Zusammenfassung
Lange Zeit wurden auf Literatur bezogene Kommunikationsprozesse nur insofern zum Gegenstand der Literaturwissenschaft, als sie für die Entstehungsgeschichte literarischer Werke bzw. für die geistige und künstlerische Entwicklung von Autoren von Belang waren. Dies gilt nicht nur für die bürgerliche, sondern ebenso für die marxistische Literaturwissenschaft, deren Interesse, bedingt durch den großen Einfluß von Lukács, über Jahrzehnte hinweg nahezu ausschließlich der Abbildproblematik und mithin produktionsästhetischen Fragen galt. Dies, obwohl marxistische Literaturprogrammatik und auch sozialistische Kulturpolitik Literatur von jeher begriffen hatten als Instrument sozialistischer Bewußtseins- und Persönlichkeitsentwicklung und daher folglich stets am gesellschaftlichen Funktionieren von Literatur interessiert waren.l Erst in dem Maße, wie sich in der marxistischen Literaturwissenschaft ein funktionales Literaturverständnis entwickelte und durchsetzte, gerieten auch jene Kommunikationsprozesse, die die Rezeption und Wirkung von Literatur begleiteten, in das Blickfeld von literaturtheoretischen und literatursoziologischen Untersuchungen. Als ein erster Vorstoß auf diesem Gebiet in der DDR kann die Arbeit von Oswald gelten, der in Ermangelung empirischen Untersuchungsmaterials die Mitte der 60er Jahre zahlreich geführten öffentlichen und nichtöffentlichen Leserdiskussionen um neue Werke der DDR-Gegenwartsliteratur unter inhaltlichen und soziologischen Aspekten auswertete.2 Da das ihm zur Verfügung stehende Quellenmaterial keine soziologische Repräsentanz besaß und zudem in seinen Aussagen in starkem Maße von der kulturpolitischen Programmatik jener Jahre (der Zeit des „Bitterfelder Weges“), d.h. von der den tatsächlichen Gegebenheiten vorgreifenden Vorstellung einer einheitlichen sozialistischen „Literaturgesellschaft” bestimmt war,3 konnte das von Oswald entworfene Bild des „fortgeschrittenen Arbeiterlesers“ weder für die literarisch-ästhetischen Bedürfnisse der Arbeiterklasse insgesamt Gültigkeit beanspruchen, noch konnte es dazu beitragen, das reale Funktionieren von Literatur im gesellschaftlichen Kommunikationsprozeß zu erhellen. Dies lag auch außerhalb des Vermögens spezieller Einzeluntersuchungen zur Spezifik und Funktion der Literaturkritik,4 die literaturbezogene Kommunikationsprozesse stets nur insoweit zu fassen vermögen, als sie an eine bestimmte Institution gebunden sind und die sich in diesem Punkte mit Arbeiten treffen, die — nicht unbeeinflußt von der Tradition bürgerlicher Kunst- und Literatursoziologie — mittels empirischer Untersuchungen die Prozesse der Distribution (wie etwa die Buchmarktforschung5) und der Vermittlung von Literatur und Kunst zum Gegenstand haben. Ein solches, einseitig an den Vermittlungs- bzw. Distributionsaspekt geknüpftes Vorgehen erbringt zwar Erkenntnisse im Detail, die vor allem für die praktische Arbeit der jeweiligen Vermittlungsinstanz ganz ohne Zweifel von großem Nutzen sind, erscheint jedoch im Hinblick auf das Ganze unzureichend, weil auf diese Weise das Verständnis und das Bewußtsein für den Gesamtzusammenhang literaturbezogener Kommunikationsprozesse verloren gehen bzw. weil so u.U. wesentliche nichttraditionelle Kommunikationsfaktoren oder solche, die unter dem Aspekt der institutionellen Vermittlung eben nicht oder nur in unbefriedigender Weise faßbar sind,6 gar nicht erst ins Blickfeld geraten.
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Literatur
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Scherf, E.M. (1991). Literatur im gesellschaftlichen Kommunikationsprozeß. In: Viehoff, R. (eds) Alternative Traditionen. Konzeption Empirische Literaturwissenschaft, vol 10. Vieweg+Teubner Verlag, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-14243-0_24
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