In der bisherigen Forschung zu rechtsextremistischem Wählerverhalten wird eine Vielzahl von Erklärungen angeführt, weshalb Personen eine rechtsextremistische Partei wählenFootnote 1. Manche Erklärungen haben sich dabei empirisch besser bewährt als andere. Die meisten im vorigen Kapitel aufgeführten empirischen Ergebnisse sind allerdings mit mehreren Erklärungen vereinbar. Da menschliches Verhalten auf komplexen Entscheidungsmechanismen beruht, müssen verschiedene Theorien miteinander kombiniert werden, um eine multikausale Erklärung zu erhalten. Die prominentesten Ansätze zur Erklärung rechtsextremen Wählerverhaltens sind das Konzept der autoritären Persönlichkeit von Adorno und anderen, der Open und Closed Mind-Ansatz von Rokeach, die Theorie des Wertewandels von Inglehart, Scheuchs und Klingemanns Theorie der normalen Pathologie des Rechtsradikalismus, Heitmeyers Desintegrationstheorie, deprivationstheoretische Ansätze sowie die Theorie realistischer Gruppenkonflikte. Adorno und seine Kollegen stellen einen Zusammenhang zwischen Autoritarismus und Faschismus her. Personen mit einer autoritären Persönlichkeit orientierten sich streng an Hierarchien. Sie ordneten sich Autoritäten unter, erwarteten aber gleichzeitig von Schwächeren, dass sie sich ihnen gegenüber ebenfalls unterwürfig zeigten (vgl. Winkler 1996: 29). Aus ihren Untersuchungen entwickeln sie die F-Skala, mit der quantitativ der Grad an Autoritarismus von Personen gemessen werden könne (vgl. vor allem auch zur Kritik an der F-Skala Oesterreich 1996: 45ff.). Rokeach (1960) dagegen entwickelt eine D-Skala zur Messung von Dogmatismus. Dogmatismus ist für Rokeach eine Folge eines geschlossenen Belief-Disbelief- Systems. Im Gegensatz zu Akteuren mit einem offenen Belief-Disbelief-System wüssten Individuen mit einem Closed Mind nur wenig über die Disbelief- Subsysteme. Sie kennten sich nur in ihrem eigenen Glaubenssystem aus. Wissen über Fremdgruppen bezögen sie nur aus der Perspektive der Eigengruppe (Rokeach 1960: 61f.). Zusätzlich sähen Personen mit einem Closed Mind die Welt als bedrohlich an und ordneten sich Autoritäten unter (Rokeach 1960: 62), wodurch Rokeachs Ansatz Autoritarismus im Sinne Adornos integriert (Winkler 1996: 29). Ingleharts Theorie des Wertewandels sieht dagegen die Wertorientierungen als zentrale Bestimmungsgröße von Verhalten. Im Zentrum seiner Theorie steht dabei der Gegensatz zwischen Materialismus und Postmaterialismus. Ignazi (1992) baut seine Theorie der rechtsextremen Wahlerfolge auf dieser Werteunterscheidung auf. Materialistische Werte führten zu rechtsextremen Einstellungen als „Gegenbewegung zu den grün-libertären Parteien der Postmaterialisten“ (Winkler 1996: 30). Scheuch und Klingemann (1967) setzen dagegen nicht bei Persönlichkeitsmerkmalen oder Wertorientierungen an, sondern bei externen Einflüssen. Moderne Industriegesellschaften wandelten sich so schnell, dass es zu Spannungen käme. Dadurch wiederum entstünden „normative Brüche“ (Scheuch/Klingemann 1967: 18) zwischen den in der Sozialisation erworbenen Werten und den Anforderungen durch die Gesellschaft. Eine Strategie, um mit diesen Brüchen umzugehen, bestehe nun in „Rigidität im Denken“ (Scheuch/Klingemann 1967: 18), wodurch rechtsextreme Orientierungen entstünden. Ebenso sehen Heitmeyer und andere (1992) Modernisierungsprozesse als Ursache rechtsextremer Orientierungen an. Individualisierung führe zu Desintegration, die wiederum zur Ausbildung rechtsextremer Orientierungen beitrage, da rechtsextreme Organisationen Normen böten und Individualismus ablehnten (Heitmeyer et al. 1992: 32). Deprivationstheoretische Ansätze gehen nun davon aus, dass soziale Benachteiligungen oder Benachteiligungsgefühle zur Ausbildung rechtsextremer Einstellungen führen, da Ausländer als Sündenbock dienten (Winkler 1996: 34). Die Theorie realistischer Gruppenkonflikte nimmt dagegen an, dass Konkurrenz um knappe Ressourcen bestehe, damit sich rechtsextreme Orientierungen herausbildeten (Campbell 1965). Sowohl für Deprivationstheorien als auch für die Theorie realistischer Gruppenkonflikte reicht es aus, dass Ausländer als Auslöser oder als konkurrierende Gruppe wahrgenommen werden, unabhängig davon, ob dies tatsächlich zutrifft.

Da linksextremistisches Wählerverhalten bisher für Deutschland noch nicht umfassend untersucht wurde, steht im Gegensatz zum rechtsextremen Wählerverhalten keine Vielzahl an Erklärungsansätzen zur Verfügung. Dies ist jedoch für die vorliegende Arbeit nicht notwendig, da extremistisches Wählerverhalten insgesamt erklärt werden soll. Um Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen links- und rechtsextremistischem Wählerverhalten identifizieren zu können, wird für beide Formen des extremistischen Wählerverhaltens auf dieselben Theorien zurückgegriffen. So können auf theoretischer Ebene Gemeinsamkeiten und Unterschiede herausgearbeitet werden, um sie anschließend empirisch zu testen. Kontexteffekte stellen einen Mechanismus dar, der mit verschiedenen Theorien gefüllt werden kann, da Kontexte nicht nur auf Wahlverhalten, sondern auch auf Einstellungen und andere Verhaltensformen einwirken können. Dieser Mechanismus wird mit der Theorie der sozialen Milieus und dem Cleavage-Ansatz als Konzepte der Wahlforschung zur Erklärung von Bindungen bestimmter sozialer Gruppen an spezifische Parteien verbunden. Die deprivationstheoretischen Ansätze und die Theorie der realistischen Gruppenkonflikte stellen die Verbindung der Kontextmechanismen zum extremistischen Wählerverhalten her.

Allen drei Erklärungsansätzen ist gemeinsam, dass sie auf die Bezugsgruppentheorie zurückgeführt werden können. Menschen leben und handeln nicht unabhängig von ihrer sozialen Umgebung, sondern orientieren sich an Gruppen, von denen sie beeinflusst werden. Sie vergleichen sich mit anderen und identifizieren sich mit ihnen. Diese Gruppen werden Bezugsgruppen genannt (Esser 2001: 432). Davon unterschieden werden die Mitgliedsgruppen, denen ein Individuum tatsächlich angehört. Ist die Mitgliedsgruppe auch gleichzeitig der Referenzpunkt, an dem sich ein Akteur orientiert, stimmen Mitglieds- und Bezugsgruppe überein. Ein Akteur kann sich aber auch an einer Bezugsgruppe orientieren, der er objektiv nicht angehört (Esser 2001: 438). Des Weiteren kann der Bezug, der einen Akteur mit einer Gruppe verbindet, unterschiedlich ausfallen. Ein Akteur kann sich mit einer bestimmten Gruppe vergleichen und seine eigene Situation im Vergleich zu dieser Gruppe beurteilen. Man spricht dann von einer Vergleichsgruppe. Weiterhin kann der Bezug in Form einer Beeinflussung vorliegen. Die Beeinflussungsgruppe vermittelt dem Akteur Werte und Wissen und setzt soziale Normen, an denen sich der Akteur orientiert. Zusätzlich kann sich der Akteur mit einer Gruppe identifizieren, wodurch sie zur Identifikationsgruppe wird. Durch diese Gruppe bezieht der Akteur seine soziale Identität. Eine weitere Bezugsgruppe stellt die Aspirationsgruppe dar, der der Akteur in Zukunft angehören möchte und um deren Mitgliedschaft er sich bemüht (Esser 2001: 441ff.). Die verschiedenen Arten der Bezugnahme schließen sich dabei nicht gegenseitig aus. Eine Identifikationsgruppe kann beispielsweise zugleich Beeinflussungsgruppe sein. Es können auch alle Formen gleichzeitig vorliegen.

Im Folgenden werden die verschiedenen Ansätze zur Erklärung extremistischen Wählerverhaltens vorgestellt, bevor daraus ein Mehr-Ebenen-Modell der Erklärung entwickelt wird, aus welchem wiederum die zu testenden Hypothesen abgeleitet werden. Die Bezugsgruppentheorie wird dabei als Erklärungsrahmen dienen, auf den Teile der Kontextmechanismen, die Theorie der relativen Deprivation sowie die Milieutheorie bezogen werden können. Relevant für die Erklärung extremistischen Wählerverhaltens werden dabei nur drei der vier Arten von Bezugsgruppen: Vergleichsgruppe, Beeinflussungsgruppe und Identifikationsgruppe. Die Aspirationsgruppe findet sich nicht wieder.

Das für diese Arbeit entwickelte Erklärungsmodell soll kein vollständiges Modell zur Erklärung extremistischen Wählerverhaltens sein. Um extremistisches Wählerverhalten umfassend zu erklären, müssten Persönlichkeitsmerkmale wie beispielsweise open/closed mindedness berücksichtigt werden. Zusätzlich müssten extremistische Einstellungen umfassender einbezogen werden. Weiterhin soll das Modell keine vollständige Theorie der Kontexteinflüsse abbilden. Vielmehr soll es gezielt den Einfluss von Kontexten auf extremistisches Wählerverhalten unter Berücksichtigung ausgewählter individueller Faktoren erklären. Kontexte alleine können extremistisches Wählerverhalten nicht erklären. Daher werden individuelle Determinanten berücksichtigt, um auszuschließen, dass es sich bei einem (vermeintlichen) Kontexteffekt – sollten die Analysen einen Einfluss ergeben – tatsächlich um einen reinen Gruppenkompositionseffekt handelt.

3.1 Die Wirkung des sozialen Kontextes

Unter einem sozialen Kontext wird im Folgenden in Anlehnung an Books und Prysby (1991) eine geografische Einheit, wie Gemeinden, Kreise oder Bundesländer, verstanden. Einheiten wie Familien, Vereine oder Parteien werden dagegen als Netzwerke aufgefasst, die von den Individuen aufgebaut werden (vgl. Huckfeldt/Sprague 1987), und fallen für die folgenden Betrachtungen nicht unter die sozialen Kontexte. Soziale Netzwerke werden bewusst aufgebaut und bestehen aus persönlichen Kontakten. Soziale Kontexte werden dagegen nicht immer frei gewählt. Doch auch wenn ein Kontext bewusst gewählt wird, können die einzelnen Bestandteile, aus denen das Umfeld besteht, im Gegensatz zu sozialen Netzwerken nicht frei ausgesucht werden. Zusätzlich üben regionale Kontexte, wie im Folgenden gezeigt wird, nicht nur einen Einfluss über direkte persönliche Kommunikation aus, sondern ebenfalls über indirekte Interaktionen oder über Beobachtung.

Ein sozialer Kontext bestimmt die Struktur und die Situation, in der sich ein Akteur befindet und die sein Handeln beeinflusst. Dadurch fungiert der soziale Kontext als Bezugspunkt, an dem sich ein Akteur orientiert. Er stellt folglich eine Bezugsgruppe, oder genauer: eine Beeinflussungsgruppe dar. Es können drei Mechanismen unterschieden werden, die für eine wie auch immer geartete Beeinflussung verantwortlich sein können: Identifikation, Interaktion (vgl. u.a. Pappi 1976; Klein/Pötschke 2000; Huckfeldt 1984; Putnam 1966) und Parteiaktivität (vgl. Pappi 1976; Books/Prysby 1991; Putnam 1966). Die Parteiaktivitätstheorie dient als spezifische Erklärung für Kontexteinflüsse auf politisches Verhalten. Regionale Mehrheitsparteien führten intensivere Wahlkämpfe als die weniger erfolgreichen Parteien. Stärkere Wahlkampfaktivitäten führten dann wiederum zu höheren Wahlerfolgen innerhalb einer Region (Putnam 1966: 640). Dadurch variierten die Wahlerfolge der verschiedenen Parteien zwischen den Regionen in Abhängigkeit von den Wahlkampfbemühungen, wobei die Mehrheitsparteien durch eine stärkere Aktivität auch weiterhin höhere Wahlerfolge erzielen könnten als die kleineren Parteien (Books/Prysby 1991; Cho/Rudolph 2008; Pappi 1976). Pappi (Pappi 1976: 206) weist allerdings darauf hin, dass die Parteiaktivität nicht für die Mehrheitsparteien besonders wirkungsvoll sei, sondern in Regionen, in denen zwei Parteien etwa gleiche Chancen besitzen. Hierbei fungiert der Kontext nicht als Bezugsgruppe im Sinne der Bezugsgruppentheorie. Zwar geht vom Kontext ein Einfluss auf das politische Verhalten aus, so dass er in gewisser Weise als Beeinflussungsgruppe fungiert. Aber der Einfluss geht hier nicht von den Einstellungen oder Eigenschaften des Kontextes oder seiner Bewohner aus, sondern von den Bemühungen einer Partei. Daher wird dieser Mechanismus nicht als bezugsgruppentheoretisch herleitbar verstanden. Stattdessen fungiert der Kontext als Raum für Kontakte zu den Parteien und für einen intensiven Wahlkampf.

Im Gegensatz dazu erklärt die Identifikationstheorie (vgl. Huckfeldt 1984; Klein/Pötschke 2000; Pappi 1976; Putnam 1966) Kontextmechanismen auf soziales Verhalten im Allgemeinen und nimmt an, dass Personen eine Bindung zu ihrem regionalen Kontext besitzen und sich an subjektiv wahrgenommenen Gruppennormen und dem vorherrschenden „Meinungsklima“ (Pappi 1976: 217) orientieren. Sie passten ihr Wahlverhalten an das vermeintlich mehrheitliche Wahlverhalten in ihrer Region an. Der Kontext fungiert somit sowohl als Beeinflussungs- als auch als Identifikationsgruppe. Der Akteur identifiziert sich mit seinem sozialen Kontext und wird durch diesen in seinem Handeln beeinflusst. Unter diesen Theoriestrang kann auch die beiläufige Beobachtung subsumiert werden. Um die Einstellungen und die Lebensumstände der anderen Akteure in einem Kontext zu erschließen, sei keinerlei Interaktion nötig. Reine Beobachtung reiche aus. Allerdings sei eine Identifikation mit dem Kontext notwendig (Cho/Rudolph 2008: 277). Problematisch ist dabei allerdings, dass unter Umständen verschiedene Gruppennormen aufeinandertreffen, wenn der Akteur auf verschiedene Gruppen Bezug nimmt. Wenn die Wahlnorm der Gemeinde nicht mit den Wahlnormen verschiedener sozialer Gruppen übereinstimmt, bleibt unklar, welche Norm sich durchsetzt (vgl. Klein/Pötschke 2000: 185). Der Akteur ist dann sogenannten „cross-pressures“ (Lazarsfeld et al. 1968 [1944]: 56, Hervorhebung S.P.) ausgesetzt, die seine Handlungsentscheidungen erschweren. In ihrer Studie The People’s Choice konnten Lazarsfeld und seine Kollegen (Lazarsfeld et al. 1968 [1944]: 56ff.) zeigen, dass Akteure, die crosspressures ausgesetzt sind, ihre Wahlentscheidung später treffen als Akteure, die nicht mit widersprüchlichen Normen konfrontiert sind.

Die Interaktionstheorie (vgl. Huckfeldt 1983, 1984; Klein/Pötschke 2000; Krassa 1988; Pappi 1976; Putnam 1966) geht dagegen davon aus, dass der soziale Kontext als ein Gelegenheitsraum für soziale Interaktionen fungiert. Durch die Gelegenheitsstruktur bestimme der Kontext die individuellen Interaktionswahrscheinlichkeiten. Je mehr Katholiken beispielsweise in einer Region leben, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein anderer dort lebender Akteur mit einem Katholiken interagiert. Über soziale Interaktion würden dann Einstellungen und Meinungen vermittelt. Der soziale Kontext in Form einer regionalen Einheit sei dabei von besonderer Bedeutung, weil hier nicht nur Freundschaften und enge Kontakte stattfänden, sondern auch zufällige, alltägliche Kontakte (Huckfeldt 1984), wie z. B. das Mithören eines Gesprächs beim Einkaufen. Gerade diese Art von Kontakt könne einen großen Einfluss ausüben, da den kommunizierenden Personen keine Überredungsabsichten unterstellt werden könnten. Dadurch wirkten die geäußerten Meinungen besonders aufrichtig. In diesem Fall fungiert der soziale Kontext somit vorrangig als Beeinflussungsgruppe, ohne gleichzeitig als Identifikationsgruppe zu dienen. Die Interaktionstheorie erfordert allerdings zwei Zusatzannahmen. Als erste Zusatzannahme müsse unterstellt werden, dass die Wahrscheinlichkeiten für Interaktionen zwischen allen Personen eines sozialen Kontextes identisch sind (Pappi 1976: 227). Lässt sich diese Annahme nicht machen, muss ein Term für die Nähe zwischen den Individuen in das Modell eingefügt werden. Erbring und Young verwenden einen solchen Term in ihrem Modell des „endogenous feedback“ (Erbring/Young 1979: 408ff.). Dabei fassen die Autoren sowohl face-to-face-Kommunikation als auch Vergleichsprozesse unter den Begriff der sozialen Interaktion. Bei face-to-face- Kontakten variiere der Wert für die Nähe zwischen den Individuen für jedes Individuen-Paar. Bei Vergleichsprozessen sei die Nähe zwischen allen Akteuren innerhalb einer Kontexteinheit identisch, wodurch die Zusatzannahme erfüllt wäre. Wenn keine Informationen über die Nähe zwischen den Akteuren existierten, könne laut Erbring und Young auch bei face-to-face-Kontakten die Annahme der gleichen Nähe innerhalb des Kontextes getroffen werden. Praktisch mag diese Annahme von hohem Nutzen sein. Es kann jedoch angezweifelt werden, dass es sich aus theoretischer Sicht bei nicht vorhandenen Informationen um eine angemessene Annahme handelt. Genaugenommen kann ohne Informationen keine gleiche Distanz zwischen den Individuen angenommen werden. Für die praktische Umsetzung von Kontextanalysen ist diese Annahme jedoch unumgänglich, da in der Regel keine Informationen über die Distanzen verfügbar sind. Gleichzeitig betrage die Nähe der Personen zu Akteuren außerhalb der Kontexteinheit null (Erbring/Young 1979: 411ff.), womit die zweite notwendige Zusatzannahme für den Mechanismus der Interaktion genannt ist. Es müsse unterstellt werden, dass Individuen nur Kontakte innerhalb ihres sozialen Kontextes besitzen (Pappi 1976: 227). Diese Annahme muss freilich als Kontinuum interpretiert werden, da sie andernfalls heutzutage nicht mehr haltbar ist. Durch eine gesteigerte räumliche Mobilität und moderne Kommunikationsformen ist es unwahrscheinlich, dass Kontakte ausschließlich innerhalb des räumlichen Kontextes stattfinden. Das bedeutet, dass Kontexteffekte umso größer ausfallen werden, je höher der Anteil der Kontakte innerhalb des Kontextes an den Gesamtkontakten der Akteure ausfällt.

Es stellt sich jedoch die Frage, weshalb sich Personen durch den Kontext als Bezugsgruppe beeinflussen lassen sollten und wie die Beeinflussung – sei es über Identifikation, sei es über Interaktion – abläuft. Ein möglicher Grund liege im Streben nach interner Konsistenz (Books/Prysby 1991). Individuen bemühten sich um ein in sich schlüssiges Einstellungsset, so dass bei widersprüchlichen Einstellungen unter Umständen ein Einstellungswandel stattfände. Die Individuen passen ihre übrigen Einstellungen an die Einstellungen an, die sie über den Kontext gewonnen haben. Zusätzlich bewirkten Interaktionen im sozialen Kontext einen Informationsfluss (Books/Prysby 1991: 50). Über Kommunikation mit anderen oder auch durch das Mithören von Unterredungen erhalte der Akteur neue Informationen und neue Sichtweisen und Standpunkte, an die er unter Umständen noch gar nicht gedacht habe. Diese neuen Informationen führten zu einem Lernprozess, durch den der Akteur seine Einstellungen verändere. Als dritte Möglichkeit kann das Streben nach Konformität angeführt werden (Books/Prysby 1991: 70). Um sich nicht gegen die Mehrheit in seiner Region zu stellen, passe sich das Individuum an die vorherrschende Meinung an. Darüber hinaus bestimmten die Institutionen eines Kontextes die Beziehungen zwischen den Individuen und wirkten sich darüber auf das individuelle Verhalten aus (Johnson et al. 2002: 220f.). Diese Art von Kontextmechanismus ist hauptsächlich bei Ländervergleichen relevant, könnte in Deutschland aber auch durchaus für Unterschiede zwischen den Bundesländern verantwortlich sein. Eine weitere Ursache wird als „social setting“ (Johnson et al. 2002: 220f.) bezeichnet. Die Individuen formten durch ihre Eigenschaften den sozialen Kontext, der dann wiederum das Verhalten des Einzelnen beeinflusse, wodurch vor allem ein Verstärkungseffekt entstehe. Das Individuum fühle sich in seinen Eigenschaften bestätigt, da es in seinem sozialen Kontext wiederholt auf genau dieselben Eigenschaften stoße. Zusätzlich findet sich in der Literatur der Effekt der Verhaltens- Ansteckung („behavioral contagion“), bei dem sich das individuelle Verhalten aus dem aggregierten Verhalten ableite (Johnson et al. 2002: 221). Als Mechanismus, der zu dieser Verhaltens-Ansteckung führt, wird allerdings die soziale Interaktion benannt, so dass es sich dabei genau genommen um eine Variante der Interaktionstheorie handelt.

Die Identifikationstheorie und die Interaktionstheorie stoßen allerdings auf das Problem der Selbstselektion (Huckfeldt 1983, 1984), die teilweise sogar als eigener Kontextmechanismus aufgeführt wird (Cho/Rudolph 2008: 274f.). Es könnte durchaus sein, dass scheinbare Kontextmechanismen empirisch nachgewiesen werden können, weil Akteure sich bewusst entscheiden, in eine Gegend zu ziehen, die ihren Einstellungsmustern entspricht. Bei den vermeintlichen Kontexteffekten handelt es sich dann tatsächlich um Effekte der Selbstselektion. Beide Theorien können nicht ausschließen, dass nicht der Kontext zu den Einstellungen führt, sondern Akteure mit passenden Einstellungen in diesen Kontext ziehen, eben weil sie sich eine zu ihnen passende Nachbarschaft aussuchen. Allerdings wirke der Kontext auf diese Individuen dann in Form einer Verstärkung ein. Durch identische Einstellungen in ihrer Umgebung würden die Individuen in ihren bestehenden Einstellungen bestärkt. Zusätzlich nähmen sie Einfluss auf die anderen Akteure in ihrem Kontext und verstärkten wiederum deren Einstellungen. Somit handele es sich vermutlich nicht um eine einseitige, sondern um eine beidseitige BeeinflussungFootnote 2 (vgl. Huckfeldt 1984). Ein weiteres Problem stellten die Präferenzen der Akteure dar. Jeder Einzelne entscheide für sich, mit wem er freundschaftliche Kontakte pflegen möchte und welche Themen die Unterhaltungen prägen. Dabei müsse aber berücksichtigt werden, dass diese Entscheidungen nicht unabhängig von der Umwelt seien. Stattdessen unterlägen sie den Restriktionen, die durch den sozialen Kontext vorgegeben sind, da man nur Personen als Interaktionspartner wählen kann, mit denen man durch räumliche Nähe in Kontakt kommt, und sich die Kontaktwahrscheinlichkeit erhöht, je stärker eine soziale Gruppe in einem Kontext vertreten ist: „A person residing in a social context where a particular class is more dominant is more likely to have a friend from that class, regardless of his own class membership” (Huckfeldt 1983: 667). Der Kontext bestimmt folglich die Kontaktmöglichkeiten, aus denen ein Akteur seine Interaktionspartner aussuchen kann. Dennoch könnten drei individuelle Faktoren den kontextuellen Einfluss politischer Informationen schwächen: “Citizens choose with whom to discuss politics, they reinterpret dissonance-producing information, and they may deliberately misrepresent their true opinions“ (Huckfeldt/Sprague 1987: 1199). Jeder Akteur entscheidet frei, mit wem er über Politik spricht. Nicht jeder Interaktionspartner wird als geeigneter politischer Diskussionspartner wahrgenommen. Zusätzlich werden Informationen, die nicht dem eigenen Einstellungsset entsprechen, uminterpretiert, so dass die interne Konsistenz gewahrt bleibt. Außerdem können Akteure ihre wahren Einstellungen absichtlich falsch darstellen, um sich an ihren Kontext anzupassen. Huckfeldt und Sprague (1987) untersuchen diese Mechanismen und finden heraus, dass Mitglieder der Mehrheit nicht nur mit einer geringeren Wahrscheinlichkeit widersprüchlichen Informationen begegnen, sondern sie eine solche auch mit einer geringeren Wahrscheinlichkeit erkennen. Somit wirkt der Kontext für Mitglieder der Mehrheit meinungsverstärkend, da sie widersprüchliche Informationen nicht wahrnehmen. Mitglieder der Minderheit nehmen dagegen sehr wohl die Angehörigen der Mehrheit mit ihren Einstellungen wahr. Sie könnten daher durch den Kontext zu einem Einstellungswandel bewegt werden.

Es stellt sich dabei die Frage, welche Theorie zutrifft und wie Kontextmechanismen tatsächlich funktionieren. Wirkt der Kontext über die Aktivitäten einer Partei, über die Beobachtung und Identifikation mit der Bezugsgruppe oder wirkt er über tatsächliche Kommunikation und soziale Interaktion mit der Beeinflussungsgruppe? Die empirischen Befunde dazu sind nicht vollkommen eindeutig. Putnam (1966: 643ff.) verwirft die Parteiaktivitätstheorie in seinen Analysen. Pappi (1976: 209) kritisiert allerdings, dass Putnam mit Hilfe der Parteiaktivitätstheorie Mehrheitseffekte erklären wollte, wofür die Theorie nicht geeignet sei. Er spricht der Parteiaktivitätstheorie eine Sonderrolle zu, da ihre Verwendung „im Rahmen von sozialstrukturellen Kontexttheorien“ nicht sinnvoll sei (Pappi 1976: 209). Dennoch geht Pappi davon aus, dass „von der Intensität, mit der die eine oder andere Partei den lokalen Wahlkampf führt, eine meßbare Wirkung auf die Wahlentscheidung aus[geht]“ (Pappi 1976: 209). Es liegt folglich nahe, die Parteiaktivitätstheorie nicht in Konkurrenz zu Identifikations- und Interaktionstheorie zu sehen, da es sich um einen gänzlich anderen Mechanismus handelt. Die Wahlkampfanstrengungen einer Partei sind nur bedingt abhängig von der sozialstrukturellen Zusammensetzung eines Kontextes, die im Fokus von Identifikations- und Interaktionstheorie stehen.

Zusätzlich zur Parteiaktivitätstheorie verwirft Putnam (1966: 646) die Identifikationstheorie. Nur die Interaktionstheorie spiegelt sich in seinen Daten wider (Putnam 1966: 646ff.). Huckfeldt kommt ebenfalls zu dem Schluss, dass der Einfluss des Kontextes hauptsächlich über soziale Interaktionen vermittelt wird: “the social context is important not only because it affects patterns of intimate associations, but also because it affects the casual, less personal, and nearly inescapable encounters that occur with greater frequency and regularity” (Huckfeldt 1984: 406, Hervorhebung im Original). Es sind seiner Auffassung nach also hauptsächlich die zufälligen Alltagskontakte, die die Wirkung des Kontextes ausmachen und die Einstellungsmuster des Einzelnen prägen. Krassa (1988) untersucht die Wirkung des sozialen Kontextes im Vergleich zur Stimmenwerbung der Parteien an den Haustüren. Dabei kommt Krassa zu dem Schluss, dass Kontextmechanismen sowohl über Interaktion als auch über Beobachtung wirken. Krassa geht davon aus, dass sich das politische Interesse der Personen im sozialen Kontext auf jeden Einzelnen auswirkt, unabhängig von seinem eigenen Bildungsgrad, da er entweder an den politischen Diskussionen seiner Umgebung teilnimmt oder sie zumindest beobachtet. Der Kontexteffekt sei jedoch deutlich geringer bei denjenigen, die nicht aktiv an den nachbarschaftlichen Unterhaltungen teilnehmen (Krassa 1988: 244). Dies deutet darauf hin, dass die soziale Interaktion eine stärkere Kontextwirkung zur Folge hat als die Beobachtung der Bezugsgruppe. Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangen Pattie und Johnston (2001). Sie untersuchen die Funktionsweise von Kontextmechanismen, indem sie den Kontext als Region dem Kontext in Form von Gesprächspartnern gegenüberstellen. Sie finden keine signifikanten regionalen Unterschiede, dafür aber signifikante Effekte der Wahlabsicht der Diskussionspartner auf die Wahlabsicht der Befragungsperson. Dies deutet ebenfalls darauf hin, dass die soziale Interaktion der entscheidende Mechanismus ist. Ebenso kommt Pappi nach Beleuchtung anderer Studien zu dem Schluss, dass „die Identifikationstheorie als generelle Alternative zur Interaktionstheorie“ (Pappi 1976: 215) nicht infrage komme.

Im Gegensatz dazu findet Books (1977) empirische Belege für die Identifikationstheorie. Bei seiner Untersuchung des Wahlverhaltens in Deutschland 1969 kommt Books (1977: 484) zu dem Ergebnis, dass der Einfluss der Klassenzusammensetzung eines Kreises größer ist als der Einfluss der individuellen Zugehörigkeit zu einer Klasse. Dabei zeigen sich empirisch die höchsten Kontexteffekte in kleinen Städten, also in Regionen, in denen die soziale Kontrolle besonders gut funktioniert. In großen, unübersichtlichen Städten spielt der soziale Kontext dagegen eine geringere Rolle. Somit deuten seine Ergebnisse darauf hin, dass soziale Integration und die Orientierung an Gruppennormen für den Kontexteinfluss verantwortlich sind. Books kommt zu dem Schluss, dass soziale Kontexte „(1) substitute for other references among those who have few, (2) are most important to those most highly integrated into community life and thus aware of the contexts, and (3) are greatly enhanced by the visibility of the context to those in the area” (Books 1977: 486). Damit betont Books, dass soziale Kontexte als Bezugsgruppe fungieren und eine verstärkte Identifizierung mit dieser Bezugsgruppe zu verstärkten Kontexteffekten führt. Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangt Abowitz (1990), der die politische Beteiligung untersucht. Dabei zeigt sich, dass die politische Beteiligung umso höher ist, je höher die durchschnittliche Aufenthaltsdauer der Anwohner ist. Je stärker demnach die durchschnittliche Integration der Umgebung sei, desto eher passe sich der Akteur an die herrschenden Normen an (Abowitz 1990: 556f.). Beide Ergebnisse sind jedoch auch mit der Interaktionstheorie vereinbar. Eine starke Integration in einen Kontext führt nicht nur zu einer vermehrten Orientierung an Gruppennormen, sondern wird vermutlich auch die Häufigkeit und Intensität sozialer Interaktion innerhalb des Kontextes erhöhen. Folglich könnten auch Interaktionen für die Befunde verantwortlich sein.

Auch Cho und Rudolph (2008) finden Hinweise darauf, dass die Beeinflussung durch den Kontext über Beobachtung funktioniert. Sie kontrollieren in ihrer Untersuchung der politischen Beteiligung für Variablen, die sowohl für Selbstselektionsprozesse als auch für ein erhöhtes Engagement der politischen Eliten verantwortlich sein sollten. Zusätzlich berücksichtigen die Autoren die soziale Eingebundenheit der Akteure. Trotz dieser Kontrollen bleibt ein signifikanter Effekt ihrer „spatial lag“-Variable (Cho/Rudolph 2008: 284) bestehen. Es finden sich somit auch nach Kontrolle für politisches Engagement, Selbstselektion und soziale Interaktion signifikante Unterschiede in der politischen Beteiligung der Akteure zwischen den Regionen. Dies deuten die Autoren als Hinweis darauf, dass die Beobachtung der Bezugsgruppe zu einer Beeinflussung führt (Cho/Rudolph 2008: 285). Dabei berücksichtigen sie jedoch nicht, dass die Indikatoren, mit denen die soziale Interaktion gemessen wirdFootnote 3, ebenfalls signifikant werden. Cho und Rudolph (2008) weisen sogar aus, dass die Eingebundenheit in Organisationen 61,4 Prozent der Variation erklären kann. Somit muss aus den Ergebnissen gefolgert werden, dass beide Mechanismen – Interaktion und Identifikation bzw. Beobachtung – für den Einfluss von sozialen Kontexten verantwortlich sind.

In der Wahlforschung wird darüber diskutiert, inwiefern Kontexte in der heutigen Mediengesellschaft überhaupt noch einen Einfluss haben können (siehe z.B. Klein/Pötschke 2000; Pickery 2002; Klein 2007). Es kann die Auffassung vertreten werden, dass diesen heutzutage keine oder nur noch eine sehr geringe Bedeutung zukommt, unabhängig davon, welche Theorie zur Erklärung von Kontextmechanismen herangezogen wird (Klein/Pötschke 2000: 188ff.). Im Rahmen der Parteiaktivitätstheorie müssten Kontexte ihre Bedeutung verloren haben, da die modernen Wahlkämpfe zentral geplant würden und sich kaum noch zwischen den Regionen unterschieden. Zudem würden die Wahlkämpfe größtenteils über die Medien vermittelt (Schulz et al. 2000), wodurch die Bevölkerung in allen Teilen Deutschlands mit denselben Botschaften erreicht wird. Unterschiedliche Bemühungen der Parteien in den Kreisen besitzen dadurch eine untergeordnete Rolle im Wahlkampf. Auch nach der Argumentation der Identifikationstheorie sollte es zu einem Nachlassen der Kontexteinflüsse gekommen sein, da durch eine erhöhte regionale Mobilität (Falter 1978: 861) die Bindungen an den Heimatort nachgelassen hätten. Die Menschen wechselten häufiger den Wohnort als früher, so dass in der Sozialisation erworbene Bindungen schwächer würden. Die Bindungen an den neuen Wohnort seien dagegen von geringerer Stärke als langfristige Bindungen an eine Heimatgemeinde, in der eine Person ihr ganzes Leben verbringt (Klein/Pötschke 2000: 188). Durch eine geringere Identifikation mit dem sozialen Kontext fungiert er nicht mehr als relevante Bezugsgruppe, so dass seine Normen nicht mehr verhaltensrelevant sind. Stattdessen greift der Akteur auf andere Bezugsgruppen zurück, an deren Normen er sich orientieren kannFootnote 4. Aus diesen Entwicklungen leite sich auch die geringere Kontextwirkung im Rahmen der Interaktionstheorie ab (Klein/Pötschke 2000: 189). Durch die höhere räumliche Mobilität seien die Freundschaftskontakte zunehmend verstreut. Je mehr Kontakte außerhalb des Kontextes bestünden, desto geringer sei der mögliche Kontexteinfluss (Falter 1973: 195ff.). Zusätzlich ermöglichten die modernen Kommunikationsmittel, Kontakte weltweit zu pflegen (Klein/Pötschke 2000: 189). Die Zusatzannahme der Interaktionstheorie, dass die sozialen Interaktionen der Akteure ausschließlich innerhalb des Kontextes stattfinden, ist nach dieser Argumentation nur noch schwer haltbar. Des Weiteren sorge die Verbreitung der Massenmedien dafür, dass Verhalten nicht mehr ausschließlich über Interaktionen vermittelt wird. Die Akteure könnten sich stattdessen an dem Verhalten orientieren, das ihnen die Medien präsentieren (vgl. Falter 1973, 1978; Kepplinger/Maurer 2000: 449).

Folglich gibt es eine Vielzahl von Entwicklungen, die theoretisch zu einer Verringerung von Kontexteinflüssen führen sollten. Klein und Pötschke (2000) testen für Westdeutschland diese Annahmen empirisch und scheinen sie zu bestätigen. Ihre Analysen für Deutschland ergeben, dass die Intraklassenkorrelation auf der Kreisebene über einen Zeitraum von 29 Jahren – von 1969 bis 1998 – stark abgenommen hat. Die erklärbare Varianz auf der Kreisebene hat sich also verringert, was darauf hindeutet, dass der Kontext an Einfluss verliert (Klein/Pötschke 2000: 198). Des Weiteren testen die Autoren den sogenannten „breakage“-Effekt, „demgemäß die jeweilige Mehrheitspartei in einer Gebietseinheit überproportional gute Chancen hat, Unterstützung durch die Wähler zu gewinnen“ (Klein/Pötschke 2000: 183). Die Autoren überprüfen diesen Effekt für den Katholikenanteil in einem Kreis und können keine signifikante Verstärkung der individuellen Konfessionszugehörigkeit feststellen. Pickery (2002: 3) zieht die Ergebnisse jedoch in Zweifel, da Klein und Pötschke die Tatsache nicht berücksichtigten, dass es sich bei ihrer abhängigen Variable um eine kategoriale Variable handele. Pickery (2002) führt daher im Gegensatz zu Klein und Pötschke eine multinomiale logistische Mehrebenenregression durch, wodurch er der abhängigen kategorialen Variable gerecht wird und zusätzlich für alle relevanten Parteien kontrollieren kann. Weiterhin testet Pickery verschiedene Kontextvariablen. Er kommt zu dem Ergebnis, dass in Westdeutschland sowohl die Arbeitslosenquote als auch die Stärke der Partei in einem Kreis einen Einfluss auf die individuelle Wahlentscheidung besitzen, wobei er die letztere Variable erst ganz zum Schluss in das Modell integriert, da diese Variable fast alle anderen Variablen durch ihren starken Effekt eliminiert (Pickery 2002: 18ff.). Gewissermaßen in Reaktion auf die Arbeit von Pickery testet Klein (2007) noch einmal den Einfluss des sozialen Kontextes auf das Wahlverhalten für 1994, 1998 und 2002 in Gesamtdeutschland mit Hilfe einer logistischen Mehrebenenanalyse. Klein (2007: 237f.) kritisiert an Pickerys Untersuchung, dass es sich bei seinem vermeintlichen „breakage“-Effekt eigentlich um ein statistisches Artefakt handele, da er auf der individuellen Ebene nicht für die Parteipräferenzen kontrolliere. Sein Effekt sei folglich in Wirklichkeit ein Gruppenkompositionseffekt. Klein kontrolliert daher auf der Individualebene für die Bestandteile des Ann Arbor- Modells. Für die Wahl der SPD kann Klein (2007: 244f.) zeigen, dass die Wahrscheinlichkeit der SPD-Wahl steigt, je höher der Arbeiteranteil, der Anteil an Gewerkschaftsmitgliedern sowie der mittlere Stimmenanteil der SPD in einem Kreis sind. Die Wahrscheinlichkeit der CDU/CSU-Wahl erhöht sich dagegen, mit steigendem Anteil an CDU/CSU-Mitgliedern sowie mit einem steigenden Stimmenanteil von CDU/CSU in einem Kreis. Die Analysen von Pickery (2002) und Klein (2007) zeigen folglich, dass Kontexteffekte auch im Zeitalter der Massenmedien noch einen Einfluss besitzen.

Allerdings kann angenommen werden, dass nicht alle Kontextmerkmale denselben Einfluss besitzen. Huckfeldt et al. (1993) können zeigen, dass der Einfluss sowohl je nach Kontext als auch je nach Thema variiert. Sie untersuchen die Nachbarschaft und die Kirchengemeinde als soziale Kontexte in Bezug auf die Parteibindung und die Einstellung zu Abtreibung. Dabei finden Huckfeldt et al. (1993) heraus, dass die beiden Kontexte in Abhängigkeit von der Einstellung einen unterschiedlich starken Einfluss auf die Akteure ausüben. Die Kirchengemeinde hat einen größeren Einfluss auf die Einstellung zu Abtreibung als die Nachbarschaft. In Bezug auf die Parteibindung wirken übereinstimmende Kontexte verstärkend, während dissonante Kontextmerkmale dazu führen können, dass in einem Kontext „Zuflucht“ vor dem anderen Kontext gesucht wirdFootnote 5 (Huckfeldt et al. 1993). Abowitz (1990: 552ff.) findet des Weiteren heraus, dass sich der Einfluss der Kontexte signifikant nach Geschlecht unterscheidet. Seine Analysen zeigen für Frauen stärkere Kontexteffekte als für Männer. Bei der Untersuchung von Kontexteffekten sollte folglich für jeden Themenbereich und für jede Personengruppe der jeweils relevante Kontext analysiert werden.

Pattie und Johnston (1995) untersuchen für die Neunziger Jahre in Großbritannien, inwiefern es eine „regional sociotropic vote“ (Pattie/Johnston 1995: 4) gibt in dem Sinne, dass Wähler weder von ihrer persönlichen wirtschaftlichen Lage noch von der Wirtschaftslage des Staates, sondern von der wirtschaftlichen Situation ihrer Region beeinflusst werden. Sie überprüfen damit, ob die Region an sich einen Einfluss auf das Wahlverhalten hat oder ob nicht vielmehr die individuelle Einschätzung der Region das Wahlverhalten beeinflusst. Damit würde der Kontext einen über die subjektiven Wahrnehmungen der Akteure vermittelten Einfluss ausüben. Die Ergebnisse von Pattie und Johnston zeigen, dass die Bewertung der ökonomischen Situation der Region signifikant das Wahlverhalten beeinflusst. Wichtig ist dabei zusätzlich, ob ein Befragter die Regierung für die ökonomische Situation verantwortlich macht oder nicht. Die Bewertung der regionalen Wirtschaft hat dann einen besonders hohen Einfluss auf das Wahlverhalten, wenn die Regierung dafür verantwortlich gemacht wird. Doch auch bei Kontrolle individueller Merkmale und der Bewertung der eigenen und der regionalen ökonomischen Situation bleibt ein signifikanter Effekt der verschiedenen Regionen erhalten. Regionale Unterschiede können somit nicht vollständig erklärt werden, so dass Pattie und Johnston von einem regionalen Cleavage sprechen und als Fazit festhalten: „Region still matters“ (Pattie/Johnston 1995: 29). Inwiefern diese regionalen Unterschiede über objektive Wirtschaftsindikatoren aufgeklärt werden könnten, überprüfen die Autoren jedoch nicht.

Auch Glaser (2003) findet einen signifikanten Einfluss des Kontextes in seiner Studie zur Wahrnehmung von Gruppenkonflikten in den USA. Die Befragungspersonen verknüpft Glaser (2003: 609) allerdings nicht mit ihrem realen sozialen Umfeld, sondern bittet sie, sich Regionen mit einem bestimmten Anteil an farbiger Bevölkerung vorzustellen. Dieser Anteil variiert zwischen den unterschiedlichen Versuchspersonen. Auf diese Art könne er eine breitere Variation der erklärenden Variable erreichen, als dies in der Realität in der Regel möglich sei. Die Versuchspersonen sollen die Fragen beantworten, ob die Wahlbezirke so zugeschnitten werden sollen, dass die farbige Bevölkerung eine angemessene Zahl an Repräsentanten bekommen kann. Dabei kommt heraus, dass Weiße der Zuschneidung der Wahlbezirke umso ablehnender gegenüberstehen, je höher der Anteil an Farbigen in dem Bezirk ist (Glaser 2003: 614). Für Farbige gilt überraschenderweise genau dasselbe. Dies liege im Gegensatz zu den Weißen aber nicht an der gefühlten Bedrohung durch den Gruppenkonflikt, sondern an der Selbstsicherheit der Gruppe. Je größer die Gruppe der Farbigen in einem Bezirk sei, desto weniger hätten sie das Bedürfnis nach einer gesetzlich festgeschriebenen Vorzugsbehandlung (Glaser 2003: 619). Wenn Glaser (2003: 615ff.) nicht zwischen Farbigen und Weißen unterscheidet, sondern zwischen städtischer und nicht-städtischer Bevölkerung, zeigt sich dagegen kein signifikanter Effekt. Auch diese Studie bestätigt damit, dass der Einfluss, den der soziale Kontext auf das individuelle Verhalten der Akteure ausübt, stark davon abhängt, dass der für das jeweilige Verhalten relevante Kontext gewählt wird. Nicht jeder Kontext ist für jedes Verhalten oder jede Einstellung von Bedeutung.

Es lässt sich schlussfolgern, dass Kontexteffekte auch im Zeitalter der Mediengesellschaft noch plausibel sind. Zum einen können in einigen Studien noch Kontexteffekte gefunden werden (vgl. Pattie/Johnston 1995; Glaser 2003; Pickery 2002; Klein 2007), vor allem auch für rechtsextremistisches Wählerverhalten in Deutschland (vgl. Dülmer/Klein 2005; Dülmer/Ohr 2008; Lubbers/Scheepers 2000; 2001, siehe ausführlicher Kapitel 2.1), Frankreich (Lubbers/Scheepers 2002) und Belgien (Lubbers et al. 2000)Footnote 6. Des Weiteren werden rechtsextreme Parteien in Deutschland von den Medien weitestgehend ignoriert (Bornschier 2010: 166), so dass für die Erklärung rechtsextremen Wählerverhaltens ein Medienwahlkampf keine Rolle spielt. Zum anderen wirken Medien einstellungsverstärkend und weniger verändernd, da hauptsächlich diejenigen während des Wahlkampfes Medien nutzen, die sich schon für eine Partei entschieden haben (Lazarsfeld et al. 1968 [1944]: 124). Sowohl für rechts- als auch für linksextreme Wähler gilt zusätzlich, dass Medien stark selektiv genutzt werden können. Dadurch kann sich der Akteur diejenigen Berichterstattungen heraussuchen, die mit seinen Einstellungen vereinbar sind. Dissonante Berichterstattung wird nicht beachtet, so dass vorhandene Einstellungen häufig verstärkt, aber nicht verändert werden (Lazarsfeld et al. 1968 [1944]: 89)Footnote 7. Des Weiteren können Medien nicht flexibel auf Argumente reagieren. Interaktionspartner können dies dagegen, wodurch sie bessere Überzeugungsarbeit leisten können als die Medien. Weiterhin wirken Interaktionspartner vertrauenswürdiger als Medienberichte. Die Meinung von Bekannten aus dem sozialen Umfeld wird als glaubwürdiger wahrgenommen, da diesen kein Verdacht der Manipulation anhaftet. Wenn der Interaktionspartner zusätzlich einer ähnlichen sozialen Gruppe angehört, nimmt der Akteur möglicherweise an, dass z. B. die von seinem Interaktionspartner präferierte Partei auch für ihn die beste sei, da er sich schließlich in einer ähnlichen Situation befinde (Lazarsfeld et al. 1968 [1944]: 150ff.).

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass der soziale Kontext die Einstellungen und das Handeln des Einzelnen vor allem deshalb beeinflusst, weil er als Bezugspunkt fungiert, an dem sich der Einzelne orientiert. Davon ausgenommen ist der Einfluss der Parteiaktivität, dem ein anderer Mechanismus zugrunde liegt. Die Parteiaktivität entfaltet ihren Einfluss über lokale Wahlkampfanstrengungen. In einer Region, in der eine Partei einen besonders intensiven Wahlkampf führt, sollte sie höhere Erfolge erzielen können, als in einer Region, in der sie geringere Anstrengungen unternimmt.

Der Kontext wird somit zu einem Möglichkeitsraum für – wie auch immer geartete – Kontakte zwischen den Wählern und den Parteien. Wenn der Kontext jedoch als Bezugsgruppe im eigentlichen Sinne verstanden wird, kann er entweder über soziale Interaktionen oder über Identifikation mit dem Kontext und Beobachtung des Umfeldes Einfluss nehmen. In beiden Fällen bildet der Kontext die Beeinflussungsgruppe, die sowohl Werte und Normen als auch Wissen vermittelt. Findet vorrangig eine Identifikation mit dem Kontext statt, bildet er zusätzlich die Identifikationsgruppe, aus der der Einzelne seine kollektive Identität bezieht (vgl. Abbildung 1). Eine weitere Möglichkeit, die bisher nicht angesprochen wurde, liegt darin, dass sich der Akteur mit seinem Umfeld vergleicht. Dies kann sowohl durch Identifikation als auch durch Interaktion erfolgen. Dann würde der Kontext zusätzlich als Vergleichsgruppe dienen.

Abbildung 1:
figure 01

Kontextmechanismen und Bezugsgruppen

Im Folgenden soll eine Brück zwischen den Kontextmechanismen und extremistischem Wählerverhalten geschlagen werden. Denn es reicht nicht zu klären, wie der Kontext wirkt. Noch wichtiger ist die Frage, welche Kontextmerkmale für extremistisches Wahlverhalten überhaupt relevant sein können. Um diese Frage zu klären, werden in den nächsten beiden Abschnitten Deprivationstheorien und die Theorie realistischer Gruppenkonflikte sowie die Theorie der sozialen Milieus und die Cleavage-Theorie erläutert. Erstere geben Aufschluss darüber, welche Kontexteigenschaften extremistisches Wählerverhalten begünstigen. Letztere weisen auf Kontextbedingungen hin, die zu einer Immunisierung gegen die Wahl einer extremistischen Partei führen sollten.

3.2 Realistischer Gruppenkonflikte und deprivationstheoretische Ansätze

Wenn die Mitgliedsgruppe gleichzeitig als Identifikationsgruppe dient, bezieht der Akteur seine soziale Identität aus dieser Mitgliedschaft (Tajfel/Turner 1986). Die Mitgliedsgruppe wird dann zur Eigengruppe („ingroup“) und grenzt sich von den Fremdgruppen ab („outgroups“). Laut der Theorie der sozialen Identität (Tajfel/Turner 1986) strebten Individuen nach einem positiven Selbstbild, das sie über die Zugehörigkeit zur Eigengruppe beziehen. Um aus dieser Gruppenmitgliedschaft ein positives Selbstbild ziehen zu können, müsse allerdings auch die Eigengruppe positiv konnotiert sein. Diese positive Bewertung erfolge in Abgrenzung zu einer negativ bewerteten Fremdgruppe. Es findet also ein Vergleichsprozess statt, bei dem die Eigengruppe mit der Fremdgruppe verglichen wird. Die Fremdgruppe wird dadurch auch zur Bezugsgruppe, genauer zur Vergleichsgruppe. Je stärker die soziale Identität ausgeprägt sei, umso häufiger fänden solche Gruppenvergleiche statt (Tougas/Beaton 2002: 129).

Die Bedeutung der Einteilung in Eigen- und Fremdgruppe können Tajfel und Turner mit Hilfe eines Experimentes nachweisen. Ihr „Minimal Group Paradigm“ zeigt, dass bereits die Gruppenzugehörigkeit an sich bedeutsam ist, unabhängig von den Gruppenmitgliedern. Sie teilen die Teilnehmer ihres Experimentes nach dem Zufallsprinzip in zwei Gruppen, die sich nur dadurch unterscheiden, dass die eine als „Klee“-Gruppe und die andere als „Kandinsky“-Gruppe bezeichnet wird. Ansonsten gibt es keine Unterschiede. Zusätzlich kennen sich die Gruppenmitglieder untereinander nicht. Ihnen wird lediglich mitgeteilt, zu welcher Gruppe sie gehören. Anschließend sollen sie ihrer eigenen und der fremden Gruppe Geldbeträge zuweisen. Dabei handelt es sich nicht um ein Nullsummenspiel. Die Teilnehmer können der Fremdgruppe Beträge zuweisen, ohne dass ihre Gruppe dafür weniger bekommt. Es zeigt sich aber, dass die Teilnehmer nicht nur der eigenen Gruppe möglichst hohe Beträge zuweisen. Stattdessen weisen sie die Beträge so zu, dass der Unterschied zwischen ihrer Gruppe und der Fremdgruppe maximal ist (Tajfel/Turner 1986: 13ff.). Die Teilnehmer identifizieren sich folglich in diesem Experiment rein durch ihre formale Gruppenmitgliedschaft und neigen dazu, die Fremdgruppe zu benachteiligen, unabhängig vom Erfolg der eigenen Gruppe.

Wenn einmal der Vergleich mit einer Fremdgruppe dazu führe, dass die Eigengruppe schlechter abschneidet – der Vergleich also negativ ausfällt – gebe es verschiedene Möglichkeiten, wie die Mitglieder der Eigengruppe mit einem solchen Ergebnis umgehen könnten. Einerseits könnten sie die Gruppenzugehörigkeit beenden. Wenn dies nicht möglich sei, könnten sie andererseits versuchen, über soziale Kreativität zu einer Umdeutung zu gelangen. Soziale Kreativität könne darin bestehen, dass die Vergleichsdimension gewechselt wird, so dass der neue Vergleich mit der Fremdgruppe für die Eigengruppe positiv ausfällt. Oder aber die Vergleichsgruppe werde gewechselt bei gleichbleibender Vergleichsdimension. Dann sucht sich der Akteur zum Vergleich eine Fremdgruppe aus, bei der die Eigengruppe besser abschneidet (Hogg/Abrams 1988: 27), die dann als Sündenbock dient und „der es definitiv noch schlechter geht und die sich gegen einen, das Ego der Frustrierten etwas aufrichtenden, Vergleich nicht wehren kann“ (Esser 2001: 453).

Kann ein negativer Vergleich jedoch auf keine dieser Arten ausgeglichen werden, kann er zu relativer Deprivation führen. Dabei fühle sich ein Akteur dann depriviert, wenn er etwas nicht besitzt, das andere besitzen, obwohl er der Meinung sei, dass es ihm zusteht, dieses ebenfalls zu besitzenFootnote 8 (vgl. Hogg/Abrams 1988: 38; Walker/Pettigrew 1984: 302; Runciman 1966). Je nach Vergleichsgruppe könne zwischen individueller („egoistically deprived“) und kollektiver („fraternally deprived“) Deprivation unterschieden werden (Walker/Pettigrew 1984: 303). Unter individueller Deprivation wird ein negativer Vergleich mit Mitgliedern der Eigengruppe (bei Gleich- oder Besserstellung der Eigengruppe im Vergleich zur Fremdgruppe) verstanden (vgl. Hogg/Abrams 1988: 38; Walker/Pettigrew 1984: 302; Runciman 1966). Die Mitgliedsgruppe dient dann als Vergleichsgruppe. Kollektive Deprivation bezeichne dagegen einen negativen Vergleich mit Mitgliedern der Fremdgruppe (bei Gleich- oder Besserstellung im Vergleich mit Mitgliedern der Eigengruppe), so dass die Fremdgruppe die Vergleichsgruppe bildet. Nach diesem Verständnis kann vor allem kollektive Deprivation für die Wahl extremistischer Parteien verantwortlich gemacht werden. Kollektive Deprivation führt dazu, dass ein Gruppenkonflikt zwischen der Eigen- und der (vermeintlich) bessergestellten Fremdgruppe wahrgenommen wird, auch wenn er objektiv nicht existiert. Ein Gruppenkonflikt entsteht laut der Theorie realistischer Gruppenkonflikte, wenn die Mitgliedsgruppe und Fremdgruppen unvereinbare Ziele besitzen und in Konkurrenz um knappe Ressourcen stehen (Campbell 1965: 287). Ein tatsächlicher Konflikt um Ressourcen führe zu einem Gruppenkonflikt. Allerdings reiche es auch aus, wenn ein Konflikt lediglich subjektiv wahrgenommen werde. Dann sei es nicht bedeutsam, ob er auch objektiv existiere. Ein Gruppenkonflikt kann auch wahrgenommen werden, wenn die Fremdgruppe schlechter gestellt ist, der Vergleich also eigentlich positiv ausfällt. Blumer (1958: 3) erklärt „race prejudice“ damit, dass ein „sense of group position“ bestehe. Die Eigengruppe besitze einen höheren Status als die Fremdgruppe, die hier durch die ethnische Zugehörigkeit definiert wird. Wenn die Mitglieder der Eigengruppe ihren besser gestellten Gruppenstatus als bedroht empfänden, komme es zu Vorurteilen gegenüber der Fremdgruppe. Ähnlich können Gruppenkonflikte erklärt werden. Auch wenn die Fremdgruppe nicht besser gestellt ist, kann sie als Bedrohung des Status der Eigengruppe wahrgenommen werden.

Esses et al. (1998) entwickeln das Modell der realistischen Gruppenkonflikte zu einem instrumentellen Modell des Gruppenkonfliktes weiter. Gruppenkonkurrenz wird auch in ihrem Modell (Esses et al. 1998: 703) durch Konkurrenz um Ressourcen („ressource stress“) hervorgerufen. Diese könne durch Knappheit der Ressourcen oder aber durch eine ungleiche Verteilung der Ressourcen hervorgerufen werden. Besonders anfällig sind somit Akteure, die sich benachteiligt fühlen und folglich depriviert sind. Des Weiteren müsse eine relevante Fremdgruppe wahrgenommen werden, mit der die Eigengruppe in Konkurrenz steht. Welche Fremdgruppe als bedeutsam wahrgenommen werde, hänge davon ab, wie deutlich sich die Fremdgruppe von der eigenen Gruppe unterscheide und wie sichtbar diese Fremdgruppe sei. Alternativ müsse eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür existieren, dass die Mitglieder der Fremdgruppe die Ressourcen tatsächlich beanspruchen. Dabei müsse der Konflikt nicht tatsächlich vorhanden sein, sondern er müsse nur von den Akteuren wahrgenommen werden. Damit die knappen Ressourcen und die Wahrnehmung einer Fremdgruppe zu einem wahrgenommenen Gruppenkonflikt führen, seien zusätzlich zwei kognitive Strategien der Akteure notwendig. Akteure müssten an ein Nullsummenspiel glauben und Angst besitzen. Im Gegensatz zu Tajfel und Turner (1986) nehmen die Autoren an, dass Konkurrenz nur entstehe, wenn ein Nullsummenspiel vorausgesetzt wird. Würde die Meinung vorherrschen, dass beide Gruppen an den Ressourcen partizipieren könnten, gäbe es keine Grundlage für einen Konflikt. Die Autoren können empirisch zeigen, dass Akteure mit negativen Einstellungen zu Immigranten tatsächlich ein Nullsummenspiel annehmen. Aus der Konkurrenzsituation folgten theoretisch drei Strategien zur Beseitigung der Gruppenkonkurrenz. Einerseits könne versucht werden, die Konkurrenzfähigkeit der Fremdgruppe zu reduzieren oder die der Eigengruppe zu erhöhen. Andererseits könne die Fremdgruppe gemieden werden. Die empirischen Ergebnisse der Studie bestätigen das Modell (Esses et al. 1998: 708ff.).

Extremistische Parteien zeichnen sich nun häufig dadurch aus, dass sie solche tatsächlichen oder wahrgenommenen Konflikte thematisch aufgreifen und eine einfache Lösung propagieren. Daher kann relative Deprivation als eine Ursache – unter mehreren – für extremistisches Wählerverhalten genannt werden. Ob ein deprivierter Akteur dann rechts- oder linksextremistisch wählt, hängt wiederum davon ab, welche Gruppe seine Identifikationsgruppe bildet. Daraus ergibt sich, welche Gruppe er als Fremdgruppe und damit als Vergleichsgruppe definiert. Zusätzlich ist bedeutsam, wie der Akteur auf einen negativen Vergleich reagiert. Akteure, die ihre soziale Identität überwiegend über die Nationalität definieren, werden als Eigen- und Identifikationsgruppe Angehörige der eigenen Nationalität wahrnehmen. Alle übrigen Nationalitäten gehören dann automatisch der Fremdgruppe an. Fühlt sich ein Akteur dann von Ausländern als Mitglieder der Fremdgruppe bedroht, da sie einerseits vermeintlich besser gestellt sind oder andererseits seinen ökonomischen Status vermeintlich bedrohen und um dieselben Ressourcen konkurrieren, neigt dieser Akteur mit einer höheren Wahrscheinlichkeit zur Wahl einer rechtsextremistischen ParteiFootnote 9 (vgl. Abbildung 2). Hinzu kommen diejenigen Wähler, die nicht kollektiv, sondern individuell depriviert sind. Sie vergleichen sich mit den Mitgliedern der Eigengruppe, woraus Deprivation resultiert. Indem sie durch soziale Kreativität die Vergleichsgruppe wechseln, stellen sie wieder ein positives Selbstbild her. Die oftmals als statusschwächer wahrgenommenen Ausländer werden zum Sündenbock für die eigene Situation (vgl. Blalock 1967: 165). Dadurch wird die Schuldzuschreibung verlagert und das Selbstbild wieder verbessert. Da sich rechtsextreme Parteien unter anderem durch eine ausgeprägte Ausländerfeindlichkeit auszeichnen, wenden sich diese Wähler dann einer solchen Partei zu (vgl. Abbildung 3). Für die Wähler rechtsextremer Parteien gibt es damit zwei alternative Wirkmechanismen: zum einen die Wahrnehmung eines Gruppenkonfliktes (vgl. Abbildung 2) und zum anderen die soziale Kreativität, die zur Suche eines Sündenbockes führt (vgl. Abbildung 3).

Abbildung 2:
figure 02

Erklärung extremistischen Wählerverhaltens mithilfe der Theorie Relativer Deprivation und der Theorie realistischer Gruppenkonflikte

Anmerkungen: Soz. ID: soziale Identität; RD: Relative Deprivation.

Abbildung 3:
figure 03

Erklärung rechtsextremistischen Wählerverhaltens mithilfe der Theorie Relativer Deprivation und der Theorie realistischer Gruppenkonflikte

Anmerkungen: Soz. ID: soziale Identität; RD: Relative Deprivation.

Rippl und Baier (2005) untersuchen den Einfluss verschiedener Deprivationsformen auf rechtsextreme Einstellungen. Dabei kommen sie zu dem Ergebnis, dass sowohl strukturelle als auch institutionelle DeprivationFootnote 10 das Vorhandensein rechtsextremer Einstellungen wie Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit begünstigen (Rippl/Baier 2005: 656). Die Aufteilung der strukturellen Deprivation in kollektive und individuelle strukturelle Deprivation zeigt zum einen, dass beide Deprivationsformen von den Arbeitslosigkeitsepisoden der Befragten, dem Äquivalenzeinkommen sowie der Schulbildung abhängen. Je mehr Arbeitslosigkeitsepisoden es gibt, je geringer das Äquivalenzeinkommen ist und je niedriger die Schulbildung ist, desto höher sind sowohl die kollektive als auch die individuelle strukturelle Deprivation. Objektive Deprivation führt somit auch zu subjektiv wahrgenommener Deprivation. Des Weiteren erhöht die individuelle Deprivation auch die kollektive Deprivation. Der Einfluss auf Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit fällt jedoch bei kollektiver Deprivation deutlich stärker aus als bei individueller Deprivation. Ein ähnliches Ergebnis erzielen Rippl und Baier (2005: 659) in Bezug auf die Angst vor individueller sowie kollektiver Deprivation. Die Angst ist umso höher, je häufiger die Arbeitslosigkeitsepisoden sind, je geringer das Einkommen ist und je niedriger die Bildung ist. Außerdem führt die Angst vor individueller Deprivation auch zur Angst vor kollektiver Deprivation, wohingegen sich nur Letztere auf rechtsextreme Einstellungen auswirkt. Angst vor individueller Deprivation besitzt keinen Einfluss auf Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit. Diese Untersuchung bezieht sich zwar auf Einstellungen und nicht auf Wahlverhalten. Dennoch kann davon ausgegangen werden, dass Deprivation auch rechtsextremes Wahlverhalten begünstigt, da Einstellungen und Verhalten in der Regel zusammenhängen und rechtsextreme Einstellungen ebenfalls die Wahrscheinlichkeit für rechtsextremes Wahlverhalten erhöhen sollten (s. Kapitel 3.4.).

Linksextrem wählen dagegen Akteure, die ihre soziale Identität nicht über die Nationalität, sondern über die soziale Schicht definieren. Die soziale Schicht, der sie angehören, bildet ihre Identifikationsgruppe, während die bessergestellten Schichten die Vergleichs- und Fremdgruppe bilden. Da dieser Vergleich negativ ausfällt, nehmen sie einen Konflikt mit den oberen, bessergestellten Schichten wahr und fühlen sich durch den Vergleich depriviert. Die Konkurrenz um knappe Ressourcen entsteht in diesem Fall über eine ungleiche Verteilung von Ressourcen. Um diesem Deprivationsgefühl Ausdruck zu verleihen und ihr Selbstbild zu verbessern, wählen sie eine linksextreme Partei, da diese sich thematisch vor allem auf soziale Gerechtigkeit und Umverteilung von oben nach unten beziehenFootnote 11 (vgl. Abbildung 2).

Relative Deprivation des Einzelnen führt folglich sowohl zu rechts- als auch zu linksextremem Wahlverhalten, je nach dem über welche Gruppe der Akteur seine soziale Identität definiert, wovon wiederum abhängt, mit welcher Fremdgruppe der Akteur einen Gruppenkonflikt wahrnimmt. Hinzu kommt, dass entsprechende rechts- oder linksextreme Einstellungen bei vorliegenden Deprivationsgefühlen bestimmen, in welche Richtung sich ein Akteur wendet. Ein Akteur mit linksextremen Einstellungen wird auch bei Deprivationserfahrungen keine rechtsextreme Partei wählen, da dies mit seinen Einstellungen nicht vereinbar ist. Gleiches gilt für Akteure mit rechtsextremen Einstellungen, die bei relativer Deprivation keine linksextreme Partei wählen.

Des Weiteren führt nicht nur die relative Deprivation auf der Individualebene zu extremistischem Wahlverhalten. Auch vermehrte Deprivationserfahrungen in einer Region führen über Kontextmechanismen (s. Kapitel 3.1) zur vermehrten Wahl extremistischer Parteien. Darauf wird noch einmal ausführlicher in Kapitel 3.4 eingegangen.

3.3 Immunisierung gegen extremistisches Wählerverhalten

Zu einem Modell der Erklärung extremistischen Wählerverhaltens gehören nicht nur theoretische Ansätze, die erklären, wie extremistisches Wahlverhalten zustande kommt. Es sollten auch Theorien einbezogen werden, die im Gegensatz dazu erklären können, wie die Wahl extremistischer Parteien unwahrscheinlicher wird. Dies können der Ansatz der sozialen Milieus (Lepsius 1966) und der Cleavage- Ansatz (Lipset/Rokkan 1967) leisten. Beide können ebenso wie Teile der Kontextmechanismen und die Theorie der relativen Deprivation mit der Bezugsgruppentheorie verbunden werden und befassen sich vorrangig mit der Mitgliedsgruppe, die gleichzeitig Identifikationsgruppe und Beeinflussungsgruppe darstellt.

Soziale Milieus sind nach Lepsius „soziale Einheiten, die durch eine Koinzidenz mehrerer Strukturdimensionen wie Religion, regionale Tradition, wirtschaftliche Lage, kulturelle Orientierung, schichtspezifische Zusammensetzung der intermediären Gruppen, gebildet werden. Das Milieu ist ein sozio-kulturelles Gebilde, das durch eine spezifische Zuordnung solcher Dimensionen auf einen bestimmten Bevölkerungsteil bestimmt wird“ (Lepsius 1966: 383). Damit beziehen sich soziale Milieus auf überregionale Eigenschaften von Gruppen, die sich zwar in regionalen Strukturen niederschlagen, aber nicht regional begrenzt sind. Diese Gruppen dienen für ihre Mitglieder als Referenzpunkt. Sie sind die Bezugsgruppe, an der die Mitglieder ihr Handeln ausrichten. In der Regel dienen die sozialen Milieus einerseits als Identifikationsgruppe, da sich die Mitglieder mit ihrem Milieu identifizieren und ihre soziale Identität aus der Mitgliedschaft beziehen. Andererseits dienen die Milieus als Beeinflussungsgruppe. Sie setzen Normen und Werte und beeinflussen die Einstellungen und das Handeln der Akteure. Dabei unterscheidet Lepsius für Deutschland vier soziale Milieus: das katholische Milieu, das konservative Milieu, das bürgerlich-protestantische Milieu und das sozialistische Milieu. Diese Milieus spiegelten sich nun im Parteiensystem wider, so dass bestimmte Parteien an ein spezifisches Milieu gebunden seien. Dies gilt heutzutage noch für das katholische Milieu, als dessen Vertreter CDU und CSU gesehen werden können, und für das sozialistische Milieu, das traditionell von der SPD vertreten wird.

In engem Zusammenhang mit den sozialen Milieus steht der Cleavage- Ansatz von Lipset und Rokkan (1967). Im Deutschen wird statt von Cleavages auch häufig von Konfliktlinien gesprochen. Pappi versteht unter einer Konfliktlinie „die dauerhaften Konfliktpotentiale zwischen den sozialstrukturellen Gruppierungen einer Gesellschaft, die wegen ihrer Politisierung im Wahlverhalten der Gruppierungen zum Ausdruck kommen“ (Pappi 1985: 263f.). Dies macht die Überschneidung mit den sozialen Milieus nach Lepsius deutlich. Die sozialstrukturellen Gruppierungen heißen bei Lepsius soziale Milieus, und auch die Verbindung zu den Parteien findet sich wieder. Für die Mitglieder dieser sozialstrukturellen Gruppen existiere ein hoher sozialer Druck, entsprechend der Gruppennorm zu wählen, womit die an einem Cleavage beteiligten sozialstrukturellen Gruppierungen für den Akteur die Beeinflussungsgruppe darstellen. Gleichzeitig fungieren sie als Identifikationsgruppe, wodurch es zur Unterscheidung zwischen Eigen- und Fremdgruppe kommt, die sich auf den beiden Seiten der Konfliktlinie befinden. Lipset und Rokkan (1967: 14) unterscheiden abgeleitet von Parsons AGIL-Schema vier Konfliktlinien: Stadt-Land, Zentrum-Peripherie, Kirche-Staat und Arbeit-Kapital. Die eine Seite des konfessionellen Konfliktes zwischen Kirche und Staat entspricht dabei dem katholischen Milieu von Lepsius, während die Arbeit-Seite des ökonomischen Konfliktes zwischen Arbeit und Kapital vom sozialistischen Milieu besetzt wird. Ursprünglich entstand die konfessionelle Konfliktlinie in Deutschland im Zuge des Kulturkampfes Ende des 19. Jahrhunderts mit dem Zentrum. CDU/CSU versuchten dann nach dem Zweiten Weltkrieg beide Konfessionen zu vereinen, blieben aber vorerst überwiegend katholisch. Der ursprüngliche Gegensatz zwischen Katholiken und Protestanten jedoch verwandelt sich in eine Konfliktlinie zwischen Katholiken auf der einen Seite und Liberalen und Sozialdemokraten auf der anderen Seite (vgl. Pappi 1985: 264ff.). Im Laufe der Zeit entwickelt sich die konfessionelle Konfliktlinie zu einer konfessionell-religiösen Konfliktlinie, wodurch auch religiöse Protestanten vermehrt zur Wahl von CDU/CSU neigen. Bei Katholiken ist der Kirchgang entscheidend für die CDU/CSU-Wahl, da das katholische Milieu durch die Institution der Kirche verkörpert wird und sich durch die Nähe der Kirche zu CDU und CSU im Wahlverhalten niederschlägt. Für Protestanten ist der Kirchgang dagegen von geringerer Bedeutung, da die protestantische Kirche nicht mit den Unions-Parteien verbunden ist. Hier schlägt sich der religiöse Teil der neuen konfessionell-religiösen Konfliktlinie nieder. Für Protestanten sind religiöse Überzeugungen ausschlaggebend für das Wahlverhalten. Christliche Werte führen zu einer vermehrten CDU/CSU-Wahl (vgl. Pappi 1985: 278).

Die andere für Deutschland bedeutsame Konfliktlinie verlaufe entlang der Klassenlinie (Linz 1967: 286) und bilde den Konflikt zwischen Arbeit und Kapital ab. Das damit verbundene sozialistische Milieu ist in Form der Gewerkschaften institutionalisiert und auf der Ebene des heutigen Parteiensystems mit der SPD verbunden. Somit neigen Gewerkschaftsmitglieder vermehrt zur Wahl der SPD als Vertreterin der Arbeitnehmerinteressen.

Der Unterschied zwischen Milieu- und Cleavage-Ansatz liegt darin, dass die Cleavages überregional existieren und sich nicht regional niederschlagen müssen. Des Weiteren spiegeln die Cleavages Konflikte zwischen zwei Gegensätzen wider. Ein Milieu wird dagegen von den „eigenen positiven Gemeinsamkeiten“ (Rohe 1992: 21) zusammengehalten. Zusätzlich schlagen sich die sozialen Milieus in regionalen Strukturen nieder. Daher bilden die Milieus die relevante Bezugsgruppe im regionalen Kontext des Akteurs und müssten vor allem für Kontexteffekte verantwortlich sein. Allerdings haben sich beide Milieus im Laufe der Zeit gewandelt. Heutzutage kann nicht mehr vom sozialistischen Milieu gesprochen werden. Stattdessen handelt es sich um ein gewerkschaftliches Milieu, da die Gewerkschaften als Institution das vormals sozialistische Milieu vertreten. Auch das katholische Milieu hat einen Wandel vollzogen. Früher war der Einfluss der Kirche in katholisch geprägten Regionen allgegenwärtig. Über Vereine und andere Organisationen konnte das katholische Milieu auch Personen, die nicht selbst diesem Milieu angehörten, beeinflussen. Inzwischen sind diese Einflussmöglichkeiten zurückgegangen. Dennoch wird ein Einfluss dieses Milieus angenommen. Es handelt sich allerdings eher um ein christlich-religiöses Milieu als um ein rein katholisches Milieu. Ähnlich wie die Konfliktlinie, die sich von einer konfessionellen zu einer religiösen Konfliktlinie gewandelt hat, sind auch die Milieus nun eher christlich-religiös statt rein katholisch geprägt. Ihre Mitglieder werden durch ein übereinstimmendes Wertebild weiterhin an die Unionsparteien gebunden. Die christlichen Kirchen vertreten konservative Werte, die von CDU und CSU aufgegriffen und politisch umgesetzt werden. Insofern besteht auch heute noch eine gewisse Norm, gemäß dieser Werteinstellungen zu wählen.

Gewerkschaftsmitglieder, religiöse Katholiken und religiöse Protestanten sind folglich einem sozialen Druck durch ihre Bezugsgruppe ausgesetzt, normkonform, also entsprechend der Konfliktlinie, zu wählen. Je länger die Mitgliedschaft in einer der Gruppen dauert, desto stärker sind die Beeinflussung durch die Gruppe und die Identifikation mit der Gruppe, wodurch sich umso stärker eine normkonforme Parteibindung herausbildet. Diese wird nach dem sozialpsychologischen Ansatz als langfristige, emotionale Bindung an eine Partei verstanden (Campbell et al. 1960) und verringert für die Mitglieder dieser Milieus die Wahrscheinlichkeit, extremistisch zu wählen. Unabhängig von ihren vorhandenen Einstellungen oder ihrer wirtschaftlichen Situation wählen die Mitglieder mit einer hohen Wahrscheinlichkeit CDU/CSU bzw. SPD. Daher kann von einer Immunisierung gegen extremistisches Wählerverhalten gesprochen werden. Die Mitgliedschaft in einem einer Konfliktlinie zugeordneten Milieu immunisiert bis zu einem gewissen Grad gegen die Wahl einer extremistischen Partei.

Ist ein Akteur Mitglied in einem der sozialen Milieus, scheint es damit recht deutlich, dass sich seine Wahrscheinlichkeit, extremistisch zu wählen, verringert. Ein Akteur kann allerdings mehrere Mitgliedsgruppen besitzen, die ihn unter Umständen gegensätzlich beeinflussen und widersprüchliche Normen besitzen, so dass es zu cross-pressures kommt. Ist ein Akteur beispielsweise ein Katholik, der jeden Sonntag in die Kirche geht, und gleichzeitig Gewerkschaftsmitglied, sieht er sich mit zwei widersprüchlichen Wahlnormen konfrontiert. Es ist dann nicht eindeutig, welche Norm sich durchsetzt. Für die Erklärung extremistischen Wahlverhaltens ist dieser Tatbestand aber insofern irrelevant, als dass beide Milieus einen immunisierenden Effekt ausüben sollten. Unabhängig davon, welcher Wahlnorm der Akteur folgt, solange er einer der beiden Wahlnormen folgt, wählt er keine extremistische Partei. Damit sollte die immunisierende Wirkung auch bei Akteuren wirksam sein, die cross-pressures ausgesetzt sindFootnote 12.

Personen, die nicht selbst in einem christlich-religiösen Milieu integriert sind, aber in einer Region leben, in der dieses Milieu stark vertreten ist, besitzen eine hohe Wahrscheinlichkeit, mit Milieu-Mitgliedern in Kontakt zu treten. Über direkte oder indirekte Interaktion werden dann auch an diese Personen konservative Werte und eine damit verbundene Wahlnorm weitergegeben (s. ausführlicher Kapitel 3.4). Analog gilt dies für Regionen mit einem ausgeprägten gewerkschaftlichen Milieu, in denen entsprechende arbeitnehmerfreundliche Einstellungen verbunden mit einer Wahlnorm vermittelt werden.

Es gibt jedoch Untersuchungen, die auf eine nachlassende Bindungskraft der Cleavages und der Milieus durch Partisan Dealignment schließen lassen (vgl. u.a. Klein/Pötschke 2000: 190). Die Parteibindungen seien zum einen schwächer geworden und zum anderen sei auch die Zahl der Parteianhänger geringer geworden, da durch die sogenannte kognitive Mobilisierung eine Komplexitätsreduktion in Form einer Parteiidentifikation nicht mehr gebraucht würde (Schoen/Weins 2005: 224f.). Empirisch kann diese These jedoch nicht bestätigt werden. Für Deutschland können Ohr et al. (2009) zeigen, dass kognitive Mobilisierung den Prozess des Dealignments sogar abschwächt. Gerade die Personen, die an Politik interessiert sind, weisen mit einer höheren Wahrscheinlichkeit eine Parteiidentifikation auf. Auch in Bezug auf die Bildung zeigt sich für die Gegenwart, dass eine höhere Bildung die Wahrscheinlichkeit für eine Parteibindung erhöht (Ohr et al. 2009: 549ff.). Es hat zwar sowohl eine Entkopplung von Parteien und Wählern als auch eine zunehmende kognitive Mobilisierung stattgefunden. Kognitive Mobilisierung kann jedoch nicht als Ursache für die Entkopplung verantwortlich gemacht werden.

Des Weiteren belegt die Studie von Elff und Roßteutscher (2009) eine erstaunliche Stabilität der Bindungskraft der klassischen Konfliktlinien. Für Ostdeutschland können die Autoren sogar eine zunehmende Schere zwischen kirchennahen und kirchenfernen Wählern beobachten (Elff/Roßteutscher 2009: 320f.). Von der These der Abschwächung der Konfliktlinien zu unterscheiden ist das tatsächliche Abschmelzen der Milieus. Sowohl das Arbeiter- als auch das Kirchen-Milieu werden kleiner, so dass sich die Kernklientel von SPD und CDU/CSU verringert. Für die noch vorhandenen Milieuangehörigen existiert die Bindung an die entsprechende Partei aber nach wie vor (Elff/Roßteutscher 2009)Footnote 13. Ebenso belegen die Studien von Pappi und Brandenburg (2010) sowie Debus (2010), dass sowohl das sozioökonomische als auch das konfessionellreligiöse Cleavage auch heute noch das Wahlverhalten hin zur Wahl von SPD bzw. CDU/CSU beeinflussen. Beide Studien zeigen allerdings auch, dass die Wirkung des konfessionell-religiösen Cleavages nachgelassen hat. Auch Arzheimer und Schoen (2007) können zeigen, dass die Cleavages auf die milieugebundenen Wähler noch einwirken. Sie stellen vor allem fest, dass die Kirchenbindung einen stärkeren Einfluss ausübt als die rein formale Milieuzugehörigkeit (Arzheimer/Schoen 2007: 104). Des Weiteren kommen die Autoren zu dem Ergebnis, dass sich die Wirkung des sozioökonomischen Cleavages zwischen Ost- und Westdeutschland unterscheidet. In Westdeutschland begünstigt die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft die Wahl der SPD, während sie in Ostdeutschland sowohl die Wahl der SPD als auch der PDS fördert. Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangen Pappi und Brandenburg (2010: 480f.), die ab 2004 ein Abwandern der Gewerkschaftsmitglieder von der SPD zur Linken feststellen. Diese Befunde verdeutlichen eine Schwierigkeit, die sich aus dem Milieu-Ansatz für die vorliegende Arbeit ergibt. In Ostdeutschland scheint die Wahlnorm für Mitglieder des gewerkschaftlichen Milieus nicht nur die SPD, sondern ebenfalls die PDS bzw. Die Linke zu begünstigen, gegen deren Wahl die Milieuzugehörigkeit aus theoretischer Sicht eigentlich immunisieren sollte. Auf diesen Punkt wird an späterer Stelle noch einmal ausführlich eingegangen.

Das Abschmelzen der Milieus könnte allerdings dazu geführt haben, dass die Milieus auf der Kontextebene keinen Einfluss mehr ausüben können. Rohe (1992: 172) nimmt sogar an, dass lokale Milieus eine Seltenheit geworden sind. Auf der anderen Seite erklärt Rohe allerdings, dass die deutschen Parteien immer noch an die Milieus gebunden seien, da „sich auf lokaler und regionaler Ebene in den Mitgliederstrukturen der Parteien häufig immer noch die alten Milieutraditionen spiegeln“ (Rohe 1992: 180). Im Ruhrgebiet beispielsweise betrage der Katholikenanteil unter den CDU-Mitgliedern immer noch 70 bis 80 Prozent. Auch Naßmacher konstatiert in seiner Regionalstudie der Region Oldenburg, dass „CDU, FDP und SPD […] ihren höchsten Stimmenanteil in der Region jeweils in den Traditionsgebieten der von ihnen vertretenen politisch-sozialen Milieus [erreichen]“ (Naßmacher 1979: 72). Daher scheint es trotz eines Abschmelzens der Milieus wenig plausibel, dass die Milieus jegliche Wirkung eingebüßt haben. Ein Rückgang des Milieueinflusses auf das Wahlverhalten ist anzunehmen, aber keine völlige Wirkungslosigkeit.

Für Deutschland gibt es zudem Überlegungen zu neuen Konfliktlinien, die nicht den klassischen Cleavages von Lipset und Rokkan entsprechen. Diese Untersuchungen widmen sich der Frage, ob das Alter (Falter/Gehring 1998) oder die soziale Frage im Sinne einer Gerechtigkeitsideologie (Eith/Mielke 2000) als neue Konfliktlinie gelten können. Beide kommen jedoch zu dem Ergebnis, dass es sich nicht um neue Cleavages handelt. Das Alter sei kein Cleavage, weil es sich bei den Differenzen zwischen den Altersgruppen um Generationeneffekte handele. Somit könne nicht von einer dauerhaften Koalition zwischen einer Gruppe und einer Partei gesprochen werden (Falter/Gehring 1998: 501). Auch bei der sozialen Frage könne noch nicht von einer langfristigen Konfliktlinie gesprochen werden. Eith und Mielke (2000) untersuchen lediglich die Bundestagswahl 1998, so dass Aussagen über langfristige Entwicklungen nicht möglich sind. Für das Vorliegen eines Cleavages im Sinne von Lipset und Rokkan (1967) ist es jedoch erforderlich, dass es sich um eine dauerhafte Konfliktlinie zwischen sozialen Gruppen handelt (vgl. Pappi 1985: 263f.). Zudem ist nicht klar, welche soziale Gruppe von diesem Konflikt betroffen ist. Die Autoren unterscheiden zwischen Befürwortern und Gegnern einer Gerechtigkeitsideologie. Außer in Bezug auf diese Einstellung sind aber keine weiteren sozialstrukturellen Unterscheidungen auszumachen.

Zusätzlich untersucht Bornschier (2010) für Westeuropa ein neues, kulturelles Cleavage mit libertär-universalistischen Werten auf der einen sowie traditional- kommunitaristischen Werten auf der anderen Seite der Konfliktlinie. Dieses kulturelle Cleavage dient in seiner Studie zur Erklärung von Wahlerfolgen rechtspopulistischer Parteien. In Deutschland seien die Cleavages ähnlich gelagert wie in anderen westeuropäischen Ländern. Rechtspopulistische Parteien fänden aber aus drei Gründen bisher keinen Raum. Zum einen stünden die rechtskonservativen Parteien soweit rechts, dass sie potentielle Wähler rechtspopulistischer Parteien miterfassten. Zum anderen stünden die linken Parteien soweit in der Mitte, dass die rechtskonservativen soweit rechts stehen könnten. Und zum dritten führe die nationalsozialistische Vergangenheit zu einer Stigmatisierung rechtspopulistischer Parteien (Bornschier 2010: 196ff.). Der Fokus von Bornschiers Untersuchung liegt auf den Cleavages, dem politischen Raum, der durch diese aufgespannt wird und der Positionierung der Parteien im politischen Raum. Es wird jedoch nicht untersucht, welche sozialstrukturellen Gruppen mit diesem Cleavage verbunden sind, auf welche Weise das Cleavage im Parteiensystem institutionalisiert ist oder wie sich traditionelle Cleavages auf die Wahl rechtsextremer Parteien auswirken.

Es gibt nur wenige Studien, die untersuchen, ob die Mitgliedschaft in sozialen Gruppen, die einem der beiden traditionellen Cleavages zugeordnet sind, eine immunisierende Wirkung besitzt. Für die ökonomische Konfliktlinie finden manche Studien für die Milieu-Mitglieder einen solchen immunisierenden Effekt (vgl. Arzheimer 2008a; Dülmer/Klein 2005), andere jedoch nicht (Dülmer/Ohr 2008). Für die religiöse Konfliktlinie ist das Ergebnis ebenfalls nicht eindeutig. Dülmer und Klein (2005) sowie Dülmer und Ohr (2008) finden hierfür einen immunisierenden Einfluss. Arzheimer (2008a) dagegen kann für Europa keinen bzw. nur einen schwachen Einfluss des kirchlichen Milieus feststellen. Auf der Kontextebene können Dülmer und Ohr (2008) zeigen, dass sowohl die ökonomische als auch die religiöse Konfliktlinie einen immunisierenden Einfluss ausüben. Zusätzlich testen Lubbers und seine Kollegen in ihren Studien den Einfluss von Religiösität (Lubbers/Scheepers 2000, 2001; Lubbers et al. 2002) und Gewerkschaftsmitgliedschaft (Lubbers/Scheepers 2000), den typischen Indikatoren für das religiöse und das ökonomische Cleavage bzw. das christlich-religiöse und das gewerkschaftliche Milieu. Die Autoren berufen sich in ihren Untersuchungen allerdings nicht auf den Cleavage- oder Milieu-Ansatz, sondern verstehen diese Variablen als Test der Desintegrationsthese. Da die Operationalisierung jedoch identisch ist, können die Ergebnisse ebenfalls als Test der Cleavageoder Milieu-Theorie verwendet werden. Lubbers und Scheepers (2000; 2001) sowie Lubbers et al. (2002) kommen in ihren Studien zu dem Ergebnis, dass nicht-religiöse Akteure mit einer höheren Wahrscheinlichkeit eine rechtsextreme Partei wählen. Die Gewerkschaftsmitgliedschaft hat dagegen keinen signifikanten Einfluss (Lubbers/Scheepers 2000). Damit sind die Ergebnisse zum Einfluss der Konfliktlinien auf rechtsextremes Wählerverhalten insgesamt widersprüchlich. Da jedoch nur jeweils eine Studie zu dem Ergebnis kommt, dass das christlich- religiöse Milieu (Arzheimer 2008a) bzw. das Gewerkschaftsmilieu (Lubbers/Scheepers 2000) keine immunisierende Wirkung besitzen, scheinen die alten Konfliktlinien trotz einem Abschmelzen ihrer Milieus immer noch eine ausreichende Bindungskraft zu besitzen, um gegen die Wahl rechtsextremer Parteien zu immunisieren.

Für die Wahl linksextremer Parteien liegen hingegen keine entsprechenden Studien vor. Theoretisch müssten sich ähnliche Effekte zeigen. Mitglieder des christlich-religiösen Milieus sollten gegen die Wahl einer linksextremen Partei immunisiert werden, da die Beeinflussung durch das Milieu die Wahl einer anderen Partei nahelegt. Hinzu kommt, dass kommunistische und sozialistische Gesellschaften in der Regel nicht religiös geprägt sind. Sie stehen religiösen Organisationen im Gegenteil sogar kritisch bis feindlich gegenüber. Dies war auch in der ehemaligen DDR der Fall, so dass es für Die Linke als Nachfolgepartei der SED eher unwahrscheinlich ist, dass sie Mitglieder des christlich-religiösen Milieus rekrutieren kann. Für das gewerkschaftliche Milieu ist die Situation dagegen nicht so eindeutig, wie bereits einige Studien belegen können (vgl. Arzheimer/ Schoen 2007; Pappi/Brandenburg 2010), da Die Linke in Bezug auf das Gewerkschaftsmilieu eine Sonderstellung einnimmt. Tendenziell könnte argumentiert werden, dass die Gewerkschaften auch in Bezug auf Die Linke ihre Mitglieder immunisieren, da die Wahlnorm klar die SPD unterstützt. Die Linke steht den Gewerkschaften jedoch relativ nahe. Bei der Bundestagswahl 2009 hat der Deutsche Gewerkschaftsbund aufgrund des Erstarkens der Linken zum ersten Mal keine direkte Wahlempfehlung für die SPD ausgesprochen. Es wäre also durchaus plausibel, dass die Immunisierung des gewerkschaftlichen Milieus für die Wahl der Linken im Gegensatz zur Wahl der rechtsextremistischen Parteien nicht gilt. Bisherige Untersuchungen konnten allerdings nur nachweisen, dass die Mitglieder einer Gewerkschaft nicht nur zur Wahl der SPD, sondern auch vermehrt zur Wahl der Linken tendieren. Ob dies auch für Akteure gilt, die selbst keiner Gewerkschaft angehören, aber in einem stark gewerkschaftlich geprägten Kontext leben, wurde dagegen noch nicht untersucht. Es wäre durchaus denkbar, dass sich der Einfluss der Gewerkschaften auf Individual- und Kontextebene unterscheidet. Inwieweit der gewerkschaftliche Kontext die Wahl der Linken beeinflusst, müssen daher die empirischen Analysen zeigen.

3.4 Eine Mehr-Ebenen-Erklärung extremistischen Wählerverhaltens

Basierend auf den vorgestellten theoretischen Ansätzen kann ein umfassendes Mehr-Ebenen-Modell zur Erklärung extremistischen Wahlverhaltens entwickelt werden. Das Modell ist in Abbildung 4 dargestellt und enthält Erklärungsgrößen auf der Individualebene, die weiß markiert sind, sowie auf der Kontextebene, die grau markiert sind. Durchgezogene Linien symbolisieren einen verstärkenden Einfluss, gestrichelte Linien dagegen eine abschwächende Wirkung.

Abbildung 4:
figure 04

Mehrebenenerklärung extremistischen Wählerverhaltens

Anmerkungen: PI: Parteiidentifikation; weiß: Befragtenebene; grau: Kontextebene.

Erklärt wird das individuelle Wahlverhalten. Dabei wird nach rechtsextremem und linksextremem Wählerverhalten unterschieden, auch wenn einige Erklärungsfaktoren identisch sind. Sowohl rechts- als auch linksextremes Wählerverhalten wird durch individuelle relative Deprivation hervorgerufen. Objektive Benachteiligung und subjektiv wahrgenommene Deprivation erhöhen die Wahrscheinlichkeit der Wahl einer rechts- oder linksextremen Partei. Entscheidend für das Konzept der Deprivation ist der Vergleich mit einer Gruppe. Da dazu keine geeigneten Variablen in den verwendeten Daten zur Verfügung stehen, wird auf objektive Benachteiligung und subjektive Deprivation zurückgegriffen. Objektive Benachteiligung führt bei einem Vergleich mit einer Bezugsgruppe mit hoher Wahrscheinlichkeit auch zu relativer Deprivation, da der Vergleich negativ ausfällt. Subjektiv wahrgenommene Benachteiligung müsste ebenfalls auf einem Vergleich beruhen, bei dem die Fremdgruppe besser abschneidet, so dass es zu relativer Deprivation kommt. Deprivierte Akteure wenden sich gegen den vermeintlichen Auslöser ihrer Benachteiligung beziehungsweise gegen den vermeintlichen Konkurrenten. Alternativ benötigen sie einen Sündenbock, der dafür sorgt, dass sie bei einem Vergleich besser abschneiden, um eine positive soziale Identität und darüber ein positives Selbstbild zu erlangen. Empirisch konnte Niedermayer (2006) zeigen, dass die Wähler von NPD und PDS auf den Einstellungsdimensionen unterschiedlich positioniert sind, aber beide zu den sogenannten Modernisierungsverlierern gehören, die am stärksten von Deprivation betroffen sind. Akteure mit nationaler sozialer Identität wenden sich bei relativer Deprivation einer rechtsextremen Partei zu, da sie einen vermeintlichen Konflikt mit Ausländern als Fremdgruppe wahrnehmen. Alternativ wechseln sie in einem Akt sozialer Kreativität die Vergleichsgruppe, wodurch Ausländer zum Sündenbock ernannt werden. Akteure mit einer schichtspezifischen sozialen Identität wählen bei relativer Deprivation dagegen eine linksextreme ParteiFootnote 14. Sie vergleichen sich mit den bessergestellten Schichten, so dass der Vergleich zugunsten der Fremdgruppe ausfällt. Da linksextreme Parteien ihren thematischen Schwerpunkt auf soziale Ungleichheit, für die der Kapitalismus verantwortlich gemacht wird, legen, neigen diese Akteure zur Wahl einer linksextremistischen Partei, um ihren Deprivationsgefühlen zu begegnen.

Ein weiterer Faktor der Individualebene, der darüber entscheidet, ob ein deprivierter Akteur eine rechts- oder eine linksextreme Partei wählt, sind die entsprechenden Einstellungen. Personen, die rechtsextreme Einstellungen aufweisen, wählen eine rechtsextreme Partei, während Personen mit linksextremen Einstellungen entsprechend eine linksextreme Partei wählenFootnote 15, da Einstellungen die ideologische Position eines Wählers widerspiegeln. Nach dem ökonomischen Ansatz von Downs (1957: 98ff.) nutzen Wähler die ideologische Positionierung einer Partei als Entscheidungshilfe bei Unsicherheit. Dabei entscheiden sie sich für eine Partei, die ihnen ideologisch möglichst nahe steht, da sie sich von ihr den höchsten Nutzen versprechen. Für rechtsextremistisches Wählerverhalten können Lubbers und Scheepers (2000) auch empirisch zeigen, dass rechtsextreme Einstellungen die Wahrscheinlichkeit der Wahl einer rechtsextremistischen Partei erhöhen.

Auf der rechten Seite des Modells in Abbildung 4 befinden sich mit den gestrichelten Pfeilen die immunisierenden Einflüsse. Eine herausgehobene Bedeutung besitzen dabei die Cleavages oder sozialen MilieusFootnote 16. Die Milieus wirken auf das Wahlverhalten ihrer Mitglieder ein. Durch die Verbindung mit der Partei existiert im christlich-religiösen und im gewerkschaftlichen Milieu eine Wahlnorm zu den Unionsparteien bzw. zur SPD. Innerhalb dieser Milieus herrscht ein hoher sozialer Druck, der dazu führt, dass die Mitglieder mit einer hohen Wahrscheinlichkeit normkonform wählen. Gleichzeitig werden innerhalb der Milieus politische Anschauungen vermittelt, woraus wiederum normkonformes Wahlverhalten resultiert. Dadurch sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass Mitglieder dieser Milieus eine extremistische Partei wählen. Wie schon erwähnt, gilt dies vor allem für die Wähler der rechtsextremistischen Parteien. Für die Wähler der Linken scheint zumindest in den letzten Jahren eine verstärkende Wirkung des gewerkschaftlichen Milieus zu gelten. Für andere linksextremistische Parteien mag die immunisierende Wirkung wieder zutreffen. Da in dieser Arbeit jedoch nur Die Linke untersucht werden kann, ist eher von einem Verstärkereffekt auszugehen.

Hinzu kommt auf der individuellen Ebene die Parteibindung im Sinne des sozialpsychologischen Ansatzes (Campbell et al. 1960) der Wahlforschung als immunisierende Komponente. Akteure, die eine langfristige, emotionale Bindung an eine Partei besitzen, sollten mit einer geringeren Wahrscheinlichkeit eine extremistische Partei wählen. Die Wahrscheinlichkeit sollte umso geringer sein, je stärker die Parteibindung ausgeprägt ist. Voraussetzung dafür ist, dass es sich um eine Parteibindung an eine nicht-extremistische Partei handelt. Akteure mit einer Parteineigung zu einer rechts- oder linksextremen Partei sollten umgekehrt mit einer deutlich höheren Wahrscheinlichkeit zu rechts- oder linksextremem Wahlverhalten tendieren. Leider lassen die Daten keine Überprüfung des Einflusses der Parteibindung auf extremistisches Wählerverhalten zu (siehe Kapitel 4.2). Aufgrund der nachweislich großen Bedeutung der Parteibindung auch für rechtsextremes Wahlverhalten (vgl. Arzheimer 2008a) wurde sie jedoch der Vollständigkeit halber in das Modell aufgenommen.

Im Fokus stehen allerdings nicht die individuellen Erklärungsfaktoren, sondern die Kontextmechanismen. Prinzipiell sind verschiedene Arten von Kontexteinflüssen denkbar. Laut der Parteiaktivitätstheorie (vgl. Pappi 1976; Books/Prysby 1991; Putnam 1966) sind die Bemühungen der Parteien eine Möglichkeit, wie der Kontext das Wahlverhalten des Einzelnen beeinflussen kann. Für Kampagnen im Allgemeinen konnten schon Lazarsfeld et al. (1968 [1944]) eine Wirkung auf das Wahlverhalten feststellen. Am stärksten wurden Personen beeinflusst, die noch keine feste Präferenz hatten. Hinzu kam ein großer Stabilisierungseffekt der Wahlkampagnen. Akteure wurden in ihren Einstellungen und damit in ihrer Wahlabsicht bestärkt. Für die Wahlerfolge der NSDAP im Speziellen finden Jagodzinski und Ohr (1994) sowie Ohr (1997) einen positiven Einfluss der Propaganda. Je mehr Versammlungen die NSDAP in einer Gemeinde abhielt, desto stärker stieg ihr Wahlergebnis bei der Landtagswahl 1931 im Vergleich zur vorherigen Reichstagswahl 1930 an. Daher wäre auch für die Wahlerfolge heutiger rechts- und linksextremer Parteien zu erwarten, dass sie von den Aktivitäten der Parteien in den jeweiligen Kreisen beeinflusst werden. Gerade den rechtsextremen Parteien stehen die Medien nur eingeschränkt für den Wahlkampf zur Verfügung. Die Medienrolle im Wahlkampf kann dabei unterschieden werden nach „free media“ und „paid media“ (Schoen 2005: 509, Hervorhebung im Original). Free media bezieht sich vor allem auf die Berichterstattung der Medien über die Parteien, ihre Kandidaten und ihre Standpunkte. Zur paid media gehören dagegen die Wahlwerbespots der Parteien. Da jede Partei das Recht hat, einen Wahlwerbespot senden zu lassen, stehen auch den rechtsextremen Parteien die paid media zur Verfügung. Von der free media werden sie hingegen nahezu komplett ausgeschlossen. Sie müssen somit versuchen, auf andere Art präsent zu sein. Daher liegt es nahe, dass Parteiaktivitäten wie Versammlungen, Konzerte oder Plakate die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass eine rechtsextreme Partei gewählt wird.

Auch wenn in Deutschland der einzigen bedeutsamen linksextremen Partei die Medien durchaus auch als free media zur Verfügung stehen, scheint es auch hier plausibel, dass eine erhöhte Aktivität die Wahlchancen verbessert. Je präsenter und engagierter eine Partei in einer Region ist, desto wahrscheinlicher wird sie gewählt. Umgekehrt muss dabei aber auch beachtet werden, dass die Parteien ihre Aktivitäten hauptsächlich in den Regionen intensivieren, in denen besonders günstige Voraussetzungen für einen positiven Einfluss ihrer Bemühungen vorherrschen, wie dies schon die NSDAP vorgeführt hat (vgl. Jagodzinski/Ohr 1994; Ohr 1997). Leider fehlen für die Untersuchung der Wirkung extremistischer Parteiaktivität auf das Wahlverhalten die entsprechenden Daten. Eine eigene Datenerhebung hätte den Rahmen dieser Arbeit gesprengt, so dass dieser Teil des theoretischen Modells nicht empirisch überprüft werden kann.

Eine weitere Art des Kontexteinflusses auf extremistisches Wählerverhalten ergibt sich, wenn der soziale Kontext als Bezugsgruppe verstanden wird. Die Bezugsgruppe ist in diesem Fall eine Beeinflussungsgruppe, da sie Wissen, Werte, Einstellungen und Normen und darüber auch das Handeln ihrer Mitglieder beeinflusst. Eine hohe Deprivation in einer Region bedeutet automatisch, dass in dieser Region viele deprivierte Akteure leben. Dies erhöht wiederum die Wahrscheinlichkeit, dass auch nicht deprivierte Akteure mit deprivierten Personen in Interaktion treten. Über die Interaktion werden dann ebenjene Einstellungen vermittelt, die zur Wahl einer extremistischen Partei führen. Die Wahrnehmung des vermeintlichen Gruppenkonfliktes wird auch an Mitglieder des Kontextes weitergegeben, bei denen ein Vergleich mit der Fremdgruppe eigentlich zu ihren Gunsten ausfällt. Zugleich können einige Deprivationsfaktoren auch durch nicht deprivierte Mitglieder eines Kontextes über Beobachtung wahrgenommen werden. Wenn der Kontext dann nicht nur als Beeinflussungs-, sondern zusätzlich als Identifikationsgruppe fungiert, erhöht sich die Angst des Einzelnen, in Zukunft ebenfalls von Deprivation betroffen zu sein, da er sich mit seiner sozialen und räumlichen Umgebung identifiziert. Dadurch sollte sich auch für Akteure, die selber nicht von relativer Deprivation betroffen sind, die Wahrscheinlichkeit, extremistisch zu wählen, erhöhen, je stärker ihr sozialer Kontext von Deprivation betroffen ist.

Der Mechanismus der Beeinflussung gilt aber nicht nur für die Deprivation einer Region. Der Kontext kann als Bezugsgruppe auch eine Immunisierung gegen extremistisches Wählerverhalten bewirken, wenn ein immunisierendes soziales Milieu in diesem Kontext stark verankert ist. Hierbei muss zwischen zwei Bezugsgruppen unterschieden werden. Einerseits dient das soziale Milieu als Bezugsgruppe für seine Mitglieder. Andererseits dient der Kontext, in dem dieses Milieu stark ausgeprägt ist, als Bezugsgruppe sowohl für Mitglieder des sozialen Milieus als auch für Akteure, die nicht Mitglied dieses Milieus sind. Der immunisierende Kontexteinfluss der sozialen Milieus bezieht sich folglich auf letztere Akteure, die gerade nicht selber einem dieser Milieus angehören. Mitglieder der Milieus werden direkt durch ihre Mitgliedschaft beeinflusst. Wenn das Milieu in einem sozialen Kontext stark verankert ist, erhöht sich die Interaktionswahrscheinlichkeit zwischen Milieu-Angehörigen und allen anderen Mitgliedern des Kontextes. Über soziale Interaktion und Kommunikation werden dann die Einstellungen und Normen der sozialen Milieus auch an Nicht- Mitglieder weitergegeben, so dass auch diese von den in ihrer Region starken sozialen Milieus gegen extremistisches Wählerverhalten immunisiert werden sollten.

Ein weiterer Kontexteinfluss ergibt sich aus der Theorie realistischer Gruppenkonflikte. In diesem Fall dient nicht der Kontext als Bezugsgruppe, sondern eine andere Mitgliedsgruppe, über die dann die soziale Identität definiert wird. In Bezug auf extremistisches Wählerverhalten handelt es sich dabei zum einen um die Nation als Bezugsgruppe und die Nationalität als Identität und zum anderen um die soziale Schicht als identitätsstiftende Bezugsgruppe. Dient die Nationalität als soziale Identität, werden Ausländer als Fremdgruppe wahrgenommen, die abgewertet wird, um ein positives Selbstbild zu erhalten. Je stärker die Fremdgruppe in einer Region vertreten ist, desto stärker fühlen sich die dort lebenden Akteure von der Fremdgruppe bedroht und nehmen einen Gruppenkonflikt um knappe Ressourcen wahr. In diesem Fall wären vor allem Arbeitsplätze und günstiger Wohnraum als Ressourcen zu nennen. Dient dagegen die soziale Schicht als Grundlage der sozialen Identität, werden andere, vor allem höhere soziale Schichten als Fremdgruppe wahrgenommen. Je ungleicher dann die Verteilung von Einkommen in einem sozialen Kontext ist, desto größer ist der Gruppenkonflikt, den die Akteure wahrnehmen und auf den sie mit ihrem Wahlverhalten reagieren. In diesem Fall konkurrieren die Akteure mit der Fremdgruppe um Einkommen. Unabhängig von ihren individuellen Eigenschaften neigen Akteure umso stärker zu extremistischem Wahlverhalten, je ausgeprägter der Gruppenkonflikt und die damit verbundene Konkurrenz um knappe Ressourcen in ihrer Region sind. Golder (2003: 439) sowie in Anlehnung daran Dülmer und Ohr (2008: 497) argumentieren in ihren Untersuchungen rechtsextremistischen Wählerverhaltens zusätzlich, dass die Konkurrenz um Arbeitsplätze gemessen an der Arbeitslosenquote nur dann einen Einfluss besitzt, wenn der Ausländeranteil hoch und damit der Gruppenkonflikt ausgeprägt ist. Ohne wahrgenommene Konkurrenten um die knappen Arbeitsplätze sollte die Arbeitslosenquote selbst keinen Einfluss auf die Intention, eine rechtsextreme Partei zu wählen, ausüben. Sie nehmen damit eine Interaktion aus Ausländeranteil und Arbeitslosenquote an. Wird die Arbeitslosenquote jedoch als Indikator für die relative Deprivation einer Region verstanden, ist ein selbständiger Einfluss der Arbeitslosenquote auf die Wahl einer rechtsextremen Partei, wie weiter oben erläutert wurde, durchaus plausibel. Zudem können Dülmer und Ohr (2008: 508) den angenommenen Interaktionseffekt empirisch nicht bestätigen.

Zusätzlich dazu kann der Kontext sich nur auf bestimmte Subgruppen auswirken. In gewisser Weise gilt dies schon für den Einfluss des Gruppenkonfliktes. Je nach sozialer Identität wird ein anderer Gruppenkonflikt wahrgenommen. Beide Male handelt es sich jedoch um einen Gruppenkonflikt, der sich nur anders äußert. Es ist jedoch auch denkbar, dass sich dieselbe Ausprägung des Gruppenkonfliktes nicht auf alle Individuen gleichermaßen auswirkt. Bei einem Gruppenkonflikt – real oder wahrgenommen – steht die Konkurrenz um knappe Ressourcen im Vordergrund. Besonders Akteure, die von relativer Deprivation betroffen sind, fühlen sich von einem solchen Konflikt bedroht. Sie sind schließlich diejenigen, denen es eh schon schlecht geht. Sie fühlen sich im Gegensatz zur Vergleichsgruppe benachteiligt und konkurrieren stärker um dieselben Arbeitsplätze und denselben günstigen Wohnraum bzw. um ein ‚gerechtes’ Einkommen als Akteure, die nicht relativ depriviert sind. Daher liegt es nahe, dass der Einfluss des Gruppenkonfliktes auf die Wahl einer extremistischen Partei bei deprivierten Akteuren höher ausfällt als bei nicht deprivierten Akteuren.

Dieses Modell der Erklärung extremistischen Wählerverhaltens erhebt nicht den Anspruch der Vollständigkeit. Es gibt noch eine Reihe von Theorien und Erklärungsgrößen, die nicht berücksichtigt wurden. Der Fokus liegt auf der Erklärung von Kontexteinflüssen sowie auf dem Vergleich von rechts- und linksextremistischem Wählerverhalten. Nur dies soll das Modell leisten. Im nächsten Schritt sollen mithilfe dieses Modells Hypothesen abgeleitet werden, die dann empirisch getestet werden.

3.5 Hypothesen

Die zu testenden Hypothesen leiten sich direkt aus den vorherigen theoretischen Überlegungen ab. Relative Deprivation fördert extremistisches Wählerverhalten, da Deprivationsgefühle dazu führen, dass ein Gruppenkonflikt wahrgenommen wird, unabhängig davon, ob er tatsächlich existiert. Die Wahl einer extremistischen Partei ist dann die Folge, da extremistische Parteien einfache Lösungen für solche Konflikte propagieren. Daher lautet die erste Hypothese wie folgt:

Hypothese 1a: Objektiv oder subjektiv (relativ) deprivierte Akteure wählen mit einer höheren Wahrscheinlichkeit eine rechts- oder linksextreme Partei.

Doch nicht nur die relative Deprivation des Einzelnen führt zu extremistischem Wählerverhalten. Auch das Deprivationsausmaß einer Region wirkt förderlich auf die Wahl einer extremistischen Partei, da über den Kontext die Einstellungen der einzelnen Deprivierten an alle anderen gewissermaßen weitervermittelt werden. Auch nicht deprivierte Akteure nehmen dann einen Gruppenkonflikt wahr. Zusätzlich erhöht sich in einer wirtschaftlich schwachen Region die Angst des Einzelnen, selbst Deprivationsgefühle erfahren zu müssen. Daraus kann die nächste Hypothese abgeleitet werden:

Hypothese 1b: Je höher die Deprivation einer Region ist, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein dort lebender Akteur eine rechts- oder linksextreme Partei wählt, unabhängig von den individuellen Eigenschaften des Akteurs.

Doch wenn subjektiv wahrgenommene Gruppenkonflikte die Wahrscheinlichkeit für die Wahl einer extremistischen Partei erhöhen, dann sollte dies auch für tatsächliche Gruppenkonflikte gelten. Eine erhöhte Konkurrenzsituation führt auch zu einer subjektiv stärker wahrgenommenen Bedrohung durch die Fremdgruppe in einer Region. Dieser Einfluss des Gruppenkonfliktes verstärkt sich noch, wenn ein Akteur von relativer Deprivation betroffen ist, da er dann besonders stark unter Konkurrenzdruck gerät. Daher können die folgenden Hypothesen formuliert werden:

Hypothese 2a: Je höher die Konkurrenz um knappe Ressourcen in einer Region ist, desto wahrscheinlicher wählt ein dort lebender Akteur eine rechts- oder linksextreme Partei.

Hypothese 2b: Der Einfluss, den die Konkurrenz um knappe Ressourcen auf die Wahl einer rechts- oder linksextremen Partei ausübt, fällt bei deprivierten Akteuren höher aus als bei nicht deprivierten Akteuren.

Zusätzlich handeln Akteure gemäß ihrer bestehenden Einstellungen. Diese Einstellungen sorgen dann dafür, dass sich ein deprivierter Akteur für eine der beiden Extreme des politischen Spektrums entscheidet. Rechtsextreme Einstellungen fördern daher rechtsextremistisches Wählerverhalten, während linksextreme Einstellungen die Wahl einer linksextremen Partei wahrscheinlicher werden lassen:

Hypothese 3a: Akteure mit rechtsextremen Einstellungen wählen mit einer höheren Wahrscheinlichkeit eine rechtsextreme Partei.

Hypothese 3b: Akteure mit linksextremen Einstellungen wählen mit einer höheren Wahrscheinlichkeit eine linksextreme Partei.

Wie schon in den vorhergehenden Abschnitten gezeigt wurde, gibt es nicht nur Faktoren, die die Wahrscheinlichkeit für extremistisches Wählerverhalten erhöhen, sondern auch solche, die die Wahrscheinlichkeit verringern. Soziale Milieus können immunisierend wirken, da sie die Wahl einer speziellen anderen Partei nahelegen. Für Deutschland sind dies das christlich-religiöse sowie das gewerkschaftliche Milieu, die auf ihre Mitglieder und über den Kontext auch auf Nicht-Mitglieder immunisierend wirkenFootnote 17:

Hypothese 4a: Mitglieder des christlich-religiösen oder des gewerkschaftlichen Milieus wählen mit einer geringeren Wahrscheinlichkeit eine rechts- oder linksextreme Partei.

Hypothese 4b: Je stärker das christlich-religiöse oder das gewerkschaftliche Milieu in einer Region vertreten sind, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein dort lebender Akteur eine rechts- oder linksextreme Partei wählt.

Ein weiteres Kontextmerkmal, das nicht in dem Modell aus Kapitel 3.4 abgebildet ist, ist theoretisch bedeutsam. Dabei handelt es sich um die Unterscheidung zwischen West- und Ostdeutschland. Aufgrund der unterschiedlichen politischen Entwicklung der beiden Landesteile nach dem Zweiten Weltkrieg ist mit Unterschieden im Wahlverhalten zu rechnen. Es wird angenommen, dass extremistisches Wählerverhalten in Ostdeutschland wahrscheinlicher ist als in Westdeutschland. Nach der Wiedervereinigung hatten viele ostdeutsche Bürger große Erwartungen an das wirtschaftliche Wachstum und den Wohlstand. Viele dieser Erwartungen sind enttäuscht worden, so dass ostdeutsche Wähler vermehrt depriviert sein sollten. Da diese Form der Deprivation durch enttäuschte Erwartungen nicht durch die Befragtenmerkmale abgedeckt werden kann, sollte ein Ost- West-Unterschied existieren. Für die linksextreme Partei Die Linke kommt noch hinzu, dass sie als Nachfolgepartei der SED ihre Wurzeln in der ehemaligen DDR hat. Dadurch wird sie von vielen ostdeutschen Wählern als Vertreterin spezifisch ostdeutscher Interessen angesehen, weshalb ostdeutsche Wähler mit einer höheren Wahrscheinlichkeit Die Linke wählen sollten als westdeutsche Wähler. Des Weiteren wäre denkbar, dass durch die Sozialisation in einem totalitären System der Umgang mit Demokratie erst gelernt werden muss. Dadurch könnte sich eine erhöhte Neigung zu extremistischen Parteien ergeben. Daraus ergibt sich folgende Hypothese:

Hypothese 5: In einem ostdeutschen Bundesland wählen Akteure mit einer höheren Wahrscheinlichkeit eine rechts- oder linksextreme Partei unabhängig von den individuellen Eigenschaften der Akteure und den Merkmalen der Kreise.

Des Weiteren scheint es durchaus plausibel, dass sich bei der Wahl der Partei Die Linke aufgrund ihrer Vergangenheit die Mechanismen zwischen west- und ostdeutschen Akteuren unterscheiden. Die Annahme wäre hier, dass die Deprivation bei westdeutschen Wählern der Linken einen größeren Einfluss ausübt als bei ostdeutschen Wählern, zumindest in Bezug auf den Deprivationsindikator Bildung. Studien können zeigen, dass Die Linke ursprünglich im Osten eine Partei der Hochgebildeten war, im Westen dagegen überwiegend eine Partei der Niedriggebildeten (Falter/Klein 1994). Gleichzeitig wird erwartet, dass der Unterschied zwischen den Wählern der Linken aus den neuen und aus den alten Bundesländern von 1998 bis 2006 abgenommen hat. Untersuchungen der Wählerstruktur deuten auf einen Wandel in der ostdeutschen Wählerschaft und ein daraus resultierendes Angleichen der Wähler in Ost- und Westdeutschland hin (Neller/Thaidigsmann 2007; Schoen/Falter 2005). Da nur ein relativ geringer Zeitraum und nur Querschnitt-Studien untersucht werden, stehen längsschnittliche Erkenntnisse nicht im Fokus der Untersuchung. Einige grobe Trends sollten sich dennoch abzeichnen.