Zusammenfassung
Es mag manchmal, wie im Fall der rumänischen „Tele-Revolution“ oder der Lebensbiographie Dianas, erscheinen, wie wenn die Medienrealität die Alltagswelt zu dominieren begänne, gleichsam als eine „Hyperrealität“, um die sich das „wirkliche“ Leben dreht, und die dem banalen und schalen Leben Glanz verleiht — wenn dies auch nur mit dem Gefühl verbunden ist, dabei zu sein. Denn das Fernsehen vermittelt — mehr noch als der Rundfunk — den Anspruch universeller Präsenz. Der Zuschauer kann „live“ an Ereignissen in der ganzen Welt teilnehmen — an Skirennen in Australien, Fußballspielen, Rockkonzerten in den USA, dem Golfkrieg, politischen Gipfeltreffen etc. Gemäß einem Werbeslogan der Fernsehanstalten sitzt man dabei in der „ersten Reihe“, was heißt, dass man solche Ereignisse schärfer und genauer in den Blick nehmen kann, als wenn man physisch dabei wäre. Sehen die Teilnehmer eines Rockkonzerts das Geschehen auf der Bühne oft nur von weit her, bringt einem die Live-Übertragung die Musikgruppe mit ihrer Show unmittelbar und in Großaufnahmen vor die Augen. Der flüchtige Moment, in welchem die eigene Fußball-Mannschaft ein Tor erzielte, wird in Zeitlupe mehrmals aus verschiedenen Perspektiven wiederholt und der jubelnde Spieler in Großaufnahme gezeigt. Muß man sich da nicht fragen, ob nicht nur der „wirklich“ dabei ist, der die Ereignisse vom Fernsehsessel aus verfolgt?5
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Literatur
Dabei ist es klar, dass man zwei völlig unterschiedlichen Formen von sozialen Ereignissen beiwohnt — mit dem analytischen und auch distanzierteren Blick zuhause vor dem Fernsehapparat oder als aktiver Teilnehmer einer „Fußball-Gemeinschaft” von Spielern und Zuschauern im Stadion. Dieses Gemeinschaftserleben konnte allenfalls noch in jenen Anfängen des Fernsehzeitalters reproduziert werden, als man sich in Restaurants und Kneipen vor dem Fernsehgerät versammelte, um ein Länderspiel zu sehen, das live übertragen wurde. Heute knüpft man daran an, wenn z.B. die Spiele einer Fußball-WM auf einer Großleinwand gezeigt werden.
Natürlich handelt es sich dabei um ein gutes Stück Ideologie. Denn Laienvideos können selbstverständlich nicht einfach ungeschnitten und unbearbeitet über den Sender gehen. Vielmehr werden sie professionell aufgearbeitet und manchmal — etwa in „Notruf” — mit nachgestellten Filmpassagen ergänzt. Nach Wegener ( 1994, S. 42) bestätigt die Analyse solcher Sendungen, dass Wirklichkeit nicht nur dokumentiert, sondern ebenso inszeniert und arrangiert wird. Der Blick werde ausschnitthaft auf Verbrechen, Katastrophen und Unglücke gerichtet. Realität diene als Materialzulieferung für eine Collage von Ausnahmesituationen, in denen sich Menschen in Gefahr befinden.
Dieses Muster des Erlebens und Erfahrens entspricht jenen erlebnisgesellschaftlichen
Schudson bezieht sich in diesem Zusammenhang vor allem auf die Vorschläge des früheren amerikanischen Präsidentschaftskandidaten Ross Perrot, landesweite elektronische Bürgerversammlungen („town meetings”) durchzuführen.
Eigenzeit meint auf individueller Ebene eine Disposition im Umgang mit Zeit, die Denk-, Wahrnehmungs- und Wertschemata gleichermaßen umfaßt wie Organisationsprinzipien des Handelns selbst” (Neverla 1992, S. 34)
Seit die „Live”-Übertragungsrechte bei Sportarten wie Fußball oder Tennis nach kommerziellen Gesichtspunkten verkauft werden, haben viele Fernsehsender aber auch das Problem, wie sie für ihre zeitverschobenen Zusammenfassungen dennoch ein breites Publikum mobilieren können.
Man mag sich allerdings fragen, ob der Zusammenhang zwischen Beschleunigung und psychischen Parametern des Wahrnehmens und der Gefühle einem eindeutigen und einlinigen Muster folgt. Gerade die Entgrenzung der Räume bedeutet umgekehrt, dass man umso nachdrücklicher die Nischen sucht, in denen man sich auf dem Nährboden vermeintlicher Nähe einzurichten hofft. In diesem Sinne ist die häusliche Gartenzwergidylle oder die emotional besetzte elektronische Forums-Diskussion zu Elvis Presley oder den UFOs eng mit einer coolen Technik des Informationsaustauschs verbunden. Und es ist vielleicht auch kein Zufall, dass man „seinem” Computer oft einen persönlichen Namen gibt.
Jahre her als die Pädagogen im Rahmen der Diskussionen um Neil Postmans Buch „Das Verschwinden der Kindheit” (1983) den Unterschied des europäischen öffentlich-rechtlichen Fernsehens zum US-amerikanischen hervorhoben. Insbesondere lobte man die kustodialen Regelungen des ersteren, die gerade für die Kinder einen Schutz bedeuteten. Mittlerweile ist nun allerdings die vielgescholtene „Amerikanisierung” des Fernsehens längst zur Tatsache geworden — wobei es erstaunlich ist, dass dieser rasche Umschwung nicht mehr und wirkungsvolleres Protestpotential mobilisierte.
Im neunten Kapitel sollen diese Aspekte des Bildungswesens im Informations- und Medienzeitalter ausführlicher untersucht werden. Aus diesem Grund soll es hier mit einem relativ summarischen Hinweis sein Bewenden haben.
Wie weit nun allerdings der Vietnam-Krieg wirklich vor allem durch die Medien mitbeeinflußt wurde, indem sie im Gefolge der Tet-Offensive von 1968 auch von den vielen amerikanischen Gefangenen und Ereignissen wie dem My-Lai Massaker berichteten, ist indessen umstritten. Nach Winter (1991) war es eher so, dass die Berichterstattung der Medien und die Öffentlichkeit den Entscheidungen und Haltungen der Administration, des Pentagons, der amerikanischen Eliten und der demoralisierten Truppen nachfolgte.
Schmidt/Weißenberg ( 1994, S. 228) betrachten Objektivität im Journalismus als „intersubjektive Vereinbarung über die Art der Wirklichkeitskonstruktion”, die vom System Journalismus erwartet wird.
Dennoch würde ich nicht so weit gehen, dass die Zeichen, wie es Lenzen von Erziehungstheorien behauptet, ihre Referenz auf Wirklichkeit verloren hätten und damit Komplexe von Simulakra, Trugbilder und Phantasmagorien bildeten. Anstatt auf Ästhetisierung soll in diesem Zusammenhang an Analyse und — gegebenenfalls — Ideologiekritik festgehalten werden (vgl. Lenzen 1987, S. 41ff.).
Als Konkretisierung einer solchen „doppelten Kodierung” könnte auf jenes Konzept der „Mythen des Alltags” (Barthes) verwiesen werden, das im achten Kapitel zur Darstellung kommt (vgl. S. 205f.).
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Moser, H. (2000). Neue Realitäten. In: Einführung in die Medienpädagogik. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-09872-0_2
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