Auszug
Verwandlungsgeschichten gehören zweifellos zum Grundbestand volkstümlichen Erzählens im Mythos oder im Märchen, und folgen oft dem Typ der Degradation, der Verwandlung eines Menschen ins Nicht-Menschliche, in Tier, Pflanze oder Stein, oder entsprechen dem Typ der Aszension, einer Verwandlung, die das bloß menschliche Dasein ins Göttliche oder Astrale transzendiert. Beide Arten der Metamorphose verweisen auf Grenzzustände, in denen ein Mensch auf sein Anderes trifft, auf das Nicht-Menschliche oder Übermenschliche, und machen sichtbar, dass die Übergänge zwischen Natur und Kultur fließender sind als wir gemeinhin annehmen. In der Verwandlung Arachnes in eine Spinne, noch immer eine Meisterin des Webens aber bestraft für ihre Hybris, in Lycaons Metamorphose in einen Wolf, Konsequenz seines inhumanen, wölfischen Verhaltens, oder in der Versteinerung der trauernden Niobe hat Hegel eine Verkörperung des Geistigen im Materiellen gesehen, die zwar eine Degradation des Geistigen ausdrücke, aber bereits als eine höhere Stufe der Anschauung zu werten sei. In solchen Metamorphose-Erzählungen werde das Bewusstsein mit der natürlichen Welt kontrastiert, sie heben deren Unterscheidung hervor, anstatt, wie die symbolische Anschauung, das Natürliche nur als bloß Äußerliches darzustellen. Für Hegel individualisieren Verwandlungsgeschichten Naturphänomene, indem sie ihnen ein — wenn auch verworfenes und heruntergekommenes — Bewusstsein zuschreiben, und heben damit Erzählformen wie die Fabel oder Parabel als deren Drittes dialektisch auf (Hegel 504 f.). In Hegels Ästhetik ist die Verwandlungssage so bereits eingebunden in eine Geschichte literarischer Formen, auch wenn sie, als Übergang vom Symbolisch-Mythologischen ins ‚eigentlich Mythologische’ weitgehend am Anfang einer solchen Geschichte steht.
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Theisen, B. (2007). Metamorphosen der Literatur: Christoph Ransmayrs Die letzte Welt . In: Magerski, C., Savage, R., Weller, C. (eds) Moderne begreifen. DUV. https://doi.org/10.1007/978-3-8350-9676-9_28
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