Zusammenfassung
Die verbreiteten Vorstellungen über die Bewältigung von Pflegebedürftigkeit sind von Vereinfachungen und von einer nachwirkenden Moral geprägt, die eine andere gesellschaftliche, demographische, medizinische, aber auch pflegefachliche Grundlage hatte. Im Umgang mit Pflegebedürftigkeit und den Herausforderungen, die die Pflegebedürftigkeit einem nahen Angehörigen oder uns selber auferlegt, ist in unserer Gesellschaft ein eher vormodernes Verständnis und eine vormoderne Moral prägend, die den heutigen Verhältnissen und dem erwartbaren Faktum einer längeren Lebenszeit, die potentiell von Pflegebedürftigkeit geprägt wird, nicht Rechnung tragen. So finden wir auf der einen Seite die durch die Sozialgesetzgebung unterstützte Orientierung an der traditionellen Familienpflege durch Partner und Kinder (zumeist Frauen), die heute auch empirisch noch dominant ist, in ihrer Qualität aber in keinster Weise immer überzeugen kann. Familie als Institution wird im hohen Masse für die Bewältigung von Pflege verantwortlich gemacht und übernimmt auch diese Verantwortung. Noch nie im geschichtlichen Zurückdenken wurde in Familien so viel und so lange gepflegt wie gerade heute und dies unter Bedingungen, die in mancher Hinsicht durchaus gegenüber früheren Zeiten komplizierter sind. Sicherlich hat sich das Wissen im Zusammenhang mit Pflegebedürftigkeit erhöht, sind die Lebens- und Wohnstandards verbessert, kennen wir technische und hygienische Hilfsmittel, die Pflegebedürftigkeit leichter bewältigen lassen als zu früheren Zeiten. Gleichzeitig haben sich aber auch die Familien deutlich verändert, sind „kleiner“ geworden und wird die Pflegeaufgabe zu einer häufig in hohem Masse individuell und einsam zu bewältigenden Aufgabe, die alle Beteiligten an den Rand ihrer Kraft und auch des Lebens bringen kann. Gleichwohl gilt es als selbstverständlich, dass die „Familie“ — und damit zumeist die Frauen — pflegen, genießt die häusliche Pflege einen prinzipiellen Vorrang vor der stationären mit all den empirisch verbundenen problematischen „Verhäuslichungstendenzen“, die im extremen und empirisch nicht marginalen Einzelfall auch in Gewaltspiralen in der Pflege enden. Der Vorrang der häuslichen Pflege lässt sich auch als eine gefährliche ideologische Idyllisierung der Familienpflege interpretieren, die „ungerechterweise“ auch stets mit dem ahistorischen Verweis auf die guten alten Zeiten begleitet wird: in früheren Zeiten der Großfamilie sei alles noch viel besser und humaner gewesen. Der Mythos, so würden wir in unserer Freiburger Altenplanungstradition sagen, der Mythos der Familie als Pflegeinstitution wirkt unangemessen beruhigend (vgl. Klie,Spiegelberg 1999).
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Literatur
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Blaumeiser, H., Klie, T. (2002). Zwischen Mythos und Modernisierung — Pflegekulturelle Orientierung im Wandel und die Zukunft der Pflege. In: Motel-Klingebiel, A., von Kondratowitz, HJ., Tesch-Römer, C. (eds) Lebensqualität im Alter. Reihe Alter(n) und Gesellschaft, vol 4. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-10617-3_7
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