Aus Reinhold Seeberg „Zum Verständnis der gegenwärtigen Krisis in der europäischen Geisteskultur.“ (1923.)

Zusammenfassung

Ich möchte an einem tunlichst allgemein gehaltenen Gedankenrahmen klar machen, an welchen Punkten die christlichen Ideen zu den Problemen der gegenwärtigen Krisis Beziehungen gewinnen müssen. Es sind solgende: 1. Die höchste und allumfassende Beziehung des Lebens besteht in der rein geistigen Gemeinschaft mit Gott, dem absoluten Geist. 2. Das gesamte Geschehen untersteht der Leitung dieses dem Menschen vertrauten Geistes. 3. Der Mensch hat neben der Anlage zu einem guten Willen einen bösen egoistischen Willen. 4. Der Egoismus verstrickt in eine endlose Reihe von Übeln. 5. Gott befreit von dem Egoismus wie von dem Übel vermöge seines gütigen Willens. 6. Glaube ist Erleben Gottes und damit Befreiung von der Herrschaft der Welt. 7. Liebe ist Sozialismus oder ein Leben für die anderen...Ein heiliger Optimismus, ein freies Ethos und ein sozialer Aktivismus schaffen in wechselseitiger Beziehung einen neuen großen Stil geistigen Lebens, der doch so einfach ist, daß auch die Armen und Geringen ihn in sich zu gestalten vermögen. So ist das Christentum die erhabenste Form des reinen Lebens des Geistes und als solche fähig, die Mächte des Bösen und Unreinen nicht nur äußerlich zu bannen, sondern innerlich vermöge des eigenen Wollens der Persönlichkeit zu überwinden.