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Kein Ort, Nirgends. Probleme und Fragen der Mathematikphilosophie

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Die Innenwelt der Mathematik

Part of the book series: Ästhetik und Naturwissenschaften ((4358))

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Zusammenfassung

Was ist Mathematik? Die Antworten, die auf diese Frage gegeben werden, haben einen eigentümlich schillernden Charakter. Für die einen ist Mathematik eine Art Kunst, die anderen ordnen sie den Geisteswissenschaften zu, und die dritten zählen sie zu den Naturwissenschaften. Die ansonsten so präzisen Mathematiker werden reichlich vage und mitunter auch beträchtlich metaphorisch, wenn es um die Beschreibung ihrer eigenen Disziplin geht. Philip J. Davis und Reuben Hersh definieren die Mathematik auf der einen Seite als Geisteswissenschaft. Ähnlich wie diese beschäftige sich die Mathematik mit geistigen Objekten — mit kulturellen Artefakten, die sie selber hergestellt hat (Davis/Hersh 1985: 422). Gleichzeitig sehen sie die Mathematik aber auch als eine Art Naturwissenschaft. In diesem Fall wird die Zuordnung nicht mehr ontologisch begründet (über die Beschaffenheit der mathematischen Gegenstandswelt), sondern epistemologisch, über den objektiven Charakter des mathematischen Wissens: «Die Folgerungen der Mathematik sind zwingend wie jene der Naturwissenschaften. Sie sind nicht das Produkt von Ansichten und Meinungen und darum auch nicht einem dauernden Meinungsstreit unterworfen wie die Ideen der Literaturkritik» (Davis/Hersh 1985: 435).

2 Heringe + 2 Heringe = 4 Heringe. Scheint ein ewiges Gesetz zu sein, das stets unerschüttert bleibt. 2 Gelb + 2 Gelb = ? Manchmal = 0.

Wassily Kandinsky 1

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  1. Kandinsky 1937: 204.

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  2. Vgl. u.a. Hardy 1940; Knopp 1928; Krull 1930; LeLionnais 1962.

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  3. Diese Passage ist ein hübsches Beispiel für die Genealogie von Metaphern. Sie lässt sich zurückführen auf ein Zitat des englischen Mathematikers G.H. Hardy und von dort weiter zurückverfolgen bis zu Lady Ada Lovelace, die in den 40er Jahren des letzten Jahrhunderts die mathematische Leistung der analytischen Maschine von Charles Babbage folgendermassen beschrieben hat: «Wir können höchst zutreffend sagen, dass die analytische Maschine algebraische Muster webt, gerade ebenso, wie der Jacquardsche Webstuhl Blumen und Blattwerk webt» (zit. in Hyman 1987: 299). Diese Formulierung scheint Hardy inspiriert zu haben, der in seiner Apology — einem Manifest des mathematischen Ästhetizismus — bei der Beschreibung der menschlichen Mathematik auf eine ähnliche Metapher zurückgreift: «A mathematician, like a painter or a poet, is a maker of patterns. If his patterns are more permanent than theirs, it is because they are made with ideas. A painter makes patterns with shapes and colours, a poet with words» (Hardy 1940: 24).

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  4. Hardy 1940: 24.

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  5. Nicolas Bourbaki ist das Pseudonym füür eine Gruppe von französischen Mathematikern, die sich in den 30er Jahren zusammenfanden mit dem Ziel, ein umfassendes Grundlagenwerk zu publizieren, in dem die verschiedenen Gebiete der Mathematik systematisch aus einem kleinen Grundbestand von mengentheoretischen Axiomen aufgebaut werden sollten. «Nous nous proposons en ce Livre», so Bourbaki in seiner Einleitung zum ersten Band dieses Gesamtwerks, «de donner d’abord la description d’un tel langage, et même l’exposé de principes généraux qui pourraient s’appliquer à beaucoup d’autres semblables. Un seul de ces langages suffira toutefois à notre object. En effet (...) on sait aujourd’hui qu’il est possible, logiquement parlant, de faire dériver toute la mathématique actuelle d’une source unique, la Théorie des Ensembles» (Bourbaki 1939: E I.9). In Allusion an Euklids Elemente nannten sie ihre seit Ende der 30er Jahre regelmässig erscheinenden Grundlagenbücher zur Mengenlehre, Topologie, Algebra etc. Eléments de Mathématique (nicht zu verwechseln mit dem Séminaire Bourbaki, das eine ganz andere Politik verfolgte). Zu den ursprünglichen Schöpfern des «polykefalen Mathematikers», wie Imre Toth Nicolas Bourbaki nennt (Toth 1987), gehörten Henri Cartan, Claude Chevalley, Jean Delsarte, Jean Dieudonné, Szolem Mandelbrojt, René de Possel und André Weil. Die Bourbakisten haben auf die Mathematik (und auf den Mathematikunterricht) einen so grossen Einfluss ausgeübt, dass Professor Nicolas Bourbaki, Nancago, heute als vollwertiges Mitglied in die mathematische Gemeinschaft aufgenommen ist. In den Indizes der mathematischen Lexika und Enzyklopädien wird Bourbaki, Nicolas jedenfalls offiziell aufgeführt. Zur Geschichte von Bourbaki vgl. u.a. Aubin 1997; Beaulieu 1993; Guedj 1985; Weil 1993.

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  6. Zur strukturalistischen Position in der Mathematikphilosophie vgl. u.a. Bourbaki 1948; Parsons 1990; Resnik 1988; Shapiro 1983; Thiel 1995: Kap. 12 und zum Strukturbegriff von Bourbaki speziell Corry 1997: 269ff.

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  7. Ich spreche im folgenden von Physikalismus und nicht von Naturalismus. Den Begriff «Naturalismus» reserviere ich füür Philip Kitchers historischen Empirismus. Meines Wissens hat sich bislang noch keine einheitliche Terminologie durchgesetzt. Vgl. z.B. die von Brigitte Falkenburg (1994) herausgegebene Sondernummer der Dialektik zur Mathematikphilosophie, die sich terminologisch ähnlich schwer tut.

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  8. Die Unterscheidung zwischen einem «ontologischen» und einem «epistemologischen» Platonismus geht auf Mark Steiner (1973) zurück.

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  9. Mit Ausnahme der zweiten These beschreiben die angefüührten Thesen nicht nur die platonistische Auffassung, sondern stehen generell füür eine realistische Position, vgl. als Überblick Franzen 1992.

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  10. Dies zeigt eine Durchsicht der Arbeitsberichte, die die Gäste des Max-Planck-Instituts für Mathematik zwischen 1988 und 1991 geschrieben haben (MPI füür Mathematik 1992).

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  11. Das Anwendungsproblem stellt sich allerdings nicht nur füür den Platonismus, sondern auch füür den Formalismus und den Intuitionismus.

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  12. Die Durchdringung von Physik und Mathematik lässt sich an einem Schulbeispiel illustrieren. Wer das zweite Newtonsche Gesetz anwendet, z.B. um die Geschwindigkeit oder den Weg einer mit der Kraft P gestossenen Kugel mit der Masse m zu berechnen, braucht einiges an Mathematik, von einfacher Arithmetik bis zu Integral- und Differentialrechnung.

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  13. Vgl. ähnlich auch Putnam, der sich in diesem Zusammenhang zu einer radikalen Äusserung vorwagt: «I then want to raise the question: could some of the <necessary truths> of logic ever turn out to be false for empirical reasons? I shall argue that the answer to this question is affirmative, and that logic is, in a certain sense, a natural science» (Putnam 1968: 174).

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  14. Beispielhaft dafür ist etwa die Argumentation von Hugh Lehman (1979), der die Möglichkeit einer empirischen Widerlegung mathematischer Sätze zwar theoretisch behauptet, aber nicht in der Lage ist, dafüür nur ein einziges (nicht-fiktives) Beispiel anzugeben. Quine begründet die höhere Resistenz der Mathematik gegenüber empirischen Falsifikationen damit, dass eine Revision der mathematischen Sätze ungleich folgenreicher wäre als die Aufgabe der physikalischen Hypothesen (Quine 1951: 43f.). Zudem lehrt die Duhem-Neurath-Quine-These, dass nicht ein einzelner Satz zur Disposition gestellt wird, sondern immer nur das System als Ganzes (vgl. 3.1.). Dies macht verständlich, weshalb man mit der Revision vorzugsweise dort beginnt, wo es am wenigsten schmerzt: bei den Protokollsätzen, den Hilfshypothesen und vielleicht sogar bei den Sätzen der Physik, aber ganz gewiss nicht bei den Sätzen der Mathematik.

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  15. Eine ähnlich radikale Position vertritt auch Michael Resnik. Sein Ausgangspunkt ist allerdings nicht die Anwendbarkeit der Mathematik in der Physik, sondern gerade umgekehrt die Mathematisierung der Physik. «In short, today it is more appropriate to use <abstract> mathematical models to describe the ontology of physics and somewhat misleading to use the traditional <concrete> models of planets and billard balls. Thus I find no clear ontological or epistemological or methodological boundary between mathematics and the rest of science» (Resnik 1988: 402).

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  16. Der Physikalismus ist ein wichtiger Bestandteil der neuen quasi-empiristischen Bewegung in der Mathematikphilosophie. Ich komme weiter unten darauf zurück (vgl. 2.3.).

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  17. Zu Hilbert und seinen grundlagentheoretischen Arbeiten gibt es heute eine Reihe von auch historisch ausgerichteten Studien, vgl. u.a. Mehrtens 1990; Peckhaus 1990; Smorynski 1988; Toepell 1986. Zu Hilberts Person vgl. die Biographie von Constance Reid 1989 sowie Blumenthal 1935. In der philosophischen Grundlagenliteratur wird in der Regel die Beweistheorie in den Mittelpunkt gestellt und nur am Rande in Zusammenhang gebracht mit Hilberts grundlagentheoretischen Arbeiten zu Beginn des Jahrhunderts. Wie Peckhaus (1990) zeigt, hat Hilbert bereits in seinem 1904 gehaltenen Vortrag Über die Grundlagen der Logik und der Arithmetik Überlegungen vorweggenommen, die er dann später im Rahmen seiner Beweistheorie weiter ausgebaut hat (Hilbert 1905).

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  18. Vollständigkeit: Alle Sätze des betreffenden axiomatischen Systems müssen aus den Axiomen ableitbar sein. Unabhängigkeit: Die Axiome müssen voneinander unabhängig sein, d.h. es darf nicht vorkommen, dass ein Axiom aus den anderen ableitbar ist. Widerspruchsfreiheit: Die Axiome und die daraus ableitbaren Sätze dürfen nicht zueinander in Widerspruch stehen. Bei der Beweistheorie steht das Problem der Widerspruchsfreiheit im Mittelpunkt. Ich komme in Abschnitt 2.2.2. darauf zurück.

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  19. In der Einleitung zu ihrem Lehrbuch zur Mathematik fassen Richard Courant und Herbert Robbins die Entwicklung von einer inhaltlichen zu einer formalen Sichtweise, die im Endeffekt zu der bereits erwähnten strukturalistischen Konzeption der Mathematik führte, anschaulich zusammen. «Durch die Jahrhunderte hindurch hatten die Mathematiker ihre Objekte, z.B. Zahlen, Punkte usw., als <Dinge an sich> betrachtet. Da diese Objekte aber den Versuchen, sie angemessen zu definieren, von jeher getrotzt haben, dämmerte es den Mathematikern des 19. Jahrhunderts allmählich, dass die Frage nach der Bedeutung dieser Objekte als <wirkliche Dinge> für die Mathematik keinen Sinn hat (...). Die einzigen sinnvollen Aussagen über sie beziehen sich nicht auf die dingliche Realität; sie betreffen nur die gegenseitigen Beziehungen zwischen undefinierten Objekten und die Regeln, die die Operationen mit ihnen beherrschen. Was Punkte, Linien, Zahlen <wirklich> sind, kann und braucht in der mathematischen Wissenschaft nicht erörtert zu werden. Worauf es ankommt (...), ist Struktur und Beziehung, etwa, dass zwei Punkte eine Gerade bestimmen, dass aus Zahlen nach gewissen Regeln andere Zahlen gebildet werden, usw. Eine klare Einsicht in die Notwendigkeit, die elementaren mathematischen Begriffe ihrer Dinglichkeit zu entkleiden, ist eines der fruchtbarsten Ergebnisse der modernen Entwicklung der Axiomatik» (Courant/Robbins 1973: xx).

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  20. Diese Parallelität ist ein schönes Beispiel füür Max Benses These einer «stilistische Koinzidenz» (Bense 1946).

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  21. Zu Gödels Widerspruchsfreiheits- und Unvollständigkeitsbeweis vgl. Nagel/Newman (1958) als gut verständliche Einfüührung.

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  22. Hempel 1945a: 7.

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  23. Wilder 1944: 319.

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  24. Ich halte mich im folgenden an das konventionelle Verständnis von Wissen als wahres und als begründetes Wissen. Damit man also von A behaupten kann, sie wisse p, müssen drei Bedingungen erfüüllt sein: (1) A muss glauben, dass p; (2) p muss wahr sein; und (3) A muss ihre Überzeugung begründen können. Wie ich weiter unten zeigen werde, ist vor allem die Beziehung zwischen der zweiten und der dritten Bedingung nicht unproblematisch.

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  25. Die ersten Resultate über eine nicht-euklidische Geometrie wurden unabhängig voneinander von Nicolai Lobatschewskij (1829) und Janos Bolyai (1831) publiziert. Die von Lobatschewskij und Bolyai beschriebene Geometrie wird heute als «hyperbolische» Geometrie bezeichnet. Carl Friedrich Gauß scheint allerdings schon einige Jahre zuvor eine nichteuklidische Geometrie <entdeckt> zu haben, er hat seine Resultate jedoch nie publiziert. Die zweite wichtige nicht-euklidische Geometrie, die «elliptische» Geometrie, wurde gut zwei Jahrzehnte später von Bernhard Riemann formuliert. Die Widerspruchsfreiheit der nicht-euklidischen Geometrien wurde 1868 von Eugenio Beltrami, jene der euklidischen Geometrie 1899 von David Hilbert bewiesen, vgl. dazu u.a. Gray 1987; Mehrtens 1990: 42ff.; Toth 1980.

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  26. Zu Benacerrafs Syllogismus und zur Kausaltheorie der Wahrnehmung allgemein vgl. u.a. Brown 1990; Maddy 1990a: 36ff.; Steiner 1973; Tymoczko 1991.

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  27. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass Gödel seit 1926 Mitglied des Wiener Kreises war und unter anderem bei Hans Hahn studierte. Abgesehen davon, dass er den anderen Mathematikern des Kreises weit überlegen war — weder Carnap noch Hahn (noch Wittgenstein) scheinen seine Unvollständigkeitsergebnisse auf den ersten Blick verstanden zu haben —, hat er schon sehr früh in verschiedenen Fragen eine andere Meinung vertreten. Dazu gehört vor allem auch sein Platonismus, der vom offiziellen Credo des Wiener Kreises deutlich abweicht (vgl. 2.2.2.). Zu Gödels Stellung innerhalb des Kreises vgl. Dawson 1988; Wang 1987: 48ff. sowie die Hinweise in Haller 1993. Ich komme im folgenden Abschnitt auf die mathematikphilosophische Position des Wiener Kreises zurück.

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  28. Die Analogie zwischen sinnlicher Wahrnehmung und mathematischer Intuition hat allerdings eine unangenehme Konsequenz, die von Gödel auch vermerkt wird. Ähnlich wie die sinnliche Wahrnehmung liefert auch die mathematische Intuition niemals vollständig sichere <Informationen>. Auch in der Mathematik kann es m.a.W. so etwas wie <Sinnestäuschungen> geben. Die mengentheoretischen Antinomien sind für Gödel ein Beispiel dafür (Gödel 1947/63: 484). Vgl. in diesem Zusammenhang auch den aufschlussreichen Aufsatz von Pomian (1998) zur Geschichte der Beziehung zwischen Wahrnehmen und Erkennen.

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  29. Ich habe hier und im vorangehenden Abschnitt den klassischen Platonismus beschrieben. Es gibt in jüngster Zeit auch Versuche, den Platonismus zu <modernisieren> und ihn in Einklang zu bringen mit dem naturwissenschaftlichen Weltbild bzw. einer Kausaltheorie der Wahrnehmung. Eine wichtige Vertreterin eines solchermassen à jour gebrachten Platonismus ist Penelope Maddy, die ihre Version des Platonismus als «physikalistischen» bzw. «naturalisierten» Platonismus bezeichnet (Maddy 1990a; 1990b). Während Gödel die mathematische Intuition nirgends als direkte Wahrnehmung qualifiziert, sondern nur, reichlich vage, von «something like a perception» spricht, geht Maddy von der Annahme aus, dass wir (einfache) mathematische Objekte — konkret: Mengen — in einem buchstäblichen Sinne sehen können. Wenn wir eine Schale mit Äpfeln vor uns haben, sehen wir, so Maddys Argumentation, nicht nur Äpfel, sondern gleichzeitig eine (konkrete) Menge, und eine solche Menge ist bereits eine formale, vom «physical stuff» abstrahierende Kategorie (vgl. dazu auch Brown 1990: 101ff.). Maddy entwickelt also eine Mathematikphilosophie, an deren Basis (im Unterschied zu Gödel) die wirkliche Perzeption von Mengen liegt. Das von Gödel konstatierte Gefüühl, dass sich die mengentheoretischen Axiome gleichsam als wahr <aufdrängen> — «force themselves upon us as being true» —, wird von Maddy auf diese elementare Mengenwahrnehmung zurückgefüihrt.

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  30. Zu dieser neuen Interpretation der Grundlagenkrise vgl. u.a. Garciadiego 1986; Mehrtens 1984, Mehrtens 1990: insb. Kap. 2.2. und 4.1.; Moore/Garciadiego 1981.

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  31. Der problematische Punkt in Cantors Mengenlehre war seine Mengendefinition: «Unter einer <Menge> verstehen wir jede Zusammenfassung M von bestimmten wohlunterschiedenen Objekten m in unserer Anschauung oder unserem Denken (welche die <Elemente> von M genannt werden) zu einem Ganzen» (zit. in Purkert/Ilgauds 1987: 158). Das Problem liegt darin, dass diese Mengendefinition erlaubt, von einer Menge aller Mengen zu sprechen. Damit wird aber auf eine Gesamtheit Bezug genommen, der die zu definierende Menge selbst angehört. Eine solche sogenannt «imprädikative» Definition füihrt zu einem logischen Zirkel, und genau darauf macht die Antinomie von Russell aufmerksam. Ich gebrauche im folgenden <Antinomie> und <Widerspruch> synonym.

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  32. Hilbert hat sich zwar in den folgenden Jahren nicht weiter mit seiner Beweistheorie beschäftigt, er hat aber eine Reihe von grundlagentheoretischen Initiativen lanciert, wozu insbesondere auch eine verstärkte Auseinandersetzung mit der Logik gehörte.

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  33. In praktisch jeder Darstellung der Mathematikphilosophie findet sich eine mehr oder minder ausfüührliche Beschreibung der drei gundlagentheoretischen Programme. Vgl. zum folgenden u.a. Körner 1968; Mehrtens 1990; Poser 1988; Thiel 1974.

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  34. Hilbert hat zeitweise ein gar nicht so unähnliches Programm vertreten. In seinem Aufsatz Axiomatisches Denken vertritt er die Auffassung, dass der Widerspruchsfreiheitsbeweis füür Mengenlehre und Arithmetik ein <absoluter> sein müsse, da im Gegensatz zur Geometrie der «Weg der Zurückfüührung auf ein anderes spezielles Wissensgebiet offenbar nicht gangbar (ist), weil es ausser der Logik überhaupt keine Disziplin mehr gibt, auf die alsdann eine Berufung möglich wäre». Da aber der Nachweis der Widerspruchsfreiheit eine dringliche Aufgabe sei, scheine es nötig, «die Logik selbst zu axiomatisieren und nachzuweisen, dass Zahlentheorie sowie Mengenlehre nur Teile der Logik sind» (Hilbert 1918: 8).

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  35. Einschränkend ist zu sagen, dass nicht alle Mitglieder des Wiener Kreises Anhänger des Logizismus waren — man denke etwa an Kurt Gödel. Zudem wurden auch die anderen beiden grundlagentheoretischen Schulen ausfüührlich diskutiert (Carnap 1963: 74ff). Liest man jedoch die Arbeiten, die Hans Hahn zwischen 1930 und 1934 zum Grundlagenproblem der Mathematik geschrieben hat, fällt auf, dass der Formalismus kaum vorkommt und teilweise auch nicht richtig wiedergegeben wird (vgl. z.B. Hahn 1934: 131). Zudem hat Otto Neurath (teilweise) eine Position vertreten, die von allen drei grundlagentheoretischen Schulen abwich und deutlich <quasi-empiristische> Züge trug (vgl. 3.1.).

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  36. Vgl. zu Mill den informativen Aufsatz von Kitcher 1980. In modifizierter Form scheint der Empirismus in der Mathematikphilosophie augenblicklich ein gewisses Revival zu erfahren (vgl. 2.3.).

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  37. Diese Sortierung ist nicht neu. Neu ist nur die Differenziertheit und der systematische Charakter der Argumentation. Schon David Hume hat zwischen Tatsachenbehauptungen (matters of fact) und Begriffsrelationen (relations of ideas) unterschieden, so etwa in seiner bekannten feurigen Abschlusspassage zu seiner Enquiry Concerning Human Understanding: «Nehmen wir irgendein Buch zur Hand, z.B. über Theologie oder Schulmetaphysik, so lasst uns fragen: Enthält es eine abstrakte Erörterung über Grösse und Zahl? Nein. Enthält es eine auf Erfahrung beruhende Erörterung über Tatsachen und Existenz? Nein. So übergebe man es den Flammen, denn es kann nichts als Sophisterei und Blendwerk enthalten» (Hume 1759: 207).

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  38. Die Erleichterung, für das leidige Problem der Mathematik endlich eine Lösung gefunden zu haben, hielt allerdings nicht lange an. Mit seiner Kritik an der Unterscheidung zwischen analytischen und synthetischen Sätzen hat Quine schon kurz darauf gezeigt, dass sich das «Hauptkreuz des Empirismus» (Hahn 1930/31: 39) doch nicht so leicht ablegen lässt (Quine 1951). Die im Zusammenhang mit dem Indispensability-Argument entwickelte <quasi-empiristische> Position Quines ist die Konsequenz aus dieser Kritik (vgl. 2.1.1.).

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  39. Zu Brouwers Leben und Werk vgl. vor allem die umfassende Monographie von Walter P. van Stigt 1990 sowie Mehrtens 1990: 257ff. und van Dalen 1978.

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  40. Abgesehen davon, dass man an Letztbegründungsprogrammen generell Zweifel anmelden kann, wirft dieser Fundierungsversuch die Frage auf, weshalb die Grundintuition der «twooneness» — und nicht irgendeine andere Intuition oder Handlung — das autoritative Letztbzw. Erstelement der Erkenntnis sein soll, vgl. dazu u.a. Mittelstraß 1988.

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  41. Das Prinzip des tertium non datur gehört zum Grundrüstzeug der klassischen Mathematik und liegt insbesondere auch einer gängigen mathematischen Beweisstrategie, der reductio ad absurdum, zugrunde. Der Satz vom ausgeschlossenen Dritten behauptet, dass wenn sich die Negation einer Aussage als falsch erweist, die Aussage selbst wahr sein muss. Damit wird aber nur die Negation einer Aussage konstruktiv erzeugt, nicht aber deren Affirmation. Auf sie wird bloss über den Satz des ausgeschlossenen Dritten geschlossen, und dies widerspricht dem intuitionistischen Prinzip, dass jeder mathematische Gegenstand konstruktiv hergeleitet werden muss, bevor seine Existenz als gegeben angenommen werden kann.

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  42. Maddy 1990a: 23.

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  43. Zur Terminologie: Wenn ich mich auf die philosophische Doktrin beziehe, spreche ich von quasi-empiristisch. Wenn ich mich auf die entsprechende Praxis der Mathematik beziehe, spreche ich von quasi-empirisch> (vgl. auch 4.2.).

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  44. Kalmár plädiert an verschiedenen Stellen füür eine Art «experimentelle» Mathematik und macht in diesem Zusammenhang schon sehr früh auf den möglichen Einsatz des Computers als Beweisinstrument wie auch als <Daten>-Produzent aufmerksam. Ich komme in den folgenden Kapiteln auf diese beiden Einsatzformen des Computers in der Mathematik zurück.

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  45. Popper selbst ist nicht so weit gegangen, und dies wirft Lakatos ihm auch vor. Popper habe trotz seiner «fehlbaren Philosophie» den Fehler begangen, «der Mathematik einen bevorrechtigten Rang der Unfehlbarkeit einzuräumen» (Lakatos 1963: 131).

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  46. Zu Lakatos’ Auffassung der Mathematik vgl. vor allem die umfassende Darstellung von Koetsier 1991. Kurze Darstellungen geben auch Glas 1995; Hersh 1978; Thiel 1981 sowie diverse Aufsätze in Cohen u.a. 1976. Georg Pólya hat schon früher an vielen Beispielen gezeigt, dass Mathematiker längst nicht so deduktiv vorgehen, wie es im allgemeinen unterstellt wird, sondern über weite Strecken induktiv operieren (Pólya 1945; 1954a). Während sich Pólya aber ganz explizit auf den «context of discovery» beschränkt — auf «mathematics in the making» —, beziehen sich Lakatos’ Ausführungen auf den «context of validation» und sind aus diesem Grunde um einiges brisanter.

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  47. Lakatos illustriert seine fallibilistische These an einem Fallbeispiel aus der Mathematikgeschichte. Das ist zwar anschaulich, gleichzeitig aber auch gefährlich. Gefährlich deswegen, weil sich die Art und Weise, wie Mathematik zu Eulers Zeiten betrieben wurde, nicht umstandslos generalisieren und auf die moderne Mathematik des 20. Jahrhunderts übertragen lässt.

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  48. <Doppelt> insofern, als Lakatos die Beweisgeschichte der Eulerschen Formel am Beispiel seiner Klassenzimmer-Diskussion darstellt und sie gleichzeitig in den Fussnoten auf konventionelle Weise rekonstruiert.

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  49. Ich bezeichne hier und im folgenden die nicht vollständig formalisierte Mathematik — die «eigentliche» Mathematik, wie Hilbert sie nannte — als inhaltliche bzw. informale Mathematik. Entsprechend unterscheide ich zwischen formalisierten Beweisen (à la Hilbert) und informalen Beweisen. Ein informaler Beweis enthält heute selbstverständlich auch formalisierte Elemente und bedient sich einer formalen Sprache, er ist aber nicht durchgängig formalisiert. Ich komme in Abschnitt 4.3. darauf zurück.

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  50. Zu Bloors Mathematiksoziologie vgl. ausführlich Kap. 1.

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  51. Mary Douglas hat bereits in ihrem ersten Buch Reinheit und Gefährdung herausgearbeitet, wie sehr der jeweilige kulturelle Kontext den Umgang mit Anomalien prägt (Douglas 1966). Diese Überlegungen hat sie später weiter ausformuliert und im Rahmen ihrer grid/ group-Typologie systematisiert (Douglas 1973). Vereinfacht formuliert, unterscheidet Mary Douglas zwischen zwei Dimensionen. Die eine Dimension bezieht sich auf das Ausmass der internen sozialen Differenzierung (grid), die andere misst die Abgrenzung gegen aussen und die damit einhergehende interne Kohäsion (group). Dichotomisiert man diese beiden Dimensionen, so ergibt sich eine Vierfelder-Typologie, die auch Bloor seiner Argumentation zugrunde legt.

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  52. Nur an einer Stelle hat Bloor seine Kontingenzthese etwas zurückgenommen: «There are limits to the amount and direction of concept-stretching and reclassification. The exact character of these constraints is indeed an unsolved problem, but one thing is clear; the constraints can be seen as relative, not absolute» (Bloor 1978: 150f.).

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  53. Kitchers Buch Mathematical Knowledge, in dem er seine anti-aprioristische Position ausführlich begründet, ist auf breites Interesse gestossen, vgl. etwa die ausführlichen Rezensionen von Grosholz 1985; Parsons 1986; Steiner 1984.

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  54. Kitchers Rationalitäts- und Kumulativitätsannahme richtet sich gegen die Inkommensurabilitätsthese in der Wissenschaftsphilosophie (Kitcher 1983: 165ff.; 1988). Diese Rationalitätsannahme ist gleichzeitig aber auch der Angelpunkt, mit dem Kitchers Argumentation steht und fällt. Kitcher plausibilisiert sie empirisch über historische Beispiele, nicht aber, wie er selbst konzediert, systematisch (vgl. u.a. Kitcher 1988: 300f.).

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  55. Sybille Krämer hat in ihrer Geschichte der Formalisierung einen zentralen Aspekt dieser sukzessiven Innenwendung der Mathematik beschrieben (Krämer 1988).

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  56. Kitchers Theorie mathematischer Entwicklung ist nicht unwidersprochen geblieben. Kontrovers ist insbesondere die Frage, wie wir aufgrund unserer endlichen Erfahrungen zu einer Mathematik des Unendlichen gelangen können, vgl. dazu Emödy 1994.

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  57. In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage, ob beim individuellen Lernen von Mathematik die kulturhistorische Entwicklung in gewissem Sinne wiederholt wird. Ist es vorstellbar, dass jemand, der nie mit Murmeln oder Pfeffernüssen gespielt hat, sie nie gezählt, verschoben oder geordnet hat, rechnen lernt und mit der Zeit das abstrakte Konzept der Zahl versteht?

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  58. Peirce hat nicht eine durchgängig konsenstheoretische Position vertreten, sondern sein Vertrauen auf die rationale Kraft der wissenschaftlichen Methode mit einer korrespondenztheoretischen Auffassung von Wahrheit kombiniert. Der am Ende erzielte Konsens konvergiert mit dem objektiv Wahren (vgl. auch 5.1.).

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  59. In jüngster Zeit scheint sich Putnam allerdings wieder von diesem prozeduralen Wahrheitsbegriff zu distanzieren, vgl. exemplarisch das Interview in Burri 1994: 179f.

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  60. Zu Freges Vorstellung eines «dritten Reiches» objektiver Gedanken, die einige Ähnlichkeit mit Poppers Welt 3 aufweist, vgl. Dummett 1988: 32ff.

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  61. Popper (1994) unterscheidet zwischen drei Welten — zwischen der physikalischen Welt 1, der psychischen Welt 2 des individuellen Bewusstseins und der <objektiven> Welt 3 der kulturellen Artefakte.

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  62. Für Popper stellt die Verankerung der Mathematik in der Welt 3 eine Möglichkeit dar, eine an sich radikal anti-platonistische Position, wie es der Intuitionismus ist, mit «einer Art von Platonismus» zu verbinden (Popper 1994: 139). Ilkka Niiniluoto bezeichnet Poppers These einer objektiven Welt geistiger Sachverhalte als «poor man’s platonism» (Niiniluoto 1992: 64), Daniel Isaacson spricht in diesem Zusammenhang von «concept platonism» (Isaacson 1993). Diese Formulierungen sind jedoch insofern missverständlich, als sie die Differenz zwischen dem klassischen Platonismus und einer kulturalistischen Position zu sehr verwischen.

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  63. In jüngster Zeit sind eine Reihe von Sammelbänden erschienen, die — neuerdings auch unter der Bezeichnung «humanist approach» — einen guten Überblick über die quasi-empiristische Wende geben: Aspray/Kitcher 1988; van Bendegem 1988 und 1989; Echeverria u.a. 1992; Hersh 1991b; Restivo u.a. 1993; Tymoczko 1985. Als Einfüührung in die quasiempiristische Mathematikphilosophie lässt sich auch der erste Teil von Ernest 1991 lesen; einen knappen Überblick geben Crowe 1988 aus der Perspektive der Mathematikgeschichte sowie Hersh 1995 aus der Sicht der Mathematik.

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  64. Dies bedeutet nicht, dass die Geschichte der Mathematik als eine diskontinuierliche, durch wissenschaftliche Revolutionen geprägte Entwicklung betrachtet werden muss, wie dies seit Kuhn für die empirischen Wissenschaften postuliert wird. Die These einer grundlegenden Historizität der Mathematik schliesst die Annahme einer kumulativen Entwicklung nicht aus (vgl. 7.1.)

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Heintz, B. (2000). Kein Ort, Nirgends. Probleme und Fragen der Mathematikphilosophie. In: Die Innenwelt der Mathematik. Ästhetik und Naturwissenschaften. Springer, Vienna. https://doi.org/10.1007/978-3-7091-3699-7_3

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