Zusammenfassung
Die Individualisierungsdebatte spaltet. Sie perpetuiert den alten Streit um Individualismus und Kollektivismus und konnotiert Individualität bisweilen allzu sehr mit Autonomie, Freiheit und Wohlleben oder gar Egoismus, Orientierungslosigkeit und Desintegration. Nach wie vor gilt Individualisierung, also die berühmte Freisetzung individueller Verhaltenserwartungen aus mehr oder weniger alternativlosen Strukturen als eine Gegenbewegung zur Gesellschaft, manchen soziologischen Beobachtern als ein Schreckgespenst — wohlgemerkt: nicht das Phänomen, sondern die Diagnose. Geradezu rührend liest sich etwa Günter Burkarts Furcht vor der „Selbstauflösung der Soziologie“ (Burkart 1997: 271), die ihr dann drohe, wenn man behauptet, „daß jeder tun und lassen kann, was er (oder sie) will, weil alle Normen unverbindlich geworden seien — man kann heiraten oder nicht, allein leben oder zu mehreren, Kinder in die Welt setzen oder sich auf eine Partnerschaft beschränken“ (ebd.) — und schon ist sie weg, die Soziologie und ihr Gegenstand. Andere parieren die Diagnose der Individualisierung mit dem Hinweis darauf, es handle sich um ein Reflexionsphänomen von Intellektuellen (Friedrichs 1998: 7; Mayer 1991; Treibel 1996: 431), was womöglich ein intellektuelles Selbstmissverständnis ist.
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Literatur
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Nassehi, A. (2000). Die Geburt der Soziologie aus dem Geist der Individualität. In: Kron, T. (eds) Individualisierung und soziologische Theorie. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-10334-9_3
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