Zusammenfassung
Während die ausschließliche Orientierung am vom Arzt zu definierenden Patientenwohl ein Charakteristikum der klassischen ärztlichen Ethik darstellt, ist nach Veatch (1995) die ethische Bedeutung der Patienteneinwilligung in eine ärztliche Maßnahme eine Errungenschaft der modernen Medizinethik des 20. Jahrhunderts. Bei genauerer Betrachtung der geschichtlichen Bedeutung von Aufklärung und Einwilligung des Patienten in der Arzt-Patient-Beziehung stellt sich dieser Sachverhalt jedoch vielschichtiger dar und muß differenziert betrachtet werden. Methodisch ist es problematisch, das zeitgenössische Informed Consent-Konzept unabhängig von seiner sozial- und geistesgeschichtlichen Entstehung auf andere historische Epochen und Zusammenhänge zu übertragen. Für einen historischen Vergleich müssen stattdessen konkrete Kriterien festgelegt werden, die bei der Information und Einwilligung des Patienten in einer früheren historischen Epoche erfüllt sein müssen, um dieses mit dem heutigen „Informed Consent“ zu vergleichen. Dabei dürfen einerseits die Maßstäbe nicht zu hoch angelegt werden, um ein unreflektiertes Übertragen moderner Konzepte in frühere historische Epochen zu vermeiden und damit gar keine historischen Ansätze zu finden, andererseits müssen konkret definierte Merkmale von Information und Einwilligung auf Seiten des Patienten bzw. seiner Angehörigen erfüllt sein, um dem Konzept inhaltlich gerecht zu werden. Faden und Beauchamp (1986 S. 54) haben zur Beschreibung und Interpretation der Patienteneinwilligung (consent) in der Medizingeschichte folgende Kriterien vorgeschlagen:
-
1.
Der Patient/die Versuchsperson muß einem Eingriff auf der Grundlage von verstandener Information zustimmen.
-
2.
Die Zustimmung darf nicht unter kontrollierenden Einflüssen zustande kommen.
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3.
Die Zustimmung muß eine intentionale Erlaubnis für eine konkrete Intervention enthalten, das bedeutet, der Patient/die Versuchsperson muß ausdrücklich und unmißverständlich zustimmen.
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Literatur
Vergl. die amerikanische Kontroverse über die wahre Diagnosemitteilung im 19. Jahrh. Der englische Arzt Thomas Percival argumentierte in seinem einflußreichen Buch über Medizinethik 1803, daß das Patientenrecht auf Wahrheit nicht gelte, wenn die Prognosemitteilung auf den Patienten oder seine Umgebung eine nachhaltig schädigende Folge habe. Percivals medizinische Ethik prägte auch in diesem Punkt den ersten “Code of Ethics” der “American Medical Association” von 1847. Dagegen sprach sich Worthington Hooker, der als einziger amerikanischer Arzt des 19. Jahrhundert ein Buch über medizinische Ethik schrieb, gegen dieses Beneficence-Verständnis aus. Er argumentierte, daß diese paternalistische Bevormundung des Patienten in der Mehrzahl der Fälle mehr Schaden als Hilfe bringen würde (Lederer 1995 S. 13).
Die öffentliche Kritik an Menschenversuchen hing eng mit der Bewegung gegen Tierversuche zusammen. In den USA wird die Verbindung zu den “American Antivivisectionists” durch die synonyme sprachliche Verwendung von “human vivisection” mit “non-therapeutic experiments” bis in die 30er Jahre des 20. Jahrh. deutlich (Lederer 1995 S. 101f1).
In den 90er Jahren des 19. Jahrh. wurde Tuberkulin von Robert Koch als Therapie der Tuberkulose getestet. Es stellte sich jedoch heraus, daß Tuberkulin kein Heilmittel für die Tuberkulose war, später jedoch erfolgreich zu Diagnosezwecken eingesetzt werden konnte. Später experimentierte der Psychiater und Nobelpreisträger Wagner von Jauregg mit Tuberkulin als Fiebertherapeutikum bei psychiatrischen Störungen, insbesondere bei der progressiven Paralyse.
In diesem Revisionsverfahren hob das Reichsgericht eine Entscheidung des Landgerichts Hamburg auf. Der angeklagte Oberarzt der chirurgischen Abteilung des Vereinshospitals Hamburg führte eine Fußamputation wegen Knochentuberkulose bei einer minderjährigen Patientin gegen den ausdrücklichen Willen des Vaters durch. Dieser sprach sich als Anhänger der Naturheilkunde gegen den chirurgischen Eingriff, der seine Tochter zum Krüppel machen würde, aus. Trotz mehrfachen Widerspruchs des Vaters wurde die Fußamputation am 23.6.1893, nach Auskunft medizinischer Sachverständiger lege artis, vorgenommen. Nach der Operation sind die tuberkulösen Erscheinungen nicht mehr aufgetreten, die Kräfte des Kindes hatten wieder zugenommen und es hatte sich normal entwickelt (RG St 25, 375 (1894)).
RG St 25, 375.
BGH St 11, 112 und BGH St 16, 309.
Eine zentrale Rolle in dieser Auseinandersetzung spielt der Fall des Breslauer Venerologen und Entdecker des Gonococcus Albert Neisser. Auf der Suche nach einer Prävention der Syphilis injizierte er 1892 Patientinnen seiner Klinik, hauptsächlich Prostituierten, zeltfreies Serum von Syphilispatienten, ohne dazu die Patientinnen aufzuklären und deren Einwilligung einzuholen. Als daraufhin einige Patientinnen an Syphilis erkrankten, folgerte Neisser, daß die Impfung nicht wirke, aber auch nicht geschadet hätte. Die Patienten wären nicht durch das Experiment infiziert worden, sondern hätten sich als Prostituierte angesteckt. Später wurde Neisser wegen der fehlenden Patientinneneinwilligung zu einer Geldstrafe verurteilt. Staatsanwaltschaft und das Parlament befaßten sich mit dem Fall und die Regierung gab medizinische und juristische Gutachten in Auftrag, die zur Grundlage der ministeriellen Anweisung von 1900 wurden.
Der Reichsgesundheitsrat war ein 1900 gegründetes Beratungsgremium in Gesundheitsfragen. Seine fünf Mitglieder wurden vom Reichsrat gewählt. Die Richtlinien wurden in den Veröffentlichungen des Reichsgesundheitsamtes im Geschäftsbereich des Reichsministers des Innern am 28.2.1931 publiziert und hatten bis 1945 Gültigkeit. Im Reichsbereinigungsgesetz wurden sie nicht in die rechtlichen Bestimmungen der Bundesrepublik übernommen.
BGH Z 20, 61 und 66
I11 Folgende Methoden wurden eingesetzt: elektrische Stromstöße, Chloräthylnarkose, Scheinoperation in Äthernarkose, wochenlange Isolierung und Röntgenbestrahlung im Dunkelzimmer, tagelange feuchtkalte Ganzkörperpackung, Hervorrufen von Erstickungsangst durch die sog. Muck’sche Kehlkopfsonde (Riedesser und Verderber 1985 S. 13f).
Dabei werden jedoch in der amerikanischen Bioethik frühere medizinethische Ansätze, z.B. die positivistische Rechtsposition als Grundlage der Arzt-Patient-Beziehung (Vertragsmodell) in der “Ärztlichen Ethik” Albert Molls (1904) nicht zur Kenntnis genommen.
Bei der gegenwärtigen medizinethischen Diskussion des Nümberger Ärzteprozesses wird häufig übersehen, daß es damals nicht um die generelle Rolle der Medizin bzw. der Ärzteschaft im Nationalsozialismus ging. Vielmehr wurde über Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit sowie über Mitgliedschaften in verbrecherischen Organisationen geurteilt, die an nichtdeutschen Staatsangehörigen in erster Linie in Konzentrationslagern begangen wurden. Verbrechen, die Deutsche gegen Deutsche begangen hatten, gehörten ebensowenig zum Bereich des amerikanischen Militärgerichts wie die sog. “Euthanasie”-Verbrechen in Deutschland (Jäckel 1996).
Am 10.12.1948 verabschiedete die Generalversammlung der Vereinten Nationen die “Allgemeine Erklärung der Menschenrechte”, die ähnlich abgeleitet und begründet wurden. Daher haben Autoren den Nürnberger Kodex als eine der ersten Festschreibungen von universalen Menschenrechten bezeichnet (Annas 1995).
Hier sind besonders folgende “landmark cases” zu erwähnen: Salgo (1957), Natanson (1960) und Canterbury (1972).
Z.B. verabschiedete die “American Hospital Association” 1972 auf Druck der wachsenden und selbstbewußt öffentlich auftretenden Patientenorganisationen die “Patient’s Bill of Rights”, die Patientenrechte bei einer Krankenhausbehandlung festlegten.
Gemeint sind Forschungs-Ethikkommissionen.
Ie Die deutsche Ärzteschaft nahm jedoch erst 1988 die ärztliche Pflicht zur Aufklärung des Patienten in die Berufsordnung auf. Im Vorfeld hatte 1984 der Bundesgerichtshof (BGH) in einem Grundsatzurteil entschieden, daß sich die ärztliche Aufklärung als eine Hauptpflicht aus dem Behandlungsvertrag ergebe.
Bei der Konzeptionalisierung von Aufklärung und Einwilligung gibt es Unterschiede zwischen den genannten amerikanischen Autoren und deutschen Wissenschaftlern. Während erstere Informationsverständnis, Freiwilligkeit und Einwilligungsfähigkeit als Elemente des Informed Consents verste-
hen, definieren letztere diese als Bestandteile der Einwilligungsfähigkeit selbst. Dabei wird insbesondere das Informationsverständnis unter die Einwilligungsfähigkeit subsumiert (Heimchen und Lauter 1995 S. 27ff). Dagegen unterscheiden amerikanische Autoren zwischen dem situationsbezogenen Informationsverständnis (“understanding”: Hat eine von ihren kognitiven Fähigkeiten einwilligungsfähige Person die vermittelten Informationen verstanden oder müssen diese nochmals vermittelt werden?) und der personenbezogenen Einwilligungsfähigkeit (“competence”), bei der die vermittelten Informationen aufgrund kognitiver Defizite nicht, auch nicht nach Wiederholung, verstanden werden. Einwilligungsfähigkeit ist demnach eine persönliche Voraussetzung für den Informed Consent, Informationsverständnis ein Informationselement des Informed Consents (Beauchamp und Childress 1994 S. 142–146). Vergl auch Kap. 3.2.2 und 3.2.4.
In der Literatur werden die Begriffe Einwilligungsfähigkeit, Selbstbestimmungsfähigkeit, Urteilsfähigkeit, Einsichtsfähigkeit und die englischen Begriffe “competence” und “capacity” parallel verwendet.
Der Frage nach dem natürlichen Vergessensprozeß des Patienten kommt in einem anderen Kontext jedoch hohe Bedeutung zu. Für die hier angeführte ethische Argumentation ist die Erinnerungsfähigkeit des Patienten irrelevant, sie spielt dagegen im Rechtsstreit zwischen Patient und Arzt eine zentrale Rolle, wenn der Patient angibt, vom behandelnden Arzt über bestimmte Risiken nicht aufgeklärt worden zu sein. Die angeführten empirischen Untersuchungsergebnissen zur Erinnerungsfähigkeit von Patienten erfordem es, solche Patientenangaben in einem Rechtsstreit kritisch zu betrachten, unabhängig von der Forderung an den Arzt, die erfolgte Aufklärung auch nachweisen zu können.
Beim Gefühl des Patienten, gut aufgeklärt worden zu sein, spielen neben der sachlichen Informationsvermittlung und dem kognitiven Informationsverständnis auch subjektive und emotionale Faktoren eine Rolle. Neben Elementen rationaler Selbstbestimmtheit spielt in der klinischen Praxis auch das persönliche Vertrauen eines Patienten zum Arzt eine Rolle. In diesem Grenzbereich bleibt umstritten, ob z.B. eine aus dem Gefühl des Vertrauens gegebene Einwilligung (“akzeptiere Abhängigkeit” des Patienten vom Arzt) als selbstbestimmt bezeichnet werden kann. Dabei wäre dann das Verhältnis von Sachinformation zu Individuum-bezogener Information, von Informationsgabe zu Informationsvermittlung, zu Motivation bis hin zur Manipulation zu untersuchen.
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Vollmann, J. (2000). Aufklärung und Einwilligung (Informed Consent). In: Aufklärung und Einwilligung in der Psychiatrie. Monographien aus dem Gesamtgebiete der Psychiatrie, vol 96. Steinkopff, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-642-53783-7_3
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