Skip to main content

Gemeinschaft und Normativität: Die Untersuchung sozialer Integrationsformen heterogener Gesellschaften

  • Chapter
Partizipation und soziale Integration in heterogenen Gesellschaften

Part of the book series: Forschung ((FS,volume 186))

  • 218 Accesses

Zusammenfassung

Die Struktur einer möglichen sozialen Ordnung der Moderne suchte Wirth da, wo sie nicht ist, in der bestehenden Unordnung. Aufgrund der Tatsache, daß die Organisations- und Ordnungsstrukturen neuer sozialer Lebensweisen noch kaum existent und noch nicht normativ etabliert sind, können diese selbst schwerlich untersucht werden. Dort, wo Ordnung nicht ist, wo sie verloren gegangen ist oder wo sie erst aufscheint, wird durch die Benennung sozialer Desorganisation das Muster und die immanente Struktur sozialer Ordnung sichtbar und zugleich erzeugt.1

This is a preview of subscription content, log in via an institution to check access.

Access this chapter

Chapter
USD 29.95
Price excludes VAT (USA)
  • Available as PDF
  • Read on any device
  • Instant download
  • Own it forever
eBook
USD 49.99
Price excludes VAT (USA)
  • Available as PDF
  • Read on any device
  • Instant download
  • Own it forever
Softcover Book
USD 64.99
Price excludes VAT (USA)
  • Compact, lightweight edition
  • Dispatched in 3 to 5 business days
  • Free shipping worldwide - see info

Tax calculation will be finalised at checkout

Purchases are for personal use only

Institutional subscriptions

Preview

Unable to display preview. Download preview PDF.

Unable to display preview. Download preview PDF.

Literatur

  1. Möglicherweise ist es dieser Ansatz Wirths, daß er sich mit sozialer Desorganisation befaßt hat, aber nicht explizit mit der sozialen Ordnung, der ihm den Ruf eingebracht hat, negative, zivilisationskritische und pessimistische Positionen zu vertreten. So stellt Bendix fest, daß Wirth die Bedingungen der modernen Gesellschaft behandele, die einen Dissens herstellen, derweil er den Konsens als die zentrale Sache der Soziologie ausgebe, aber zu dessen Entstehung keinerlei Erklärung biete (vgl. Bendix 1954: 529).

    Google Scholar 

  2. Die Ungleichheit der Schwarzen in den USA konnte daher überhaupt erst zum Problem werden, nachdem die Schwarzen prinzipiell als Gleiche anerkannt waren (vgl. LW 45: 644).

    Google Scholar 

  3. Mit diesem Ansatz, die sozialen Tatsachen nicht aus ihrer Entstehung, sondern anhand der sozialen Folgen zu bestimmen, hat Wirth einen neuen Typus der Definition nicht nur in die Minderheitendebatte eingeführt. Letztlich gründet dieser Definitionstyp in der Anwendung der Paradigmen der Philosophie des Pragmatismus auf die Sozialwissenschaft. Der Pragmatismus hat den Begriffen nur dann eine Bedeutung zuerkannt, wenn sie auf die Wirklichkeit bezogen werden, d.h. wenn sie zum Mittel zukünftiger Handlungen werden. „The rational meaning of every proposition lies in the future… and the modification of existence which results from this application constitutes the true meaning of concepts… the meaning of truth in general is determined by its consequences“ (Dewey 1931/b; 15i 22). Die Bedeutung von Begriffen und Definitionen liegt damit in den unterschiedlichen Handlungen und Konsequenzen, die sie hervorbringen und nicht in dem Rückgriff auf ihren vermeintlichen Ursprung. Die Bedeutung dieser Konzeption liegt vor allem in dem handlungstheoretischen Aspekt. Dem entlang seiner Genese definierten Gegenstand gegenüber bleibt der Mensch ohnmächtig, weil er die Geschichte nicht gestalten kann. Die Definition sozialer Tatsachen entlang der Folgen, die sie hervorbringen, hebt den sozialen Charakter der Bestimmung hervor und stellt die Möglichkeit der Intervention und Gestaltung heraus.

    Google Scholar 

  4. Es sind insbesondere drei Arbeiten aus den ersten Jahren, die für die Rekonstruktion des wissenschaftlichen Denkens Wirths von Interesse sind: seine M.A.-Thesis: „Cultural Conflicts in the Immigrant Family“ (LW 4, vgl. auch die veröffentlichte Zusammenfassung dieser Arbeit unter dem Titel: „Culture Conflict and Misconduct” LW 42) und die zeitgleich im Jahre 1925 entstandene,Bibliography of the Urban Community“ (LW 3). Dem Jahre 1926 entstammt die wohl bedeutendste Arbeit dieser Phase, seine Doktorarbeit: The Ghetto. A Study in Isolation” (LW 6, veröffentlicht: 1928: I,W 13, sowie eine Zusammenfassung der Ergebnisse im AJS von 1927 unter dem Titel: „The Ghetto“, LW 12).

    Google Scholar 

  5. Die Jugendlichen, die bereits in den Vereinigten Staaten geboren wurden, deren Eltern aber „foreign horn“ und wesentlich in einer anderen Kultur sozialisiert worden sind, so zeigte Wirth, wiesen die höchste Rate sozialer Desorganisation und des Verlustes handlungsleitender Normen, sowie in der Folge die höchste Kriminalitätsrate auf. Die Gruppe dieser Jugendlichen unterschied sich mit großem Abstand von der Gruppe, in der beide Generationen, sowohl die Eltern als auch die Kinder, entweder „native born” oder „foreign born“ waren (vgl. I.W 42).

    Google Scholar 

  6. Häufig sind es, so Wirth, die Kinder der erwachsenen Einwanderergeneration, die eine Funktion übernehmen, that the missionary plays in a colonial system. The child is the agent responsible for the importation of the extraneous cultural elements into the immigrant home“ (l.W 4: 54). Die Assimilation der eingewanderten Eltern erfolgt, so Wirth, wenn überhaupt durch die Kinder (vgl. LW 42: 487; vgl. auch Smith, W.C. 1939: 270–280, 376386). „Americanization” beschreibt für die Generation der eingewanderten Eltern den Werteverfall und erhält eine negative Konnotation: „They call a badly demoralized boy ‘completely Americanized’„ (LW 4: 54). Die Kinder gerieten in die eigenwillige Rolle eines „interpreters for the parents“, da sie die einzige Instanz darstellten, die beider Sprachen mächtig war. Delinquente Jugendliche, von der Polizei zu ihren Eltern gebracht, mußten häufig selbst die Berichte der Polizei über ihre Verfehlungen für die Eltern übersetzen.

    Google Scholar 

  7. “The adolescent. seeking status in a group and finding himself presented with delinquent patterns of conduct as models for emulation will be disposed to follow the path which is most easily accessible and which seems to offer possibilities of a subjectively satisfactory social adjustment” (LW 71: 208).

    Google Scholar 

  8. Jeder soziale Typ, so Wirth, ist auf die Wertschätzung einer sozialen Gruppe angewiesen: „The social type of the intellectual demonstrate that for the persistence of a social type there is needed a favorable set of attitudes and habits in the cultural group. There can be intellectuals only in a community that prizes them“ (LW 5: 94).

    Google Scholar 

  9. Franklin H. Giddings hatte 1898 Assimilation als einen Prozeß des „growing alike“ beschrieben, in dem eine heterogene Bevölkerung durch gegenseitige Angleichung einen neuen, eigenen Charakter ausbilde (vgl. Giddings 1898: 70f). Die Vorstellung eines amerikanischen „Melting Pot” wurde 1908 von einem Bühnenstück des englisch-jüdischen Autors Israel Zangwill, eines Schülers Theodor Herzls, popularisiert (Zangwill 1909), der, obwohl er selbst nie in den Vereinigten Staaten gewesen ist, dort die Bildung einer völlig neuen Rasse konstatierte, „where all the races of Europe are melting and re-forming!… the real American has not yet arrived… he will be the fusion of all races, perhaps the coming superman“ (Zangwill 1909: 31f). Die Idee des Schmelztiegels wurde jedoch in der Praxis durch die angelsächsische Dominanz korrumpiert und immer wieder als „anglo-conformity” kritisiert (vgl. Newman 1973, Persons 1987). Die Vorherrschaft der WASP’s (White Anglo-Saxon Protestants), so wurde nicht zu Unrecht argumentiert, gebe die assimilationistischen Qualitäten vor, der sich die hinzukommenden Immigranten anzupassen hätten.

    Google Scholar 

  10. Die Person, mit der sich Wirth zufolge die Soziologie beschäftigt, ist immer ein Individuum mit einem Status in einer sozialen Gruppe. „Personality“, so sagt Wirth, „is the function of culture” (l,W-P 19: 2). Die Soziologie beginnt mit ihren Untersuchungen bei der Gruppe und der Kultur „and only incidentally treated with the individual“ (ebd.). Persönlichkeit, so Wirth, ist der subjektive Aspekt von Kultur (vgl.LW-P 19: 3).

    Google Scholar 

  11. Als „Passing“ beschreiben Wirth/Goldhamer lange vor Erving Coffman, dem der Begriff zumeist zugeschrieben wird, die individuellen Versuche Einzelner, ihre Gruppenzugehörigkeit zu verbergen und eine Mitgliedschaft in einer anderen Gruppe vorzutäuschen (vgl. LW 120: 301 ff). Das „Passing” habe allerdings vielfach ähnliche psychosoziale Folgen in Bezug auf die individuelle Identität und Integrität wie die Situation des „marginal man“.

    Google Scholar 

  12. Während Wirth die verbindlichen und prägenden Gemeinsamkeiten kultureller Traditionen hervorhebt, bezieht Allport sich auf die Differenzen, die der Einzelne in seinem Verhalten gegenüber den bestehenden kulturellen Werten praktiziert. Die Lösung der kulturellen Konflikte erfolgt bei Allport dadurch, daß das Individuum veranlaßt wird, sich so verhalten, als ob es nicht Mitglied einer bestimmten Kultur wäre. Allport reduziert das Individuum damit auf eine singuläre Existenz. Die Steuerung des individuellen Verhaltens wird bei Allport durch repressive Kontrolle geleistet und nicht mittels Integration: If cultural conflict exists only in so far as the individual behaves as though it exists, then a good way to abolish it would be to get the individual to behave as though it did not exist… The problem exists largely through his consciousness of membership in contrasting groups. Why not abolish the consciousness of membership… It is not the culture or the feeling of group affiliation of an individual which restrains him, in the last analysis, from antisocial behavior, but the fear of punishment or ostracism“ (Allport 1931: 494f).

    Google Scholar 

  13. Das Individuum ist nicht nur passiver Reflex, so Wirth, aber es ist auch nicht Schöpfer von Kultur und Gesellschaft, von der es immer nur ein Teil ist. Individuum und Gesellschaft stehen in einem Verhältnis der Kontinuität; sie stellen keine separaten Phänomene dar (I,W 66: 966). The concept of culture and the concept of personality do not stand in opposition to one another. A culture has no psychological significance until it is referred to a personality, and vice versa, a personality is unthinkable without a cultural milieu“ (LW 42: 490).

    Google Scholar 

  14. So argumentiert Wirth gegen die von Theodor Herzl initiierte zionistische Bewegung, mit dem Ziel einen Judenstaat zu gründen, da ihm dies als ein Rückschritt gegenüber der bereits erreichten Emanzipation und Assimilation der Juden erschien. „The establishment of an independent Jewish state, far from solving the ‘Jewish problem’ would merely result in making the ghetto international“ (LW 13: 106). Ebenso argumentiert er in einem Minderheitenvotum auf der „Conference on Higher Education for Jews” gegen die Gründung einer jüdischen Universität, die ihm einen Rückschritt in der Assimilation, Emanzipation und Integration bedeutete (vgl. LW-P 0, Box XV, Folder 7).

    Google Scholar 

  15. „One of the first therapeutic tasks is to bring the person into a frame of mind where he can reflect upon the conflict. Rationalization and sublimation may sometimes prove effective in overcoming conflicts..the most significant effort toward readjustment of culture conflict difficulties is to reconstruct the cultural milieu in such a fashion that the individual will not be called upon to play fundamentally contradictory roles in his daily conduct“ (LW 42: 492).

    Google Scholar 

  16. Wirth bezieht sich auf die Funktion des Konfliktes wie sie von Park/Burgess beschrieben worden ist: „Only where there is conflict is behavior conscious and self-conscious; only there are the conditions for rational conduct“ (Park/Burgess 1921: 578; vgl. LW 4: 21).

    Google Scholar 

  17. Wirth bezieht sich auf die Arbeit von Werner Sombart: „Die Juden und das Wirtschaftsleben“ (1911), in der Sombart, angeregt durch Webers Analyse des Einflusses des Puritanismus und Protestantismus auf den modernen Kapitalismus, die Bedeutung des Judentums für die Entstehung und Funktion des Kapitalismus aufzeigt: „Denn wie eine genaue Prüfung der Webersehen Beweisführung ergab, waren alle diejenigen Bestandteile des puritanischen Dogmas, die mir von wirklicher Bedeutung für die Herausbildung des kapitalistischen Geistes zu sein scheinen, Entlehnungen aus dem Ideenkreise der jüdischen Religion” (Som-hart 1911: V). Sombart beschreibt die Befähigung der Juden zum Kapitalismus durch ihre räumliche Verbreitung, ihre Sprachkenntnisse, den Nachrichtenverkehr, ihre Fremdheit, ihren Reichtum und ihr Halbbürgertum sowie die inhaltliche Bedeutung ihrer Religion.

    Google Scholar 

  18. Die mangelnde Assimilationsbereitschaft kultureller und religiöser Gruppen erklärt sich unter anderem aus der’fatsache, daß die Angehörigen dieser Gruppen zumeist nicht mit der Absicht in die USA immigriert sind, ihre kulturellen Lebensweisen aufzugeben, sondern im Gegenteil, auf der Flucht vor Perspektivlosigkeit, Armut und den Repressionen, denen sie in ihren Heimatländern ausgesetzt waren, hatten sie die Hoffnung, die eigenen Traditionen und Bräuche in der Neuen Welt verwirklichen zu können. Schon das Erlernen der amerikanischen Sprache wurde deshalb von vielen Einwanderern abgelehnt und den staatlichen Institutionen standen die meisten Immigranten eher skeptisch gegenüber.

    Google Scholar 

  19. Völlig zurecht stellt Milton M. Gordon einige Jahre später fest: „cultural pluralism was a fact in American society before it became a theory“ (Gordon 1964: 135). Die ersten pluralistischen Konzepte entstanden jedoch bereits im zweiten Jahrzehnt des letzten Jahrhunderts. Horace Kallen hat erstmals 1915 vom „cultural pluralism” in seinem Aufsatz: „Democracy versus the Melting Pot“ (Kallen 1915) gesprochen. Damit deutete sich eine Verschiebung von „Assimilation” zur „Integration“ auf dem Hintergrund kultureller Pluralität bereits an (vgl. Gordon 1961: 279). Integration setzte so nicht mehr die Gleichheit der Einzelnen voraus, sondern wurde über ethnisch-kulturelle Differenzen hinweg denkbar.

    Google Scholar 

  20. Der Historiker John Higham hat 1974 auf die Differenz zwischen den assimilationistischen und den pluralistischen Perspektiven hingewiesen, die vornehmlich in der Fokussierung auf Individuen oder Gruppen besteht: „For the assimilationist the primary social unit and the locus of value is the individual. What counts is his right to define himself. He must, therelòre, be free to secede from his ancestors. This is exactly what happens in the process of assimilation: individuals or families detach themselves one by one from their traditional communities. For pluralists, however, the persistence and vitality of the group comes first. Individuals can realize themselves, and become whole, only through the group that nourishes their being… While assimilationists sacrifices the group for the sake of the individual, pluralism would put the individual at the mercy of the group“ (Higham 1974: 68f). Die plakative Gegenüberstellung Highams verdeutlicht Wirths innovativen Ansatz zwischen den beiden Alternativen: Wirth zielte zwar zunächst auf die Trennung der Individuen von ihrer Herkunft, aber er betrachtete Assimilation nicht als ein individuelles Geschehen, sondern als einen kollektiven Prozeß. Wirth verfolgte im Ansatz faktisch das, was Higham dann als „pluralistic integration” bezeichnet hat, die Verschmelzung von „unity“ und „diversity” von „liberty with order“ in einem Konzept, „that will not eliminate ethnic boundaries. But neither will it maintain them intact. It will uphold the validity of a common culture, to which all individuals have access, while sustaining the efforts of minorities to preserve and enhance their own integrity” (Higham 1974: 71f).

    Google Scholar 

  21. William M. Newman interpretiert Wirths Arbeit über das Ghetto, wie auch die Arbeiten von Thomas/Znaniecki (1917–20) und Zorbaugh (1929) im Rahmen einer Perspektive des kulturellen Pluralismus: „the central focus of their works was cultural pluralism, not assimilation“ (Newman 1973: 74).

    Google Scholar 

  22. “No ethnic group, once established in the United States has ever entirely disappeared; none seems to do so. All American ethnic groups perpetuate themselves, but none survives intact. Their boundaries are more or less porous and elastic” (Higham 1974: 68).

    Google Scholar 

  23. So richtet Park seine Aufmerksamkeit in der Cooleyschen Unterscheidung der Primär- und der Sekundärgruppe vor allem auf die erstere und zielt auf die Revitalisierung der Primärgruppen-Hinflüsse, wovon er sich die Lösung der Kriminalitätsprobleme in den großen Städten verspricht, die ihm als folge des Verfalls der Primärgruppen-Beziehung gelten (vgl. Park 1925: 23f1).

    Google Scholar 

  24. Die Bibliographie ist möglicherweise eine Vorarbeit zu den beiden genannten Literaturberichten und eventuell im Rahmen seines SSRC-fellowships in Deutschland entstanden. In der Bibliographie listet Wirth die soziologische Literatur und ihre Vorläufer von der Antike his zum Jahr 1935 auf, die er in fünf Kategorien gruppiert: The Historiography of Sociology/The Pre-History of Sociology/The Emergence of Sociology/The Main Figures of 20th Century Sociology/Contemporary Currents. Es gäbe, so sagt Edward C. Hayes „probably no other bibliography so exhaustive on sociology in Europe down to the Nazi time“ (LW-P 0: Box 69, Folder 2).

    Google Scholar 

  25. Wirth hat in diesen Jahren verschiedene Untersuchungen in Verbindung mit dem „Social Science Research Council“ (SSRC) durchgeführt (vgl. LW-P 12, LW-P 14, LW-P 15, LW 49, I,W 61). Das SSRC war eine Institution, die 1922 unter der Bezeichnung „Local Community Research Committee” mit Geldern der Rockefeller Stiftung gegründet wurde. Wirth hat dem SSRC eine hervorragende Rolle bei der Gestaltung der Sozialwissenschaften und der sozialen Organisation der Gesellschaft zugeschrieben. Es habe, so Wirth, in unvergleichlichem Maße zur Überprüfung bestehender Theorien durch den Abgleich mit gesellschaftlichen Fakten gedient (vgl. LW 62: III, LW 191: 77f).

    Google Scholar 

  26. Theorie hat für Wirth immer eine dienende Funktion, weshalb unterschiedliche Konzeptionen als Mittel einzusetzen sind, um Kenntnis darüber zu gewinnen, worauf soziale Bindung in der städtischen Lebensweise beruht, was Desorganisation erzeugt und wie soziale Ordnung in der Moderne möglich ist. Als Mittel der Erkenntnis komplexer Strukturen und gesellschaftlicher Prozesse können einzelne ‘Theorien die Wirklichkeit nur fragmentarisch erfassen. Es bedarf für Wirth daher eines beständigen Wechsels der Mittel, um sich einerseits ihres provisorischen Charakters bewußt zu bleiben und um andererseits durch unterschiedliche Mittel auch jene Bereiche zur Kenntnis zu bringen, die eine spezifische ‘Theorie gerade verdeckt, indem sie anderes verdeutlicht (vgl. dazu konzeptionell I.W 55 und in der Anwendung LW 63).

    Google Scholar 

  27. Nichts wäre also falscher als Wirths Soziologie als Anwendung der Tönniesschen Dichotomie zu lesen. Die Vorwürfe des Eklektizismus oder der Theoriefeindlichkeit, sowie die Behauptung, Wirth habe Tönnies oder Simmel falsch verstanden oder nur von ihnen abgeschrieben (vgl. Cahnman 1981, Häußermann 1995), lösen sich hier auf, weil deutlich wird, daß es Wirth nicht um die bloße Anwendung bestehender theoretischer Modelle auf die Wirklichkeit zu tun ist, sondern um die Begründung konkreter, empirisch fundierter, zeitadäquater Konzeptionen. Man wird die Perspektive Wirths kaum hinreichend verstehen, wenn man sic im Rahmen der bestehenden Konzepte, sei es der von Tönnies, Simmel oder von Park zu interpretieren versucht; allemal versäumt man damit seine eigene Konzeption.

    Google Scholar 

  28. Die zusammenfassende Perspektive Wirths wird aus einem Blickwinkel, der die verschiedenen Konzeptionen, etwa von Tönnies, Durkheim, Maine, Spencer oder Comte selbst zum Gegenstand der Analyse macht, grob und vereinfachend erscheinen. Sie ist allerdings einem Anliegen geschuldet, das die Differenzen in den Gegenständen und nicht in den Konzepten sucht. Werner J. Cahnman kritisiert Louis Wirth, weil er irrige Vorstellungen über die Tönniessche Differenzierung der Gemeinschaft und Gesellschaft in Amerika verbreitet habe, die seiner Ansicht nach weder Ahnlichkeit mit der Durkheimschen, noch mit der Cooley-sehen Konzeption habe (vgl. Cahnman 1981: 90ff). Die Tönniessche Gemeinschaft, so behauptet Wirth hingegen, habe „a great deal in common with the primary group of Cooley, for it includes all those relationships which are familiar and intimate, spontaneous, direct, and exclusive (although apparently Tönnies is unfamiliar with Cooley’s work and his concepts have a different setting and connotation from those of the American sociologist)“ (LW 7: 419f). Wirth ging es jedoch um die Gemeinsamkeiten in den Differenzierungen der Integrations- und Ordnungsmuster gesellschaftlicher Gruppen, die in beinahe allen theoreti schen Konzeptionen seit der Jahrhundertwende entwickelt worden sind. Bereits 1901 hatte in Amerika Edward A. Ross formuliert: „powerful forces are more and more transforming community into society, that is, replacing living tissue with structures held together by rivets and screws” und fügt als Fußnote ein: „The contrast drawn here is similar to that made by Tönnies in his ‘Gemeinschaft und Gesellschaft’, but it was worked out long before I became acquainted with Tönnies’ book“ (Ross 1926: 432).

    Google Scholar 

  29. Seine Kritik gegenüber dichotomen Konzeptionen mag eine Ursache auch in seiner Rezeption des Parksehen Dualismus haben. Wirth blieb auch später kritisch gegenüber dichotomen begrifflichen Konstruktionen: „I don’t care very much about the division into these polar concepts of ‘community’ and ‘society’. For analytical purposes that is, perhaps, a useful dichotomy to make, but what I hoped would be emphasized here is the fact that there are certain more or less hierarchically arranged processes of interaction… we need to see them in terms of levels and processes of interaction of various kinds… But I don’t mean to give the impression that in a community we have one state of affairs and in a society another, because I have never seen a society that is not also something of a community; 1 have never seen a community that is not also something of a society… these polar concepts are somewhat confining and somewhat antiquated for our purposes“ (LW 156: 21 f).

    Google Scholar 

  30. Ilier tritt erneut eine Differenz in der Konzeption Wirths und dem humanökologischen Ansatz Parks hervor: Während Wirth Gemeinschaft als ein inhaltlich bestimmtes Muster sozialer Beziehungen faßt, beschränkt Park den Gemeinschaftsbegriff — im Gegensatz zu Tunnies und Wirth, ganz auf den geographischen Aspekt der Gesellschaft. Die „social group“ bildet bei Park die kleinste und konkreteste Einheit, die in der Gesellschaft enthalten ist. Gesellschaft differenziert Park dabei nicht nach verschiedenen sozialen Integrationsweisen. „Society”, so Park, „is the more abstract and inclusive term, and society is made up of social groups, each possessing its own specific type of organization but having at the same time all the general characteristics of society in abstract. Community is the term which is applied to societies and social groups where they are considered from the point of view of the geographical distribution of the individuals and institutions of which they are composed“ (Park/Burgess 1921: 163). Das was die idealtypische Kategorie der Gemeinschaft beschreibt: Familie, Verwandtschaft, Nachbarschaft, kulturelle Homogenität, Tradition und Kultur umfaßt Park in einem unspezifischen Begriff von Gesellschaft: „Society is primarily a cultural group, having common customs, language, and institutions… The image of society, in the narrower sense of that term, is best reflected in the family, the tribe, the nation” (Park I952/c: 181).,,Society is a purely natural product; a product of the spontaneous an unreflective responses of individuals living together in intimate, personal, and face-to-face relations“ (Park 1952/a: 58). Die räumlich abgegrenzte „community” hingegen ist bei Park der Ort „where social relations are more formal and less intimate, the situation is different. It is in the community, rather than in the family or the neighborhood, that formal organizations like the church, the school, and the courts come into existence and get their separate functions defined“ (Park 1952/a: 58). Park versteht die „community” nicht als analytische oder idealtypische Kategorie im Sinne der klassischen Dichotomie, sondern als eine konkrete räumlich bestimmte Einheit.

    Google Scholar 

  31. Für die humanökologische Perspektive Parks ist die räumliche Bestimmtheit der „community“ verständlicherweise hinreichend. Unter der Voraussetzung homogener Gemeinschaften bedarf es neben der räumlichen keiner formal strukturellen Kriterien, um verschiedene homogene „communities” gegeneinander abzugrenzen. Der räumliche Zusammenhang der „community“ bleibt für Wirth durchaus bestehen, ist aber für die Soziologie kaum von Interesse. Auf der untersten Stufe in einer hierarchischen Ordnung unterliegt er zwar, so Wirth, allen anderen Ebenen, bietet aber kaum Möglichkeiten der Gestaltung: „There isn’t too much we can do about them… whereas in these higher levels of interconnectedness between the units that make up a community we can do a great deal…. how much more can we do with an ecological analysis? 1 would say very little” (LW 156: 21f).

    Google Scholar 

  32. “Cities are not confined to the administrative boundaries that are laid down by constitutions, statutes, and laws…. In Chicago, for instance, we find that the life of the city does not stop twenty or thirty miles from State and Madison streets but extends in a very intensive fashion over at least 15 counties, 9 of which are in Illinois, 3 in Wisconsin, and 3 in Indiana” (LW-P 18: 5; vgl. auch LW 49: 114; LW 52).

    Google Scholar 

  33. Wirth wendet sich explizit gegen die Aussage Lord Kelvins, die das sozialwissenschaftliche Institut in Chicago ziert: `If you cannot measure your knowledge it is meager and unsatisfactory.’ „Granted that the absence of precision is a sign of imperfect knowledge,“ so führt Wirth aus, ”it does not always follow when we do have statistics and mathematical or quantitative results that we have either precise or adequate knowledge… Before our quantitative data or conclusions can be interpreted we must have non-quantitative theory, categories and hypotheses“ (LW 61: 60).

    Google Scholar 

  34. Die überkommenen Dogmen der Sozialwissenschaft haben sich in Institutionen etabliert, die kaum aufzulösen sind. „Whereas Aristoteles logic, ethics, aesthetics, politics, and psychology were accepted as authoritative by subsequent periods, his notions of astronomy, physics, and biology were progressively being relegated to the scrap-heap of ancient superstitions“ (LW 55: xvt).

    Google Scholar 

  35. Wirths Aussage, daß die Vorstellung des Problems der Objektivität in der Darstellung Mannheims denjenigen nicht fremd sein wird, die mit den Arbeiten der amerikanischen Pragmatisten vertraut sind, gilt so auch in Bezug auf ihn selbst (vgl. LW 55: xx).

    Google Scholar 

  36. Als „awareness“ beschreibt Dewey den Prozeß, in dem ein Organismus und eine gegebene Realität in ein problematisches Verhältnis treten und sich in der Folge gegenseitig angleichen. „Awareness is an event with certain specifiable conditions”, die Dewey angibt als „attention, and attention means a crisis of some sort in an existent situation… it represents something the matter, something out of gear, or in some way menaced, insecure, problematical and strained“ (Dewey 193I/c: 49f; vgl. auch Dewey 1931/b).

    Google Scholar 

  37. Louis Althusser hat später der Ideologie im Allgemeinen in Anlehnung an den Freudschen Begriff des Unbewußten die Unaufhebbarkeit attestiert. Ideologie repräsentiere „das imaginäre Verhältnis der Individuen zu ihren realen Existenzbedingungen“ (Althusser 1977: 12) und sei als solches ewig. Das imaginäre Verhältnis ist dabei nicht als falsches Bewußtsein zu verstehen, das in ein wirkliches Verhältnis aufgehoben werden kann. Die Ideologie ist das notwendige Verhältnis der Menschen zu ihren Lebensbedingungen. Sie ist Bedingungsverhältnis jeder Praxis, der die Funktion zukommt, die Individuen als Subjekte zu konstituieren. Die Kategorie des Subjekts ist fur Althusser gleichzeitig konstitutiv für die Ideologie (Althusser 1977: 14).

    Google Scholar 

  38. Mannheim versuchte später die seinsverbundene Relativität des Standortes konzeptionell aufzuheben, indem er behauptete, die Intellektuellen könnten sich kognitiv an verschiedene Standorte versetzen und so einzelne ideologische Standpunkte transzendieren. Gegenüber dieser Argumentation Mannheims blieb Wirth skeptisch. Der Ideologieverdacht bezog sich für ihn immer auch auf die Wissenschaftler und die Intellektuellen. Mannheims Perspektive war viel stärker von der europäischen Tradition geprägt, die davon ausging, daß eine intellektuelle Elite in der Lage sei, über gesellschaftliches Wissen individuell zu vertilgen. Der Masse und den demokratischen Organisationsweisen stand diese Tradition ablehnend gegenüber, was sich in den Arbeiten von Friedrich Nietzsche, Martin Heidegger, Carl Schmitt und Jose Ortega y Gasset zum Beispiel ausdrückt. Masse wurde mit Anonymität, Gefühlsbestimmtheit, Schwinden der Intelligenz und der persönlichen Verantwortung identifiziert und kulturkritisch als Niveauverlust beklagt. Max Horkheimer bezeichnete diese Entwicklung als ein Obsiegen der subjektiven gegenüber der objektiven Vernunft. Die subjektive Vernunft nehme bloß den Menschen und seine subjektiven Zwecke zum Maßstab individueller Ilandlungen (vgl. Horkheimer 1985: 15f). Ortega y Gasset spricht mit Bezug auf die Vereinigten Staaten vom Triumph der Überdemokratie oder der Hyperdemokratie, in der die Masse direkt handele (vgl. Ortega y Gasset 1956: Il f). Die menschliche Gesellschaft, so Ortega y Gasset, sei in ihrem Wesen aristokratisch und höre auf zu existieren, sobald sie ihren aristokratischen Charakter verliere, weil die Massenmenschen keine Moral und keine Sittlichkeit mehr hätten.

    Google Scholar 

  39. Wenn alle Fakten durch verschiedene erkennende Subjekte, deren Ideologie, Erfahrung, Tradition etc. bedingt sind, dann kann es, so Wirth, in einer komplexen Welt ein absolutes Wissen nicht geben, weil ein universeller „point of view“ nicht existiert. Für Wirth gilt daher, wie William James das in seinem Aufsatz „A Certain Blindness in Human Beings” (James 1931) zum Ausdruck gebracht hat, daß Wahrheit zu groß für Einzelne ist.

    Google Scholar 

  40. Wirth schätzte deshalb die Immigration europäischer Intellektueller weniger wegen der konkreten Erkenntnisse, die sie aus der alten Welt mitbrachten, „but for the new perspective and Weltanschauung which has been molded by the cultural background from which they spring and the singular personal experiences which they have undergone… interests, methods and even concepts arise out of the peculiar worlds in which we move. Every thought we think, every idea that we articulate is in a very real sense a reflection of our particular world“ (LW 58: 330).

    Google Scholar 

  41. “Our judgments concerning the worth of things, big or little, depend on the feelings the things arouse in us. Where we judge a thing to be precious in consequence of the idea we dame of it, this is only because the idea is itself associated already with a feeling. If we were radically feelingless, and if ideas were the only things our mind could entertain, we should lose all our likes and dislikes at a stroke, and be unable to point to any one situation or experience in life more valuable or significant than any other” (James 1931: 1).

    Google Scholar 

  42. Die aktive Partizipation an gesellschaftlicher Planung gilt Wirth zudem als Mittel, um die Verselbständigung von Institutionen zu verhindern und individuelle Problemlösungskompetenzen sinnvoll zu nutzen. Wirth hebt in der Besprechung von Mannheims „Mensch und Gesellschaft im Zeitalter des Umbaus“ (1935), ganz im Gegensatz zu der Argumentation Horkheimers (vgl. 1985: 15ft), die Bedeutung der substantiellen oder subjektiven Rationalität gegenüber der funktionalen Rationalität für die Lösung gesellschaftlicher Probleme in demokratischen Gesellschaften hervor. Die funktionale Rationalität konzentriere, so Wirth, die Kontrolle in einigen wenigen Händen „and can relieve the masses of the necessity of subjective rationality, since they have their decisions made for them by others. Accordingly our society is unprepared for crisis situations that require individual decision and rational self-control for their liquidation. This has led to the present crisis of democracy and the emergence of dictatorships and movements towards dictatorships in the Western capitalistic countries” (LW 59: 578).

    Google Scholar 

  43. Das „Urbanism Committee“ war eine Einrichtung des „National Resources Planning Board”, das unter der Roosevelt Administration zur Untersuchung spezifischer landeseigener l’robleme ins Leben gerufen worden ist. Wirth war für das „Urbanism Committee“ durch Vermittlung von Charles E. Merriam seit 1935 tätig (vgl. den Schriftwechsel in LW-P 0, Box 8, Folder 4). Zahlreiche Arbeiten Wirths aus dieser Zeit sind Ergebnisse dieser Untersuchungen (vgl. LW 60, LW 63, LW 65, LW-P 29) oder wurden direkt für das „Urbanism Committee” angefertigt (vgl. LW 57, I.W 64, LW 68, LW 70, LW 71).

    Google Scholar 

  44. Wirths Skepsis und Distanz gegenüber abstrakten theoretischen Konzepten wird z.B. in einer Besprechung von Zorbaughs The Gold Coast and the Slum“ (1929) deutlich. Die von Zorbaugh beschriebene Gemeinschaft stimme, so Wirth, „nicht mit den theoretischen, a priori gebildeten Auffassungen von der Gemeinschaft, wie sie in soziologischen Abhandlungen zu finden sind, überein, vielmehr begegnen wir hier einer Übergangsgemeinschaft, die ja für die moderne Zivilisation bezeichnend ist” (LW 24: 548). Diese Beschreibung des Gemeinschaftslebens von Zorbaugh erscheint Wirth vom wissenschaftlichen Standpunkt aus wertvoller „als all die abstrakten akademischen Abhandlungen, die den Titel „Gemeinschaft“ tragen, zusammengenommen” (LW 24: 548).

    Google Scholar 

  45. Diese Tatsache hebt Stanley S. Guterman hervor, der Wirths Arbeit gegenüber den zahlreichen Kritikern mit dem Verweis auf die qualitativen Aspekte seiner Argumentation verteidigt. Diese Kritiken, so Guterman, have not done full justice to his conception of urban life… these studies are less than adequate for testing Wirth’s views… Wirth was not concerned with the quantity of interaction… His concern, rather, was with the quality of interaction… Instead of designing investigations that would come to grips with the subtlety and complexity of Wirth’s theory, they implicitly reinterpreted the theory to made it congruent with the procedures that the researchers had used -- and in doing so, they stripped it of its trenchant qualities“ (Guterman 1969: 493, 495).

    Google Scholar 

  46. Häufig warnte Wirth vor „monistic and simplicistic explanations in social phenomena“ (I,W 61: 53). Alles menschliche Handeln sei eine Resultante aus mindestens zwei unterschiedlichen Faktoren:,,the personal and the situational, and each of these has many facets. A research project, therefore, which promises to come out with a single explanatory principle for a complex phenomenon is rightly suspect” (LW 61: 54).

    Google Scholar 

  47. Peter Saunders verteidigt Wirth gegen seine stadtsoziologischen Kritiker, weil deren Einwände, „als Teil eines letztendlich irrigen und nutzlosen Versuches angesehen werden [müssen], einen Idealtypus durch empirische Daten zu widerlegen“ (Saunders 1987: 103).

    Google Scholar 

  48. Paradoxerweise ist aber vor allem Wirths Definition der Stadt berühmt geworden und bis heute in zahlreiche Konzepte und Lehrmeinungen, trotz aller Kritik, daß sie nicht hinreichend sei, eingegangen. So heißt es z.B. in einem amerikanischen Soziologie-Lehrbuch, jedoch ohne Verweis auf Wirth: „A city is a relatively large, densely populated, and permanent settlement of people who are socially diverse“ (Calhoun/Keller/Light 1994: 523). Die von Wirth beschriebenen relevanten Folgen aus der urbanen Lebensweise werden hingegen kaum zur Kenntnis genommen.

    Google Scholar 

  49. Die verbreitete Rezeptionsweise von Wirths Definition interpretiert diese nicht nur fast durchgängig als Theorie, sie reduziert sie zudem auf lediglich drei Elemente: Größe, Dichte, Heterogenität. Wirth faßte diese Definition jedoch erheblich weiter. Zwar behandelt Wirth die drei genannten Variablen ausführlicher, nichtsdestoweniger benennt er aber mindestens fünf Kriterien: Größe, Dichte, Heterogenität, Permanenz und Individualität. Zudem sollte die Bedeutung der Relativität in der Bestimmung nicht übersehen werden. In einer sich verändernden Gesellschaft kann weder für die Größe, noch für die Dichte oder den Grad der Heterogenität ein exaktes Maß angegeben werden. „The traditional dogmas about numbers of people or families per acre must be constantly reexamined in the light of the possibilities which modern design and modern technology create. There is no fixed ratio of people or families per acre“ (LW 157: 287). Wirth beschreibt in seinem späten Werk als „my criteria of urban life” vier Eigenschaften: „numbers, density, permanence, and heterogeneity“ (LW 187: 173, Hervorhebung WV). Der Dauerhaftigkeit der Siedlungen heterogener Individuen, die Wirth in einer Fußnote explizit hervorhebt (vgl. LW 63: 19), kommt für die Gestaltung der sozialen Strukturen insofern eine zentrale Rolle zu, als alle Ordnungsmuster unter der Vorgabe dauerhafter Pluralität und Heterogenität entwickelt werden müssen und die Heterogenität nicht bloß ein Zwischenstadium im Prozeß einer letztendlichen Assimilation darstellt.

    Google Scholar 

  50. Wirth hat also keineswegs von Simmel nur „fleißig abgeschrieben“ (Häußermann 1995: 91), sondern Wirth findet in Simmels eher spekulativen Entwürfen zum einen Formulierungen, die sich mit seinen Erkenntnissen aus der empirischen und praktischen Arbeit decken. Zum anderen bilden diese Deskriptionen für Wirth aber lediglich den Ausgangspunkt für sein eigentliches Vorhaben, das auf die Entdeckung neuer sozialer Ordnungsmuster in der Folge der sozialen Veränderungen zielte.

    Google Scholar 

  51. “In a community composed of a larger number of individuals than can know one another intimately and can be assembled in one spot, it becomes necessary to communicate through indirect mediums and to articulate interests by a process of delegation. Typically in the city, interests are made effective through representation” (LW 63: 13f).

    Google Scholar 

  52. Wenn soziale Distanz, Gleichgültigkeit und die Heterogenität der Individuen eine dauerhafte Bedingung des urbanen Lebens darstellen, dann ist damit zugleich Assimilation im Sinn einer Homogenisierung der Lebensweisen vollständig ausgeschlossen. Assimilation würde soziale Distanz, Gleichgültigkeit und Fleterogenität aufheben und damit die Charakteristika urbanen Lebens und der modernen Zivilisation zerstören. Assimilation und urbane Lebensweise stellen insofern Antagonisten dar.

    Google Scholar 

  53. In dem Prozeß der Synthese individueller Persönlichkeit kann eine Ursache der Zunahme von Toleranz gegenüber anderen Normen und Lebensweisen identifiziert werden. In der Differenz verschiedener Rollen ist der Einzelne gefordert, seine eigenen, von der jeweils eingenommenen Rolle abweichenden Interessen und Bedürfnisse zu tolerieren und in seine individuelle Persönlichkeit zu integrieren. Zudem erfordert die ständige Konfrontation mit unterschiedlichen Individuen notwendig eine gewisses Maß an Akzeptanz und Toleranz: „The juxtaposition of divergent personalities and modes of life tends to produce a relativistic perspective and a sense of toleration of differences which may be regarded as prerequisites for rationality and which lead toward the secularization of live“ (LW 63: 15).

    Google Scholar 

  54. Es tritt in der urbanen Lebensweise daher das Paradox auf, daß der Einzelne in dem Augenblick in dem er als Individuum die historische Bühne betritt und individuelle Handlungsfähigkeit gewinnt, seine Handlungsmöglichkeiten und seinen Einfluß zugleich durch die Vielzahl individueller Interessen relativiert und reduziert findet. Der Einfluß einzelner Personen war in den abgeschlossenen Gemeinschaften größer, allerdings waren nicht individuelle Entscheidungen Grundlage des Handelns, sondern der Einzelne befand sich in unaufbebbarer Identität mit seiner Gemeinschaft — er konnte ein individuelles Interesse gegenüber der Gruppe gar nicht identifizieren (vgl. dazu Meier/Veyne 1988 über die Form der griechischen Demokratie).

    Google Scholar 

  55. Symptomatisch für diese Situation galt Wirth die Gruppe: „The Independent Organization of Unorganized Independents“, weil hier deutlich werde, „the dilemma of modern man. Without belonging, we are nobody” (LW-P 73: 384).

    Google Scholar 

  56. Simmel hatte es bei der Feststellung belassen, daß mit der quantitativen Ausdehnung der Gemeinschatten eine Differenzierung und Individualisierung der Einzelnen einhergeht. Fasziniert von den Prozessen der Individualisierung wurde lange Zeit kaum beachtet, daß mit der Besonderung zugleich eine Nivellierung der Bedürfnisse und Interessen einhergeht. Konsequenzen für die Formen sozialer Organisation und Integration hat Simmcl aus den Individualisierungsprozessen nicht gezogen.

    Google Scholar 

  57. Von Iorkheimer/Adorno wird beispielsweise die in der Massenkultur sich herstellende Allgemeinheit und Gleichheit nicht als demokratische, gesellschaftliche Integrationsleistung verstanden, sondern sie wird als der Abgesang des Subjekts und des Besonderen beklagt. Die Freisetzung neuer Potentiale und Möglichkeiten im Rahmen der nivellierten und demokratisierten Massenkultur wird dabei nicht zur Kenntnis genommen. Das emphatische Festhalten I lorkheimer/Adornos an den aufgeklärten Standards einer geistigen Elite führt die Aufklärung selbst ad absurdum und produziert den beklagten dialektischen Umschlag von Aufklärung in Mythologie. „Von Interessenten“, heißt es bei Horkheimer/Adorno, „wird die Kulturindustrie gern technologisch erklärt. Die Teilnahme der Millionen an ihr erzwinge Reproduktionsverfahren, die es wiederum unabwendbar machten, daß an zahllosen Stellen gleiche Bedürfnisse mit Standardgütern beliefert werden… In der Tat ist es der Zirkel von Manipulation und rückwirkendem Bedürfnis, in dem die Einheit des Systems immer dichter zusammenschießt” (Horkheimer/Adorno 1969: 109). Was aber hier infolge der Reproduktionsverfahren, die überhaupt erst die Existenz und Teilnahme von Millionen ermöglicht haben, im System zusammenschießt, ist das, was zuvor oder gleichzeitig im Begriff ist auseinanderzufallen: die Integration der Mitglieder in ein Gemeinwesen, das über den überschaubaren Rahmen kleiner Gemeinschaften hinausgeht.

    Google Scholar 

  58. Unschwer läßt sich diese Dreigliederung mit den Ebenen in Talcott Parsons Theorie vergleichen (vgl. Parsons 1975). Parsons beschreibt Gesellschaft als eines von vier primären sozialen Handlungssystemen, die umgeben sind von zwei Bereichen außerhalb dieser Handlungssysteme, der physikalisch-organischen Umwelt am unteren Ende und der „letzten Realität“, i.e. Religion, Ideen etc. am oberen Ende, was sich in der Gliederung Natur, Handlung und Kultur ausdrückt.

    Google Scholar 

  59. Vielfach endet mit der Darstellung der urbanen Lebensweise, wie Wirth sie in seinem Urbanismus-Aufsatz vorgelegt hat, die Rezeptionsgeschichte seiner Arbeiten, und bisweilen wird behauptet, daß er über den Urbanismus-Aufsatz hinaus nichts mehr zustande gebracht habe, was eine weitere Aufmerksamkeit seiner Arbeiten rechtfertige (vgl. Salerno 1987: 47), weil er über die Darstellung der Desorganisation hinaus nicht anzugehen wisse, wie Integration zustande käme (vgl. Bendix 1954: 529). Es wird zu zeigen sein, daß Wirth im Rahmen seiner Suche nach der Möglichkeit sozialer Integration in dauerhaft heterogenen Gesellschaften eine Konzeption bereitstellt, die his in die Gegenwart fruchtbare Ansätze enthält.

    Google Scholar 

  60. Hier lehnt sich Wirth an Weber an, der in „Wirtschaft und Gesellschaft“ ganz ähnlich formuliert hat: „Eine nur aus zweckrationalen Motiven innegehaltene Ordnung ist im allgemeinen weit labiler als die lediglich kraft Sitte, infolge der Eingelebtheit eines Verhaltens, erfolgende Orientierung an dieser” (Weber 1922: 16).

    Google Scholar 

  61. Umgekehrt ist die Sprache eine wesentliche Barriere bei der Integration, wenn sie dazu dient, ethnische und/oder kulturelle Segmentierung zu perpetuieren. In einer Zitatensammlung zur jüdischen Identität und Sprache stellt Wirth fest: „Park is wrong when he says that: ‘the language they Ithe Jews] speak is not associated with a movement, or at least a disposition to preserve a nationality’ (Park: The Immigrant Press., p.62) because Jewish nationalism is undoubtedly interwoven with the Yiddish movement as can be evidenced by glancing at Zionist membership list. The greatest service that the Yiddish has performed is that it has served as a barrier against assimilation“ (LW-P 0: Box 51, Folder 2).

    Google Scholar 

  62. Über das Problem der Funktion der Vernunft hei der Begründung der Werte, so Wirths Kritik an Parsons’ „Structure of Social Action“ (Parsons 1937; LW 69), wisse Parsons in seiner voluntaristischen Handlungstheorie nichts zu sagen: „We are still left at sea on the issue of whether or not reason and science are capable of aiding man in choosing his values” (LW 69: 402). Wirth kritisiert an dem Konzept, daß das kulturelle System nur als gegebenes Datum auf die Individuen und deren I landlungen einwirkt, ohne daß Parsons angeben könnte, wie die kulturell geprägten Normen und Werte zustande kommen. In der Unterscheidung zwischen drei Klassen theoretischer Systeme: „those of nature, of action, and of culture“ (LW 69: 403) ist Kultur wesentlich als extern bestimmtes Regulativ in das Handeln involviert (vgl. Parsons 1937: 404). Der wesentlichste Bestandteil einer voluntaristischen Handlungstheorie könne, so Wirth, nicht der „freie Wille” sein, sondern die Motive oder die Kraft (effort), die die Kultur mit den Handlungen zu verbinden vermag.

    Google Scholar 

  63. Die Befragung kann für Wirth kaum Erkenntnisse darüber liefern, was Menschen als selbstverständlich gilt. Ausgesprochen skeptisch war Wirth gegenüber „so-called attitude tests“. Es sei nicht nur „irrelevant and useless, but positively misleading, for attitudes are never expressed, they are always betrayed” (LW 79: 113). Erforderlich sei es, so Wirth, „to discover what people take for granted — the values, norms and judgments that they accept without question and without discussion“ (LW 79: 113). Bei der Untersuchung des sozialen Lebens sei es deshalb notwendig, „to concentrate on overt action - of which, of course, language itself is one form” (LW 75: 482). Aus einem Briefwechsel Wirths mit John Marshall von der Rockefeller Foundation Anfang 1941 geht hervor, daß Wirth eine umfangreiche Untersuchung öffentlicher Meinung projektiert hat, die unter Einbeziehung konkreter Gemeindestudien insbesondere die Formen symbolischer und nicht-symbolischer Handlung zum Gegenstand der Untersuchung der Ilaltungen in der Bevölkerung machen sollte (vgl. LW-P 0: Box: 8, Folder: 2).

    Google Scholar 

  64. Abgesehen wird hier von den Einwänden, die sich auf die Inhalte der Ideologien und der Propaganda beziehen, denen Wirth durchaus kritisch gegenüberstand. Wirth war sich der Tatsache bewußt, daß deren integrative Kraft an gänzlich unterschiedliche Inhalte gebunden sein kann. Ihre grundsätzliche Funktion bei der sozialen Organisation moderner Gesellschaften ist aber weniger von ihren Inhalten als von ihrer Wirkungsweise her tür Wirth von Interesse. „What makes a statement propaganda is not the increment of truth or falsehood it contains, but rather the extent to which those to whom it is addressed are in a position to criticize it… Propaganda works through suggestion creeping up the backstairs of our consciousness instead of boldly knocking at the front door; it attempts to get us to believe something or to do something, rather than to understand something…. I realize, of course, that the purveyors of symbols may become so thoroughly affected by their own art that they unwittingly become the victims of it“ (I,W 79: 112).

    Google Scholar 

  65. Den faktischen Verhältnissen, so Jellinek, müsse selbst diese normative Kraft innewohnen. Sie müssen als rechtliche anerkannt sein, da anders „die faktische Ordnung nur durch äußere Machtmittel aufrechterhalten werden (kann], was auf die Dauer unmöglich ist, — entweder tritt schließlich doch Gewöhnung an sie ein, oder die rein äußerliche Ordnung selbst bricht in Stücke. Wo aber einmal das Gegebene durch die in Form der Gewohnheit sich äußernde Anerkennung zur Norm erhoben ist, da werden die dem außen Stehenden selbst noch so unbillig dünkenden Zustände als rechtmäßig empfunden“ (Jellinek 1900: 311).

    Google Scholar 

  66. “The ghetto arose, in the first instance, out of a body of practices and needs of the Jewish population.” (LW 13: 50f). “The laws that came to regulate the conduct of the Jews and Christians were merely the formal expressions of social distances that had already been ingrained in the people” (LW 12: 62).

    Google Scholar 

  67. “Der Mensch”, so Jellinek, „sieht das ihn stets Umgebende, das von ihm fortwährend Wahrgenommene, das ununterbrochen von ihm Geübte nicht nur als Tatsache, sondern auch als Beurteilungsnorm an, an der er Abweichendes prüft, mit der er Fremdes richtet… Den Grund der normativen Kraft des Faktischen in seiner bewul3ten oder unbewul3ten Vernünftigkeit zu suchen, wäre gant verkehrt. Das ‘tatsächliche kann später rationalisiert werden“ (Jellinek 1900: 307f).

    Google Scholar 

  68. Daß die Dauer der Übung sowie die Anzahl der Menschen, die an ihr teilnimmt, von entscheidender Bedeutung sind, um die normative Kraft einer Handlung herzustellen, darauf’ hat Karl Otto Hondrich hingewiesen und den Prozeß in Ermangelung soziologischer Begriffe als „Methusalems Gesetz“ bezeichnet. I londrich beschreibt eine Beobachtung, die der modernisierungstheoretischen Erwartung entgegen läuft, die annimmt, daß alles, was schon lange besteht als veraltet gilt und um so leichter durch Neues ersetzt werde. Viel größer sei die Wahrscheinlichkeit, daß soziale Bindungen, Arbeitsverhältnisse etc. je länger sie bereits existieren, um so länger in die Zukunft dauern werden, was die Bedeutung des traditionellen Bestands in der Moderne hervorhebt (vgl. Hondrich 1996).

    Google Scholar 

  69. Aus dem Mangel an einer einheitlichen Lebensweise in den US-amerikanischen Städten zu Beginn des letzten Jahrhunderts erklären sich möglicherweise die hohen moralischen Standards in der amerikanischen Kultur (vgl. etwa Bellah 1987, 1991). Auch in der Argumentation der Kommunitaristen linden sich diese Positionen wieder. Amitai Etzioni beispielsweise glaubt verbindliche moralische Normen und Werte durch deren Propagierung erzeugen zu können. Dazu will er die Stimme der Moral erheben und den haltlosen Individuen so lange mit Ermahnungen auf die Nerven gehen, his diese freiwillig auf den Pfad der Tugend zurückkehren. Die Versuche, Moral aus einer höheren Einsicht von oben zu setzen, erweisen sich jedoch als überkommene Strategien. Es sind Mittel einer autokratischen, religiösen Gemeinschaft.

    Google Scholar 

  70. Es ist daher nicht ein zunehmendes Maß an objektiver Wahrheit und Erkenntnis, von der hier die Rede ist, sondern es handelt sich um faktisch unterschiedliche Formen gesellschaftlicher Integration unter veränderten Lebensweisen, die sich durch ein differierendes Maß individueller und kollektiver Freiheit aber auch Verantwortlichkeit unterscheiden. Die zeitbedingte Erkenntnis, daß Gott die Geschicke der Welt und der Menschen lenkte, führte, solange diese Überzeugung herrschte und als Handlungskoordinierung diente, ebenso zur sozialen Integration und Ordnung wie die Überzeugung, daß eine naturgesetzliche Ordnung und deren Imperative die soziale Organisation strukturiert. Ganz im Sinne des Thomas-Theorems argumentiert Umberto Eco, der ausführt, daß ein Plan genau dann existiert, wenn alle an ihn glauben: „Wir hatten einen nicht-existenten Plan erfunden, und sie hatten ihn nicht nur für wahr und real gehalten, sondern sich auch eingeredet, selber schon lange Teil dieses Planes gewesen zu sein… Aber wenn man einen Plan erfindet, und die anderen führen ihn aus, dann ist es, als ob der Plan existierte, beziehungsweise dann existiert er wirklich“ (Eco 1989: 727).

    Google Scholar 

  71. Die meisten Handlungstheorien hat Wirth abgelehnt, weil sie sich zum einen nur auf das Handeln selbst beziehen; das Ausbleiben von Handlungen, das Wirth als ein signifikantes Merkmal des sozialen Lebens gilt, jedoch ausblenden. Zudem lassen sie Haltungen und irrationale Elemente als Handlungsgründe außer acht. Die bestehenden theoretischen Konzepte der Motivation und Wertegenese waren ihm nicht hinreichend. Adam Smith z.B. habe, so kritisiert Wirth, die fundamentalen Erkenntnisse, aus seiner „Theory of Moral Sentiments“ — daß Motivation aus dem Teilen von gemeinsamen Empfindungen entsteht nicht für die Analyse der Marktwirtschaft in „The Wealth of Nations” eingesetzt.

    Google Scholar 

  72. “In der Hoffnung”, so Hannah Arendt, „überspringt die Seele die Wirklichkeit, wie sie in der Furcht sich vor ihr zurückzieht“ (Arendt 1960: 10).

    Google Scholar 

  73. Der Rassismus in Nazi-Deutschland sei, so Wirth, obwohl er rational und wissenschaftlich keinerlei Basis habe, als sozialer Faktor handlungsrelevant und müsse daher als soziale Tatsache ernst genommen werden (vgl. LW-I’ 47: 2).

    Google Scholar 

  74. Im Rahmen derartiger Konzeptionen wurde die Lebensweise der amerikanischen Gesell-schalt und ihre Vorstellung von Moral als Unmoral verstanden, die, wie Ortega y Gasset formulierte, von der vormaligen Moral und den sittlichen Lebensweisen nur noch eine Leerformel bewahrt habe und daher höchstens eine negative Moral sei, in der jeder glaube, jedes Recht und keine Pflicht zu haben, in der sich der gewöhnliche Mensch vom Zwang jeder Unterordnung befreit fühle und ihm das Dienst- und Pflichtbewußtseins oder die Sittlichkeit überhaupt fremd sei Ivgl. Ortega y Gasset 1956: I39f).

    Google Scholar 

  75. In einer Reihe von Round-Table-Radio-Discussions in den Jahren 1940/41 wirft Wirth öffentlich die Fragen auf, ob und was es in einem Krieg mit Deutschland/Japan zu verteidigen gelte, was die Monroe-Doktrine angesichts der deutschen und japanischen Aggression bedeute, ob eine Welt „half free and half slave“ denkbar und mit der US-amerikanischen „Open Door” Politik vereinbar sei. In dem Beitrag: „Civil Liberties and the Fifth Column“ (LW-RI 18), in dem von den Teilnehmern die in der Folge des Krieges möglicherweise notwendigen Einschränkungen der Redefreiheit diskutiert wurden, argumentiert Wirth: „we must develop a positive program for democracy if democracy is going to survive; that is, democracy must become a way of life” (LW-RT 18: 21).

    Google Scholar 

  76. Schon früher war den Amerikanern, wie Sautter feststellt, „die Missionsidee nie fremd gewesen“ (Sautter 1991: 405). Sie kommt in der Monroe-Doktrin und in den Interventionen der USA in Mittel- und Lateinamerika zum Ausdruck. Auch Woodrow Wilson war für den Eintritt der Amerikaner in den Ersten Weltkrieg, weil es notwendig sei, die Welt „safe for democracy” zu machen.

    Google Scholar 

  77. Die imperialistische Haltung der USA ist allerdings auch von vielen Zeitgenossen Wirths kaum zur Kenntnis genommen worden. George H. Mead beispielsweise, so führt Hans Joas aus, hat die US-amerikanische Außenpolitik naiv als gerechte und befreiende Rolle Amerikas interpretiert, aus der Überzeugung, „die USA seien aufgrund ihrer eigenen antikolonialistischen Entstehungsgeschichte und ihrer demokratischen Traditionen in ihrem ganzen Wesen ein nicht imperialistischer, ja anti-imperialistischer Staat“ (Joas 1989: 31).

    Google Scholar 

  78. Allerdings führte die neuerliche Diskriminierung der Schwarzen nach ihrem Einsatz im Ersten Weltkrieg z.B. zu einem verstärkten Gruppenbewußtsein, zu erneuter Konkurrenz und Abgrenzung und dem zunehmenden Kampf um Anerkennung mit der dominanten Gruppe, die ihrerseits mit Ablehnung, Widerstand und Rassismus reagierte. „The disillusionment which the Negro experienced after the first World War, coupled with the frustration of his aspirations for fuller participation in the democratic order that was to follow the war — in which, despite discriminatory treatment, he had participated with great devotion — accentuated his race consciousness and gave new impetus to racialist movements among broad masses of Negroes who had hitherto been immune to them“ (LW 85: 420).

    Google Scholar 

  79. Die Thematisierung der Rassen- und Minderheitenproblematik ist ebenso wie Wirths Auseinandersetzung mit Moral von praktischen Interessen geprägt. Es ist nicht ein ethischer Anspruch, aus dem heraus der Schutz der Minderheiten gefordert wird, sondern vielmehr die konkrete Problematik nationaler Verteidigung gegenüber den Angriffen totalitärer Systeme, die sich die Diskriminierung verschiedener nationaler Gruppen zunutze machten. Dies wird auch an seinem Verhältnis zu den Indianern Nordamerikas deutlich. Die Indianer seien, so Wirth, „a tribal organization“ (LW 88: 140), die im Gegenteil zu den großen Gruppen der europäischen Immigranten und der Schwarzen in das wirtschaftliche und politische Leben gar nicht integriert seien. Sie bildeten keinen Gegenstand nationalsozialistischer Agitation und Propaganda und waren daher auch für Wirth nur von geringem Interesse. Zwar benennt Wirth die Indianer Nordamerikas in allen Aufzählungen von Minderheiten in den USA als diskriminierte Gruppe, sie werden aber von ihm in die Problemlösungs- und Integrationskonzepte in keiner Weise einbezogen.

    Google Scholar 

  80. Willi Paul Adams hebt hervor, daß „noch fünfhundert Jahre nach Beginn der Expansion der europäischen Wirtschaft und Bevölkerung über den Atlantik vom ‘jungen’ oder gar ‘geschichtslosen’ Amerika gesprochen wird“ und verweist darauf, daß die Vereinigten Staaten von Amerika als Staatswesen älter sind als zahlreiche Staaten in Europa (Adams 1992: 49). Dem ist entgegenzuhalten, daß die Geschichte der Verfassung und der gesellschaftlichen Institutionen allein nicht hinreichend für die Integration der Menschen in ein Gemeinwesen sind, wenn sic nicht an deren Entstehung und Veränderung, beteiligt sind „It is true, of course,” so Wirth, „that we perhaps have a longer and more unbroken tradition of free institutions than any other nation on earth — but, on the other hand, large sections of our people have not shared either in that tradition or in the fruits of that tradition. They have remained marginal peoples who still speak of the older Americans as ’they’ “ (LW 85: 432).

    Google Scholar 

  81. Auch in der amerikanischen Philosophie des Pragmatismus nimmt das Werden und die Zukunft einen zentralen Platz ein. „It is beyond doubt“, sagt Dewey, „that the progressive and unstable character of American life and civilization has facilitated the birth of a philosophy which regards the world as being in continuous formation, where there is still place for indeterminism, for the new, and for a real future” (Dewey 1931/b: 33). Im Gegensatz zu den europäischen philosophischen Konzeptionen versteht der Pragmatismus die Wirklichkeit nicht zuerst als ein Gewordenes, sondern ein Werdendes, Zukünftiges, als „a universe whose evolution is not finished…a universe which is still, in James’ term, ‘in the making,“in the process of becoming”` (Dewey 193 I/b: 25). In der Orientierung auf die Zukunft bringt die Vernunft allgemeine Ideen hervor, die in Handlungen umgesetzt, die Welt verändern. Damit erhält die Philosophie und die Wissenschaft eine bedeutende Funktion, in dem sie an der Gestaltung der Wirklichkeit mitwirkt und nicht nur passiver Interpret ist. „Philosophy is not just a passive reflex of Civilization . It is itself a change“ (Dewey 1931/a: 7). In der europäischen Bewußtseinsphilosophie hingegen beginnt die Eule der Minerva bekanntlich erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug: „Um noch über das Belehren, wie die Welt sein soll, ein Wort zu sagen, so kommt dazu ohnehin die Philosophie immer zu spät. Als der Gedanke der Welt erscheint sie erst in der Zeit, nachdem die Wirklichkeit ihren Bildungsprozefl vollendet und sich fertig gemacht hat”(Flegel 1986:27f).

    Google Scholar 

Download references

Authors

Rights and permissions

Reprints and permissions

Copyright information

© 2003 Springer Fachmedien Wiesbaden

About this chapter

Cite this chapter

Vortkamp, W. (2003). Gemeinschaft und Normativität: Die Untersuchung sozialer Integrationsformen heterogener Gesellschaften. In: Partizipation und soziale Integration in heterogenen Gesellschaften. Forschung Soziologie , vol 186. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-11008-8_5

Download citation

  • DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-663-11008-8_5

  • Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden

  • Print ISBN: 978-3-8100-3069-6

  • Online ISBN: 978-3-663-11008-8

  • eBook Packages: Springer Book Archive

Publish with us

Policies and ethics