Zusammenfassung
In Kapitel II beschäftige ich mich mit der Stellung und dem Sinn der Biographie in der Grundlegung der Geisteswissenschaften bei Dilthey. Wilhelm Dilthey (1833–1911) als Begründer der Geisteswissenschaften steht im engen Zusammenhang mit der Biographieforschung, wenn er Begriffen wie Biographie, Selbstbiographie, Lebensverlauf, Lebenslauf eine kaum unterschätzbare Bedeutung zuschreibt. Die Bezüge der Hermeneutik Diltheys zur Biographieforschung lassen sich nicht explizit, sondern nur implizit im Gesamtwerk Diltheys herausfinden. Die intensive Auseinandersetzung mit den Gedanken Diltheys soll dazu dienen, einerseits dem Ursprung und der Genese der gängigen Biographieforschung auf die Spur zu kommen, andererseits die Gemeinsamkeiten zwischen der wissenschaftlichen Einschätzung der Selbstbiographie von Dilthey und den gegenwärtigen verschiedenen Ansätzen der pädagogischen Biographieforschung deutlich zu machen.
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Literatur
Ich nenne 3 Beispiele. 1) W. Loch (1979) hat darauf hingewiesen, daß Dilthey mit seiner Grundlegung der Geisteswissenschaften ein Verständnis des menschlichen Lebenslaufs eröffnet hat. 2) W. Marotzki (1990) sieht die Aktualität Wilhelm Diltheys darin, hermeneutische Sinnauslegung in hochkomplexen Gesellschaften als das Verstehensprogramm moderner Subjektivität betrachten zu wollen. In modernen Individualisierungsprozessen fungiert die Biographie als Sinnressource. 3) K. W. Beise (1987) hat das Autobiographie-Konzept Diltheys im Zusammenhang mit der historischen Pädagogik bearbeitet.
Vgl. GW I. Im folgenden beziehe ich mich besonders auf den einleitenden Teil (S. 1–120) dieser Schrift.
Vgl. GW VII, S. 79–188 bzw. Dilthey, W.: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, eingeleitet von Manfred Riedel. Frankfurt a.M. 1990, S. 87–232.
Im folgenden verwende ich die Abkürzung »Einleitung» fir »Einleitung in die Geisteswissenschaften« (1883) in GW I. und »Aufbau« fir »Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften« (1910) in GW VII.
GW VII, S. 70. Später fügt Dilthey auch die “Psychologie” den Geisteswissenschaften hinzu. Bemerkenswert ist dabei, daß unmittelbar kaum von der Pädagogik die Rede ist.
Vgl. Schmidt, H.: Philosophisches Wörterbuch. 22. Aufl. Stuttgart 1991, S. 237.
GW V, S. 372. Ich verweise auf den Begriff des Seelenlebens. In der philosophischen Tradition von Aristoteles über Leibniz bis zur deutschen Klassik und den deutschen Idealismus bedeutet die Seele das Prinzip des Lebens. Beide Begriffe verknüpfend verwendet Dilthey den Begriff des “Seelenlebens” als sich selbst bewegende, sich selbst ausformende und sich selbst vollendende Kraft. (Vgl. Blaß, J. L.: Modelle pädagogischer Theoriebildung. Bd. 1. Stuttgart; Köln; Berlin; Mainz 1978, S. 118.)
Vgl. Marotzki, W.: Hermeneutische Sinnauslegung in krisenhafter Zeit. In: Gesamtschule-Information 3/4. 1990, S. 318.
Vgl. Blaß, J. L.: Modelle pädagogischer Theoriebildung. Bd. 1. Von Kant his Marx. a.a.O., S. 121–122.
Ich mache darauf aufmerksam, daß in der Entwicklungspsychologie die Entwicklung des Menschen auf das Kinder-und Jugendzeitalter eingeschränkt wird.
In “Ideen über eine beschreibende und zergliedemde Psychologie (1894)” entwirft Dilthey eine neue Art Psychologie, Psychologie, die der herkömmlichen erklärenden Psychologie entgegentritt. Im folgenden wird diese Abhandlung als “Psychologie” bezeichnet.
Vgl. Riedel, M.: Das erkenntniskritische Motiv in Diltheys Theorie der Geisteswissenschaften. In: Hermeneutik und Dialektik. Bd. I. Tübingen 1970, S. 249. An einer anderen Stelle verdeutlicht Riedel den Sachverhalt der “Kritik der historischen Vernunft” Diltheys, indem er schreibt: “Die Vernunft ist keine reine, sondern immer nur ”historische“, d.h. endliche Vernunft, deren Prinzipien und Regeln im Prozeß der gesellschaftlich-geschichtlichen und wissenschaftlichen Erfahrung revidiert, verbessert und ergänzt werden.” (A.a.O., S. 238.)
Vgl. Schulp-Hirsch, G.: Hermeneutische Pädagogik, Diss. Münster 1988, S. 54.
Dilthey, W.: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Breslauer Ausarbeitung des 2. Bandes (Grundlegung der Erkenntnistheorie). 1880. S. 60f In: ders.: GW XIX. hersg. von Helmut Johach und Frithjof Rodi. Göttingen 1982, S. 44.
GW VII, S. 228. Aus der heutigen Sicht kann man die Idee Diltheys bezweifeln, daß das Leben ganzheitlich und einheitlich sei. In einer postmodemen Zeit ist die Bewahrung und Aufrechterhaltung der persönlichen Identität immer schwieriger. Entsteht die Notwendigkeit der Biographieforschung, weil die Einheit und Ganzheit des individuellen Lebens durch die schnellen Veränderungen der Welt in der heutigen Gesellschaft gefährdet wird? Vgl. Marotzki, W.: Entwurf einer strukturalen Bildungstheorie. Biographietheoretische Auslegung von Bildungsprozessen in hochkomplexen Gesellschaften. Weinheim 1990, S. 19–31 (Kapitel I).
Vgl. Gadamer, H.-G.: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Sechste Aufl. Tübingen 1990, S. 66f
Repräsentativ fir die Biographieforschung, die sich an der Erforschung der Bildungsprozesse [der Selbst-und Weltansichten des Individuums] orientiert, sind die Ansätze von Marotzki und Kokemohr. Vgl. Marotzki, W.: Entwurf einer strukturalen Bildungstheorie. a.a.O., S. 41f. Marotzki, W.: Bildungsprozesse in lebensgeschichtlichen Horizonten. In: Hoering u.a. (Hrsg.): Biographieforschung und Erwachsenenbildung. Bad Heilbrunn/Obb 1991, S. 186f. Kokemohr, R.; Koller, H.-K.: Die rhetorische Artikulation von Bildungsprozessen. Zur Methodologie erziehungswissenschaftlicher Biographieforschung. In: Krüger, H.-H.; Marotzki, W. (Hrg.): Erziehungswissenschaftliche Biographieforschung. Opladen 1995, S. 91.
Vgl. Flach, W.: Die wissenschaftliche Einschätzung der Selbstbiographie bei Dilthey. In: Archiv für Geschichte der Philosophie 52. 1970, S. 175.
Vgl. Flach, W.: a.a.O., S. 176. Unter “dem logischen Prädikat” versteht Flach das, was von einem Suhjekt ausgesagt wird.
Vgl. GW V, S. 4: “Aus dieser Lage entstand der herrschende Impuls in meinem philosophischen Denken, das Leben aus ihm selber verstehen zu wollen.” Dazu auch GW V, S. 370: “das Leben soll aus ihm selber gedacht werden - das ist der große Gedanke, der diese Lebensphilosophie mit der Welterfahrung und mit der Dichtung verknüpft.”
Vgl. GW V. S. 4: “… und der philosophische Zug, den Eingang in diese Realität zu finden, ihre Gültigkeit zu begründen, die objektive Erkenntnis derselben zu sichern, dieser Drang war für mich nur die andere Seite meines Verlangens, in die geschichtliche Welt immer tiefer einzudringen.” Hinzufügen sind meine Bemerkungen bezüglich der Problematik der Objektivität des Verstehens. Zunächst gehe ich davon aus, daß man das Problem der Objektivität nicht im Sinne der naturwissenschaftlichen Forschung verstehen darf. Bei der Erschließung autobiographischer Äußerungen handelt es sich vielmehr um das Sinn-Verstehen subjektiver Erfahrungen. Im Vordergrund steht nicht Objektivität, sondern Intersubjektivität. Das Sinn-Verstehen ist m.E. ein langwieriger Prozeß zum Besser-Verstehen, der nicht endgültig abschließbar ist.
“Plan” ist die Abkürzung von “Plan der Fortsetzung zum Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften”. GW VII, S. 191–291. Die zeitliche Datierung des “Plans” ist ungewiß. Vgl. die Anmerkungen des Herausgebers, GW VII, S. 357–374.
GW I, S. 34. Auch schreibt Dilthey auf der Seite 33: “Die Darstellung der einzelnen psychophysischen Lebenseinheit ist die Biographie.”
Vgl. die Abhandlungen: Die Jugendgeschichte Hegels (GW IV), Das Leben Schleiermachers (GW XIII, XIV). Die von Dilthey selbst verfaßten biographische Fragmente sind in den Werken, Bd. XV zu finden: “Zur Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts, Porträts und Literaturberichte zur Theologie und Philosophie im 19. Jahrhundert” (GW XV). Auch Diltheys Aufsätze und Rezensionen über die Biographien zur Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts sind in den Werken, Bd. XVI vorhanden: “Aufsätze und Rezensionen aus Zeitungen und Zeitschriften 1859–1874 (GW XVI)”.
Vgl. GW VII, S. 156–157. Hier redet Dilthey von der geisteswissenschaftlichen Begriffsbildung. Der Begriff “Wirkungszusammenhang” ist grundlegend für die Geisteswissenschaften.
GW VII, S. 247. Das Wort ist heutzutage veraltet. Ein entsprechendes Wort dafür wäre m.E. die “Identität”. Aber die Idee Diltheys von der “Selbigkeit”, genauer, der Bewahrung der Selbigkeit, soll in der Postmoderne vorsichtiger behandelt werden. Wir leben in der Zeit, in der diese Selbigkeit ständig durch “Komplexitätssteigerung und Unbestimnttheitszuwachs” herausgefordert wird. Vgl. Marotzki, W.: a.a.O., 1990. S. 19f. Vgl. auch Anm. 61.
Auf Diltheys Auseinandersetzung mit Hegels objektivem Geist gehe ich nicht tiefer ein, weil es hier nur darum geht, den Sinn des objektiven Geistes für das Verstehen hervorzuheben. Ich verweise auf die Stellen, wo Dilthey den objektiven Geist im Sinne Hegels kritisch behandelt. Vgl. GW VII, S. 148–152.
Bezüglich der Grenzen des Verstehens verweise ich auf die These Wilhelm von Humboldts, daß das Verstehen immer Mißverstehen impliziert: „Alles Verstehen ist (…) immer zugleich ein Nicht- Verstehen, eine Wahrheit, die man auch im praktischen Leben trefflich benutzen kann, alle Übereinstimmung in Gedanken und Gefühlen zugleich ein Auseinandergehen.“ (Wilhelm von Humboldt: ”Ober die Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaues“. In: Schriften, hrsg. v. A. Flitner und K. Giel, Band III, S. 228.)
GW VII, S. 212. Hier ergibt sich auch das Problem der Objektivität, Repräsentativität bzw. Allgemeingültigkeit der hermeneutischen Methode. Um das Problem der Objektivität der Geisteswissenschaften zu vertiefen, verweise ich auf O. F. Bollnow, der den Objektivitäts-und Allgemeingültigkeitsan.spruch bezweifelt. Bollnow, O. F.: Studien zur Hermeneutik. Bd I: Zur Philosophie der Geisteswissenschaften. Freiburg/München 1982, S. 13–47.
Vgl. Frank, M.: Die Unhintergehbarkeit von Individualität - Reflexionen über Subjekt, Person und Individiuum aus Anlaß ihrer ‘postmodernen’ Toterklärung. Frankfurt a.M. 1986.
Vgl. Baacke, D.: Biographie: Soziale Handlung, Textstruktur und Geschichten über Identität. Zur Diskussion in der sozialwissenschaftlichen und pädagogischen Biographieforschung sowie ein Beitrag zu ihrer Weiterführung. In: Baacke, D.; Schulze, Th.: Aus Geschichten lernen. Zur Einübung pädagogischen Verstehens. Zweite Aufl. Weinheim und München 1993, S. 59f.
Die Abhandlung “Die Entstehung der Hermeneutik (1900)” befindet sich in GW V, S. 317–338.
Montaigne, M.: Essais. Texte établi et annoté par Albert Thibaudet. Paris 1950. Zit. In: Lutz, B. (Hrsg.). Metzler Philosophen Lexikon. Stuttgart 1989, S. 546.
GW V, S. 330. Zum hermeneutischen Zirkel vgl. Heidegger, M.: Sein und Zeit. 17. Aufl. Tübingen 1993, S. 152f. Gadamer, H.-G.: a.a.O., S. 270f.
Vgl. Schleiermacher, F.D.E.: Hermeneutik und Kritik. hrsg. u. eingeleitet v. Manfred Frank. Frankfurt a. M. 1977, S. 101f.
Vgl. Schleiermacher, F.D.E.: a.a.O.. S. 167.
Vgl. Schleiermacher, F.D.E.: a.a.O., S. 169f.
Vgl. Schleiermacher, F.D.E.: a.a.O., S. 79. “Das Verstehen ist nur ein Ineinandersein dieser beiden Momente (des grammatischen und psychologischen).”
Schleiermacher, F.D.E.: Werke, 3. Abt., 3. Bd. hrsg. von Reimer. Berlin 1835, S. 362. Vgl. Dilthey, W.: GW VII, S. 217.
Vgl. Heidegger, M.: Sein und Zeit. 9. Aufl. Tübingen 1960, S. 42f: “Das Sein, darum, es diesem Seienden in seinem Sein geht, ist je meines. Dasein ist daher nie ontologisch zu fassen als Fall und Exemplar einer Gattung von Seiendem als Vorhandenem. Diesem Seienden ist sein Sein „Gleichgültig”, genau besehen, es „ist“ so, daß ihm sein Sein weder gleichgültig noch ungleichgültig sein kann. Das Ansprechen von Dasein muß gemäß dem Charakter der Jemeinigkeit dieses Seienden stets das Personalpronomen mitsagen: ’ Ich bin’, ` du bist`.”
Vgl. Gadamer, H.-G.: a.a.O., S. 380. Gadamer spricht von der “Horizontverschmelzung” im Vorgang des Verstehens.
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Son, SN. (1997). Grundlegung der Hermeneutik Diltheys. Im Zentrum: Die Biographie als Zugang zum Menschenverstehen. In: Wilhelm Dilthey und die pädagogische Biographieforschung. Studien zur Erziehungswissenschaft und Bildungsforschung, vol 12. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-11849-7_3
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