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Das Alltagswissen über Soziale und Innerhalb Sozialer Strukturen (0)

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Part of the book series: WV studium ((WVST,volume 54/55))

Zusammenfassung

In fachsoziologischem Verständnis bezieht sich das Konzept „gemeinsame Kultur“ auf die gesellschaftlich gebilligten Grundlagen des Folgerns und Handelns — Grundlagen, auf welchen die Menschen in ihren alltäglichen Angelegenheiten (1) fussen und von denen sie annehmen, dass andere Gruppenmitglieder sie in derselben Weise für die Bewältigung ihrer Angelegenheiten heranziehen. „Gesellschaftlich gebilligte Tatsachen des Lebens in der Gesellschaft, die jedes engagierte und vertrauenswürdige Gesellschaftsmitglied (bona-fide member of the society) kennt“, bilden den Gesamtbereich alltäglicher Lebensinhalte ab. Dieser Gesamtbereich umfasst so unterschiedliche Erscheinungen wie die Führung des Familienlebens; wie die Organisation von Märkten aller Art; wie die sozialen Verteilungen von Ansehen, Kompetenz, Verantwortungsfülle, von Gefälligkeiten, Einkommen und Motiven unter Personen; wie die Häufigkeit und die Ursachen von Unannehmlichkeiten sowie ihre Abhilfen; und wie die Anwesenheit von guten und schlechten Absichten hinter dem augenscheinlichen Wirken der Dinge. Derartige gesellschaftlich gebilligte Tatsachen des sozialen Lebens bestehen aus interessengebundenen Beschreibungen (la) der Gesellschaft vom Standpunkt des Mitgliedes der entsprechenden gesellschaftlichen Kollektivität (2), wie ein solches Kollektivitätsmitglied sie im Verlaufe der Bewältigung seiner praktischen Lebensangelegenheiten entwirft. Für den Augenblick wollen wir ein derartiges Wissen von der Organisation und den Wirkungsweisen der Gesellschaft „Alltagswissen von gesellschaftlichen Strukturen“ (“common sense knowledge of social structures”) (2a) nennen.

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Anmerkungen Und Arbeitsmaterialien

  1. Dieser Aufsatz ist die stark gekürzte Fassung einer achtzig Seiten langen Arbeit, die für die Sitzung über Wissenssoziologie auf dem vierten Weltkongress für Soziologie in Stresa, Italien, am 12.September 1959 verfasst und in einer Vervielfältigung verteilt worden war. Wegen Platzmangels bei der Publikation der Kongresspapiere war es notwendig, Materialien auszulassen, die folgende detaillierte Ausarbeitungen beinhalteten: a) nähere Ausführungen über die allgemeine Struktur und die Unterabteilungen des Gesamtgegenstandsbereiches “Wissensbestand”, die Verfahren zur Produktion und Aufrechterhaltung (Konstitution) des Gesamtwissensbestandes und seiner verschiedenen Untermengen, zu denen auch der Bestand an Alltagswissen gehört; b) detaillierte Beschreibungen darüber, wie die dokumentarische Methode arbeitet, und einen genauen Bericht über ein Experiment, das erlaubte, die Arbeitsweise der dokumentarischen Methode aufzudecken; c) eine explizite Darstellung darüber, wie SCHÜTZ die natürliche Einstellung des Alltagslebens beschreibt; d) eine ausführliche Erörterung der Frage, ob die dokumentarische Methode ein notwendiges Merkmal soziologischen Untersuchens ist; und e) eine Betrachtung darüber, welche Auswirkungen die verschiedenen Typen von modifizierenden Transformationen der basisregelhaften Voraussetzungen des Alltagswissensbestandes für die stabilen Merkmale gesellschaftlicher Strukturen haben.

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  2. Die gerade aufgezählten Themenbereiche stehen im Zentrum auch des vorliegenden kurzen Artikels, können jedoch hier nur allgemein und skizzenhaft angedeutet werden. In angemessener Länge werden diese Fragen jedoch in einem Buch behandelt, das der Autor unter dem Titel “Common-Sense Actions as Topic and Feature of Sociological Inquiry” (Alltagsweltliche Handlungen als Gegenstand und Wesensmerkmal soziologischen Untersuchens) vorbereitet.(Ergänzung d.Hg.: Dieses Buch ist bisher nicht erschienen, wohl aber eine ganze Anzahl von Artikeln. Vgl. das Literaturverzeichnis am Ende unseres Bandes. Die achtzig Seiten lange Arbeit, auf die GARFINKEL anspielt, ist wohl weitgehend mit seinem bekannten 1963 erschienenen “Trust”-Aufsatz identisch; wichtige Passagen des “Trust”-Aufsatzes und des von uns hier in der Übersetzung vorgelegten Aufsatzes stimmen überein.)

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  3. Die der vorliegenden Kurzfassung zugrundeliegenden Untersuchungen wurden durch das Senior Research Fellowship SF-S1 des Public Health Service unterstützt. Ich habe den Wunsch, mich bei Eleanor Bernert SHELDONS, Egon BITTNER und Aaron C.CICOUREL für viele Gespräche über die gerade aufgezählten und im vorliegenden Papier nur sehr skizzenhaft dargestellten Problemkreise zu bedanken.

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  4. Lesern, die mit den ausserordentlich bedeutsamen Arbeiten des jüngst verstorbenen Alfred SCHÜTZ (GARFINKEL schreibt das 1961; SCHÜTZ starb 1959 - Erg.d.Hg.) vertraut sind, wird klar sein, in welch hohem Masse jeder, der über den in diesem Aufsatz anvisierten Gegenstandsbereich schreibt, seinem Werk verpflichtet sein muss. Die vorliegende Arbeit ist Alfred SCHÜTZ, dem hochgeschätzten Lehrer und Soziologen, respektvoll gewidmet.

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  5. Der Begriff “alltägliche Angelegenheiten” (“every-dayaffairs”) ist hier strikt in dem Sinne gemeint, in dem SCHÜTZ ihn verwandte (SCHÜTZ 1962, S.3–47 und 2o7259).

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  6. Ergänzung der Herausgeber: Zur näheren Erläuterung dieses Begriffes s. die Einleitung zu diesem Band, Abschnitt III.

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  7. Anmerkung der Herausgeber: GARFINKEL setzt die sozialen Tatsachen mit alltagsweltlichen Beschreibungen gleich, weil die Gesellschaft als zuständiges Gesamtsystem lediglich symbolisch appräsentiert und nicht physisch gegeben sei. Diese symbolische Appräsentation spiele sich in den alltagsweltlichen Bewusstseinsleistungen der Gesellschaftsmitglieder im Rahmen routinisierter Lebensbewältigungspraktiken ab und werde sodann im Bestand an Alltagswissen sedimentiert, der wiederum von den Gesellschaftsmitgliedern in Beschreibungen ausgedrückt werde. Allerdings sei die gesellschaftliche Wirklichkeit nicht schlankweg mit dem Inhalt des Alltagswissens gleichzusetzen, sondern mit dem Alltagswissen bzw. den entsprechenden alltagsweltlichen Beschreibungen in Handlungs-und Kommunikationsfunktion. Entsprechend dem Adäquatheitspostulat, die sozialwissenschaftliche Methodologie von der vorgängigen Struktur des sozialwissenschaftlichen Objektbereiches her zu entwickeln und diesen nicht umgekehrt durch eine dezisionistische, nicht realistische Methode zu denaturieren, muss nun die Sozialwissenschaft zur Analyse der gesellschaftlichen Realität von der Explikation der Typen alltagsweltlichen Wissens ausgehen und diese in den pragmatischen Metatypen wissenschaftlichen Erklärens zu rekonstruieren versuchen. Da sich die Typen alltagsweltlichen Wissens in Beschreibungen versprachlichen, ist dann aber die Analyse des Inhaltes und der Funktion alltagsweltlicher Beschreibungen methodologisch zentral. (Für den Gesamtduktus dieser Argumentation vgl. SCHUTZ 1962, S.3–66). Sozialwissenschaftliche Analyse kann so in eine pragmatische und interaktionslogische Sprach-und Kommunikationsanalyse sowie eine Untersuchung der interaktiven Bedingungen und Folgen von Sprache und Kommunikation einmünden. Während in der deutschen Soziologie neuerdings HABERMAS derartige Konsequenzen zu ziehen scheint (vgl. HABERMAS 197o, 1971a), steht LUHMANN einer derartigen methodologischen Folgerung ablehnend gegenüber (LUHMANN 1971b, S.44, 7off; 1971c, S.3o2ff, 344f, 365f).

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  8. Die Begriffe “Kollektivität” (“collectivity”) und “Mitgliedschaft” (“membership”) sind hier in strikter Anlehnung an die Weise verstanden, in der Talcott PARSONS diese Begriffe verwandte (PARSONS 1951a und 1962, Bd.I, Teil 2, 5.239–24o).

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  9. Ergänzung der Herausgeber: PARSONS gebraucht den Begriff “Mitgliedschaft” in Abhängigkeit von “Kollektivität”, d.h. er spricht von der “Mitgliedschaft in der Kollektivität” (“collectivity membership”). Wir mussten den im Deutschen ungewöhnlichen Ausdruck “Kollektivität” für die Übersetzung durchhalten, weil er weder mit “Gruppe” noch mit “Gesellschaft” noch mit irgendwelchen anderen gängigen Begriffen der soziologischen Theorie zur Bezeichnung sozialer Einheiten äquivalent ist. Er meint die Gesamtheit derjenigen Interaktionspartner, für die eine “wechselseitige Integration der Rollenerwartungen” (PARSONS 1951a, S.4o) besteht. Und diese wechselseitige Integration der Rollenerwartungen wird mit Hilfe gemeinsam verinnerlichter kultureller Muster (PARSONS 1951a, S.42) geleistet: d.h. über gemeinsame Wissensbestände, Wertmuster und Gefühle. Das Handlungssystem muss eine Solidarität aufweisen, die auf der von DURKHEIM beschriebenen “moralischen Obligation” bzw. dem “moralischen Zwang” (vgl. etwa DURKHEIM 1967, Kap.II und III) beruht (PARSONS 1951a, S. 97).

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  10. Zwei Zitate mögen den von PARSONS verwendeten Begriff der “Kollektivität” klären: “Nur wenn ein Handlungssystem Solidarität in diesem Sinne (d.h. im Sinne von Verpflichtungsgefühlen gegenüber der Unversehrtheit des positiv bewerteten Handlungssystems selbst)beinhaltet, grenzen seine Mitglieder bestimmte Handlungen dahingehend definitorisch ein, dass sie der Unversehrtheit speziell des Handlungssystems zuliebe zustandekommen und dass andere Handlungen mit diesem Ziel der Aufrechterhaltung des Handlungssystems nicht verträglich sind. Das Ergebnis ist, dass sich um diese Eingrenzung als Kernfestlegung herum Sanktionen ausbilden. Ein derartiges System soll eine ‘Kollektivität’ genannt werden. Kollektivitätsorientierung beinhaltet mithin das Stellen der ’Vertrauensfrage’: ’Bist du einer von uns oder nicht? Deine Einstellung zu dieser Frage ist entscheidend’.” (PARSONS 1951a, S.97).

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  11. “Wir sprechen über die Bedingungen relativ stabiler Interaktion in sozialen Systemen. Wenn die Stabilität von Interaktionen gewährleistet sein soll, müssen die Wertstandards, die institutionalisierte Rollenerwartungen festlegen, ein mehr oder weniger grosses Ausmass an moralischer Bedeutsamkeit beanspruchen. Konformität mit den Wertstandards wird bis zu einem bestimmten Masse eine Angelegenheit der Erfüllung von Verpflichtungen, denen ego nachkommen will und muss. Und diese Verpflichtungen beziehen sich auf die Interessen des grösseren Handlungssystems, in das ego verwickelt ist: d.h. auf die Interessen eines sozialen Systems. Falls solche gemeinsamen Wertmuster geteilt werden - sie beinhalten ein Verantwortungsgefühl für die Erfüllung von Verpflichtungen -, wird eine Solidarität unter denen erzeugt, die wechselseitig auf die gemeinsamen Werte orientiert sind. Derartig befasste Handlungspartner machen - so könnte man sagen - innerhalb des Geltungsbereiches dieser Werte eine Kollektivität aus.… Das An-. hängen an gemeinsamen Werten bedeutet, in Hinblick auf motivationelle Antriebe betrachtet, dass die Handelnden gemeinsame Empfindungen und Geisteshaltungen zur Unterstützung der Wertmuster hegen. Diese Empfindungen und Geisteshaltungen beinhalten, dass die Konformität mit den relevanten Erwartungen als eine ‘gute Sache’ betrachtet wird - und zwar ziemlich unabhängig von jedem besonderen instrumentellen’Vorteilt, der durch eine solche Konformität, d.h. durch das Vermeiden von negativen Sanktionen, erzielt werden könnte. Weiterhin hat dieses Anhängen an gemeinsamen Werten, obwohl es wahrscheinlich der Erfüllung der unmittelbaren Belohnungsbedürfnisse des Handelnden mitdient, stets auch einen moralischen Aspekt. Denn in einem bestimmten Ausmasse legt diese Konformität die Inhalte der Verantwortung des Handelnden für das grössere, d.h. das soziale, Handlungssystem fest, an dem er teilhat. Offensichtlich ist der besondere Brennpunkt, auf den das Verantwortungsgefühl ausgerichtet ist, die Kollektivität, die durch eine besondere gemeinsame Wertorientierung konstituiert ist.” (PARSONS 1951a, S.41f) Die Solidaritätsempfindungen und die entsprechenden kulturellen Muster sind nach Parsons nicht nur grundsätzlich erlernt, sondern darüber hinaus zu einem Bestandteil des Persönlichkeitssystems des Handelnden verinnerlicht. “Derartige Empfindungen oder ’Werthaltungen’ sind mithin echte Bedürfnisdispositionen der Persönlichkeit. Nur durch die Verinnerlichung der institutionalisierten Werte ist es möglich, dass eine echte motivationelle Integration des Verhaltens in die soziale Struktur stattfindet und dass die ’tieferen’ Schichten der Persönlichkeit in die Erfüllung der Rollenerwartungen eingespannt werden. Nur wenn das in einem hohen Masse erfolgt ist, kann man davon sprechen, dass das soziale System hoch integriert ist und dass die Interessen der Kollektivität und die privaten Interessen der diese Kollektivität ausmachenden Mitglieder nahezu übereinstimmen.” (S.42)

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  12. Wir haben die PARSONSschen Textstellen hier so ausführlich zitiert, weil uns das einerseits für die Abklärung des zentralen GARFINKELschen Begriffs “Kollektivitätsmitglied” erforderlich erscheint. Andererseits mag hiermit auch die Grundlagenfrage angedeutet sein, inwieweit die entscheidenden Steuerungsmechanismen der Interaktion auch Steuerungsmechanismen gesell-schaftlicher Systeme sind, wie das vom PARSONSschen Begriffstheorem der Kollektivität unterstellt wird, aber nicht in seiner Problematik diskutiert werden kann. GARFINKEL hat diese Problematik in ihrem undiskutierten Zustand von PARSONS übernommen. (Vgl. hierzu auch GARFINKEL, 1963, S.187ff) Ausserdem kann die zusätzliche Frage gestellt werden, ob nicht in modernen Gesellschaften die hohe Komplexität sozialer Systeme Verhaltenserwartungen aus dem normativ-wertmässigen Bereich heraus und in den kognitiv-lernmässigen hereintreten lässt, wie das Luhmann (1971a, S.11–14, 19f, 26, 32) behauptet. (Selbstverständlich ist eine derartige Unterscheidung zwischen normativen und kognitiven Erwartungen ebenfalls problematisch!) Wir wollen mit diesen Fragen nicht die Meinung suggerieren, der GARFINKELsche Ansatz sei gescheitert; wichtig wäre es jedoch, in die angedeuteten Richtungen weiterzudiskutieren und ein komplexes System von sowohl interaktionsmässigen als auch sozialstrukturellen Basisregeln zu entwickeln.

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  13. Um noch einem recht prominenten Vorurteil vorzubeugen, das von GOULDNER in die Diskussion des GARFINKELschen Ansatzes eingebracht worden ist: Hinter GARFINKELs Verwendung des PARSONSschen Konzeptes des Kollektivitätsmitgliedes steht nach GARFINKELs eigener Aussage die ausdrückliche Absicht, die elementaren Bedingungen gesellschaftlicher Ordnung zu erforschen - ganz ähnlich, wie das auch DURKHEIMs und PARSONS Zentralthema ist. Das wird von GOULDNER mehr oder weniger bestritten. Nach GOULDNER spielt in GARFINKELsAnsatz die normative Stabilisierung von gesellschaftlicher Ordnung keine Rolle. GARFINKEL - so GOULDNER - glaube nicht daran, dass Normen und Werte von der Persönlichkeit des Handelnden tief verinnerlicht werden müssten. Die gesellschaftlichen Regelsysteme seien lediglich kulturelle Konventionen, deren Auswahl mehr oder weniger beliebig sei. Die kulturelle Ordnung zeichne sich mithin durch Oberflächlichkeit und Zerbrechlichkeit aus; ihre Sicherheit beruhe lediglich auf ihrer Selbstverständlichkeit bzw. Unbewusstheit. (GOULDNER 1970, S.391f) Hätte GOULDNER mit dieser Auffassung recht, dann würde GARFINKEL natürlich zu Unrecht PARSONS Kollektivitätsbegriff für seine Überlegungen in Anspruch nehmen; in GARFINKELs Ordnungskonzep - tion - sofern man dann überhaupt noch sagen könnte, GARFINKEL verfolge eine Ordnungskonzeption - würden soziohistorisch variable Elemente wie Werte, Normen, Rollenerwartungen und der Bestand an inhaltlichem Alltagswissen keine Funktion besitzen. Unserer Meinung nach übersieht GOULDNER jedoch, dass GARFINKELs Ordnungsvorstellung doppelschichtig ist.

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  14. Nach GARFINKEL gibt es zwei unterschiedliche Bereiche von Regeln, die der Konstituierung gesellschaftlicher Ordnung dienen: a) die normativen Regeln, die soziohistorisch spezifisch sich auf eine je bestimmte Gruppe, Subkultur, Gesellschaft usw. beziehen. Diese Ebene ist die der sozialen Kollektivität, die nach PARSONS durch inhaltlich-normative reziproke Rollenerwartungen gekennzeichnet ist. Den normativ-reziproken Rollenerwartungen entspricht bei GARFINKEL ein soziohistorisch für die jeweilige soziale Kollektivität spezifischer gemeinsamer Wissensbestand. Gegenüber den normativen Rollenerwartungen und dem gemeinsamen Wissensbestand der Kollektivität wird in der Sozialisation ein intensives intentionales und moralisches Verpflichtungsgefühl aufgebaut. b) die konstitutiven Merkmale, die für jede alltagsweltlich existierende soziale Kollektivität identisch sind: die Basisregeln für die Konstitution aller alltagsweltlichen Aktivitäten. Diese universalen Regel-und Wissensbestände hinsichtlich des for-malpragmatischen “Wie” (d.h. unter welchen Voraussetzungen und aufgrund welcher Elementarleistungen Interaktionen funktionieren) sind weitgehend unbewusst und können, weil sie die allergrössten Selbstverständlichkeiten darstellen, auch kein intentional-moralisches Verpflichtungsgefühl hervorrufen. (Sie sind allerdings andererseits interaktionslogische Voraussetzungen dafür, dass Verpflichtungsgefühle gegenüber Normen überhaupt zustandekommen können.)

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  15. GOULDNER macht nun den Fehler, GARFINKELs theoretische Anstrengungen hinsichtlich Ordnung allein auf die Basisregeln zu beziehen; es stimmt natürlich, dass diese durch die GARFINKELschen ‘Experimente’ in den Blickfang geraten sind. GOULDNER übersieht dabei jedoch, dass das Konzept der Basisregeln nur dann grundlagentheoretisch Sinn hat, wenn man die Basisregeln als konstitutive Voraussetzungen der Produktion, Anwendung und Veränderung von normativen Regeln und des alltagsweltlichen Wissensbestandes ansieht. Basisregeln haben im übrigen im Gegensatz zu GOULDNERs Meinung keinen konventionellen Charakter; dass sie keine intensive moralische Obligation ausstrahlen, liegt daran, dass sie selbstverständlich sind im Sinne von inter-aktionslogischer Notwendigkeit. Zum Konzept der Baisregeln vgl. den Aufsatz CICOURELs in diesem Band, Teil III-VI, sowie die Anmerkungen loa und 12d zum vorliegenden GARFINKEL-Artikel.

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  16. Anmerkung der Herausgeber GARFINKELs Begriff “common-sense knowledge” wird von uns als “Alltagswissen” im SCHUTZschen Sinne übersetzt: es handelt sich um dasjenige praktische “Betriebswissen”, das für die Bewältigung der tagtäglichen Angelegenheiten in der Alltagswelt (world of everyday bzw. daily life) unbedingt erforderlich ist. (SCHUTZ spricht nicht von “everyday knowledge”; der wissensmässige Aggregatzustand der world of everyday life ist “commonsense knowledge of everyday life” - vgl. etwa SCHÜTZ 1962, S.55–61 - bzw. “common-sense experience”, “common-sense thinking” oder die Gesamtmenge der “common-sense constructs”.) Als Betriebswissen der Alltagswelt steht das Alltagswissen keineswegs zu wissenschaftlichem Wissen im Gegensatz, sondern ist Grundlage und Bestandteil jedes wissenschaftlichen Wissens. Zwar wird in heutigen Diskussionen der Begriff “Alltagswelt” gewöhnlich als Gegenbegriff zu “Wissenschaft” verwendet; diese dichotomisierende Verwendung führt jedoch hinter die Erkenntnis von HUSSERL und SCHUTZ zurück. Für SCHUTZ ist jedes interaktive wissenschaftliche Arbeiten (Experimentieren, Diskutieren, Austauschen von Ergebnissen und auch das scheinbar einsame Schreiben!) nur in der Dimension der Alltagswelt möglich (SCHÜTZ 1962, S.256); die Welt wissenschaftlicher Vorstellungen wird als “finite Sinnprovinz” in “symbolischen Appräsentationen” lediglich idealisiert. Kern einer solchen symbolischen Appräsentation ist die vorgestellte Einsamkeit des Forschers gegenüber seinen verwissenschaftlichen (d.h. wissenschaftlich typisierten) Objekten (SCHUTZ 1962, S.253). Produziert werden können jedoch eine derartige künstliche Einstellung und die von ihr appräsentierten (intensional-idealisierend darge stellten) Ergebnisse des wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses gerade aufgrund der Unnatürlichkeit dieser Einsamkeit allein in alltagsweltlichem Handeln, Interagieren, Denken und Feststellen. (D.h. es gibt kein konkretes Forschungshandeln, Interagieren und Diskutieren im Wissenschaftsbereich mit einem spezifisch wissenschaftlichen Denkstil bzw. einer spezifischen wissenschaftlichen Sprachspielgrammatik; lediglich die idealisierte - nicht reale - wissenschaftliche Einstellung hat einen spezifischen kognitiven Stil. - Vgl. SCHUTZ 1962, S.245–253; und GARFINKEL 1967, S.262–283, insbes. S.279).

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  17. Nicht nur das Alltagswissen im engeren Sinne, sondern auch das wissenschaftliche Wissen wird in routinisierten alltagsweltlichen Aktivitäten produziert. Die routinisierten alltagsweltlichen Aktivitäten haben immer schon geführt und führen immer wieder zu Sinnablagerungen, die als nicht-exakter und selbstverständlicher, d.h. situationsbewältigender, Wissensbestand sodann Grundlage weiterer routinisierter und - was das wissenschaftliche Wissen sowie das Wissen anderer finiter Sinnprovinzen wie des Träumens und der Kunst anbelangt - nicht routinisierter Aktivitäten sind. Die Routinisierung der alltagsweltlichen Aktivitäten ist möglich auf der Grundlage der “natürlichen Einstellung” der Handelnden, die nach SCHÜTZ folgenden kognitiven Stil besitzen: 1. der Handelnde ist vollwach, d.h. kann beliebige Aspekte des Handlungsfeldes erfassen; 2. der Handelnde hat den Zweifel an der Richtigkeit seiner Auffassungen und Feststellungen bzw. an der von diesen erfassten Realität hintangestellt; 3. der Handelnde arbeitet, d.h. verändert die Welt aufgrund der Absicht, konkrete Ergebnisse zu erzielen, und hierbei muss er körperliche Bewegungen ausüben, die mit der Aussen-und speziell der Naturwelt verzahnt sind; 4. der Handelnde erfasst sein Selbst als konkret und total existierendes Selbst, das in Arbeit befindlich ist; 5. der Handelnde kommuniziert und interagiert mit anderen prinzipiell gleich-wirklichen Handelnden (auf der Grundlage gemeinsamer kommunikativer Schemata); 6. der Handelnde arbeitet in einer von allen Gesellschaftsmitgliedern geteilten Standardzeit, die jedoch im Gegensatz zur physischen Zeit (die als beliebig wiederholbare Strecke vorgestellt wird) unwiderruflich abläuft (vgl. SCHÜTZ 1962, S.23of).

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  18. Es ist klar, dass diese formal-allgemeinen Bestimmungen alltagsweltlicher Handlungen auch für das wissenschaftliche Arbeiten gelten. Ihre Übertragbarkeit trifft insbesondere auch auf die Hintanstellung des methodischen Zweifels für alle selbstverständlichen Ergebnisse und Wahrheiten einer Wissenschaft zu. Nur bestimmte Wissensbereiche einer Wissenschaft - insbesondere die jeweils zu überprüfenden Einzeltheorien - können in Zweifel gezogen werden, während jedoch für alle anderen Bereiche,obwohl in letzter Instanz gar nicht abgesichert, vorläufig sicheres Wissen unterstellt werden muss. (POPPER 1963, 5.238 und 24o spricht diesbezüglich von “Hintergrundswissen”. Dieses sei als Entlastung von unnötigen Zweifeln in jeder “Wissenssituation” als selbstverständliche Entscheidungshilfe zur Auswahl neuer Forschungsstrategien unbedingt erforderlich. Als nur vorläufige Selbstverständlichkeit könne jeder Aspekt des Hintergrundwissens jedoch seinerseits zum Gegenstand wissenschaftlichen Zweifels und wissenschaftlicher Kritik gemacht werden.) Das nur provisorisch abgesicherte Wissen innerhalb des Wissenschaftsprozesses kann in drei Bereiche eingeteilt werden: a) in den Bereich der Methoden, die zwar zufriedenstellend in bestimmten Objektfeldern arbeiten, deren grundlagentheoretische Annahmen jedoch keineswegs voll erfasst sind, geschweige denn im Wege der Konstruktvalidierung überprüft worden wären (diese Situation trifft insbesondere in den Sozialwissenschaften zu); b) in den Bereich der lange in Geltung befindlichen hochangesehenen “vorläufig bestätigten” Theorien, die sich dann doch als ungenügend erweisen und verworfen werden müssen; und c) in den Bereich des als vorläufige rechte Grundlage der Hypothesenbewährung eingeführten Erfahrungsfundamentes, das gerade deshalb nicht bezweifelt wird - und in dieser Situation auch gar nicht bezweifelt werden kann -, um theoretische Hypothesen bezweifeln zu können.

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  19. Um uns auf die letztere sehr prominente Problematik zu beschränken: Basissätze als Fundament empirischer Erfahrung können lediglich durch Übereinkunft als vorläufig nicht zu hinterfragenden Wahrheiten gelten; sie müssen festgesetzt werden (POPPER 1966, S.74ff). Denn auch jede Erfahrung ist nur Erfahrung im Lichte von Theorien, setzt also einen bestimmten interpretativen Bezugsrahmen voraus, der sich ändern kann (POPPER1966, S.72 Anm.2, und KAUFMANN 1958, Kap.XII: Social Facts and Their Interpretation). Das Fundament empirischer Erfahrung kann nicht ohne die Tätigkeit aufordnenden menschlichen Wissens und der dieses Wissen speichernden menschlichen Sprache konzipiert, geschweige denn erfasst werden. (SCHUTZ würde sagen, es lässt sich nur symbolisch appräsentieren. - Vgl. Anm. la) In letzter Zeit wird deshalb in der Wissenschaftstheorie das empirische Beobachtungsfundament hin und wieder als Menge von “Beobachtungstheorien” bezeichnet (so in Anführungsstrichen LAKATOS 1970, S.107).

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  20. Die formal-allgemeine Struktur des Alltagswissens kann auf der einen Seite durch den gerade an Hand SCHÜTZscher Ausführungen skizzierten “kognitiven Stil” gekennzeichnet werden; andererseits ist aber auch seine Charakterisierung durch Aufzählung der grundlegenden idealisierenden Handlungs-und Interaktionsregeln alltagsweltlichen Lebens - die “Basisregeln” - möglich. (Die wechselseitige Forderung und Unterstellung von Sinneinverständnis - vgl. Abschnitt IV, 3 unseres GARFINKEL-Artikels - ist z. B. eine solche Idealisierung). Auch HUSSERL hat derartige Idealisierungen beschrieben (HUSSERL 1913, 1968a), zuletzt als vom handelnden und kosmisierenden Bewusstsein geleistete allgemeine Strukturierungen der Lebenswelt (HUSSERL 1962). (HUSSERL beschränkt sich unter Ausserachtlassung von interaktiven Problemlösungshandlungen - insbesondere zur Aufrechterhaltung der Subsistenzbasis - weitgehend auf diejenigen “Handlungen” bzw. Geistestätigkeiten, die das Subjekt erfahrungs-und erkenntnismässig mit seiner Welt in Beziehung setzen, d.h. die seine Welt kognitiv erzeugen. Es trifft vielleicht,diese kognitive Tätigkeit in Anlehnung an Mircea ELIADE 1957, S.18–20, 32, “Kosmisation” zu nennen; HUSSERL selbst verwendet diesen Ausdruck jedoch nicht.) Man könnte mithin in Anspielung auf HUSSERLs Spätwerk vielleicht auch vom “lebensweltlichen Wissen” sprechen, zumal mit diesem Ausdruck vermutlich nicht so leicht wie mit dem Ausdruck “Alltagswissen” der unhaltbare Gegensatz zu wissenschaftlichem Wissen suggeriert wird. Dieser Ausdruck bringt jedoch nicht so gut die Routinisiertheit und Selbstverständlichkeit der unmittelbar praxisleitenden Wissensbestände zum Ausdruck. Zudem könnte er die Konnotation eines von Interaktionspartnern isoliert Dahinlebenden und Handelnden unterstellen, über dessen Hypostasierung HUSSERL nie ganz hinausgelangt ist. (Zum Begriff der Lebenswelt vgl. HUSSERL 1962, S.111, 124f, 130–138, 142, 164–167, 175–179, 213, 229–231.)

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  21. Schliesslich muss noch darauf hingewiesen werden, dass von HUSSERL, SCHÜTZ und GARFINKEL weithin nur die formale pragmatische Struktur des Alltagswissens erörtert wird. HUSSERL, SCHUTZ und GARFINKEL interessieren sich lediglich für die Funktionsweise des Alltagswissens und seine Folgen in den kognitiven Kosmisationshandlungen des Subjektes (HUSSERL) bzw. in den Arbeitshandlungen und Interaktionen der Gesellschaftsmitglieder (SCHÜTZ, GARFINKEL) sowie für die entsprechenden von besonderen soziohistorischen Situationen abs t r a hie r t e n inhaltlichen Idealisierungen. Sie erforschen nicht die konkrete historische Füllung des Alltagswissens in einer bestimmten Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit (bei SCHUTZ der “socially derived” “stock of knowledge at hand” - vgl. SCHUTZ 1964, S.12o-134 und 283–288). Alle drei Theoretiker sind mithin an “pragmatischen Universalien”, wie man neuerdings diesen Problemkreis nennt (vgl. HABERMAS 1971a, S.1o9f), interessiert: d.h. an der formalen Struktur von Interaktion (bzw. bei HUSSERL: von Kosmisationshandeln).

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  22. Anmerkung der Herausgeber: Für GARFINKEL sind Beschreibungen Sequenzen von Sätzen,die “propositions” sprachlich zum Ausdruck bringen bzw. realisieren. Beschreibungen (“descriptions”) sind mithin bei GARFINKEL nicht, wie üblicherweise in der analytischen Sprachphilosophie, einzelne auf den Sachverhalt abzielende Sätze, sondern wie im umgangssprachlichen Verständnis zusammenhängende Texte, mit denen man Dinge und Ereignisabläufe ohne jede Ausschmükkung, d.h. nur als Sachverhalte (das aber auch im Sinne von unterstellen bzw. erforderlichen Sachverhalten) wiederzugeben und darzustellen versucht. (Für eine Erörterung des Begriffs “beschreiben” vom Standpunkt der Philosophie der normalen Sprache - die gewisse Ähnlichkeiten mit dem phänomenologischen Ansatz der Ethnomethodologie aufweist - vgl. TOULMIN und BAIER 1969.)

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  23. Was nun GARFINKELs Ausdruck der “propositions” anbelangt, so hätte es vielleicht nahegelegen, ihn in enger Anlehnung an die sprachphilosophische und logische Tradition mit “Aussage” zu übersetzen. In Logik und Sprachphilosophie haben Aussagen zwei Eigenschaften: a) sie stellen Sachverhalte dar, und b) sie können wahr oder falsch sein. (Vgl. etwa KAMLAH und LORENZEN 1967, S.30, 135f). In Anbetracht des Gesamtkontextes der GARFINKELschen Arbeiten glauben wir, dass eine solche Übersetzung gleichzeitig zu weit und zu eng wäre. Zu eng: denn alltagsweltliche “propositions” ‘htellen “nicht nur Sachverhalte ”dar“, sondern ”stellen“ bzw. ”setzen“ sie darüberhinausgehend häufig erst ”fest“: in wechselseitigen Erwartungen, ”Es sei“ - Zuschreibungen, Unterstellungen und Forderungen. Alltagsweltliche ”propositions“ können Idealisierungen und kontrafaktische Erwartungen beinhalten, welche den in ihnen ausgedrückten Aspekt der gesellschaftlichen Wirklichkeit nicht als bereits vorhandenen Zustand darstellen,sondern gerade erst in und durch ihren Vollzug ”performatorisch“ herstellen. (Vgl. HABERMAS 1971a, S.136, 140)

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  24. Auf der anderen Seite wäre der Begriff der Aussage aber zugleich zu weit. Wenn es auch manchmal als entscheidendes Merkmal der Aussage angesehen wird, dass sie Wahrheitswert beansprucht (HABERMAS 1971a, S.1o7; dagegen KAMLAH und LORENZEN 1)67; 5.135), so ist in ihr doch nicht die subjektive und kollektivmoralische Notwendigkeit mitgedacht, dass sie unbedingt wahr sein solle. Für jeden Logiker ist es selbstverständlich, dass eine Aussage wahr oder falsch sein kann, und deshalb rechnet er überhaupt mit Wahrheitstafeln. Das in alltagsweltliche Interaktionen verflochtene Gesellschaftsmitglied ist dagegen bis zum Beweis des Gegenteils (in einer alltäglichen oder auch ausser-alltäglichen Krise) davon überzeugt, dass seine in “propositions” ausgesagten Überzeugungen mit Notwendigkeit wahr sind. (Vgl. SCHUTZ 1962, S.208f, 229f) Zudem hält das Gesellschaftsmitglied diese “propositions” nicht nur im deskriptiven Sinne für wahr, sondern darüber hinaus für eine rechte, d.h. moralisch richtige, Grundlage des Denkens und des Handelns. (Und das würde wieder über die konventionelle Bedeutung des Begriffes “Aussage” hinausgehen!) Unsere Übersetzung des Begriffes “proposition” mit “Feststellung” soll zum Ausdruck bringen, dass alltagsweltliche “propositions” nicht allein a) für unbedingt wahr gehalten werden, sondern darüber hinaus auch b) als die moralisch richtige Grund- lage des Handelns und Denkens angesehen werden und dass sie c) nicht einfach nur Sachverhalte darstellen- Sachverhalte, die in der jeweiligen Handlungs-und Interaktionssituation immer schon vorhanden sind -, sondern d) Sachverhalte häufig durch Unterstellung erst herstellen.

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  25. Der Inhalt des folgenden Unterabschnittes stützt sich fast voll- ständig auf die im Text genannten Arbeiten von SCHUTZ.

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  26. Anmerkung der Herausgeber: Die Abbildung eines Sachverhaltes in alltagsweltlichen Erfahrungen und Beschreibungen, die deutend die “Gesamtgestalt” bzw. “Gesamtgestaltung” eines Sachverhaltes festzustellen und weiterzuentwickeln versuchen, obwohl sie lediglich interpretativ von punktuellen Gegenwartserfahrungen ausgehen können, welche zudem perspektivisch verzerrt sind, darf nicht mit dem von manchen Positivisten verfolgten unrealistischen Ideal der “buchstäblich abbildenden Beschreibung” verwechselt werden, das selbst für die Naturwissenschaften nicht zutrifft (vgl. etwa POPPERs Diskussion der Induktions-und der Basisproblematik - POPPER 1966, S.3–21; 6o-76, insbesondere S.72 Anm.* 2). Die buchstäblich abbildende Beschreibung fasst jede, insbesondere dann auch die soziale, Wirklichkeit als Gesamt der vorhandenen, schon abgeschlossenen, realisierten, “perfektisch erfassten” Tatsachen auf, auf die man wie auf Dinge hinsehen könne und müsse. Die alltagsweltliche interpretative “Abbildung” entwickelt dagegen von den erfassten Gegenständen und Sachverhalten ein hypothetisches Erwartungsbild, dessen Realisierung erst in zukünftigen Handlungsschritten liegt (vgl. HUSSERL 1968a, 5.134f, sowie SCHÜTZ 1962, S.282, und SCHUTZ 1964, S.283–288). Aber unterstellt nicht POPPER für das wissenschaftliche Wissen denselben Sachverhalt, wenn er feststellt, dass induktionistische, d.h. von singulären, be - reits zuständigen Einzeltatsachen ausgehende, Generalisierungen methodologisch nicht haltbar sind und Hypothesen als Allsätze lediglich falsifiziert werden können? (Denn sie bleiben stets zukunftsbezogene Erwartungen, die sich zwar vorläufig durch praktische Erfolge bewähren, durch singuläre strategische Gegenerfahrungen jedoch jederzeit falsifiziert werden können: die durch wissenschaftliche Hypothesen erfasste Welt besteht mithin auch in der POPPERschen Methodologie nicht aus einem Universum bereits in ihrer Realisierung abgeschlossener Tatsachen, sondern aus hypothetisch-allgemeinen Zukunftserwartungen, die sich aufgrund ihrer vorläufigen Bestätigung in einer “taken for granted”, “unproblematical” “common background knowledge” niederschlagen - vgl. POPPER 1963, S.238). Zur Problematik der buchstäblich abbildenden Beschreibung vgl. den Abschnitt IV des in diesem Bande abgedruckten Aufsatzes von WILSON.

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  27. Anmerkung der Herausgeber: Zur Dialektik zwischen dem Strom der Erfahrungen und den immanent strömenden Gehalten des Erfahrungsfeldes, die HUSSERL “Hyle” (im Sinne von “Bewusstseinsstoff”) nennt, auf der einen Seite und den in den Erfahrungsgehalten intendierten, dem Erfahrungsstrom jedoch transzendenten “objektiven” Gegenständen und den entsprechenden “objektiven Beschreibungen” auf der anderen Seite vgl. HUSSERL 1968a, S.126f, 16o, 166, 169, 173–186, 2o2, 2o4f und SCHÜTZ 196o, S.43–93. Zur These, dass für die Konstitution alltagsweltlicher bzw. lebensweltlicher Objekte als im Bewusstseinsstrom durchgehaltener transzendenter Intentionen die Umgangssprache eine entscheidende Rolle spielt, vgl. HUSSERL 1962, S.213, und SCHUTZ 1962, S.285f und 349.

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  28. Anmerkung der Herausgeber: Dass für den Sinn der von ego und alter verwendeten Feststellung praktische Identität erreicht wird, ist auf die wechselseitige Forderung und Unterstellung von Sinneinverständnis zurückzuführen (vgl. Abschn. IV, 3 des hier vorliegenden GARFINKEL-Aufsatzes). SCHÜTZ hat auf diese praktisch-“moralische” Projektionsleistung der Interaktionspartner als auf zwei miteinander verbundene, jedoch analytisch trennbare Idealisierungen hingewiesen: a) als auf die Idealisierung von der Austauschbarkeit der Standpunkte und b) als auf die Idealisierung vors der Kongruenz der Relevanzsysteme (SCHUTZ 1962, S.11f und 315f). SCHUTZ definiert die beiden Idealisierungen folgendermassen: a) “Ich setze als selbstverständlich voraus und nehme an, dass mein Interaktionspartner dasselbe tut: wenn ich meinen Standort mit ihm tausche, so dass sein ”Hier“ mein ”Hier“ wird, dann werde ich in derselben Entfernung den Dingen gegenüberstehen und sie in derselben Typikalität sehen, wie er das gegenwärtig tut. Ausserdem würdet genau die Dinge in meiner Reichweite sein, die gegenwärtig in seiner sind. (Dasselbe trifft - so nehme ich an - für den Interaktionspartner zu.)” b) “Bis zum Gegenbeweis setze ich als selbstverständlich voraus und nehme an, dass mein Interaktionspartner dasselbe tut: die Unterschiede in unseren Perspektiven, die auf unsere je einzigartigen biographischen Situationen zurückgehen, sind bedeutungslos für die Absichten, die wir beide gerade verfolgen. Er und ich, ”wir“, unterstellen - so nehme ich als Selbstverständlichkeit an -, dass wir beide die im Augenblick oder potentiell gemeinsamen Gegenstände und ihre Merkmale in einer identischen Weise ausgewählt und interpretiert haben - oder zumindest in einer empirisch identischen Weise, die ausreichend für alle praktischen Absichten ist.” (SCHUTZ 1962, S.12)

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  29. Vgl:. SCHÜTZ 1962, S.208f, 226–231.

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  30. Ergänzung der Herausgeber: Für den kognitiven Stil der natürlichen Einstellung (“attitude of daily life”, “natural attitude”) in der Beschreibung von SCHÜTZ vgl. Anm.2a. Der Begriff der natürlichen Einstellung stammt von HUSSERL (vgl. HUSSERL 1913, S.48–54; 1962, S.176; 1968a, S.55–64, 122, 188–19o). Auch HUSSERL beschreibt schon einzelne Idealisierungen der natürlichen Einstellung (z.B. die Idealisierung des “und so weiter” bzw. “ich kann immer wieder”), stellt aber nicht zureichend den pragmatisch-hand lungsbezogenen und sozialen Charakter der Idealisierungen heraus.

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  31. Anmerkung der Herausgeber: Zum Begriff und zur Problematik des “Fremden” vgl. die Aufsätze von SCHUTZ “The Stranger: An Essay in Social Psychology” und “The Homecomer” (SCHUTZ 1964, S.91–119).

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  32. Anmerkung der Herausgeber: Es war aus dem Text nicht deutlich, wann der Begriff “social structures” mit “soziale Strukturen” und wann mit “Gesellschaftsstrukturen” übersetzt werden musste - wenn man davon ausgeht, dass der Begriff “soziale Strukturen” einen weiteren Bedeutungsumfang hat als der Begriff “gesellschaftliche Strukturen”. “Gesellschaftliche Strukturen ” bzw. “Gesellschaftsstrukturen” wurde dann (aber nicht immer!) übersetzt, wenn GARFINKEL eindeutig von den alltags-bzw. lebensweltlichen Interaktions-und Regelstrukturen spricht - ob diese nun von einer Gesamtgesellschaft, einer Subkultur, einer Gruppe welcher Art auch immer oder von einem System individueller Interaktionspartner aufrechterhalten werden. (Daß eine entspre chende Differenzierung nicht möglich ist, versuchten wir bereits in der Anm.2a am wahrscheinlich zu allgemeinen Begriff der Kollektivität zu illustrieren, den GARFINKEL zur Bezeichnung der “Grundgesamtheit”, auf die sich seine Ausführungen beziehen, von PARSONS übernommen hat.) “Gesellschaftsstrukturen” wurde insbesondere dann übersetzt, wenn es sich mit grosser Wahrscheinlichkeit um gesamtgesellschaftliche Regelstrukturen handelte. Stattdessen wurde immer dann “soziale Strukturen” übersetzt, wenn auch die Regelsysteme von “finiten Sinnprovinzen” (SCHÜTZ) bzw. von “Modifikationen” (GARFINKEL) mitgemeint sein konnten, d.h, die Regelstrukturen für eigene und fremde Handlungen im Traum, im wissenschaftlichen Theoretisieren, im Spiel (bzw. in diversen Spielen), im Helluzinationsrausch usw.

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  33. Anmerkung der HerausgeberGARFINKEL unternimmt hier den interessanten Versuch, die Theorie der logischen Modalitäten mit der SCHÜTZschen Theorie der finiten Sinnprovinzen zu verbinden. So kommt den Feststellungen der Alltagswelt assertorischer Wahrheitswert bzw. sogar Notwendigkeit zu. Im übrigen wies schon HUSSERL darauf hin, dass der lebensweltlich Kosmisierende bzw. alltagsweltlich Handelnde (wie wir in einer sinnvollen Erweiterung formulieren können, um pragmatisch interpretierbare Ergebnisse der HUSSERLschen Philosophie in die soziologische Grundlagentheorie einzubringen) vor seine jeweiligen Erfahrungsgehalte und Ausserungen in natürlicher Einstellung den “Existenzquantor” bzw. “Kennzeichnungsoperaton” - wie wir heute sagen könnten - setze (vgl. HUSSERL 1913, S.53f und HUSSERL 1968a, S.184). Ausserdem gewönnen - so HUSSERL - die allgemeinen aus dem Erfahrungsstrom herausgelösten Typen einen apodiktisch wahren Zukunftshorizont, der nur durch krisenhafte Enttäuschungen gebrochen werden könne. (HUSSERL 1968a, S.211f). Aber es blieb SCHÜTZ vorbehalten, deutlich zu machen, dass der assertorische bzw. obligatorische Wahrheitswert alltagsweltlicher Erfahrungsgehalte und Feststellungen erst der sozialen Dimension des Interaktionsvollzuges und seiner wissensmässigen Ablagerungendem “socially derived” und “preorganized” “stock of know-lodge at hand” - entstammt. (Vgl. SCHÜTZ 1962, S.lo-15, 208f, 227f, 23o, 254–258, 348; SCHUTZ 1964, S.283–88) Die logische Struktur und Wertigkeit alltagsweltlicher Feststellungen hat also eine interaktive Grundlage, und so ist es vielleicht sinnvoll; von “kommunikationslogischen Wertigkeiten” (im Rahmen einer ‘lInteraktionslogiktl) zu sprechen. (Diese Wortprägung wird vielleicht durch den Ansatz gestützt, Logik ausgehend von der Dialogsituation zu entwickeln. Vgl. KAMLAH/LORENZEN 1967, LORENZEN 1969)

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  34. Die finiten Sinnprovinzen im SCHÜTZschen Sinne können lediglich dann in Bewusstseinsakten symbolisch appräsentiert werden, wenn die natürliche Einstellung und hier insbesondere die Überzeugung von der “ernsten”, existentiell-arbeitsmäßigen Wirklichkeit der festgestellten Erfahrungsgehalte eingeklammert wird. Nur so kämen Phantasie, Traum und ähnliche Sinnwelten zustande. (SCHUTZ 1962, S.23o-259, 34of). Die Einklammerung der natürlichen Einstellung, die Aufgabe des °Existenzquantors°, die Einstellung auf eine andere kommunikationslogische Wertigkeit hin wie Möglichkeit, Unwahrscheinlichkeit usw. sowie die symbolische Appräsentation einer finiten Sinnprovinz sind mithin identisch. Finite Sinnprovinzen sind Vorstellungsgehalte auf andere, nicht durch Tatsachen strukturierte Sinnwelten hin, welche als der Alltagswelt immanente und doch diese gleichzeitig transzendierende Bewusstseinsinhalte die Alltagswelt bei rachten und mitsteuern können, nicht jedoch das alltagsweltliche Basisbewusstsein ersetzen. Bestimmte finite Sinnprovinzen wie Spiel, Wissenschaft, politische Regelsysteme (SCHUTZ 1962, S.352–354) sind vielleicht die wirkungsvollsten Steuerungssysteme der alltagsweltlichen Realität - dadurch dass sie verhaltensrelevante Idealisierungen darstellen, die man in der Alltagswelt zu verfolgen sucht und von deren Orientierungswirksamkeit man faktisch ausgeht.

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  35. Genau deshalb ist aber auch die Tendenz von GARFINKEL vielversprechend, die Modifikationen der Alltagswelt nicht soweit aus einem Bezug zur Alltagswelt herauszudefinieren, wie das SCHUTZ unternimmt. Gerade als kommunikationslogische Wertigkeiten haben sie einen normalen Platz in allen Interaktionsstrategien. Freilich mag man andererseits auch - etwa mit GOULDNER (197o, S.393f) - als Mangel des GARFINKELschen Ansatzes betrachten, dass GARFINKEL in seinem Konzept der Modifikationen zu stark den negativen Aspekt der Zerstörung der natürlichen Einstellung und der ihr entsprechenden Alltagswelt betone, während SCHUTZ die finiten Sinnprovinzen positiv als in sich selbst intakte Regelsysteme versteht. (Zu GARFINKELs Konzept der Modifikationen, das insbesondere die übe r 1 e i t e n de Modifikation des zeremoniellen Übergangs in ausseralltägliche Sinnsphären, wie er im Theaterbesuch oder im Spielen stattfindet, die verzerr en d e Modifikation der instrumentellen Objektwelt durch Beeinträchtigungen der normalen Geistestätigkeit, die theoretisch-kultura n a l y t i s c he Modifikation und die Modifikation des “chronischen Irrtums”, dem der Fr e m de ausgesetzt ist, berücksichtigt, vgl. GARFINKEL 1963, S.217–220, 235–238. Zu SCHÜTZ1 positiver Beschreibung finiter Sinnprovinzen vgl. insbesondere die Aufsätze “Don Quixote and the Problem of Reality” und “Making Music Together: A Study in Social Relationship” - SCHUTZ 1964, S.135–178). Aber entgegen jener das Negative der GARFINKELschen Modifikationen hervorkehrenden Interpretation ist es vielleicht noch gerechter zu sagen, dass GARFINKEL stärker als SCHÜTZ speziell am Vorgang der Abwandlung der natürlichen Einstellung interessiert ist, während SCHUTZ das Ergebnis dieser Abwandlung in den Vordergrund seiner Betrachtungen stellt.

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  36. Anmerkung der Herausgeber: Nur wenn man den Begriff der Theorie an dieser Textstelle (und an anderen Textstellen bei GARFINKEL) genauso weit versteht wie den Begriff der Alltagswelt (vgl. Anm.2a) - d. h. als die typisierende, hypothesenbildende und -verwendende sowie erklärende Geistestätigkeit schlechthin im Rahmen jedes alltagsweltlich-lebensweltlichen Prozesses der Bewältigung von Problemen -, bekommt der GARFINKELsche Text an dieser Stelle einen vernünftigen Sinn. In derselben Allgemeinheit spricht SCHUTZ von “thought objects”, “constructs”, “types” und “typifications” (vgl. SCHUTZ 1962, S.3–66, ins-bes. S.59 und 1964, S.71–77). Und in einem ähnlichen ganz allgemeinen Sinne verwenden BERGER und LUCKMANN den Begriff “Theorie” (vgl. BERGER und LUCKMANN 1966, S.87–90). Allerdings betonen BERGER und LUCKMANN zu stark den rückschauend-erklärenden Charakter von Theorie im Sinne von Legitimationen (d.h. als nachträgliche Erklärung mit Rechtfertigungscharakter), denn dabei droht der hypothetisch-zukunftsbezogene Charakter von Theorien aus dem Blick zu geraten. Zum allgemeinen Konzept theoretischer Aktivitäten bei GARFINKEL vgl. insbesondere seinen Aufsatz: The Rational Properties of Scientific and Common Sense Activities (GARFINKEL 1967, S.262–283, insbes. S.272 und 280).

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  37. Ich möchte mich an dieser Stelle bei Dr.Robert BOGUSLP.W und Dr.Myron A. ROBINSON von der System Development Corporation in Santa Monica, Kalifornien, für die vielen Stunden der Diskussion bedanken, die wir über kalkulierbare und nicht kalkulierbare Situationen der Wahl hatten. Das konkrete Problem, das wir uns dabei vorgenommen hatten, war die Frage, wie konsistent (d.h. im Rahmen systematischer Verfahren bzw. verhältnismässig systematischer Fallstrategien - Erg.d.Hg.) erfolgreiches Spiel im gewöhnlichen Schachspiel und im gegenseitigen Blindspiel möglich ist. (Im Blindspiel wird ohne Ansicht des Spielmaterials nur unter Zurhilfenahme der eigenen Erinnerung an die Spielzüge gespielt. - Erg. d.Hg.)

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  38. Anmerkung der Herausgeber: Die Unterscheidung dieser beiden Zukunftsarten ist eine originäre Leistung GARFINKELS. Zwar kannte auch SCHUTZ die “ad-hoc-strategischen” Realisierungsschritte des offenen Zukunftsaspektes, wenn er betonte, dass die Interaktionspartner in der Alltagswelt die Lösung von Problemen lediglich im Rahmen ihrer praktischen Interessen planen und dabei eine praktisch-situationsflexible Form der Rationalität zur Anwendung bringen: die Rationalität der Entscheidung selbst (insbesondere von in Normalsituationen stattfindenden, d.h. alltagsweltlichen, Entscheidungen, die trotz Informationsmangels in Ansehung der chronisch unzureichenden Informationsbestände, die in der konkreten Situation faktisch vorhanden sind, erfolgen) und nicht die totale Rationalität vollständigen Wissens vor der Entscheidung (vgl. SCHUTZ 1964, S.7379, insbes. S.79). Aber indem SCHUTZ besonderes Gewicht auf die logisch-zeitliche Struktur von Handlungsplanungen legt, dass nämlich der Handelnde lediglich die vollendete Handlung “modo futuri exacti” im Blick haben kann, nicht jedoch den aktuellen Realisierungsprozess der Handlung selbst (SCHUTZ 1962, S.87 und 1964, S.289f) - vernachlässigt er den konkreten Realisierungsprozess von Handlungen in der jeweiligen unmittelbaren Gegenwart von situationellen Entscheidungszwängen. Zwar betont auch SCHUTZ mit HUSSERL (vgl. etwa HUSSERL 1968a, S.63, 66, 77, 181, 186, 202) die “Offenheit” und den “Leerhorizont” aller zukünftigen Erwartungen (SCHUTZ 1964, S.286f und 290), bezieht sich dabei jedoch auf die Allgemeinheit und Leerheit der Typen, nicht jedoch auf die Offenheit und Unentschiedenheit der Handlungsschritte zur Realisierung von Zukunft. (Lediglich seine Feststellung, dass sich mit jedem Realisierungsschritt die Relevanzstruktur, d.h. das System der Interessen, des Handelnden mehr oder weniger ändert - SCHÜTZ 1964, S.286f -weist in diese Richtung). Vielleicht könnte zur weiteren Abklärung des Phänomens der “offenen Zukunft” MEADs Begriff der “Anscheingegenwart” (“specious present”) beitragen, wie das auch schon SCHÜTZ (1964, 5.291) bemerkt. Die beständige Kosmisationsleistung einer Anscheingegenwart mit ihren Vergangenheitsretentionen und Zukunftsprotentionen durch den Handelnden vom jeweiligen Hier und Jetzt des unmittelbar-augenblicklichen Handlungsvollzuges aus ermöglicht die Konstitution und Durchhaltung konstanter und für das Handeln bedeutsamer Objekte, indem sie vergangene und künftige Handlungserfahrungen am Objekt zu einem signifikant-symbolischen Bild des Handlungsobjektes zusammenzieht. Durch die signifikant-symbolischen Erf ahrungen in der Anscheingegenwart kommen diejenigen Eigenschaften und Erfüllungsmöglichkeiten eines Handlungsobjektes zum Ausdruck, welche die vom Individuum begonnenen Handlungen zuendeführen könnten und müssten. (MEAD 1938, S.223). In der Anscheingegenwart “schnappen” die zukünftigen und die entfernten Aspekte von Objekten als Systeme von Handlungsmöglichkeiten mit den vergangenen und unmittelbar gegenwärtigen Handlungsstadien “zusammen”; MEAD spricht hier vom “collapsed act”. Besonders extrem scheint sich dieses Zusammenschnappen bzw. Zusammenziehen des Stromes der verschiedenen Handlungsstadien bei der Vorstellung und Konstituierung naturwissenschaftlicher Objekte (strikt im naturwissenschaftlichen, nicht alltagsweltlichen Bezugsrahmen) auszuwirken. Denn nur im naturwissenschaftlichen Bezugsrahmen ist dann das “zusammengeschnappte” Objekt auf den strikten Bereich der Manipulationsphase beschränkt, die allerdings für alle Distanz-und Zukunftserfahrungen der vergegenständlichende, “objektive” Bezugspunkt aus der Perspektive des “neutralen Dritten” ist - so auch für das lebensweltliche Wissen von der “world about us” (MEAD 1932, S.141ff und MEAD 1938, S.174f und 211).

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  39. Auch MEAD weist darauf hin, dass die Vervollständigung des Erfahrungsgegenstandes zu einem durch alle Handlungsstadien erfassten “objektiven” Gegenstand lediglich in einer “elementaren Reflexion” auf der Grundlage von signifikanten Symbolen (d.h. vermittels Sprache und der durch sie zum Allgemeingut gemachten, d.h. von anderen Interaktionspartnern geteilten, Typisierungen) möglich ist, mit deren Hilfe die Interaktionspartner sich selbst und anderen die zukünftigen Handlungsstadien in einer moralisch unterstellten und praktisch ausreichend identischen Weise aufzeigen können. (Vgl. MEAD 1938, S.221f) Aber im Gegensatz zu SCHUTZ’ Meinung werden diese zukünftigen Handlungsstadien nicht modo futuri exacti bzw. allein vom Standpunkt der Konsummationsphase her erfasst. (Das gilt in MEADs Perspektive noch nicht einmal für die physikalisch-naturwissenschaftlichen DingEreignis-Beobachtungen, die nach MEAD, wenn man es radikal ausdrückt, aus nicht mehr und nicht weniger als gerade eben dem System der Manipulationsmöglichkeiten mit dem Ding-Ereignis bestehen, wie die konkrete, aus Kontakterfahrungen und entsprechenden Elementarvollzügen bestehende Grundlage des Messens zeigt. Nach MEAD planen mithin auch die Naturwissenschaften ihre “rationalen Handlungen” in schrittweisen, auf eine offene Zukunft bezogenen, in gerader und nicht reflektiv-zurückgebogener Sichtweise erfassten Prozessen.) In der Anscheingegenwart werden zukünftige und distanzierte Gegenstandserfahrungen durch die “Organisation der Schritte oder Mittel” erfasst, durch die man bestimmte derartige Erfahrungen erreicht.“ (MEAD 1938, S.221). ”Der entfernte Gegenstand hat eine Wirklichkeit, die auf eine Erfüllung durch die Handlung wartet. Diese Wirklichkeit liegt in der Zukunft, aber es handelt sich um eine Zukunft, die lediglich eine Ausdehnung der sogenannten “Anscheingegenwart” ist. Die Wirklichkeit des Gegenstandes gehört zu einer Welt im Übergang (passage). Die Zukunft wird sein; aber was sie sein wird, ist nur teilweise gewiss. Im Übergang ist der vor dem Handelnden liegende Teil des Objektes bzw. der dieses Objekt realisierenden Handlung stets bis zu einem bestimmten Ausmasse prekär. Was sich gerade abspielt, ist gewiss, und diese Gewissheit hängt in besonders hohem Ausmasse demjenigen Teil der Anscheingegenwart an, der die unmittelbare Vergangenheit ist. Im Verlaufe der Ausdehnung der Anscheingegenwart zurück in Gedächtnis und Geschichte nim mt jedoch die Gewissheit ab, und hinsichtlich dieses Bereiches wächst dann Unsicherheit darüber, was sich abgespielt h at: sicher ist jedoch, dass sich etwas abgespielt hat. Der Grad der Unsicherheit hängt vom Erfolg der (“historiographischen” im weitesten Sinne des Wortes - Erg.d.Hg.) Entdeckungsprozedur ab. Kommen wir in unserer Betrachtung zur Zukunft zurück, dann bezieht sich die Unsicherheit auch auf das, was sich ereignen wird, obwohl diese Unsicherheit in gewissem Ausmasse verringert werden kann. Die Verringerungsanstrengungen machen das Feld der Wahrscheinlichkeit aus. Es gehört zum Wesen der Zukunft, dass die Unsicherheit niemals vollständig beseitigt werden kann.“ (MEAD 1938, S.175). Für die Würdigung der hier zitierten Textstellen ist ausschlaggebend, dass für MEAD als Pragmatisten Objekte und Handlungen äquivalente theoretische Konzepte sind. Ähnlich erhellend wie der Begriff der ”Anscheingegenwart“ bzw. des ”specious present“ könnte zudem der Begriff der ”emergence“ bzw. des ”Entstehens“ sein, der mit dem Konzept des ”naiv-spontanen Ich“ bzw. ”I“ verbunden ist. (Der Begriff der ”emergence“ kommt in nahezu allen Arbeiten von MEAD vor; für eine kurze Zusammenfassung bestimmter Aspekte vgl. MEAD 1938, S.640–643).

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  40. Der Begriff der “offenen Zukunft” wird in Anlehnung an HUSSERL und an die Überlegung seiner Systemtheorie, daß die hohe Komplexität insbesondere moderner Sozialsysteme die hohe Kontingenz der Verweisung auf andere Möglichkeiten mit sich bringe (LUHMANN 1971b, S.61 und 91f), auch von LUHMANN verwandt. Interessant ist hier speziell der Bezug des Gedankens von der offenen Zukunft auf die “Weltgesellschaft”, vor deren Vorstellungshintergrund “die Komplexität kontingenter anderer Möglichkeiten des Erlebens und Handelns, vor allem die Komplexität einer ‘offenen’ Zukunft, in sozialen Interaktionen getragen werden” könne. Die Weltvorstellung wird zum “entleerten” “Führungsbegriff für alles Mögliche”: “In dem Masse, als universelle Interaktionsverflechtungen realisierbar und die Erlebnishorizonte aller Menschen erwartbar werden, fliessen als Bedingung der Erwartbarkeit des Erwartens alle Letzthorizonte zu einer Einheit zusammen.” (LUHMANN 1971a, S.32; vgl. auch S.8f und 2of) Nach LUHMANN steuert mithin in komplexen Sozialsystemen eher eine offene als eine geschlossene Zukunftsvorstellung, deren Inbegriff die Weltgesellschaft ist, die Interaktionsprozesse. (Ähnliche Überlegungen äusserte auch. schon MEAD. Vgl. MEAD 1964, S.355–370 und MEAD 1968, Teil IV.) LUHMANN sieht jedoch als Mittel zur Bewältigung dieser enormen Komplexität nicht die von GARFINKEL angedeuteten ad-hoc-Fallstrategien an, sondern den “lernfähigen”, “kognitiven Erwartungsstil” (1971a, S.10–13 und 19–21). Das Seleltionsproblem wird durch ihn in situationsflexiblen und übertragbaren Schematisierungen (im Rahmen generalisierter Kommunikationsmedien) quasiprogrammierbar (vgl. 1971b, S.61f und 1971c, S.360). GARFINKEL spricht dagegen lediglich von der Operationalisierung der offenen Zukunft in einzelne von Fallstrategien entschiedene und realisierte Schritte.

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  41. Der Begriff “dokumentarische Methode der Interpretation” wurde von Karl MANNHEIM geprägt. Vgl. Karl MANNHEIM: On the Interpretation of Weltanschauung. In: MANNHEIM 1959, S.33–83, insbes. S.53–63. Deutsche Urfassung: Beiträge zur Theorie der Weltanschauuungsinterpretation (1921/22). In: MANNHEIM 1964, S.91–154, insbes. S.116–129. Ergänzung der Herausgeber: GARFINKEL macht jedoch deutlich, dass die dokumentarische Methode keineswegs erst von MANNHEIM “erfunden” wurde. (Als interaktionslogische Notwendigkeit der Handlungskosmisation kann sie nämlich gar nicht erfunden werden, sondern ist immer schon im Handlungsvollzug mitgegeben). MANNHEIM habe die dokumentarische Methode lediglich “beschrieben” - und zwar als eine alltägliche Tätigkeit des Denkens und Handelns, die von den Interaktionspartnern immer schon routinemässig vollzogen werde. Und wir können hinzufügen, dass die geisteswissenschaftliche Traditicn der Methodenreflexion in der dokumentarischen Methode der Interpretation wahrscheinlich nichts anderes als ihr schon lange diskutiertes “hermeneutisches Verfahren der Verstehensmethode” wieder-entdecken würde. (Das gibt auch GARFINKEL indirekt zu - vgl. Anm.9). Weitläufigere Ausführungen zur dokumentarischen Methode macht GARFINKEL in ‘Common Sense Knowledge of Social Structures: The Documentary Method of Interpretation in Lay and Professional Fact Finding.“ (In: GARFINKEL 1967, S.76–1o3) Eine Einführung in den Problemkreis der dokumentarischen Methode der Interpretation bietet Teil III des.Aufsatzes von WILSON in diesem Band. Der Problematik, in den Sozialwissenschaften auf die dokumentarische Methode bzw. auf interpretative Verfahren angewiesen zu sein, hat sich in der jüngeren deutschen Soziologie insbesondere HABERMAS (1967, insbes. Teil III und IV; 1968a, insbes. Kap.11; und 1970) gewidmet. (HABERMAS verwendet jedoch niemals den Ausdruck ”dokumentarische Methode“.)

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  42. Anmerkung der Herausgeber: Zur Problematik der Verfahrensregel buchstäblicher Beobachtung (und Beschreibung) vgl. Anm.3a.

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  43. Vgl. KAUFMANN 1958, S.165–167. Ergänzung der Herausgeber: KAUFMANN betont hier ähnlich wie SCHÜTZ, dass ein “zugrundeliegendes physisches” oder ein bereits in einem anderen Bezugsrahmen kulturelles bzw. soziales Faktum lediglich dann objektive Bedeutung erhält, d.h. ein soziokulturelles Zeichen mit objektiver Bedeutung wird, falls es in ein “gegebenes Schema der Interpretation” eingeordnet und in diesem gedeutet wird: “einem Interpretationsschema, das von einer sozialen Gruppe fest angenommen worden ist; ein Beispiel wären die Regeln der englischen Sprache.” (KAUFMANN 1958, S.166) Ähnliches gelte analog für subjektive Interpretationsvollzüge und die entsprechenden subjektiven Interpretationsschemata. Zum etwas komplexeren Konzept des InterpretatIonsschemas bei SCHÜTZ vgl. SCHUTZ 1962, S.299, 327f. Es wäre sicherlich methodologisch aufschlussreich, die MANNHEIMschen und GARFINKELschen Ausführungen zur dokumentarischen Methode expliziter mit KAUFMANNs und SCHUTZ’ Ausführungen zum Interpretationsschema (und natürlich auch mit den Überlegungen zu den anderen von SCHÜTZ genannten Schemata der “Appräsentationssituation”) zu verbinden, als GARFINKEL das hier andeuten kann.

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  44. MANNHEIM 1959, S.57. Ergänzung der Herausgeber: Es musste aus der englischen Übersetzung, die KECSKEMETI vorn deutschen Original anfertigte, rückübersetzt werden, da die deutsche Originalphra ausdrucksschwächer ist. KECSKEMETI nahm die Chance wahr, die beiläufige Apposition des Originals unter Ansehung der unmittelbar vorhergehenden Ausführungen MANNHEIMs zu einer zusammenfassenden Kurzdefinition der dokumentarischen Methode auszuweiten. Die Originalphrase lautet folgendermassen: “Dieses Gerichtetsein auf Dokumentarisches, dieses Erfassen des Homologen an den verschiedenen Sinnzusammenhängen…”. (MANNHEIM 1964, S.121 - Hervorhebung von den Hg.)

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  45. Leider diskutiert GARFINKEL nicht den Gesamtkontext, in welchem MANNHEIM den dokumentarischen Sinn eines soziokulturellen Objektes oder Sachverhaltes erörtert. MANNHEIM unterscheidet drei Sinnschichten des “Kulturgebildes”: a) den objektiven Sinn b) den intendierten Ausdruckssinn und c) den Dokumentsinn. (Vgl. MANNHEIM 1964, S.64. - Ähnliche Unterscheidungen macht HUSSERL, dem MANNHEIM verpflichtet ist. Vgl. etwa HUSSERL 1968a, S.110–118) MANNHEIM erörtert die Unterschiede zwischen diesen drei Sinnschichten an dem berühmten Beispiel: “Ich gehe mit einem Freund auf der Strasse, ein Bettler steht an der Ecke, er gibt ihm ein Almosen”. (S.1o5) Der objektive Sinn dieser Szene set “das soziologisch lokalisierbare Sinngebilde %Hilfet”, das mit einem so zialen Zusammenhang identisch ist, in welchem “aus dem uns gegenüberstehenden Manne ein tBettler1, mein Freund ein ‘Hilfeleistender’ und das Metallstück in seiner Hand ein !Almosens ” wird. In der objektiven Sinnschicht gehe es “nur um jenen objektiven sozialen Zusammenhang, durch den und in dem es Bettler und Besitzende gibt.” (S. lob) Die subjektive Sinnschicht des Ausdruckssinnes beziehe sich dagegen auf die persönlichen Intentionen des Gebenden, z.B. “mir oder dem Bettler sein Mitleid kundzutun”. Der Ausdruckssinn sei nicht vom faktischen Erlebnisstrom des Handelnden ablösbar: “Während der objektive Sinn in objektiver Interpretation ohne Rekurs auf das Vermeinte erfassbar, also ausschliesslich als Sinnproblem zu stellen ist, ist der ausgedrückte, der in originärer Bewusstheit gemeinte Sinn in seinem gewesenen Vollzuge eine einmal stattgehabte historische Tatsache, die als solche erkannt werden will.” (107f)

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  46. Dagegen betreffe auch der Dokumentsinn eine vom Subjekt abgelöste Sinnschicht; allerdings nicht die unmittelbar und selbstverständlich erfahrbare, die als objektive Bedingung des Handelns dem Handelnden als Datum entgegentrete, sondern eine Sinnschicht, die erst das Ergebnis von Handlungsvollzügen sei und so auch erst nachträglich erfahrbar und interpretierbar sei. (108) In gewisser Weise könnte man sagen, dass nach MANNHEIM Dokumentsinn eine höhersymbolische Sinnschicht ist, die aus Elementen von Objektsinn symbolisch konstituiert oder im HUSSERLschen und SCHÜTZschen Sinne symbolisch “appräsentiert” wird (SCHUTZ 1962, 5.294–300, 3o3–3o5, 331–339) und nachträglich in einer Zusammenschau mit fremdem Blick aus bruchstückhaften objektiven Sinnelementen unmittelbar gedeutet oder interpretativ rekonstruiert werden muss. Dokumentsinn ist so das vom Produktionsprozess des Handlungs-und Interaktionsvollzuges “abgespaltene” Handlungsergebnis, dessen Sinnbestimmung sich aus der Gesamtfaktorenkonstellation der Handlungs-oder Interaktionssituation ergibt, in der eben auch heteronome, von den Intentionen des Handelnden losgelöste, gleichwohl aber nicht bereits vor der Interaktion vorhandene (mithin “objektive”) Sinnbestimmungen wirken. (Derartige heteronome Sinnbestimmungen können auch die fremden Intentionen des Interaktionspartners sein.)

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  47. Um auf MANNHEIMs Beispiel zurückzukommen: der Dokumentsinn wird in der Bettlerszene dann erfasst, wenn “ich plötzlich sehe, die gegebenen Zusammenhänge verfolgend, dass diese ‘milde Gabe’ ein Akt der ’Heuchelei’ war. In diesem Falle kommt es mir gar nicht darauf an, was der Freund objektiv getan, geleistet hatte, auch nicht darauf, was er durch seine Tat ausdrücken Iwollte’, sondern was durch seine Tat, auch von ihm unbeabsichtigt, sich für mich über ihn darin dokumentiert.” (1o8) Zur Erfassung des Dokumentsinnes ist mithin ein Interpret vonnöten, der von den vorliegenden objektiven und subjektiven Sinnschichten ausgehend zu einer sekundären, deutenden Interpretation gelangt; diese Interpretation zielt jedoch in tendenzieller Ablösung vom Interpretationsstandpunkt auf das Wesentliche des Handlungsergebnisses und seines Schöpfers ab, versucht also im Wege der Gestaltschliessung über die Dimension einer individualistischen Interpretation hinauszukommen. (119) (Das Problem der “Objektivität” des Dokumentsinnes selbst wird jedoch von MANNHEIM nicht abschliessend geklärt: einerseits betont er, dass jede Epoche eine je andere dokumentarische Interpretation derselben soziokulturellen Objekte und Ereignisse liefere; andererseits könne die eine Interpretation eine grössere “Substanznähe” als die andere aufweisen und somit “adäquater” sein. - 5.126ff).

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  48. GARFINKEL hat MANNHEIMs Unterscheidung zwischen den drei Sinnschichten nicht übernommen. Das sicherlich zurecht, wenn er auch die Gründe für diesen Verzicht hätte diskutieren sollen. MANNHEIMs Unterscheidung zwischen objektivem und dokumentarischem Sinn ist nicht einsichtig, denn auch der “objektive Sinn” z.B. einer Hilfeleistungssituation muss in interpretativen Situationsdefinitionen erst aufgebaut werden - wenn auch derartige Situationsdefinitionen im Gegensatz zu den dokumentarischen Interpretationsprozessen, die MANNHEIM im Auge hat, routinisiert sind bzw. gerade unter dem Aspekt des Immer-schon-Vollzogenseins vollzogen werden. Auch eine “Hilfeleistung” ist als interpretatives Sinngebilde eine höherstufige symbolische Appräsentation, die auf niedrigeren wie “Geld”, “Bettler” usw. sekundär aufbaut. MANNHEIM vermischt unzulässig den Zeitaspekt soziokultureller Produktionen mit dem Aspekt ihrer symbolischen Aufstufung mit Hilfe interpretativer Schemata (vgl. Anm.6).

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  49. Unterscheiden lassen sich lediglich bereits versachlichte Sinnstrukturen, die dem Handelnden als heteronome Bedingung seines Handelns entgegentreten (gleichwohl jedoch deutend, d. h, stets aspektuell, verinnerlicht werden müssen und dabei interpretativen Abwandlungen unterliegen können), und der sich erst entwickelnde “Verwirklichungs-” bzw. “Ergebnissinn” der Interaktionssituation, dessen Gehalt erst nach dem Interaktionsvollzug feststeht. MEAD hat die letztere Zeitstruktur für den Erfahrungs-und Sinnstrom des spontanen Ich (des “P”) beschrieben; die Eigenschaften des spontanen Ich können (sogar von der entsprechenden Selbstidentität) erst erfasst werden, nachdem es sich in eigenen Handlungen realisiert hat, (MEAD 1968, S.22o). Genau der gerade für das spontane Ich angedeutete Verwirklichungssinn und sein Zeitaspekt der “offenen Zukunft” interessieren GARFINKEL,weniger jedoch der schon vorfindbare versachlichte Zustandssinn. Mit dem Zustandssinn haben sich dagegen insbesondere Theoretiker wie DURKHEIM, SCHUTZ sowie BERGER und LUCKMANN beschäftigt: DURKHEIM im Konzept des “Kollektivbewusstseins” und seiner Klassifikationen, SCHÜTZ im Konzept des “socially derived” “stock of knowledge at hand” und seiner Typisierungen, BERGER im Konzept des “Nomos”, LUCKMANN in den Konzepten der “Weltansicht” (bzw. “world view”) und des “heiligen Kosmos”, BERGER und LUCKMANN in den Konzepten der “Legitimation”, des “symbolischen Universums” und der “Theorie”. (Vgl. DURKHEIM und MAUSS 1963, SCHUTZ 1962 und 1964, BERGER 1967, LUCKMANN 1963 und 1967, BERGER und LUCKMANN 1966. Für SCHÜTZ vgl. auch Anm.2a).

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  50. Wenn man sich einmal die Tatsache vor Augen hält, dass theoretische Legitimationen als hochkomplexe Systeme von Zustandssinn das Aufschichtungsergebnis einer ganzen Batterie sukzessiver Symbolisierungsschritte sind, dann ist nicht mehr die Auffassung möglich, der Ergebnissinn sei in jedem Falle symbolisch komplexer strukturiert als der Zustandssinn; letzteres gilt lediglich im Vergleich zu “Basissinnschichten” des Zustandssinnes wie Nomos und Weltansicht. Allerdings macht der dokumentarische Ergebnissinn stets a) eine z u s ät z l i c h e rückschauend-detachierte Interpretation erforderlich, welche die erfassten Sinngegenstände “noch einmal in die Objektebene schieb t” - eine erste, nämlich selbstverständliche, rückblickende Einstellung ist mit Ausnahme der “deiktischen” Elementarsinnschicht auch für die Erfassung des “objektiven” Zustandssinnes obligatorisch - sowie b) eine pragmatische Gesamtbetrachtung des soziokulturellen Objektes im Gesamtrahmen seiner Situation einschliesslich seiner Handlungs-und Interaktionsfunktionen. Es wäre denkbar, gerade von letzterem bei der Analyse des Zustandssinnes tendenziell abzusehen: allerdings ist diese verdinglichende Einstellung nur den alltagsweltlich Handelnden möglich und sollte nicht beim Sozialwissenschaftler angetroffen werden, der sein Erklärungshandwerk lediglich in der pragmatischen Dimension betreiben kann und darf.

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  51. MANNHEIM trennt zudem nicht genügend zwischen den Arten des Sinnes, die analytisch erfasst werden können, und der Methode zu ihrer Erfassung. Entgegen seiner eigenen Behauptung ist die dokumentarische Methode der Interpretation nicht auf die Analyse des Dokument-bzw. Ergebnissinnes im engeren Sinne beschränkt. Gerade weil der alltagsweltliche Zustandssinn zumindest für den Soziologen - aber letztlich auch für den alltagsweltlich Handelnden, der kulturelle Objekte und Wissensbestände in biographie-und interaktionsgebundene Situationsdefinitionen beständig zu deuten und zu reinterpretieren hat - nicht selbstverständlich und somit das jeweils zu erklärende Problem ist, muss er zu dessen Analyse die dokumentarische Methode einsetzen. Das bedeutet aber: 1.Einzelne soziokulturelle Tatsachen sind lediglich von ihrem Gesamtzusammenhang her verständlich; dieser Gesamtzusammenhang aber ist umgekehrt nur erfassbar aus der Ansehung und Interpretation einzelner Tatsachen heraus (“hermeneutischer Zirkel”). 2) Der Gesamtzusammenhang relevanter soziokultureller Tatsachen kann sich erst in gerade ablaufenden, d.h. sich im Fluss befindlichen, Interaktionssituationen herausbilden, in denen das soziokulturelle Objekt produzie’t bzw. in der Anwendung reinterpretiert wird. Die dokumentarische Interpretation kann mithin nur pragmatisch sein, d.h. muss von zeitlich di mensionierten Handlungskontexten ausgehen. 3) Die dokumentarische Methode ist ihrerseits in ihrem Vollzuge zeitlich dimensioniert; der von ihr angestrebte Gesamtzusammenhang muss bereits im Vollzuge der Interpretation tentativ auf der Grundlage von vergangenen Erfahrungen vorweggenommen werden. Die dokumentarische Methode ist dem permanenten Zwang zur Sinntotalisierung auf unzureichender Grundlage in ad-hoc-Unterstellungen angewiesen. 4) Der Urtyp für die zeitliche Interpretationsstruktur der dokumentarischen Methode ist das alltagsweltliche Gespräch mit seiner doppelten Kontingenz dergestalt, dass keiner der Gesprächsteilnehmer exakt weiss, was der bzw. die anderen sagen werden, solche zukünftigen Gesprächsbeiträge jedoch wechselseitig vorausgesetzt werden müssen, um die je gegenwärtigen Beiträge jeweils in einen tentativen Gesamtkontext einordnen, d.h. diese verstehen zu können.

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  52. Gerade weil GARFINKEL davon ausgeht, dass jede gesellschaftliche Wirklichkeit bzw. ihr System von Zustandstypisierungen in Interaktionssituationen “indexikalisch” erzeugt bzw. angewandt wird, ist auch jede Interpretation der gesellschaftlichen Wirklichkeit seiner Meinung nach situationsgebunden und an die Zeit-und Sozialitätsstruktur der dokumentarischen Methode gebunden. Darum braucht GARFINKEL auch nicht zwischen objektiver und dokumentarischer Sinnschicht zu trennen. Jede gesellschaftliche Wirklichkeit - das ist der Kern seiner Problemstellung - besteht letztlich nur aus zeit-und interaktionsgebundenen, ständig reinterpretationsbedürftigen dokumentarischen Sinnschichten.

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  53. In seinem Aufsatz “Beiträge zur Theorie der Weltanschauungsinterpretation” vertrat MANNHEIM die Auffassung, dass die dokumentarische Methode für die Sozialwissenschaften eigentümlich sei. In den Sozialwissenschaften gibt es zahlreiche terminologische Möglichkeiten, um von dem zu sprechen, was mit dem Ausdruck “dokumentarische Methode” gemeint ist. Z.B. wird von der Verstehensmethode, der sympathetischen Introspektion, der Innensicht-Methode, der Intuitionsmethode, der interpretativen Methode, der klinischen Methode, vom sich einfühlenden Verstehen usw. gesprochen. Versuche von Soziologen, etwas definitorisch einzugrenzen, was man “interpretative Soziologie” nennen könnte, müssen Bezüge auf die dokumentarische Methode beinhalten. Die dokumentarische Methode stellt nämlich die Grundlage bereit, auf der die interpretative Soziologie ihre Ergebnisse erzielen und diese bestätigen kann. Ob es notwendig für den soziologischen Untersuchungsprozess ist, die dokumentarische Methode in sehr zahlreichen Bereichen soziologischer Forschungsfragestellungen zur Anwendung zu bringen, ist eine offene Frage.

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  54. Ergänzung der Herausgeber: Zum Begriff der “interpretativen Soziologie”, den WILSON im Begriff des “interpretativen Paradigma” aufnahm und weiterentwickelte vgl. Teil III von WILSONs Aufsatz in diesem Band.

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  55. Anmerkung der Herausgeber: Dem interpretativen, dokumentarischen Charakter von Gemeindestudien wird in einem methodologischen, wenn auch nicht allzu stringent durchdachten, Rückblick auf klassische Gemeindestudien von Maurice STEIN (1964, insbes. 5.94113, 229–337) Rechnung getragen. Ähnliche Überlegungen finden sich auch in VIDICH, BENSMANN und STEIN (1964). BENSMANN, STEIN und VIDICH betonen insbesondere fünf Aspekte der gemeindesoziologischen Methode: 1) die innere Verknüpfung zwischen dem singularisierenden Charakter der Einzelfallstudie, aus der eine gemeindesoziologische Untersuchung gewöhnlich besteht, und ihrem Anspruch, diesen Einzelfall möglichst in allen wesentlichen Aspekten verstehend nachzuzeichnen: notwendig ist natürlich auch hier ein Vorverständnis, das wiederum nur aus Einzelepisoden gewonnen werden kann; in jeder Gemeindestudie kommt mithin den ersten Feldkontakten in der Vorerhebungsphase eine besondere Bedeutung zu; 2) eine nach Möglichkeit verfremdende bzw. “fremdverstehende” Perspektive, um trotz intensiver lebensweltlicher Feldkontakte einen kritischen Abstand halten zu können, der für die Herstellung und Bewahrung einer interpretativen Gesamtperspektive erforderlich ist, denn diese Gesamtperspektive ist ein dokumentarischer Deutungszusammenhang, für den die Einzelbelege lediglich Episoden sind (ein derartiges “Fremdverstehen” kommt insbesondere in den quasiethnographisch verfremdenden Studien der LYNDs 1956 und 1937 sowie Lloyd WARNERS 1963 zum Zuge); 3) ein systematischer Bezug auf die lebensweltlichen Probleme der Einzelexistenz, so dass der Leitfragenkatalog und der Interpretationsraster der Gemeindestudie auf den typischen tagtäglichen Lebenslauf und den durchschnittlichen Lebenszyklus des einzelnen in der untersuchten Ortsgesellschaft ausgerichtet ist; tagtäglicher Lebenslauf und individueller Lebenszyklus sind das sinnkonstituierende Interpretationsschema bzw. das “indexikalische Deutungszentrum” jeder Gemeindestudie (das kommt etwa in der Anlage der ersten Untersuchung der LYNDs plastisch zum Ausdruck, die sich nacheinander mit der Schaffung einer materiellen Lebensgrundlage bzw. dem Verdienen, der Familiengründung sowie Wohnraumbeschaffung und -gestaltung, der Kindererziehung, der Freizeitgestaltung, den religiösen Aktivitäten und den gemeindlichen Aktivitäten beschäftigt - vgl. LYND und LYND 1956); 4) ein auffälliges, wenn auch in guten Gemeindestudien nicht ausschliessliches,Interesse an der integrierenden symbolischen Sinnschicht einer Ortsgesellschaft, durch die sich das Einheitsbewusstsein einer Bevölkerungsgruppe zu einer Ortsgesellschaft konstituiert; der symbolische Aspekt der gesellschaftlichen Wirklichkeit eignet sich natürlich in besonderer Weise für eine verstehende oder gar sprech-und textanalyti sche Methode (für die Hervorhebung des symbolischen Aspektes vgl. insbesondere Lloyd WARNER 1959 und Benita LUCKMANN 197o); und 5) die Strategie, durch den besonderen Einzelfall ein dokumentarisches Bild von einer gesamtgesellschaftlichen Situation bzw. historischen Entwicklungsepoche einer Gesamtgesellschaft zu entwerfen, das auch vom Leser, der nun als Interpretationspartner angesprochen ist, eine entsprechende totalisierende Ausdeutungsaktivität auf grosse soziokulturelle Zusammenhänge hin fordert.

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  56. BENSMAN, STEIN und VIDICH meinen, dass die aufgezählten Tugenden der Gemeindestudie diese zu einem Hauptzweig der allgemeinen Soziologie avancieren lassen, in welchem die Einzelergebnisse der Spezialdisziplinen deutend auf die Gesamt-Existenzsituation des konkreten Gesellschaftsmitgliedes hin totalisiert werden. Einen ähnlichen, wenn auch methodisch exakteren Allgemeinheitsanspruch für Gemeindestudien (nun im eigentlich ethnographischen Kontext) stellt auch HYMES; vgl. den in diesem Band abgedruckten Aufsatz von HYMES, insbes. Anm.le.

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  57. Anmerkung der Herausgeber: “Lebensgeschichte” hier als stabile und doch situationsflexible interpretative Struktur verstanden, mit der das einzelne Gesellschaftsmitglied seine Vergangenheit zu einer sinnvollen und wohlstrukturierten Grundlage für konsequentes, folgerichtiges zukünftiges Handeln in einem mehr oder weniger systematischen Lebensplan macht. Die Struktur der eigenen Biographie ist nichts Zuständiges; sie wird in gewöhnlichen alltagsweltlichen Interaktionen vom handelnden Selbst und seinen Interaktionspartnern (auf sich selbst und auf andere hin) fortlaufend konstituiert und verändert. (Vgl. hierzu insbesondere STRAUSS 1968). In letzter Zeit haben Psychologen und Soziologen insbesondere für diejenigen Biographien als reinterpretierende Strukturierer und Stabilisierer von Lebensführungen Interesse gezeigt, bei denen gerade dieser Stabilisierungs-und Reinterpretationsprozess besonders augenfällig in Erscheinung tritt: mithin ein Interesse an Neustrukturierungen von Biographien, die aus der Bewältigung von schwersten Lebenskrisen durch “von aussen” stimulierte - bzw. angebotene Deutungsschemata entstehen. Gemeint sind alle Formen der Konversion - einschliesslich der Psychoanalyse, die dezidiert in ihrer Funktion als praktischer Neustrukturierer von Biographie und Lebensplanung verstanden wird, nicht etwa jedoch als naturwissenschaftlich fundiertes Heilverfahren. (Zur Konversions-und Neudeutungsfunktion von Sekten vgl. O’DEA 1966, S.62f; zur praktischen Deutungsfunktion der Psychoanalyse vgl. BERGER 1965, deutsche Übersetzung in WEHLER 1972, S.155–168)

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  58. Wenn sich alltagsweltliche Handlungssysteme in der Sicht und mit Hilfe biographischer Interpretationssysteme als “Naturgeschichten” strukturieren, dann liegt selbstverständlich der Gedanke nahe, auch die Soziologie als Versuch zur Rekonstruktion geschichtlicher Prozesse (im weitesten Sinne des Wortes) zu begreifen. Gerade hierfür bietet nun wiederum die Psychoanalyse, soweit sie sich selbst wissenschaftstheoretisch-methodologisch reflektiert, das Modell. Denn einerseits sei sie alltagsweltlichen Sinndeutungsprozeduren artverwandt und trage so der Erzeugungs-, Aufrechterhaltungs-und Veränderungslogik alltagsweltlicher Sinnsysteme adäquat Rechnung; und andererseits habe sie im Gegensatz zu alltagsweltlichen Sinndeutungsprozeduren eine exakte Methodologie entwickelt. Nach LORENZER (197ob) ist die Psychoanalyse eine,wenn auch hermeneutische, so doch relativ exakte Methode, aus dem biographischen Material heraus auf dem Hintergrund einer explikativen “Verzerrungsfolie” alte Identitätsstrukturen zu reinterpretieren und eventuell in stabilere und ungestörtere (“herrschaftsfreiere” im weitesten Sinne des Wortes) neue umzuformen. Sie unterstütze den natürlichen Prozess der Identitätsstrukturierung bzw. greife in diesen verändernd ein, indem sie die Lebensgeschichte von systematischen Verzerrungspunkten her begreife und Emanzipationsstrategien ausarbeite. Die Psychoanalyse betont in dieser Auffassung somit die Historizität der Identitätsbildung und muss dafür analytische Mittel anbieten - eine Historizität, die ihren eigenen Praxishorizont zukünftiger Veränderungsstrategien hat. In Anbetracht der Tatsache, dass sich die Geschichte einer Lebensführung nicht auf die analysierte Einzelperson beschränken kann, wenn sie “gestaltschliessenden” Anspruch erheben will, sondern Interaktionspartner einbeziehen muss, die Verzerrungssituationen hervorgerufen haben, ist die Psychoanalyse nun aber gezwungen, in den traditionellen Bereich der Soziologie einzudringen. Umgekehrt liegt gleichzeitig der Gedanke nahe, die gesamte Soziologie an der Erklärungsstruktur der Psychoanalyse zu orientieren. Denn auch die Soziologie sei auf “geschichtenerzählende” Erklärungen angewiesen, da die sich in “historischen” Biographien realisierenden Interaktionspartner Interaktionsgeschichten produzieren, dabei Kommunikationsstrukturen umgestalten bzw. verzerren und ihre eigenen Lebensgeschichten regressiv oder progressiv bestimmen würden. Methodologisch gesehen bietet die psychoanalytische Vorgehensweise der Soziologie insbesondere eine schematische Erzähl-und Deutungsfolie, die auf Verzerrungen von Kommunikations-und Identitätsstrukturen und somit auf den zerstörenden Abbau von Interaktionskompetenz (im weitesten Sinne des Wortes) sowie auf die Ansatzpunkte zur Wiedergewinnung voller sozialer Kompetenz analytisch abzielt. Und auf ihrem Hintergrund können dann nach Auffassung der psychoanalytisch orientierten Methodologie die sozialen Ereignisse systematisch angeordnet und reinterpretiert werden. (HABERMAS 1968a, Kap.11, und 197o; LORENZER 1971).

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  59. Die allgemeine Methodologie einer derartigen Erzählfolie kann nach Auffassung psychoanalytisch orientierter Soziologen dann auch für die Analyse von gesamtgesellschaftlichen “Bildungsprozessen” - verstanden als Aufschichtung “natürlicher”, sich ständig selbst reflektierender Geschichtsinterpretationen einer Gesellschaft im Rahmen ihrer Evolution, zu denen die Soziologie eine Art Metainterpretation liefert - fruchtbar gemacht werden. (So interpretiert HABERMAS 1967, S.188–195, etwa das Vorgehen von PARSONS.) Wie die Psychoanalyse selbst müsste eine solche Soziologie dann aber auch als analytische Erzählung vor dem Hintergrund einer Verzerrungsfolie praktisch Stellung beziehen, d.h. selbst in den gesamtgesellschaftlichen Aufklärungsprozess eingreifen, und nicht im positivistischen Sinne detachiert bleiben. Vielleicht hat GARFINKELs Ansatz zur analytischen Destruktion und Rekonstruktion von “natürlichen Geschichten” eine ähnliche (und zwar emanzipatorische) Konsequenz, wenn man ihn in Richtung von systematischen Erzählungen über Verzerrungen von Interaktionsprofilen und über entsprechende Kompetenzstörungen weiterdenkt. (Vgl. BONNSACK 1973)

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  60. Ausser in der Psychoanalyse hat man sich selbstverständlich in der Methodologie der Geschichtswissenschaft mit der Logik von Erzählungen (narratives) als natürlicher Aufschichtung von sukzessiven Interpretationen beschäftigt (vgl. insbesondere DANTO 1968). Neuere Versuche in der Ethnomethodologie gehen in eine ähnliche Richtung, indem die Logik von Gesprächsabläufen und Erzählungen als Aufschichtung von Deutungen analysiert wird. (Vgl. GARFINKEL und SACKS 197o, SACKS 1972, SCHEGLOFF 1972)

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  61. Einen guten Gesamtüberblick über das Verhältnis zwischen Geschichtswissenschaft und Soziologie auf der einen und Psychoanalyse auf der anderen Seite bieten die von WEHLER (1971 und 1972) herausgegebenen Sammelbände “Geschichte und Psychoanalyse” sowie “Soziologie und Psychoanalyse”.

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  62. Anmerkung der Herausgeber: Die Kontroverse zwischen den Vertretern einer “weichen Methode” und den Vertretern einer “harten Methode” ist so alt wie die Soziologie selbst. In der klassischen deutschen Soziologie wurde sie in spezieller Zuspitzung auf die Frage gestellt, ob eine exakte, intersubjektiv nachprüfbare Methode des Verstehens möglich sei. Hierfür seien nur wenige Autoren genannt: Georg SIMMEL 1958, S.21–3o; Max WEBER 1968, insbes. S.146–214 und 427–474; Werner SOMBART 193o; Otto NEURATH 1931 und 1933; Alfred SCHUTZ 1932; Felix KAUFMANN 1936. Für das Verständnis dieser Auseinandersetzungen um die richtige soziologische Methode ist es auch sicherlich wichtig zu beachten, dass die generelle Diskussion um die Verstehensdebatte schon sehr viel länger in den Geisteswissenschaften, d.h. insbesondere in der Geschichtswissenschaft und in der Philosophie der Geisteswissenschaften, geführt worden war. Typisch ist hier die Gegenüberstellung zwischen generalisierender (nomothetischer) und individualisierender (idiographischer) Methode (vgl. etwa WINDELBAND 1924) und die Abgrenzung der Geisteswissenschaften (“Kulturwissenschaften”) von den Naturwissenschaften (vgl. etwa DILTHEY, Bd.I und VII; RICKERT 1926). Einen guten Überblick über die klassische deutsche Verstehensdebatte bietet der Sammelband “Verstehende Soziologie”, der mit einer ausführlichen Einleitung von BÜHL 1972 herausgegeben worden ist. In der amerikanischen Soziologie wurde die Verstehensdebatte im Gegensatz zur klassischen deutschen Soziologie, in der vor dem zweiten Weltkrieg stets die “verstehend-kulturwissenschaftliche Position” vorherrschte, zunächst einmal von positivistisch orientierten Autoren dominiert, die vom Wiener Kreis abstammten bzw. von diesem beeinflusst waren: ABEL 1948; HEMPEL 1952; NAGEL 1961, insbes. Kap.13–15. Besonders interessant ist vielleicht die Kontroverse zwischen NAGEL und SCHUTZ, die im von NATANSON herausgegebenen Sammelband über die Philosophie der Sozialwissenschaften (1963) wieder abgedruckt ist. Dieser Sammelband gibt auch sonst einen guten Überblick über die Verstehenskontroverse. Über den ethnomethodologischen Standpunkt zur Verstehensdebatte informieren FILMER, PHILLIPSON, SILVERMAN und WALSH, 1972.

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  63. In den letzten Jahren ist die Position der Vertreter der Verstehensmethode dadurch aufgewertet worden, dass unter Einfluss der Linguistik exaktere Methoden zur Erhebung und Verarbeitung symbolischer Wissensbestände speziell semantischer Strukturen, in die Sozialwissenschaften (zunächst insbesondere in die Ethnologie) eindrangen. Fundamental und repräsentativ ist hierfür das Werk von Kenneth PIKE (1967). PIKE macht klar, dass naturwissenschaftliche Analysetechniken lediglich auf der “etischen” Ebene des physischen Substratums sinnvollerweise zum Einsatz gelangen können, während jede soziokulturelle Strukturierung eine kulturanalytische Methodologie erforderlich macht, die auch die Ebene der Handlungspläne einbezieht. Eine derartige “emische” Analyse kann jedoch nichtsdestoweniger exakt und dem Standard intersubjektiver Überprüfbarkeit genügend mit komponentenanalytischen Verfahrensweisen durchgeführt werden. (Vgl. Anm.6a zum Aufsatz von PSATHAS in diesem Band und den Aufsatz von FRAKE in diesem Band.)

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  64. Das allgemeine Konzept einer geordneten Menge “Bestand an Alltagswissen” (“corpus of common-sense knowledge”) ist aus KAUFMANNs Konzept “Bestand einer Wissenschaft” (“corpus of a science”) weiterentwickelt worden. Das Konzept des Bestandes wird in KAUFMANN 1958, S.33–47, expliziert.

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  65. Ergänzung der Herausgeber: Der Bestand einer Wissenschaft ist von KAUFMANN definiert worden als die Menge von Feststellungen bzw. Aussagen (propositions), die “im entsprechenden Zeitpunkt in Übereinstimmung mit den Verfahrensregeln der Wissenschaft akzeptiert werden.” (KAUFMANN 1958, S.42) KAUFMANN entwickelt das Konzept des Bestandes einer Wissenschaft in Absetzung vom Konzept der Struktur einer Wissenschaft. (S.42) Die Struktur einer Wissenschaft (“structure of a science”) ist durch ihre Verfahrensregeln definiert. Ein Teil von ihnen, die Basisregeln, haben notwendige Gültigkeit für die Wissenschaft und bestimmen die Legitimität einzelner wissenschaftlicher Verfahrensschritte. Ein anderer Teil von ihnen, die Präferenzregeln im Verfahrensgang, können sich im Verlaufe der Entwicklung einer Wissenschaft durchaus ändern. Die Präferenzregeln zielen auf die geeignetsten Schritte zur Lösung wissenschaftlicher Problemstellungen ab, während die Basisregeln keinen Bezug auf das Für und Wider von Lösungsstrategien besitzen. (S.44, 232) Die “Regelstruktur einer Wissenschaft” steuert den historisch je spezifischen Bestand an Feststellungen bzw. Aussagen, der in einer speziellen Wissenschaft in einem je besonderen Stadium ihrer Entwicklung als vorläufig bestätigt gilt. Der “Bestand einer Wissenschaft” umfasst mithin den vorläufig als unproblematisch abgelagerten Wissensbestand einer Wissenschaft - sedimentiert in einer Menge von Feststellungen bzw. Aussagen - ganz ähnlich wie im Alltagswissen unproblematische Wissensbestände abgelagert sind. Man muss deshalb genauer vom “Bestand einer Wissenschaft zu einer bestimmten Zeit” sprechen; jeder wissenschaftliche Wissensbestand ist - wie jeder alltagsweltliche - im weitesten Sinne des Wortes situationsabhängig bzw. indexikalisch. Deshalb kann die grundlegende Struktur einer Wissenschaft oder alltagsweltlicher Wissenssysteme auch nicht mit Bezug auf den vorliegenden Wissensbestand definiert werden; konstituierend für einen bestimmten Wissensbetrieb sind dazu im Gegensatz die Verfahrensregeln (S.42).

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  66. Die Gegenüberstellung von “Bestand” und “Struktur einer Wissenschaft” wird noch nicht in KAUFMANNs deutschsprachigem Buch (1936) entwickelt. Die Unterscheidung ist aber sehr wichtig, (a) weil das Konzept des Wissensbestandes notwendig für das Verständnis der Natur der routinisierten alltäglichen Angelegenheiten und die ad-hoc-Strategien vernünftigen lebensweltlichen Handelns insgesamt (einschliesslich der Wissenschaftspraxis) ist und weil (b) das Konzept der Regelstruktur und seiner Unterkomponenten notwendig dafür ist, eine formalpragmatische Perspektive hinsichtlich der grundlegenden Funktionsweise von Wissensbeständen im Handeln (einschliesslich der Weise, wie Handlungen konstituiert und segmentiert werden) einnehmen zu können. (Und diese beiden Gesichtspunkte können nur dann systematisch verfolgt werden, wenn man Wissensbestand und Regelstruktur des Wissens begrifflich voneinander trennt.) Die beiden Perspektiven finden sich in der gerade angedeuteten analytischen Trennung dann auch bei SCHUTZ und GARFINKEL wieder, wobei es GARFINKELs Verdienst ist, mit dem Konzept des Wissensbestandes die alltäglichen routinisierten Angelegenheiten einer eingehenden Analyse unterzogen zu haben, d.h. insbesondere die Konstituierung “vernünftigen” lebensweltlichen Handelns im Rahmen und aufgrund routinisierter Angelegenheiten. Und gerade für die Analyse vernünftigen lebensweltlichen Handelns in routinisierten alltäglichen Angelegenheiten hat KAUFMANN noch ein weiteres Konzept entwickelt, das heute zum selbstverständlichen Arsenal der Ethnomethodologie gehört: das Konzept der Grundlage (“ground”). Gerade weil der gegenwärtige Wissensbestand gewöhnlich unproblematisch ist, kann er nach KAUFMANN zur selbstverständlichen und somit entlastenden Grundlage weitergehender Schritte lebensweltlichen bzw. alltagsweltlichen Handelns werden. (Vgl. KAUFMANN 1958, S.40, 55) GARFINKEL fasst diese Funktion des Wissensbestandes später so, dass von ihm als selbstverständlicher bzw. rechter Grundlage des Handelns die Entscheidung von Handlungsalternativen in zukunftsoffenen Situationen ohne vollständige Information abhänge. (Vgl. GARFINKEL 1967, S.266f)

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  67. KAUFMANNS wissenschaftstheoretische Grundüberlegungen weisen sehr viel Ähnlichkeiten mit den Gedankengängen von SCHUTZ auf, mit dem er in intensivem wissenschaftlichen Austausch stand. Identisch ist in ihrem Werk vor allem die Perspektive, dass es nicht möglich ist, die konstitutive Struktur von Wissenssystemen im jeweiligen Inhalt des Wissensbestandes aufzufinden. Allein eine formatpragmatische Perspektive sei hier erfolgversprechend, welche die Funktionsregeln zur Generierung und Verwendung von Wis-sensbeständen aufdecke. Während die Wissensbestände selbst letztlich situations.- und interessenverhaftet seien, gebe es einen festen Bestand von situationsunabhängigen Basisregeln für die Konstituierung jedes beliebigen Handlungsverfahrens (hier speziell: zur Erzeugung und Verwendung von Wissen - aber auch für weitere Problemkontexte der Interaktion). Am Wissensbestand selbst sei lediglich wichtig, was mit ihm geschehe oder zu geschehen habe, und hierbei gebe es zwischen wissenschaftlichen und alltagsweltlichen Wissensbeständen erhebliche Ähnlichkeiten, denn beide seien z.T. denselben Basisregeln unterworfen (KAUFMANN 1958, S.39f; SCHUTZ 1962, S.253–259; 1964, S.69, 77–88; GARFINKEL 1967, 5.263–267, 270). Unterscheiden könne man wissenschaftliches und alltagsweltliches Wissen nicht an den inneren Qualitäten einzelner Wissensbestände, sondern lediglich an den z.T. unterschiedlichen Verfahrensregeln.

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  68. Es ist GARFINKELs Verdienst, den wechselseitigen theoretischen Einfluss, den die Wissenschafts-und Grundlagentheoretiker KAUFMANN und SCHUTZ aufeinander hatten, immer wieder ins Gedächtnis zu rufen. Aber GARFINKEL hat darüber hinaus die Anhänger des interpretativen Paradigmas in der Soziologie dazu angeregt, das Werk von KAUFMANN als einen interessanten Ansatz zwischen den Lagern des Wiener Neopositivismus, der HUSSERLschen Phänomenologie und des DEWEYschen Pragmatismus auch als ganz eigenständigen Beitrag eigenen Rechtes neben dem Werk von SCHUTZ aufzuarbeiten: als einen Beitrag, in welchem so wichtige Konzepte wie das der Basisregeln zum ersten Male stringent erörtert wurden.

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  69. Anmerkung der Herausgeber: GARFINKEL macht hier deutlich, dass alltagsweltliche Beschreibungen Tatsachen und Dinge nicht einfach abbilden, sondern eigentlich erst über idealisierende Zuschreibungsleistungen in ihrer alltagsweltlichen Konstanz herstellen. Es ist HUSSERLs Verdienst, schon früh die europäische Philosophie darauf hingewiesen zu haben, dass Idealisierungen nicht allein in den Wissenschaften (etwa in einer idealisierenden Mechanik oder in einer mit Idealtypen arbeitenden Sozialwissenschaft - vgl, HUSSERL 1962, S.19, 3o, 37; KAUFMANN 1936, S.89, 23o, 234; und KAMLAH/LORENZEN 1967, S.229f) Tatsachen und Dinge konstituieren und erklären, sondern auch in der alltagsweltlichen Einstellung. Eine ähnliche Entdeckung machte etwa zur selben Zeit MEAD in Amerika. (Allerdings hatte William JAMES im Konzept des “belief” bzw. “Glaubens” schon gewisse Vorarbeiten für MEADs Erkenntnisse geleistet: “…der Glaube ist einer der unverzichtbaren Voraussetzungen der Verwirklichung seines Gegenstandes. Es gibt… Fälle, in denen die vertrauende Wirklichkeitsunterstellung ihre eigene Verifikation erzeugt.” - JAMES 1948, S.27; vgl. auch S.88–1o9) Während sich jedoch HUSSERL fast ausschliesslich mit denjenigen Idealisierungen beschäftigte, die Gegenstände im Objektbereich des (bei HUSSERL einsamen) Erkennenden als stabile Folgen iterierbarer Ereignisse konstituieren, d.h. zu “Erwartungsgewissheiten” machen (z. B. die “Und-so-weiter”Idealisierung, die Kausalidealisierung usw.), untersuchte MEAD auch gerade diejenigen Idealisierungen, welche der kommunikativen Interaktion der Gesellschaftsmitglieder mit Hilfe signifikanter Symbole zugrundeliegen, d.h. soziale Reziprozität praktisch-moralisch konstituieren. (Vgl. HUSSERL 1968a, S.86–92, 1o3, lo8, 125, 134f; und MEAD 1968, S. lo6f, 129, 188f).

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  70. Es hat den Anschein, dass auch GARFINKEL zwischen Gegenstands-bzw. Ereignisidealisierungen und Sozial itätsidealisierungen unterscheidet. Die Gegenstands-und Ereignisidealisierungen sind jedoch im Gegensatz zu HUSSERLs Auffassung in seiner Sicht nicht elementarer, sondern komplexer als die Sozialitätsidealisierungen. D.h. sie sind erst möglich, wenn die Sozialität eines stabilen reziproken Interaktionszusammenhanges bereits konstituiert ist und in ihm soziale Ereignisse und Gegenstände zum Zuge kommen. Mit den Gegenstands-und Ereignisidealisierungen ist dann die Erwartungsgewissheit gegeben, dass die Ereignisse in einer normalen alltagsweltlichen Handlungsstrukturiertheit auftreten werden. Man könnte sagen, dass sie als Normalitätsidealisierungen (die erst auf der Grundlage von Sozialitätsidealisierungen möglich sind) Metaidealisierungen darstellen. (Vgl. auch zu den Normalitätsidealisierungen von Ereignissen, Objekten und Handlungsabläufen, die “Vertrauen” in die alltäglichen Angelegenheiten möglich machen, GARFINKEL 1963, 5.188f.) Nur durch sie ist vernünftiges alltagsweltliches Handeln im Rahmen und aufgrund von routinisierten Angelegenheiten möglich. (Vgl. GARFINKEL 1967, 5.263–267)

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  71. Vgl. Marvin FARBER 1943, S.237f.

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  72. Ergänzung der Herausgeber: GARFINKEL zitiert nicht selbst HUSSERL. Wissenschaftshistorisch gesehen hatte das Werk von FARBER die Funktion, auf einer ausserordentlich breiten Informationsgrundlage HUSSERL in die amerikanische philosophische Szene einzuführen und zur Gründung einer amerikanischen Schule der Phänomenologie anzuregen. Es bietet eine ziemlich exakte Darstellung des HUSSERLschen Werkes.) FARBER seinerseits bezieht sich auf HUSSERL 1968b, Bd.II/1, S.8o-86. Bereits HUSSERL (und nicht erst KAUFMANN, wie durch GARFINKELs nächste Anmerkung nahegelegt wird), unterscheidet zwischen wesentlich okkasionellen und objektiven Ausdrücken: “Wir nennen einen Ausdruck objektiv, wenn er seine Bedeutung bloss durch seinen lautlichen Erscheinungsgehalt bindet bzw. binden kann, und daher zu verstehen ist, ohne dass es notwendig des Hinblicks auf die sich äussernde Person und auf die Umstände ihrer Äusserung bedürfte.” (S.8o) “Auf der anderen Seite nennen wir wesentlich subjektiv und okkasionell oder kurzweg wesentlich okkasionell jeden Ausdruck, dem eine begrifflich-einheitliche Gruppe von möglichen Bedeutungen so zugehört, dass es ihm wesentlich ist, seine jeweils aktuelle Bedeutung nach der Gelegenheit, nach der redenden Person und ihrer Lage zu orientieren. Erst im Hinblick auf die tatsächlichen Umstände der Äusserung kann sich hier für den Hörenden eine bestimmte unter den zusammengehörigen Bedeutungen überhaupt konstituieren”. (S.81) - Abgesehen davon, dass HUSSERL als Beispiele für wesentliche okkasionelle Ausdrücke Personalpronomina und Demonstrativa nennt, geht er auch bereits auf Gelegenheitsausdrücke im wissenschaftlichen Alltagshandeln ein, die “in den Wissenschaften zur Vorbereitung der theoretischen Ergebnisse mithelfen. Ich meine in letzterer Hinsicht die Ausdrücke, durch welche der Forscher seine eigenen Denktätigkeiten begleitet oder anderen von seinen Erwägungen und Bestrebungen, von seinen methodischen Veranstaltungen und vorläufigen llberzeugungen Kunde gibt.” (S.81f) Zur indexikalischen Einbindung von Gelegenheitsausdrücken vgl. Teil VI (Anhang) unseres in diesem Bande vorliegenden GARFINKEL-Textes.

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  73. Vgl. KAUFMANN 1958, S.166ff.

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  74. Ergänzung der Herausgeber: GARFINKEL meint irrtümlich, KAUFMANN habe an dieser Stelle von “objektiven Ausdrücken” gesprochen. (GARFINKELs Text lautet wörtlich: “KAUFMANN nennt diese letzteren Ausdrücke ”objektive Ausdrücke“.) KAUFMANN sprach stattdessen nur von der ”objektiven Bedeutung der Zeichen“ (”objective meaning of signs“):”Während die objektive Bedeutung von Zeichen sich auf das vorausgesetzte konventionelle (d.h. gesellschaftlich geteilte - Erg.d.Hg.) Schema der Interpretation bezieht, bezieht sich die subjektive Bedeutung eines Zeichens auf ein Interpretationsschema, das lediglich von einer besonderen Person angenommen worden ist und den Bezug auf die Person, die das Zeichen verwendet, beinhaltet. Daher besteht das Problem in der Bestimmung dessen, was diese besondere Person durch das Zeichen übermitteln wollte.“ (S.167) Zum Konzept des Interpretationsschemas vgl. Anm.6.

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  75. Es hat nach diesen Ausführungen von KAUFMANN den Anschein, dass gerade auch objektive Ausdrücke im HUSSERLschen Sinne subjektive Bedeutungselemente aufweisen können, und umgekehrt gerade wesentlich okkasionelle Ausdrücke wie Personalpronomina in ihrer ‘anzeigenden Bedeutung“ (HUSSERL 19686, Bd.II/1, S.83) bzw. in ihrer formalpragmatischen Funktionalität im Rahmen elementarer objektiver Interpretationsschemata (bzw. ”Basisregeln“) stehen. Prädikative (bzw. der Form nach objektive) Ausdrücke, die einen vagen und subjektiv geprägten Bedeutungshorizont haben, findet HUSSERL in den ”meisten Ausdrücken des gemeinen Lebens, wie Baum und Strauch, Tier und Pflanze…“ vor und nennt sie ”vage Ausdrücke“. Der exakte Bedeutungsgehalt sei hier von den subjektiven Dispositionen des Redenden, der Redesituation und vom Textkontext abhängig; fliessende Übergänge im Objektbereich wie das Zusammenfliessen von Farben könnten dieser Vagheit entgegenkommen. Dagegen stünden die exakt in ihrem Bedeutungsumfang festgelegten wissenschaftlichen Ausdrücke. (S.88)

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  76. Anmerkung der Herausgeber Auch HABERMAS weist auf die Funktion der umgangssprachlichen Kommunikation hin, Verständigung gerade im Angesicht der Nichtidentität der Persönlichkeiten der Interaktionspartner und ihrer private n Bedeutungsintentionen zu bewerkstelligen: die analytisch paradoxe Leistung der umgangssprachlichen Kommunikation. (HABERMAS 197o, S.89; 1971a, S.113f) Der paradoxen Struktur der umgangssprachlichen Kommunikation entspricht das von MEAD beschriebene Dreieck zwischen dem sich immer nur je individualisiert zeigenden naiv-spontanen Ich (“I”), dem einfach reflektiven und vom Verständnis des Interaktionspartners ausgehenden Mich (“me”) und dem doppelt reflexiven, von den Interaktionspartnern gemeinsam idealisierten universalen verallgemeinerten Anderen, dessen logisches Universum des Diskurses zur Richtschnur gemeinsamer Bedeutungen (im’“mind”) wird. (Vgl. MEAD 1968, Teil III. - Diskurs im MEADschen Sinne funktioniert formal auf der Grundlage der idealisierenden Unterstellung, alle Gesellschaftsmitglieder besäßen bereits äquivalente sozialstrukturelle Voraussetzungen und dieselben dementsprechend entwickelten individuellen Fähigkeiten zur allseitigen und gleichgewichtigen auf den je anderen und seine Position bezogenen Rollenübernahme.)

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  77. Zur Bewältigung der gerade angedeuteten Paradoxie umgangssprachlicher Kommunikation ist im übrigen permanente Metakommunikation erforderlich. (Vgl. WATZLAWICK u.a. 1969, Punkte 2.3, 2.5, 3.3 und 3.5; sowie HABERMAS 1968b, S.4of) Und noch eine terminologische Klarstellung: GARFINKELs Diskurskategorie entspricht eher HABERMAS’ Kategorie kommunikativen Handelns als HABERMAS’ eigener Diskurskategorie, die sich lediglich auf “ideale” Gesprächssituationen bezieht (in einer gewissen Parallele zu MEADs Konzept des logischen Universums des Diskurses), in denen die Handlungszwänge der Interaktion virtualisiert sind, alle Motive ausser demjenigen einer kooperativen Verständigungsbereitschaft ausser Kraft gesetzt sind, und alle Geltungsansprüche hinsichtlich der im kommunikativen Handeln unterstellten Existenz von Gegenständen, hinsichtlich ihrer positiven und negativen Konsequenzen und hinsichtlich der entsprechenden Handlungsempfehlungen sowie die selbstverständliche Voraussetzung der Richtigkeit dieser Unterstellungen, Warnungen und Empfehlungen ausser Kraft gesetzt sind und einer grundlegenden Geltungsdiskussion unterzogen werden (HABERMAS 1971a, S.117). Alltagsdiskurs im Sinne von GARFINKEL setzt dagegen gerade gewisse Verständigungsgrundlagen immer schon voraus, geht von der Existenz der handlungsintendierten Gegenstände und der Richtigkeit der handlungsnotwendigen Unterstellungen aus - kurz, steht unter dem Gesetz lebensweltlichen Handelns und Arbeitens. (Zu einer möglichen Kritik der HABERMASschen Diskurskategorie vom Standpunkt MEADscher Überlegungen her - aus denen auch GARFINKEL schöpft - vgl. SCHÜTZE 1973, Punkt 9.11)

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  78. Anmerkung der Herausgeber: Dass auch Wissenschaftler - soweit ihre faktische Forschungsarbeit gemeint ist - in der Lebenswelt des festsetzenden, erwartenden, normalisierenden Sprechens über die Realität im Rahmen von sozialen Interaktionen bleiben und nicht die Realität “als solche” (etwa in ein für alle Mal feststellenden Protokollbeobachtungen) unter Umgehung sozial sanktionierten und situationsabhängigen Sprechens erfassen können, zeigt sich an der Problematik der Basissätze zur Kontrolle wissenschaftlicher Theorien. Die Basissätze sind ihrerseits “Beobachtungstheorien” bzw. Sätze über Beobachtungen im Lichte von Theorien und müssen deshalb in ihrer Wahrheitsgeltung durch Diskurs in der Profession sozial entschieden werden. (Vgl. POPPER 1966, S.72 AnmI2 und S.74ff) - Aber auch abgesehen von den Basissätzen bildet sich nach POPPER eine selbstverständliche Grundlage von Hintergrundswissen über bewährte Theorien, Verfahren usw. heraus, das Wissenschaftler für die Entscheidung und Verständigung über Forschungsergebnisse benötigen. Jeder Versuch, von diesem Hintergrundswissen abzusehen und alles zu bezweifeln, könne zum Zusammenbruch der wissenschaftlichkritischen Debatte führen (vgl. POPPER 1963, S.238) - ähnlich wie das GARFINKEL gerade für die alltagsweltliche Kommunikation (im nächsten Absatz des vorliegenden Aufsatzes) beschreibt.

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  79. Für eine frühe Formulierung der alltagsweltlichen Einbindung wissenschaftlichen Arbeitens (im Gegensatz zum idealen kognitiven Stil von Wissenschaft), sichtbar an der Vagheit und Situationsgebundenheit von Ausdrücken, vgl. das HUSSERL-Zitat in Anm.1o. In den Augen vieler Sozialwissenschaftler ist das Experiment als Batterie “härtester” Forschungstechniken die ideale wissenschaftliche Methode und der Königsweg gerade auch des faktisch praktizierten sozialwissenschaftlichen Forschens. Für die methodologische Reflexion und sozialpsychologische Metaerforschung des psychologischen Experimentes als Herstellung einer eigenständigen sozialen Realität alltagsweltlicher Art (im SCHÜTZschen Sinne) vgl. JUNG 1971.

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  80. Anmerkung der Herausgeber: Als prononzierte wissenschaftstheoretische Versuche in diese Richtung sind die Arbeiten von CARNAP (1961), GOODMAN (1951) und QUINE (196o) zu nennen. In der Methodologie der Sozialwissenschaften wäre etwa der Versuch von Otto NEURATH (1931, 1933) zu nennen, die Erfahrungsbasis der Sozialwissenschaften in einer physikalistischen Objekt-bzw. Protokollsprache zu finden. Theoretisch und empirisch dem Konzept der Rückführung von Theorie und Forschungsanstrengungen auf einfache Anschauung und einfache Begriffe sind vor allem verhaltenstheoretische Ansätze in der Soziologie verpflichtet (vgl. etwa HOMANS 1968, STENDENBACH 1964, MALEWSKI 1967). Problematisiert worden ist dieser Reduktionismus insbesondere an der Frage, ob die symbolischen Fähigkeiten menschlichen Sprachhandelns (insbesondere die kategoriale Fähigkeit zum Sprachlernen) auf verhaltenstheoretische Modelle reduzierbar sind (SKINNER 1957, CHOMSKY 1964).

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  81. Anmerkung der Herausgeber: GARFINKEL führt an dieser Stelle die Sozialitätsidealisierungen zur Konstituierung gesellschaftlicher Reziprozität ein. (Zur Unterscheidung zwischen konstituierenden Sozialitätsidealisierungen und normalisierenden Ereignisidealisierungen vgl. Anm.9a.) Das System der Sozialitätsidealisierungen scheint eine komplexere Struktur aufzuweisen, als an dieser Steil des GARFINKEL- Textes deutlich wird. SCHUTZ unterschied zwei Sozialitätsidealisierungen: a) diejenige der Austauschbarkeit der Standpunkte und b) diejenige der Kongruenz der Relevanzsysteme (vgl. für ihre Definition Anm. 30. GARFINKEL fügt zwei weitere hinzu: c) “die Erwartung, dass das Wissen um die gerade eingegangene Interaktionsbeziehung ein gemeinsam übernommenes Kommunikationsschema ist” (GARFINKEL 1963, S.226), und d) die Entscheidung und Erwartung, dass das, was jeder weiss, eine rechte Grundlage des Handelns in einer wirklichen sozialen Welt ist“ (S.228). - Neben der wahrscheinlich noch wesentlich grösseren Zahl der unterschiedlichen einzelnen Sozialitätsidealisierungen zur Konstitution von Interaktionen muss man davon ausgehen, dass jede Sozialitätsidealisierung eine triadische Zuschreibungsstruktur besitzt: ego führt die Idealisierung durch; erwartet, dass der andere dasselbe tut; und erwartet, dass der andere dasselbe wie er selbst erwartet. (SCHUTZ 1962, S.12, und GARFINKEL 1963, S.19o) Man könnte hier mit GARFINKEL von den drei ”konstitutiven Erwartungen“ innerhalb jeder Sozialitätsidealisierung sprechen. (Eine offene Frage wäre, warum kein infiniter Regress der wechselseitigen Zuschreibungen bzw. konstitutiven Erwartungen auftritt. - Vgl. hierzu Gotthard GUNTHER 1957)

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  82. MEAD hat darauf aufmerksam gemacht, dass die Sozialitätsidealisierungen moralische Grundleistungen zur Konstituierung jeder Gesellschaftsstruktur sind. Als formale Struktur kristallisieren sie sich im “logischen Universum” der Sprache und des Denkens (bzw. des Diskurses - vgl. Anm.12a). Inhaltlich ausgefüllt implizieren sie eine ideale Weltgesellschaft, die durch vollständige wechselseitige und gleichgewichtige Rollenübernahmen gekennzeichnet ist. (Vgl. MEAD 1968, S.200, 239, 246, 320, Anm.15, 330, 339, 375ff, 436ff). Man muss jedoch davon ausgehen, dass die Sozialitätsidealisierungen in der alltagsweltlichen Interaktion nicht die Zeitstruktur der geschlossenen Zukunftsvorstellung (vgl. Anm.4a) einer Utopie aufweisen (die man jedoch aus ihnen im Rahmen einer finiten Sinnprovinz entwickeln kann), sondern lediglich einen performatorischen Zukunftsbezug (der nicht nur offen, sondern sogar leer ist, weil in ihm kein echtes Zukunftsstadium anvisiert wird, sondern lediglich ein noch nicht vorhandenes Gegenwartsstadium). Gerade durch ihre fordernd-erwartende kontrafaktische und damit faktisch zukunftsbezogene Gegenwartsvorstellung von der Sozialität stellen die Sozialitätsidealisierungen in für kommunikative Handlungen praktisch ausreichendem Masse das je zukünftige her, was gegenwärtig nicht existiert oder doch zumindest prekär ist. Obwohl im exakten Zeitpunkt der jeweiligen Idealisierungen nicht realistisch, dienen die Sozialitätsidealisierungen der Realisierung von Interaktionen. HABERMAS drückt das bezüglich der idealen Sprechsituation, die man als zusammenfassendes System aller Sozialitätsidealisierungen auffassen könnte, so aus: “Die Bedingungen der empirischen Rede sind mit denen der idealen Sprechsituation (und des reinen kommunikativen Handelns) ersichtlich nicht, jedenfalls oft oder meist nicht, identisch. Gleichwohl gehört es zur Struktur möglicher Rede, dass wir im Vollzuge der Sprechakte (und der Handlungen) kontrafaktisch so tun, als sei die ideale Sprechsituation (oder das Modell reinen kommunikativen Handelns) nicht bloß fiktiv, sondern wirklich - eben das nennen wir eine Unterstellung. Das normative Fundament sprachlicher Verständigung ist mithin beides: antizipiert, aber als antizipierte Grundlage auch wirksam.” (HABERMAS 1971, S.140)

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  83. Als performatorische Zukunftsbezüge sind die Sozialitätsidealisierungen keine Realisierungsstrategien eines offenen, in ad-hoc-Strategien angegangenen operationalen Zukunftsbezuges, geschweige denn eine inhaltich-utopische Zukunftsvorstellung, sonde rn lediglich die zu befolgenden Basisregeln zur fortlaufenden Konstitution der gerade ablaufenden Interaktion. Vom formalpragmatischen Sozialitätsproblem der Konstituierung kommunikativer Reziprozität her gesehen sind die je subjektiven Idealisierungsleistungen je objektive Basisregeln zur Lösung gesellschaftlicher Elementarprobleme, mithin interaktionslogische Notwendigkeiten zur je neuen situativen Ermöglichung der immer schon als logisches Potential bestehenden gesellschaftlichen Elementarstrukturen (wie derjenigen der kommunikativen Reziprozität).

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  84. Zu den Sozialitätsidealisierungen vgl. auch den Aufsatz von CICOUREL in diesem Band, insbes. die Abschnitte III-VI.

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  85. Anmerkung der Herausgeber: Dieses Untersuchungsverfahren wird deutlicher in folgenden Arbeiten von GARFINKEL beschrieben: a) A Conception of, and Experiments with, “Trust” as a Condition of Stable Concerted Actions (GARFINKEL 1963), b) Studies of the Routine Grounds of Everyday Activities (GARFINKEL 1967, S.35–75); und c) Common Sense Knowledge of Social Structures: The Documentary Method of Interpretation in Lay and Professional Fact Finding (GARFINKEL 1967, S.76–103).

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  86. Anmerkung der Herausgeber: Dass sich ein derartiger Lehr-und Lernprozess nicht auf das Lehren und Lernen des inhaltlichen Bestandes von Alltagsfeststellungen beschränkt, sondern gerade auch im Lehren und Lernen der formalpragmatischen Regeln zur Erzeugung und Verwendung von Wissen, d.h. der interaktionslogischen Basisregeln zur Interaktion mit anderen Gesellschaftsmitgliedern und der Welt, fundamental ist, wird von den Vertretern einer konstruktivistischen logischen Propädeutik immer wieder betont. (Vgl. etwa LORENZEN 1968, S.28f und 41ff; sowie LORENZ 1970, S.15, 152–156). Eine derartige elementare Lehr-und Lernsituation versucht dem Lernenden die interaktionslogischen Grundlagen seines Denkens, Handelns und Kommunizierens in der Rekonstruktion des logischen Schichtenaufbaus jeder kommunikativen Reziprozitätsbeziehung und der in ihr möglichen Denk-und Handlungsmuster zu verdeutlichen. Gerade während sie das tut, erzeugt sich eine derartige Lehr-und Lernsituation recht eigentlich erst selbst; mithin setzt sie nicht das schon unkritisch selbst voraus, was sie erst durch Rekonstruktion verdeutlichen will. Da der Lernende die interaktionslogischen Grundlagen kommunikativer Interaktionen auch im Kern noch nicht kennt, kann man sie nicht für die Interaktionssequenzen ihrer Erlernung wie für jede andere Kommunikation voraussetzen; der Lernende muss in der Sozialisation durch Lehr-und Lernsituationen zur Selbstkonstruktion der interaktionslogischen Basisregeln geführt werden, und das geschieht in den elementaren kommunikativen S e l b s t h an dlungen jeder Lehr-und Lernsituation. Elementare inter-aktionslogische Lehr-und Lernsituationen können “natürlich” sein wie in jeder Sozialisation (das betont GARFINKEL) oder auch künstliche Veranstaltungen für die bewusste “sekundäre” Reflexion der ersten unbewussten interaktionslogischen Primärsozialisation (das betont die konstruktivistische logische Propädeutik).

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  87. Anmerkung der Herausgeber: Ausgehend vom Motiviertheitscharakter sozialer Handlungen hat in der gegenwärtigen deutschen Soziologie insbesondere HABERMAS die Methoden der Sozialwissenschaften problematisiert. (Vgl. HABERMAS 1967, insbes. die Abschnitte 4 und 6–9) Zunächst kam HABERMAS zu dem Ergebnis, dass eine intersubjektive Überprüfbarkeit sozialwissenschaftlicher Forschungsmethoden, die von verhaltenswissenschaftlichen bzw. ethologischen Versuchsanordnungen in der Kleingruppenforschung abgesehen (in der das Sinnfundament für die Forschungspraxis konstant gesetzt und somit ignoriert werden könne - vgl. HABERMAS 1967, S.77–79) prinzipiell dem Sinnverstehen verpflichtet seien, im exakten Sinne nicht möglich sei (1967, S.182–187). Stattdessen könne man lediglich Bildungsgeschichten individueller und sozialer Strukturen hermeneutisch-kritisch rekonstruieren, wobei man jedoch prinzipiell dem Subjektivitätsvorwurf ausgesetzt bleibt. (1967, S.187–195) Später versucht HABERMAS jedoch, zu einer objektivierenden Grundlegung sinnverstehender Methoden mit dem Ziel ihrer intersubjektiven Überprüfbarkeit zurückzukommen, indem er, ähnlich wie GARFINKEL, die formal-pragmatischen Universalien, d.h. die Idealisierungen beinhaltenden Basisregeln, der praktischen dokumentarischen Methode, d.h. des sinnhaft-kommunikativen Verstehens im alltagsweltlichen Handlungsvollzug, aufzudecken versucht, um so eine Grundlaye für die wissenschaftliche dokumentarische bzw. hermeneutische Methode zu legen, die intersubjektive Oberprüfbarkeit erlauben könnte, (HABERMAS 1971a und 1971b, S.171–175 Anm.2 und S.208)

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  88. Anmerkung der Herausgeber: In der Linguistik werden die von GARFINKEL hier aufgeführten Phänomene gewöhnlich unter der Kategorie der Deixis zusammengefasst. LYONS (1971) z.B. definiert das Phänomen der Deixis folgendermassen: “Jede sprachliche Äusserung erfolgt an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit, findet also in einer gewissen Raum-Zeit-Situation statt. Sie wird von einer bestimmten Person (dem Sprecher) gemacht und ist gewöhnlich an eine andere Person (den Hörer) gerichtet. Die Unterscheidung zwischen Sprecher und Hörer.. wollen wir als typisch ansehen; Sprecher und Hörer befinden sich - ebenfalls typisch - in derselben ZeitRaum-Situation.. Der Begriff Deixis vom griechischen Wort für tzeigent oder thinweisent wird eingeführt, um die Merkmale der Sprache, die der ‘Orientierungt dienen, nämlich die, die sich auf Zeit und Ort der Äusserung beziehen, in den Griff zu bekommen”. (S.279) LYONS nennt dann als auffälligste Gruppen von deiktischen Sprachelementen die Personalpronomina und die Adverbialausdrücke des Ortes und der Zeit. Er fährt fort: “Dies sind nur die augenfälligsten Beispiele dafür, wie in der grammatischen Struktur der Sprache die Raum-Zeit-Koordinaten der für die Äusserung typischen Situation zum Ausdruck kommen können. Die typische Situation der Äusserung istegozentrisch. Sobald die Rolle des Sprechers in einem Gespräch von einem Teilnehmer auf einen anderen übergeht, ändert sich auch das Zentrumt des deiktischen Systems... Der Sprecher ist immer sozusagen der Mittelpunkt der Situation, in der die Äusserung gemacht wird:” (S.279i) Schliesslich weisst LYONS darauf hin, dass sich die formalen Kommunikationsrollen von Sprecher und Hörer mit soziohistorisch konkreten anderen sozialen Rollen der kommunizierenden Interaktionspartner verbinden (Herrschafts-und Unterordnungsrollen usw.), wodurch die Situationsbindung erst unaufhebbar soziohistorisch singulär-konkret wird. (S.28o) Der Hörer sei nicht in der Lage, eine Äusserung zu verstehen, wenn er die deiktischen Elemente nicht richtig unter Bezug auf die entsprechenden soziohistorisch konkreten und singulären Merkmale der Situation interpretiere. (S.422) Mithin: die Deixis sei nur der formale Ausdruck der grundlegenden situativen Kontextbindung von kommunikativen Äusserungen überhaupt. Ein inhaltliches Merkmal jener situativen Kontextbindung sei die Abhängigkeit der Bedeutung umgangssprachlicher Ausserungen vom jeweiligen selbstverständlichen Hintergrundswissensbestand der Kommunikationspartner. Lyons spielt hier auf das Phänomen der unaufhebbaren Vagheit von Ausdrücken an, wie es von HUSSERL und GARFINKEL beschrieben wird, denn diese Kontextmerkmale seien prinzipiell nie ganz zu erfassen. (S.422)

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  89. In den letzten Jahren wird in Logik, Linguistik und sozialwissenschaftlicher Grundlagentheorie versucht, die interaktionslogische formalpragmatische Struktur von Kommunikation und Sprache gerade vom Phänomen der deiktischen Ausdrücke her zu entwickeln. (Vgl. WEINREICH 1966, S.150–158; WUNDERLICH 1971; KAMLAH und LORENZEN 1967, S.27, 32, 40; HABERMAS 1971a, S.1o9) Auch das Interesse von GARFINKEL am Phänomen der Deixis lässt sich so kennzeichnen. Allerdings spielt bei GARFINKEL noch die methodenkritische Komponente mit, dass die Wissenschaft das deiktische Fundament ihrer Tätigkeiten vergessen habe (vgl. bei HUSSERL eine ähnliche Argumentation bezüglich des vergessenen lebensweltlichen Fundamentes der Wissenschaft - HUSSERL 1962, S.49f), sich in (von vornherein aussichtslosen) heilenden Objektivierungspraktiken ergehe und dabei gerade die faktischen Arbeitsprozesse der Wissenschaften, die nichts anderes als routinisierte lebensweltliche Praktiken seien, missverstehe und somit gerade dann in einer schlechten Praxis verzerre (vgl. GARFINKEL und SACKS 197o, S.338–341) - ganz abgesehen davon, dass so auch ein falsches Bild von alltagsweltlichen Interaktionsstrukturen, insbesondere hinsichtlich ihrer Rationalität, geliefert werde und so der Objektbereich der Soziologie verzerrt werde (vgl. GARFINKEL 1967, S.262–283). Eine ähnliche Argumentation findet sich bei CICOUREL (vgl. seinen Aufsatz in unserem Band, insbesondere dessen Zusammenfassung): d.h. die sozialwissenschaftliche Methodologie könne nur dann gerettet werden, wenn sie sich explizit dem Indexikalitätsproblem und den mit ihm zusammenhängenden praktischen Idealisierungen (zur Bewältigung der indexikalischen Verflechtungen in die jeweilige Interaktionssituation) bzw. den Basisregeln widme. Für das interpretative Paradigma in der Soziologie insgesamt vorgezeichnet ist das Problem der Indexikalität in SCHÜTZ’ formalem Konzept des Referenzrahmens, in welchem jedes Handeln, Typisieren und Sprechen stehe: mithin in einem Koordinatensystem elementarer, basisregelhafter Handlungsorientierungen mit dem Nullpunkt des Ich als Handlungszentrum (vgl. SCHÜTZ 1964, S.8 und 234f).

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  90. Vgl. KNEALE und KNEALE 1962, S.16.

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  91. Ergänzung der Herausgeber: Die Originalstelle in den Dissoi Logoi lautet folgendermaßen: “Wenn alle hier” (es handelt sich um einen zufälligen Gesprächskreis) “sagen würden: ‘Mystas eImi.’, sagten zwar alle das gleiche, ich allein aber spräche wahr, weil ich’s auch bin” (nämlich ein mS+stas). (DIELS-KRANZ, Bd.2, Nr.9o; 4,4) Vielleicht lässt sich im Anschluss an diese Textstelle und ihre Interpretation durch KNEALE und KNEALE folgern, dass man verschiedene Arten von Situationsabhängigkeit von Äusserungen unterscheiden kann: a) die Abhängigkeit ihres Wahrheitswertes von der Äusserungssituation; b) die Abhängigkeit ihrer Bedeutung von der Äusserungssituation; c) die Abhängigkeit der Argumentationsgültigkeit einer Äusserung von der Ausserungssituation; und d) die Abhängigkeit der pragmatischen Funktionalität einer Äusserung von der Ausserungssituation.

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  92. Anmerkung der Herausgeber: Derartige Entindexikalisierungsversuche können aber auch reflektiert gerade im kontrollierten Bezug auf konkrete Redesituationen durchgeführt werden, indem. Indikatoren im quasi-lebensweltlichen Verflochtensein in eine konstruierte Lehr-und Lernsituation und in Ansehung dieser durch Eigennamen und höhere Kennzeichnungen ersetzt werden. Vgl. KAMLAH/LORENZEN 1967, S.27–34, 103–109. Inwieweit sich auch dieses Verfahren dem GARFINKELschen “Heilungs-bzw. Objektivismusvorwurf” aussetzt, wäre eine interessante Frage.

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  93. Vgl. PEIRCE 1932, Bd.2, Par.248, 265, 3o5 und PEIRCE 197o, S.218 und 324ff. Ergänzung der Herausgeber: PEIRCE betònt die Zeigehandlung des Index, der das physische Substratum einer konkreten Verbindung mit dem angezeigten Objekt zugrundeliege. Der Index grenze ein partikulares Objekt aus, ohne jedoch irgendwelche Merkmale dieses Objektes zu implizieren. Mindestens e inen Index (bzw. seine Derivate: einen Eigennamen, eine komplexe Kennzeichnung oder einen vorab gekennzeichneten Prädikator) müsse jeder Satz enthalten, da es seine Funktion sei, das Objekt der Rede zu bezeichnen. (Ganz ähnlich auch KAMLAH/LORENZEN 1967, S.31ff, 40, lo4f, 110–115).

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  94. Neben den Textstellen von HUSSERL und MARVIN FARBER zum Phänomen der Gelegenheitsausdrücke bzw. wesentlich okkasionellen Ausdrücke (vgl. Anm.lo) sei auch noch auf die Arbeit von MOHANTY 1964, S.77–8o hingewiesen.

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  95. Einen Überblick über indexikalische Ausdrücke kann man in Jehoshua BAR-HILLELs Arbeit “Indexical Expressions” (1954). finden.

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  96. Der Leser ist dazu aufgefordert, unter dem Ausdruck “die Anstrengung aller Wissenschaften” jede Untersuchung mit der folgenden Eigenschaft zu verstehen. Sie muss darauf ausgerichtet sein, die Wirksamkeit praktischer Aktivitäten und die von den Kollektivitätsmitgliedern angestellten erklärenden Erwägungen, warum solche praktischen Aktivitäten wirksam sind, aufzuspüren und abzuschätzen. Zusätzlich zu den akademisch gelehrten Wissenschaften der westlichen Welt möchte ich in den Kreis derartiger Forschungsanstrengungen zur Befreiung von der Indexikalität und zur angeblichen Steigerung der Wirksamkeit praktischer Aktivitäten durch die Eliminierung der Indexikalität (das Gegenteil einer derartigen Steigerung ist der Fall:) folgende Wissenssysteme einschliessen: a) die “Ethno”-Theorien (“ethno” sciences), die von Anthropologen beschrieben worden sind wie etwa Ethnomedizin und Ethnobotanik; sowie ausserdem b) die enorme Anzahl von empirischen Disziplinen, für die ihre eigene Wirksamkeit innerha1b praktischer und als praktische Aktivitäten ein beständiges Auf - merksamkeitsfeld ist: Azande-Zauberei, Yaqui-Schamanismus, Wasserzauber, Astrologie, Alchemie, Unternehmensforschung und ähnliche technologische Wissenssysteme.

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  97. Ergänzung der Herausgeber: Zur Erforschung von Ethnotheorien vgl. die Arbeit von FRAKE in diesem Band. Eine im Gegensatz zur ethnographischen Komponentenanalyse (“Ethnotheorie” nun im metasprachlichen Sinne als Richtung der sozialwissenschaftlichen Feldforschungvgl. die Einführung zu diesem Band, Teil I), die sich auf die Analyse des inhaltlichen Bestandes von ethnotheoretischen Wissenssystemen spezialisiert hat, - eine hierzu im Gegensatz mehr formalpragmatische Analyse der Funktionsweise der höheren Schichten von Ethnotheorien (von Mythologien und legitimierenden Weltbildern) ist von BERGER und LUCKMANN vorgelegt worden. Die allgemeingesellschaftlichen und “kirchlich”-institutionsspezifischen Anstrengungen zur Objektivierung bzw. Entindexikalisierung von mythologischen Wissenssystemen (im weitesten Sinne des Wortes) und die Paradoxie der historisch zunehmenden Ineffektivität mythologischer Wissenssysteme für die Steuerung alltagsweltlicher Interaktionssysteme wird von BERGER und LUCKMANN mit den Konzepten des “heiligen Kosmos”, der “symbolischen Universa”, der “Mechanismen zur Aufrechterhaltung symbolischer Universa” und der “sekundären Legitimationen” analysiert. Mythologische Systeme wollen den eingespielten Zustand alltagsweltlicher routinisierter Interaktionspraktiken durch erklärende Legitimation stabilisieren. Gerade dafür müssen jedoch die alltäglichen Angelegenheiten in einer vom mythologischen Erklärungssystem als grundlegend unterstellten symbolischen Hintergrundstruktur (von Welt als geordnetem “Kosmos” und zugleich der eigenen Legitimationspraktiken - mithin auch hier ein nicht eliminierbarer Restbestand von Indexikalität!) “vergegenständlicht”, d.h. dem tatsächlichen Gang alltäglicher Routinepraktiken entzogen werden. Eine derartige Vergegenständlichung drückt sich formal in der möglichst weitgehenden Eliminierung indexikalischer Bezüge auf die gerade ablaufende lebensweltliche Praxis und ihre konkreten Deutungsund Entscheidungssituationen aus. Damit ist jedoch das erklärende mythodologische Wissenssystem nicht mehr dem formalen Zwang zur fortlaufenden Aufnahme neuer situativer Elemente unterworfen; es wird “weltfremde, d.h. den alltagsweltlichen Routinepraktiken entzogen und verliert so seine Interaktionsrelevanz. Zu seiner Stabilisierung müssen nun tertiäre Mechanismen zur Aufrechterhaltung symbolischer Universa herangezogen werden. (Vgl. LUCKMANN 1967, Kap. III-V; BERGER 1967, Kap. I-III; BERGER und LUCKMANN 1966, S.85–118)

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  98. Zur objektivistischen bzw. naturalistischen Methodologie, welche die Sozialwissenschaften prinzipiell von der Indexikalität heilen will, vgl. die Arbeiten in NATANSON 1963, Teil III, insbesondere die Arbeiten von NAGEL und HEMPEL; HABER-MAS 1967, Kap.4; den Aufsatz von WILSON in diesem Band, Teil II und IV; sowie den Aufsatz von CICOUREL in diesem Band. Das radikalste Konzept der Entindexikalisierung ist vielleicht von OTTO NEURATH 1931 und 1933 vertreten worden.

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Garfinkel, H. (1980). Das Alltagswissen über Soziale und Innerhalb Sozialer Strukturen (0). In: Alltagswissen, Interaktion und Gesellschaftliche Wirklichkeit. WV studium, vol 54/55. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-14511-0_6

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