Zusammenfassung
Um 1977 spitzt sich das innenpolitische Klima zu. Die Diskussion um die Kernenergie erreichte, was ihre Intensität in den Medien, aber auch ihre Schärfe angeht, nach den ‚Schlachten‘ um Brokdorf und Grohnde Anfang des Jahres einen ersten Höhepunkt. Die nukleare Kontroverse trat in ihre heiße Phase (1977–79) ein und polarisierte sich zusehends. Terroristenfurcht und Verfassungsschnüffelei, Angst vor dem Atomstaat, Energiekrise und ökologische Wende bestimmten fortan das politische Klima. Da die Gegner der zivilen Kernenergienutzung sich nun vor allem unter jüngeren und hochgebildeten Menschen rekrutierten, beeinflußte das Gedankengut der Studentenbewegung und der Aktionsstil der außerparlamentarischen Opposition immer stärker das Selbstverständnis der neuen Gegnerschaft, die aus der Bürgerinitiativbewegung hervorging. Eine „enorme Erweiterung der Kommunikation“ und ganz neue Dimensionen der Öffentlichkeit waren die Folge. Die Kritiker gewannen an „Durchsetzungsvermögen und Konfliktfähigkeit“. Der Anti-Atom-Protest wurde zu einer sogenannten neuen sozialen Bewegung, die nicht mehr in die klassischen Schemata paßte.1 Die diskursgeschichtliche Analyse macht in dieser Phase einerseits entscheidende Umbrüche der politischen Kultur Westdeutschlands sichtbar: Sprachbewußtsein und Sprachgebrauch ändern sich in der zweiten Hälfte der 70er Jahren auf charakteristische Weise. Andererseits wird deutlich, wie unvorhersehbar und komplex sich der öffentliche Sprachgebrauch insbesondere dann entwickelt, wenn Diskussionen an Intensität zunehmen und sich ideologisieren.
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Literatur
Wohmann 1967, S. 183f.; Glück/Sauer 1990, S. 38; vgl. außerdem Jäger 1970.
Zum Beispiel Marcuse 1967, S. 120–122 (speziell S.I21, Fn. 25); vgl. Korn 1962.
Wesel 1988, S. 53; zum,semantischen Kampf der Cdu vgl. Behrens u.a. 1982 bzw. Klein 1991.
Zöchbauer 1975, S. 87; für eine knappe Darstellung des Manipulationklischees vgl. Lager 1983, S. 7–12, und Wolff 1974.
Strohm 1973, S. 437, 23, 432, 441.
Glaser 1989, S. 45; Rucht 1988, S. 294.
Zu militärischen Atom-Schlagwörtern vgl. Wengeler 1992.
Brandt 1977; Jungk 1977. Besonders der Glossar mit technischen Erklärungen bei Jungk macht deutlich, daß fur ihn Kernenergie, Kernkraftwerk oder Kernreaktor eigentlich die,richtigen` Aus¬drücke sind. Atommeiler bzw. Atomkraftwerk sind lediglich Verweisstichwörter, Atomenergie fehlt ganz. Der Kuriosität halber sei noch die frühe Polemikvokabel Atomkamarilla im Sinne von,Atomlobby` erwähnt (vgl. Schuster 1970, S. 30 ).
Radkau 1983, S. 461, bzw. 1987, S. 308; BT 15.6.77, S. 2233; Traube in Lovins 1978, S. l0.
Dahl 1977a, S. 11; Dreyer/Vinke 1977, S. 16f.; Fluck 1985, S. 43.
Nowotny 1979, S. 45ff.; Vester 1980, S. 482; vgl. außerdem Haß 1988, S. 66, u. Renn 1984, S. 217.
Ökologiegruppe 1977, S. 204, 206f. u. 215; Maren-Grisebach 1982, S. 131; Marcuse 1969, S. 62. Zur Entwicklung der Sponti-Szene: Stamm 1988, hier S. 103.
Kkw-Fibel 1977; S. 7, Jungk 1977, S. XI; Ökologiegruppe 1977, S. 139 u. 137.
Ökologiegruppe 1977, S. 70; vgl. zu diesem Komplex Jung 1989, S. 79f.
Kkw-Fibel 1977 bzw. bestimmte Beitrage in Ökologie-Gruppe 1977; ein Beispiel für einen streng marxistischen Sprachgebrauch ist ein Beitrag in Ökologiegruppe 1977, S. 37–136.
Die Übersicht bezieht sich auf Gründler 1977 bzw. Dahl 1977 und 1977a. „Implizit“ bedeutet, daß die Kritik lediglich ironisch, durch Anführungszeichen oder sogenannt zum Ausdruck kommt. Bei der Schnittmenge zwischen beiden Autoren wird von Dahl friedlich und von Gründler Entsorgung nur implizit kritisiert. In allen anderen Fallen kommen sprachreflexive Bemerkungen zu den je¬weiligen Wörtern vor.
Gründler 1977, S. 89, S. 86, S. 70.
Dahl 1977, S. 62 bzw. S. 57; Stötzel 1988, S. 425; Der Snrachdienst 1977, S. 32 (ähnlich schon Faz 17.7.71); Grass 1977, S. 522. Vgl. auch das Gedicht Entsorgt (Born 1978, S. 1251 ).
Fuchs 1980, S. 149; Grass 1977, S. 98.
Jungk 1977, S. 147ff.; Kkw-Fibel 1977, S. 146 bzw. Schwenger 1983, S. 93. Zum Titel Der Atom-Staat von Jungk 1977 — das Buch ist Eugen Kogon gewidmet — vgl. Jungk 1988.
Born 1987, S. 125.
Vgl. Hallensleben 1984, Anhang A I bis A45, bzw. Buchholtz 1978, S. 8.
Man vergleiche etwa Jungk 1977 bzw. I977a mit Jungk 1988 und Strohm 1973 bzw. 1974 mit Strohm 1979 (dort auch Photos).
Neue Ruhr Zeitung 27.8.86; Rosenau 1988, S. 6.
Opp de I lipt/Latniak 1991, S. 10; Waas 1978, S. 29; Miller 1977, S. 18 u. S. 19.
Atw 1971, S. 117; Schmitt 1985, S. 214. Vgl. außerdem Radkau 1987, S. 315.
Radkau 1986, S. 41; BT-Drucksache 7/3871, S. 3; zit. nach v.Cube 1987, S. 196.
Kfa 1977a, S. 44 (ähnlich auch Gerwin 1978, S. 79); Leserbrief vom 5.6.76 zit. nach Dreyer/ Vinke 1977, S. 97.
Waas 1978, S. 33; Außcrung eines Nukleartechnikers auf dem Entsorgungshearing am 9.6.1976 zit. nach Radkau 1983, S. 547; Radkau 1987, S. 315 bzw. 309; Schmitt 1985, S. 29
Radkau 1983, S. 416; BT 15.6.1977, S. 2294; Gerwin 1978, S. 84; Innenminister Maihofer, der wegen dieser Affäre zurücktrat, zit. nach FR 9.3. 77, S. 4.
Röthlein 1979, S. 67ff. u. Radkau 1983, S. 411ff.; Gerwin 1978; Bundestagsdrucksache 7/4555 vom 9. 1. 1976.
Zum Beispiel RP 4.3.81, S. 2; als Überblick über den Sprachgebrauch der Gerichte in den 70em: Albers 1980.
Steger 1989, S. 11.
Die Graphik beruht auf Bundestagsdebatten zum Thema Atomenergie, bei denen die Werte aus Gründen der Validität nach Phasen kumuliert wurden. Genaue Zahlen und Erkiürungen S. 241ff. Da die Debatten nicht zeitlich kontinuierlich verteilt sind, ist die Graphik etwas verzerrt, ins¬besondere was die Steilheit des Rückgangs von Atom bis 1977 angeht (vgl. dazu Graphik 3, S. 67 ).
Das angegebene Wort ist jeweils die häufigste Variante, die gegen parallel gebildete Wörter mit Kern bzw. Atom aufgerechnet wurden. Genaue Zahlenwerte und Erklärungen im Anhang, Tabelle 8, S. 244.
R. Hossner 18.12.91. Einer der extrem seltenen Belege ihr Kernstrom: Schulz 1966, S. 388.
Zum methodisch-empirischen Stellenwert von Registem folgende Überlegungen: Die Aufnahme eines neuen Stichworts stellt eine Form der diskursgeschichtlichen Approbation dar. Eine gewisse Verzerrung durch die Bevorzugung kurzer Schlagwörter mit Oberbegriffcharakter ist jedoch mög¬lich. Aufgrund von,Stichworttraditionen` wird ein überholter Sprachstand manchmal länger als angebracht weitergeschleppt. Um so signifikanter ist daher das Verschwinden oder die Ersetzung eines Stichwortes. Negative Schlüsse (Nicht-Vorkommen eines Begriffes) dürfen auf der Basis ei¬nes Registers nicht gezogen werden.
Schlagzeilen in Welt 14.2.1977 und Waz 23.11.1976; derartige Verschiebungen bei der Rede¬wiedergabe analysiert exemplarisch Dieckmann 1985a. Weiteres Beispiel für gängigen Atom-Ge¬brauch in der Presse: RP 21.1.76, S. 2, bzw. 23.1.76, S.
Spiegel 47/1976, S. 47. Atomstaat als durchsichtiges Gelegenheitskompositum zum Beispiel schon in Deutsche Zeitung (mit Wirtschaftszeitung) 23./24.4.60, Manstein 1961, S. 250; das Konzept,Atomstaat` ohne das Wort bereits bei Salin 1955 bzw. Jaspers 1958, S. 255ff.
Zit. nach Spiegel, 28.2.77, S. 29.
BT 15.6.1977, S. 2297 bzw. S. 2318; Fleischer 1989, S. 47; Radkau 1987, S. 316; frühster Wör¬terbuchbeleg: Brockhaus-Wahrig 1980.
Zum Beispiel Jungk 1977, S. Xvii und S. 172; in der Bedeutung,Polizeistaat, Atomdiktatur` wird das Wort erst S. 190 kontextuell eingeführt und anschließend entsprechend verwendet (S. 196¬210). Auf die Traube-Affäre wird nur in einer offensichtlich nachträglich eingefügten Passage an¬gespielt (S. 193). Auch „Der Atomstaat“ ist als Titel für das Buch vermutlich erst nach dem Skan¬dal und der dadurch gegebenen öffentlichen Brisanz des Wortes gewählt worden.
Beispiele: „Atomstaat Frankreich“ als Legende für eine Karte, auf der alle Nuklearanlagen Frank¬reichs eingezeichnet sind (Spiegel, 36/ 1986, S. 125), „Atomstaat Schweiz” in einer Graphik zuden Verllechtungen der Schweizer Nuklearindustrie (Spiegel 14.3.88, S. 92), eine im Zeichen von Tschernobyl stehende „Konferenz der Atomstaaten“ (Wiesbadener Kurier 12.5.86, S. 1).
Spiegel 10/1977, S. 34; Der Spraci1Dienst 1989, S. 67.
Brandt zit. nach Mez/Wilke 1977, S. 195 (ähnlich auch Brandt 1977); Wilke 1977, S. 187ff. Vgl. zu diesem Fall FR 1.3. u. 2.3.77, Mez/ Wilke 1977, S. 198; älterer Beleg: Atomfilz als „neuer Spitzname“ für einen besonders kernkraftfreundlichen Gewerkschafter (Stern 11.1 1.76). Atomfilz ist allerdings nicht zu Wörterbuchehren gelangt.
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Jung, M. (1994). Das Ende der sprachlichen Unschuld. In: Öffentlichkeit und Sprachwandel. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-10933-4_7
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