Zusammenfassung
So selbstverständlich Religion als individuelle Erfahrung und als gesellschaftliches System von Glaubensvorstellungen und Ritualhandlungen in allen uns bekannten Gesellschaften existiert(e), so schwierig fällt es dem Soziologen, die Religion als soziologischen Forschungsgegenstand zu definieren. Möglicherweise aus diesem Grund nahm Max Weber, einer der beiden großen Väter der Religionssoziologie, überhaupt davon Abstand, Religion zu definieren und begnügte sich mit der vagen Feststellung, daß die Soziologie es „nicht mit dem ‘Wesen’ der Religion, sondern mit den Bedingungen und Wirkungen einer bestimmten Art von Gemeinschaftshandlungen zu tun“ habe.1 Anders Emile Durkheim, dessen gesamte Untersuchung der „Elementaren Formen des religiösen Lebens“ letztlich den Zweck verfolgte, das eigentliche „Wesen“ der Religion zu erfassen.
„Betrachte z.B. einmal die Vorgänge, die wir ‘Spiele’ nennen. Ich meine Brettspiele, Kartenspiele, Ballspiel, Kampfspiele, usw. Was ist allen diesen gemeinsam? — Sag nicht: ‘Es muß ihnen etwas gemeinsam sein, sonst hießen sie nicht ‘Spiele“ — sondern schau, ob ihnen allen etwas gemeinsam ist.“
Ludwig Wittgenstein: „Philosophische Untersuchungen“
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Literatur
Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, S. 245
vgl. Durkheim: Die elementaren Formen des religiösen Lebens, S. 45ff.
Durkheim: a.a.O., S. 260ff., S. 405ff.
vgl. Durkheim: Zur Definition religiöser Phänomene, S. 136
Die soziologische Kontroverse um die „richtige“ Definition von Religion wurde insbesondere in den 60er und 70er Jahren ausgetragen. Vgl. dazu: Scharf The Sociological Study of Religion, S. 31ff.; Yinger: The Scientific Study of Religion, S 3ff.; Hach: Gesellschaft und Religion in der Bundesrepublik Deutschland, S. 26ff.; Kaufmann: Religion und Modernität, S. 53f%
vgl. dazu Mörth: Lebenswelt und religiöse Sinnstiftung, S. 89
Simmel: Die Religion, S. 13
Yinger: The Scientific Study of Religion, S. 7
vgl.Wilson: Religion in Sociological Perspective, S. 29ff. Die Unterscheidung zwischen manifesten (d.h. intendierten) und latenten (nichtintendierten) Funktionen der Religion übernimmt Wilson von Robert K. Merton: Social Theory and Social Structure (in: Merton: On Theoretical Sociology, S. 73ff.). Wilsons Annahme, daß die von den Klassikern der Soziologie als besonders wichtig erachtete Integrationsfunktion zu den latenten Funktionen der Religion zähle, weil sich die sozialen Akteure des Zwangs, den die religiösen Normen auf sie ausüben, nicht bewußt sind, trifft meines Erachtens nur zum Teil zu.
Durkheim: Zur Definition religiöser Phänomene, S. 135. In seinem späteren Werk „Die elementaren Formen des religiösen Lebens“ räumt Durkheim allerdings ein, daß seine frühere Definition der Religion zu formal war und den Inhalt der religiösen Vorstellungen zu sehr vernachlässigte. In Hinblick auf sein Forschungsobjekt, die totemistischen Religionen der australischen und amerikanischen Ureinwohner, definiert er Religion nunmehr als „ein solidarisches System von Überzeugungen und Praktiken, die sich auf heilige, d.h. abgesonderte und verbotene Dinge, Überzeugungen und Praktiken beziehen, die in einer und derselben moralischen Gemeinschaft, die man Kirche nennt, alle vereinen, die ihr angehören.” (S. 75)
sh. dazu Luhmann: Funktion der Religion, S. 11; Wilson: Religion in Sociological Perspective, S. 38f.
Bahr: Ohne Gewalt, ohne Tränen? Religion I - Religion 2, S. 48f
Luckmann: Die unsichtbare Religion, S. 83
Luckmann: a.a.O. S. 96
vgl. dazu Kaufmann: Religion und Modernität, S. 57
Luckmann: a.a.O., S. 147
vgl. Otto: Das Heilige, S. 13ff; Eliade: Das Heilige und das Profane, S. 13
vgl. Otto: a.a.O., S. 27ff.
Matthes: Religion und Gesellschaft, S. 22.
vgl. Dux: Ursprung, Funktion und Gehalt der Religion, S. 37ff.; Luhmann: Funktion der Religion, S. 9ff.
Luhmann: a.a.O., S. 20
Luhmann: a.a.O., S. 47
vgl. Schöfthaler: Religion paradox. Der systemtheoretische Ansatz in der deutschsprachigen Religionssoziologie, S. 143
sh. Tenbruck: Die Religion im Maelstrom der Reflexion, S. 31ff.
sh. Tenbruck: a.a.O., S. 57ff. Daß es den asiatischen Religionen im Unterschied zur jüdisch-christlichen Religion weniger um Organisation, Mitgliedschaft und dogmatische Lehre, sondern um das Angebot von Heilswegen ging, die sie „in grenzenloser Toleranz dem persönlichen Belieben“ überließen, wurde, wie Tenbruck belegt, bereits von Max Weber in aller Deutlichkeit erkannt (sh. z.B. Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Band 2, S. 24ff. und S. 256ff.). Vgl. dazu auch: Matthes: Was ist anders an anderen Religionen? S. 16ff.
Diesen Gedanken verdanke ich dem Philosophen Walter Kaufmann, der in seinem Buch „Der Glaube eines Ketzers“ (S. 27ff., S. 103ff.) die Tendenz vieler Theologen wie auch anderer Wissenschaftler, die höchst heterogenen Verhaltensweisen und Weltbilder von Menschen im Sinne ihres eigenen Denkschemas zu interpretieren und in dieses einzuordnen, kritisch durchleuchtet.
Darstellung nach: Yinger: a.a.O., S. 26; Stark/Bainbridge: The Future of Religion, S. 9f.; Hach: a.a.O., S. 80; Felling/Peters/Schreuder: Religion im Vergleich, S. 38. Im Unterschied zu Glock und Stark ging Durkheim (Die elementaren Formen, S. 61) von zwei Dimensionen des Religiösen aus: Glaubensüberzeugungen und Riten. Theologische Lehrgebäude und religiöse Ethik sind in Durkheims Sichtweise Derivate der religiösen Glaubensvorstellungen.
Auf die Mehrdeutigkeit und aus soziologischer Sicht vielfach unscharfe Verwendung des Begriffs der „religiösen Gemeinschaft“ sei hier nur in einer Anmerkung verwiesen. „Religiöse Gemeinschaft” kann sowohl die lokale religiöse Gemeinde als auch die gesamte Religionsgemeinschaft im Sinne von konfessioneller Zugehörigkeit meinen. Insbesondere große, universalistische Religions“gemeinschaften” sollte man im Sinne von Toennies Unterscheidung nicht als „Gemeinschaften“ bezeichnen; die universalistische „Religionsgemein-schaft” bildet vielmehr ein konstitutives Merkmal der „Vergesellschaftung“. Vgl. dazu M. Riedel: Gemeinschaft, in: J. Ritter (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 3, Basel-Stuttgart 1974, S. 242f; Walzer: Sphären der Gerechtigkeit, S. 65ff., S. 348ff.
So der Titel von Knoblauchs Einleitung zu Luckmanns Buch „Die unsichtbare Religion“.
vgl. Barz: Religion ohne Institution, S. 118; Feil: Zur Bestimmungs-und Abgrenzungsproblematik von „Religion“, S. 447
vgl. Durkheim: Die elementaren Formen, S. 72
B. Malinowski: A Scientific Theory of Culture and Other Essays, S. 200 (zit. nach Yinger: The Scientific Study of Religion, S. 70)
So z.B. G.B. Vetter: „Es ist offenkundig und unanfechtbar, daß unsere Trennung des Magischen und des Religiösen für die Menschen anderer Kulturen völlig bedeutungslos ist…. Objektiv gesehen kann es auf diese Kontroverse über Religion und Magie nur eine Antwort geben: Objektiv gibt es keinen Unterschied.“ (Magic and Religion, New York 1958, S. 161; zit. nach Vivelo: Kulturanthropologie, S. 261–262 )
vgl. Mongardini: Über die soziologische Bedeutung magischen Denkens, S. 11 ff.
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Höllinger, F. (1996). Definition und Funktion der Religion. In: Volksreligion und Herrschaftskirche. Fragen der Gesellschaft. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-11773-5_2
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