Zusammenfassung
Der Begriff der Erinnerung setzt hohe Ansprüche an die Selbstbeschreibung komplexer Gesellschaften.1 Ein Wertbegriff („Westen“), ein Ursprungsschema („Christliches Abendland“) oder eine Leitdifferenz („fundamentalistisch/reflexiv“) reichen nicht hin, um für die vielen einzelnen die Vorstellungen einer Zugehörigkeit, eines Zusammenhalts oder einer Verpflichtung zu begründen. Es braucht offenbar Erzählungen über gemeinsam begangene Verbrechen, gemeinsam erlebte Triumphe oder gemeinsam erlittene Verfolgungen, die starke Wir-Gefühle stiften und somit den Horizont möglicher Zuschreibungen begrenzen.
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Literatur
Im Unterschied zum idealen Begriff „vernünftiger Identität“, der die Vorstellung enthält, daß Gesellschaften ihre „eigentliches” oder „wahres“ Selbstverständnis verfehlen können, will das „abgemagerte Konzept der Selbstbeschreibung” auch die Möglichkeit einschließen, daß grundlegender Dissens besteht und darüber kommuniziert wird. Dazu einerseits Jürgen Habermas, Können komplexe Gesellschaften eine vernünftige Identität ausbilden?, in: ders., Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1976, S. 92–126, hier S. 92 und andererseits Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, S. 14 f.
Dazu Heinz Bude, Die „Wir-Schicht“ der Generation, in: Berliner Journal für Soziologie, 7. Jg., Heft 2, 1997, S. 197–204.
Pierre Nora, Génération, in: ders. (Hrsg.), Les Lieux de Mémoire, Paris: Editions Gallimard 1992.
Freilich ist der Begriff so leicht nicht auf seine moderne Verwendung festzulegen. Populär ist er gerade dadurch geworden, daß er antike und moderne, biologische und soziale, oberflächliche und existentielle Konnotationen in sich vereinigt.
Wilhelm Pinder, Das Problem der Generationen, München: Bruckmann 1961 (zuerst 1926 ).
Den Unterschied zwischen einem Kalenderbegriff der Geschichte und dem Intensitätsbegriff der Geschichtlichkeit hat Charles Péguy gemacht. Dazu Bruno Latour, Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Berlin: Akademie 1995, S. 92 f.
Dazu Paul Ricoeur, Zufall und Vernunft in der Geschichte, Tübingen: konkursbuch Verlag Claudia Gehrke 1986.
Julia Kristeva, Eine Erinnerung, Schreibheft, Nr. 26, 1985, S. 134–143, hier S. 134.
Karl Mannheim, Das Problem der Generationen (1928), in: ders., Wissenssoziologie. Auswahl aus dem Werk. Hrsg. von Kurt H. Wolff, Berlin/Neuwied: Luchterhand 1964, S. 509–565, hier S. 535 ff.
In diesem Sinne Marvin Rintala, The Constitution of Silence. Essays on Generational Themes, Westport/London: Greenwood Press 1979, S. 3 ff.
Zu dieser Unterscheidung von Julius Peterson siehe Mannheim, a.a.O., S. 559 f.
In diesem Sinne kann man vielleicht von einer „Basiserzählung“ unserer Politischen Kultur sprechen. So Michael Schwab-Trapp, Konflikt, Kultur und Interpretation. Eine Diskursanalyse des öffentlichen Umgangs mit dem Nationalsozialismus, Opladen: Westdeutscher Verlag 1996.
Lewis J. Edinger, Post-Totalitarian Leadership: Elites in the German Federal Republic, in: American Political Science Review, 54. Jg., 1960, S. 58–82.
Dolf Sternberger, Die deutsche Frage, in: Der Monat, 2. Jg., 1949, Heft 8/9, S. 16–21, hier S. 17.
Norbert Frei, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München: Beck 1996.
Vgl. Lutz Niethammer, Die Mitläuferfabrik. Die Entnazifizierung am Beispiel Bayerns, Berlin/Bonn: Dietz 1982.
So Friedrich H. Tenbruck, Alltagsnormen und Lebensgefühle in der Bundesrepublik, in: Hans Peter Schwarz und Richard Löwenthal (Hrsg.), Die Zweite Republik. 25 Jahre Bundesrepublik Deutschland–eine Bilanz, Stuttgart: Seewald, S. 289–310.
Siehe Robert G. Moeller, War Stories: The Search for a Usable Past in the Federal Republic of Germany, in: American Historical Review, 101. Jg., 1996, S. 1008–1048.
Diese drei Rahmenbestimmungen der frühen Bundesrepublik nennt Klaus Naumann, Die „saubere“ Wehrmacht. Gesellschaftsgeschichte einer Legende, in: Mittelweg 36, 7. Jg., Heft 4, 1998, S. 8–18.
Hierzu Helmut Lethen, Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994.
Siehe als Dokument Frank Matzke, „Jugend bekennt: so sind wir!“, Leipzig: Reclam 1930.
Dies die auf das frühe Werk von Ernst Jünger gemünzte Formel von Karl Heinz Bohrer, Die Ästhetik des Schreckens, München: Hanser 1978.
Davon sprach dann Anfang der fünfziger Jahre Paul Tillich, The Courage to be, Yale: Yale University Press 1952.
So im Rückblick Marie Luise Kaschnitz, Orte. Aufzeichnungen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1973, S. 112.
Kennzeichnend dafür der essayistische Klassiker der fünfziger Jahre Hans Egon Holthusen, Der unbehauste Mensch. Motive und Probleme der modernen Literatur, München: Piper 1951.
In befremdlicher Einfachheit nachzulesen bei Martin Heidegger, Über den „Humanismus“. Brief an Jean Beaufret, Paris, in: ders., Platons Lehre von der Wahrheit. Mit einem Brief über den „Humanismus”, Bern/München: Francke 1947, S. 53–119.
Dolf Sternberger, Gerhard Storz und W.E. Süskind, Aus dem Wörterbuch des Unmenschen, Hamburg: Claassen 1957.
M. Rainer Lepsius, Die Prägung der politischen Kultur der Bundesrepublik durch institutionelle Ordnungen (1982), in: ders., Interessen, Ideen und Institutionen, Opladen: Westdeutscher Verlag 1988, S. 63–84.
Zur Phänomenologie dieser Formel Eva Sternheim-Peters, Die Zeit der großen Tauschungen. Mädchenleben im Faschismus, Bielefeld: AJZ-Druck and Verlag 1987.
Lutz Niethammer, Heimat und Front. Versuch, zehn Kriegserinnerungen aus der Arbeiterklasse des Ruhrgebiets zu verstehen, in: ders., „Die Jahre weiß man nicht, wo man die heute hinsetzen soll“. Faschismuserfahrungen im Ruhrgebiet, Berlin/Bonn: Dietz 1983, S. 163–232.
Vgl. Jan Philipp Reemtsma, Generation ohne Abschied. Wolfgang Borchert–als Angebot, in: Mittelweg 36, 1. Jg., Heft 5, 1992, S. 37–55.
Die Spuren dieses materialen Gedächtnisses sucht Harry Walter, Eins zu Eins. Ein Fotoalbum zum Wiederaufbau Deutschlands, in: Harald Welzer (Hrsg.), Das Gedächtnis der Bilder, Tübingen: edition diskord 1995, S. 115–163.
Vgl. Heinz Bude, Bilder vom Osten, in: Transit, Heft 11, 1996, S. 78–86.
Zu diesem Interpretationsmodell Christian Lindner, Böll, Reinbek: Rowohlt 1978, S. 153 ff.
Zitiert nach Lindner, a.a.O., S. 165.
Alexander und Margarete Mitscherlich, Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens, München: Piper 1967, S. 25.
Aus dem Gedichtband von Hans Magnus Enzensberger, Verteidigung der Wölfe, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1957, S. 90 und 95.
So der Titel einer 1946 von Alfred Andersch mit viel ideologischem Elan gegründeten und von Hans Werner Richter redigierten Zeitschrift für das „junge Deutschland“.
Helmut Schelsky, Die skeptische Generation. Eine Soziologie der deutschen Jugend (1957), Frankfurt a.M./Berlin/Wien: Ullstein 1975, S. 71.
Schelsky, a.a.O., S. 381.
Dies die Formel von Klaus Heinrich, Versuch über die Schwierigkeit nein zu sagen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1964.
Mitscherlich und Mitscherlich, a.a.O., S. 231 und 262.
Zum Ganzen dieser Deutung Heinz Bude, Deutsche Karrieren. Lebenskonstruktionen sozialer Aufsteiger aus der Flakhelfer-Generation, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987.
Hans Magnus Enzensberger, Mittelmaß und Wahn. Ein Vorschlag zur Güte, in: ders., Mittelmaß und Wahn. Gesammelte Zerstreuungen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988, S. 250–276, hier S. 251.
Zum daraus sich entwickelten Unterschied zwischen antifaschistischer Tragik und postfaschistischer Ironie Heinz Bude, Das Ende einer tragische Gesellschaft, in: Leviathan, 19. Jg., 1991, S. 305–316.
Siehe Lethen, a.a.O.
Zu dieser von Melanie Klein herkommenden Interpretation D.W. Winnicott, Psychoanalyse und Schuldgefühl, in: ders., Reifungsprozesse und fördernde Umwelt, Frankfurt a.M.: Fischer 1984, S. 17–35.
Vgl. Heinz Bude, 1968 und die Soziologie, in: Soziale Welt, 45. Jg., 1994, S. 242–253.
So eine griffige Formel von Odo Marquard, Abschied vom Prinzipiellen, Stuttgart: Reclam 1981, S. 9 f.
Karl Jaspers, Wohin treibt die Bundesrepublik? Tatsachen, Gefahren, Chancen, München: Piper 1966, S. 116.
Zu dieser Beschreibung eines Wechsels in den intellektuellen Haltungen zwischen einer deflationären Akzeptanz der gegeben Welt und einer inflationären Bereitschaft zur Weltverbesserung Jeffrey C. Alexander, Fin de Siècle Social Theory. Relativism, Reduction, and the Problem of Reason, London/New York: Verso 1995, S. 10 ff.
Diese plötzliche Umstellung von Resignation auf Revolte beschreibt Karl Heinz Bohrer, Die gefährdete Phantasie, oder Surrealismus und Terror, München: Hanser 1970.
Die Ende der siebziger Jahre von Jürgen Habermas als Band 1000 der edition suhrkamp herausgegebenen „Stichworte zur Geistigen Situation der Zeit“ (Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1979) versammeln ein exemplarisches Sample dieser kritischen Generationseinheit innerhalb des Generationszusammenhangs einer ansonsten „skeptischen Generation”.
Hermann Lübbe, Der Nationalsozialismus im deutschen Nachkriegsbewußtsein, in: Historische Zeitschrift, 236. Jg., 1983, S. 579–599, hat mit seinem Konzept des „kommunikativen Beschweigens“ diese Reaktion noch einmal auf den Punkt gebracht.
Siehe beispielsweise Heinrich Breloer, Todesspiel. Von der Schleyer-Entführung bis Mogadischu. Eine dokumentarische Erzählung, Köln: Kiepenheuer and Witsch 1997.
Etwa Dieter Weichert, „Holocaust“ in der Bundesrepublik: Design, Methode und zentrale Ergebnisse der Begleitforschung, in: Rundfunk und Fernsehen, 28. Jg., 1980, S. 488–508, insbes. Tabelle 7.
Siehe Werner Bergmann, Antisemitismus in öffentlichen Konflikten. Kollektives Lernen in der politischen Kultur der Bundesrepublik 1949–1989, Frankfurt a.M./New York: Campus 1997, S. 313 ff.
So die bekannte Konzeptualisierung von Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München: Beck, 2. Aufl. 1997.
Zu dieser ursprünglich von Heinz Kohut herausgearbeiteten Form der Identifizierung Haydée Faimberg, Die Ineinanderrückung (Telescoping) der Generationen: Zur Genealogie gewisser Identifizierungen, in: Jahrbuch für Psychoanalyse, 20. Jg., 1987, S. 114142.
Diese Deutung entfaltet Heinz Bude, Das Altern einer Generation. Die Jahrgänge 1938 bis 1948, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2. Aufl. 1997.
Siehe als Überblick Werner Bohleber, Trauma, Identifizierung und historischer Kontext. Über die Notwendigkeit, die NS-Vergangenheit in den psychoanalytischen Deutungsprozeß einzubeziehen, in: Psyche, 51. Jg., 1997, S. 958–995.
Dazu Anita Eckstaedt, Nationalsozialismus in der „zweiten Generation“. Psychoanalyse von Hörigkeitsverhältnissen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989.
Klaus Theweleit, Ghosts. Drei leicht inkorrekte Vorträge, Frankfurt a.M.: Stroemfeld/ Roter Stern 1998, S. 63.
Was daraus für Typen von Vergangenheitsbezug in der „dritten Generation“ entstehen können, rekonstruiert Michael Kohlstruck, Zwischen Erinnerung und Geschichte. Der Nationalsozialismus und die jungen Deutschen, Berlin: Metropol 1997.
Als Aufriß von zwei Vergangenheitspolitiken Jeffrey Herf, Divided Memory. The Nazi Past in the Two Germanys, Cambridge: Harvard University Press 1997.
Eine Skizze dieser nachfolgenden Generationen bietet Hartmut Zwahr, Umbruch durch Ausbruch und Aufbruch: Die DDR auf dem Höhepunkt der Staatskrise 1989. Mit Exkursen zu Ausreise und Flucht sowie einer ostdeutschen Generationenübersicht, in: Hartmut Kaelble, Jürgen Kocka und Hartmut Zwahr (Hrsg.), Sozialgeschichte der DDR, Stuttgart: Klett Cotta 1994, S. 426–465.
Den destruiert Antonia Grunenberg, Antifaschismus — ein deutscher Mythos, Reinbek: Rowohlt 1993.
Charles S. Maier, Die Gegenwart der Vergangenheit. Geschichte und die nationale Identität der Deutschen, Frankfurt a.M./New York: Campus 1992, S. 9.
Dieser Formel für die sogenannten 78er bedient sich Reinhard Mohr, Zaungäste. Die Generation, die nach der Revolte kam, Frankfurt a.M.: Fischer 1992.
Diese Fragestellung entwickeln in einem dichten deutsch-jüdischen Dialog Michael Geyer und Miriam Hansen, German-Jewish Memory and National Consciousness, in: Geoffrey H. Hartman (Hrsg.), Holocaust Remembrance. The Shapes of Memory, Oxford/Cambridge: Blackwell 1994, S. 175–190.
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Bude, H. (1998). Die Erinnerung der Generationen. In: König, H., Kohlstruck, M., Wöll, A. (eds) Vergangenheitsbewältigung am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts. Leviathan Sonderhefte, vol 18. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-11730-8_5
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