bei Rothland und Boecker (2015) sowie König und Rothland (2018) verwiesen.
- 2.
Zur Begleitung und zum Mentoring Lehramtsstudierender gibt es sowohl international (vgl. der Forschungsüberblick bei Orland-Barak 2016) als auch national zahlreiche Forschungsbemühungen, die unterschiedliche Aspekte der Begleitung wie die Beziehung zwischen angehenden Lehrkräften und Mentorierenden, Rollen und Funktionen der Begleitung oder auch die Begleitungspraxis im Kontext von Gesprächen (vgl. Boecker 2017) in den Blick nehmen.
- 3.
Wird Professionalisierung so verstanden, ist jedoch zu betonen, dass nicht jede Entwicklung sogleich als Teil des Professionalisierungsprozesses anzusehen ist. Vielmehr sind dem Begriff der Professionalisierung normative Implikationen und somit eine Zielperspektive inhärent. So beschreibt Hericks (2006, S. 94) in Anlehnung an den strukturtheoretischen Ansatz „Professionelle Bearbeitungsstrategien und Lösungen der beruflichen Entwicklungsaufgaben des Lehrerberufs“ als heuristisches Modell, das es durch empirisches Material zu präzisieren gilt. Diese professionellen Bearbeitungsstrategien dienen im Beitrag als Kriterien eines normativen Professionalitätsbegriffs aus berufsbiografischer Perspektive.
- 4.
In einer Schweizer Interviewstudie mit Bachelorabsolventen von Košinár et al. (2016), in der Praxisphasen aus der Retrospektive betrachtet werden, können vier Typen der Anforderungsbearbeitung rekonstruiert werden (Selbstverwirklichung, Vermeidung, Entwicklung, Bewährung). Da hier weniger der Gesamtprozess der „Professionalisierung“ und Entwicklung im Fokus steht, bleibt diese Untersuchung im Folgenden unberücksichtigt.
- 5.
Als Forscherin war die Erstautorin bei den BPGs als teilnehmende Beobachterin anwesend. Mit den Studierenden wurde nach den BPGs jeweils noch ein Einzelinterview (n = 17) sowie drei Gruppendiskussionen mit n = 32 Studierenden geführt. Im Fokus der folgenden Ausführungen stehen jedoch die Transkripte der BPGs, die vereinzelt durch die Informationen aus den Beobachtungsprotokollen ergänzt werden.
- 6.
In der Dokumentarischen Methode wird das konjunktive Wissen vom explizit-verbalisierbaren, kommunikativen Wissen unterschieden. In der vorliegenden Untersuchung stehen grundlagentheoretisch neben den Orientierungsschemata, die in der Dokumentarischen Methode im Analyseschritt der formulierenden Interpretation identifiziert werden, die Orientierungsrahmen (im engeren Sinne) im Vordergrund, die in der reflektierenden Interpretation herausgearbeitet werden. Die Relation von Orientierungsschemata und Orientierungsrahmen (im engeren Sinne) bezeichnet Bohnsack als Orientierungsrahmen (im weiteren Sinne) (vgl. Bohnsack 2014) oder in seiner methodischen Weiterentwicklung auch als konjunktiven Erfahrungsraum (Bohnsack 2017).
- 7.
Das BPG der Studentin Lena Ehrenfeld im Klassenraum einer begleitenden Lehrkraft dauert 46:23 min. An dem Gespräch sind neben der Studentin die ZfsL-Vertreterin Frau Hammer und zwei Lehrerinnen der Praxissemesterschule – Frau Vase und Frau Georg – beteiligt. Die Forscherin ist als teilnehmende Beobachterin bei dem BPG anwesend.
- 8.
In dem BPG von Ramona Schelling sind der ZfsL-Vertreter Herr Amsel, die Ausbildungsbeauftragte der Schule, zwei weitere Lehrerinnen und eine weitere Studentin Frau Becker anwesend, die an derselben Schule ihr Praxissemester absolviert hat. Die Forscherin ist als teilnehmende Beobachterin anwesend. Das Gespräch dauert 57:30 min und findet im Besprechungszimmer der Schule statt.
- 9.
Den dritten Kernfall bildet das BPG der Studentin Katja Seefried mit einer Dauer von 53:28 min, das sie mit dem ZfsL-Vertreter Herrn Fischer und dem Lehrer Herrn Bauer im Besprechungsraum der Praxissemesterschule führt. Die Forscherin ist als teilnehmende Beobachterin anwesend.
Literatur
Asbrand, B., & Martens, M. (2018). Dokumentarische Unterrichtsforschung. Wiesbaden: Springer VS.
Boecker, S. K. (2017). Mentoring in Praxisphasen der Lehrer*innenbildung: Befunde und Forschungsperspektiven für das Praxissemester. In V. Stein, M.-O. Carl, & J. Küchel (Hrsg.), Mentoring – Wunsch und Wirklichkeit. Dekonstruktion und Rekontextualisierung eines Versprechens (S. 63–84). Opladen: Budrich UniPress.
Bohnsack, R. (2014). Rekonstruktive Sozialforschung. Einführung in qualitative Methoden (9. Aufl.). Opladen: Barbara Budrich.
Bohnsack, R. (2017). Praxeologische Wissenssoziologie. Opladen: Barbara Budrich.
Hericks, U. (2006). Professionalisierung als Entwicklungsaufgabe. Wiesbaden: VS Verlag.
Keller-Schneider, M. (2010). Entwicklungsaufgaben im Berufseinstieg von Lehrpersonen. Münster: Waxmann.
Keller-Schneider, M., & Hericks, U. (2011). Beanspruchung, Professionalisierung und Entwicklungsaufgaben im Berufseinstieg von Lehrerinnen und Lehrern. Journal für Lehrerinnen- und Lehrerbildung, 11(1), 20–31.
König, J., & Rothland, M. (2018). Das Praxissemester in der Lehrerbildung: Stand der Forschung und zentrale Ergebnisse des Projekts Learning to Practice. In J. König, M. Rothland, & N. Schaper (Hrsg.), Learning to Practice, Learning to Reflect? Ergebnisse aus der Längsschnittstudie LtP zur Nutzung und Wirkung des Praxissemesters in der Lehrerbildung (S. 1–62). Wiesbaden: Springer VS.
Košinár, J. (2014). Professionalisierung in der Lehrerausbildung. Anforderungsbearbeitung und Kompetenzentwicklung im Referendariat. Opladen: Barbara Budrich.
Košinár, J., Schmid, E., & Diebold, N. (2016). Anforderungswahrnehmung und -bearbeitung in den berufspraktischen Studien. In J. Košinár, S. Leineweber, & E. Schmid (Hrsg.), Professionalisierungsprozesse angehender Lehrpersonen in den berufspraktischen Studien (S. 139–154). Münster: Waxmann.
Kubisch, S. (2018). Professionalität und Organisation in der Sozialen Arbeit. Eine Annäherung aus praxeologischer Perspektive. In R. Bohnsack, S. Kubisch, & C. Streblow-Poser (Hrsg.), Soziale Arbeit und Dokumentarische Methode. Methodologische Aspekte und empirische Erkenntnisse (S. 171–196). Opladen: Barbara Budrich.
LABG. (2009). Gesetz über die Ausbildung für Lehrämter an öffentlichen Schulen (Lehrerausbildungsgesetz – LABG) vom 12. Mai 2009 (GV. NRW. S. 308) zuletzt geändert durch Gesetz vom 28. Mai 2013 (GV. NRW. S. 272). https://www.schulministerium.nrw.de/docs/Recht/LAusbildung/LABG/LABGNeu.pdf. Zugegriffen: 15. Aug. 2017.
MSW. (2010). Rahmenkonzeption zur strukturellen und inhaltlichen Ausgestaltung des Praxissemesters im lehramtsbezogenen Masterstudiengang. https://www.uni-siegen.de/zlb/praxiselemente/ma/kooperationen/downloads/endfassung_rahmenkonzept_praxissemester_14042010.pdf. Zugegriffen: 12. März 2015.
MSW. (2016). Das Praxissemester auf dem Prüfstand. Abschlussbericht der landesweiten AG zur Evaluation des Praxissemesters. https://www.schulministerium.nrw.de/docs/LehrkraftNRW/Lehramtsstudium/Praxiselemente/Praxissemester/Abschlussbericht-Evaluation-Praxissemester.pdf. Zugegriffen: 13. März 2018.
Nentwig-Gesemann, I. (2013). Die Typenbildung der Dokumentarischen Methode. In R. Bohnsack, I. Nentwig-Gesemann, & A.-M. Nohl (Hrsg.), Die Dokumentarische Methode und ihre Forschungspraxis (3. Aufl., S. 295–323). Wiesbaden: Springer VS.
Nohl, A.-M. (2013). Relationale Typenbildung und Mehrebenenvergleich. Neue Wege der Dokumentarischen Methode. Wiesbaden: Springer VS.
Orland-Barak, L. (2016). Mentoring. In J. Loughran & M. L. Hamilton (Hrsg.), International handbook of teacher education (2. Aufl., S. 105–141). Singapore: Springer.
Przyborski, A. (2013). Gesprächsanalyse und dokumentarische Methode. Qualitative Auswertung von Gesprächen, Gruppendiskussionen und anderen Diskursen. Wiesbaden: VS Verlag.
Przyborski, A., & Wohlrab-Sahr, M. (2014). Qualitative Sozialforschung. Ein Arbeitsbuch. München: Oldenbourg.
Rothland, M. (2020). Die „Lehrerpersönlichkeit“: Das Geheimnis des Lehrerberufs? Die Deutsche Schule, 112 [im Druck].
Rothland, M., & Boecker, S. K. (2014). Wider das Imitationslernen in verlängerten Praxisphasen. Potenzial und Bedingungen des Forschenden Lernens im Praxissemester. Die Deutsche Schule, 106(4), 389–400.
Rothland, M., & Boecker, S. K. (2015). Viel hilft viel? Forschungsbefunde und -perspektiven zum Praxissemester in der Lehrerbildung. Lehrerbildung auf dem Prüfstand, 8(2), 112–134.
Steinke, I. (2015). Gütekriterien qualitativer Forschung. In U. Flick, E. von Kaltdorff, & I. Steineke (Hrsg.), Qualitative Forschung. Ein Handbuch (S. 319–331). Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.
Terhart, E. (2001). Lehrerberuf und Lehrerbildung. Forschungsbefunde, Problemanalysen, Reformkonzepte. Weinheim: Beltz.
Terhart, E. (2011). Lehrerberuf und Professionalität. Gewandeltes Begriffsverständnis – neue Herausforderungen. In W. Helsper & R. Tippelt (Hrsg.), Pädagogische Professionalität (S. 202–224). Weinheim: Beltz.
Weyland, U. (2010). Zur Intentionalität schulpraktischer Studien im Kontext universitärer Lehrerbildung. Paderborn: Eusl.
Weyland, U. (2012). Expertise zu den Praxisphasen in der Lehrerbildung in den Bundesländern. http://li.hamburg.de/contentblob/3305538/70560ef5e16d6de60d5d7d159b73322f/data/pdf-studie-praxisphasen-in-der-lehrerbildung.pdf;jsessionid=E7CED1D4D62FD7D00E253D92CDE2E420.liveWorker2. Zugegriffen: 13. März 2018.
Weyland, U., & Wittmann, E. (2010). Expertise. Praxissemester im Rahmen der Lehrerbildung. 1. Phase an hessischen Hochschulen. http://www.pedocs.de/volltexte/2010/3070/pdf/Expertise_zum_Thema_Praxissemester_120710_1_D_A.pdf. Zugegriffen: 13. März 2018.
Weyland, U., & Wittmann, E. (2015). Langzeitpraktika in der Lehrerausbildung in Deutschland – Stand und Perspektiven. Journal für lehrerinnen- und lehrerbildung, 15(1), 8–21.
Zorn, S. K. (2018). Begleitung Studierender als kooperativer Prozess: Das Bilanz- und Perspektivgespräch im Praxissemester. In M. Artmann, M. Berendonck, P. Herzmann & A.B. Liegmann (Hrsg.), Professionalisierung in Praxisphasen der Lehrerbildung. Qualitative Forschung aus Bildungswissenschaft und Fachdidaktik (S. 271–289). Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
Zorn, S. K. (2020). Die Begleitung von Professionalisierungsprozessen im Praxissemester. Eine qualitativ- rekonstruktive Studie zum Bilanz- und Perspektivgespräch (Reihe Rekonstruktive Bildungsforschung). Wiesbaden: Springer VS.
Zorn, S. K., & Korte, J. (2018). Professionalisierungsverständnisse von Lehrkräften in der Begleitung Studierender im Praxissemester. In M. Rothland & I. Biederbeck (Hrsg.), Praxisphasen in der Lehrerbildung im Fokus der Bildungsforschung (S. 163–175). Münster: Waxmann.
Author information
Authors and Affiliations
Corresponding author
Editor information
Editors and Affiliations
Rights and permissions
Copyright information
© 2020 Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature
About this chapter
Cite this chapter
Zorn, S.K., Rothland, M. (2020). Auf (Ab-)Wegen oder: Wie man eine „professionelle“ Lehrkraft wird. In: Ulrich, I., Gröschner, A. (eds) Praxissemester im Lehramtsstudium in Deutschland: Wirkungen auf Studierende. Edition ZfE, vol 9. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-24209-1_4
Download citation
DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-658-24209-1_4
Published:
Publisher Name: Springer VS, Wiesbaden
Print ISBN: 978-3-658-24208-4
Online ISBN: 978-3-658-24209-1
eBook Packages: Education and Social Work (German Language)