Zusammenfassung
Am Anbruch des Informationszeitalters entleert eine Legitimitätskrise die Institutionen der industriellen Ära ihres Sinns und ihrer Funktion. Da die globalen Netzwerke von Reichtum, Macht und Information den modernen Nationalstaat umgehen, hat er viel von seiner Souveränität verloren. Der Staat versucht, strategisch auf dieser globalen Bühne zu intervenieren und vermindert so seine Fähigkeit, die territorial verwurzelten Bevölkerungsgruppen zu vertreten, die seine Grundlage sind. In einer Welt, wo der Multilateralismus zur Regel geworden ist, führt die Trennung zwischen Nationen und Staaten, zwischen der Politik der Repräsentation und der Politik der Intervention dazu, dass die Einheit politischer Buchhaltung, auf der die liberale Demokratie während der letzten zwei Jahrhunderte aufgebaut war und ausgeübt wurde, desorganisiert wird. Die Privatisierung öffentlicher Einrichtungen und das Ende des Wohlfahrtsstaates nehmen den Gesellschaften zwar etwas von ihrer bürokratischen Last, verschlechtern aber die Lebensbedingungen für die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger, brechen den historischen Gesellschaftsvertrag zwischen Kapital, Arbeit und Staat und entfernen das soziale Sicherheitsnetz, also die Grundlagen einer für das gemeine Volk legitimen Regierung. Zerrissen durch die Internationalisierung von Finanz und Produktion, unfähig, sich an die Vernetzungsprozesse der Unternehmen und an die Individualisierung der Arbeit anzupassen und herausgefordert durch das Ende der geschlechtsspezifischen Teilung von Arbeit und Beschäftigung, schwindet die Arbeiterbewegung als wesentliche Quelle der sozialen Kohäsion und der Vertretung der Arbeitenden dahin. Sie verschwindet nicht ganz, sondern sie wird in der Hauptsache zum politischen Akteur, der in den Bereich der politischen Institutionen integriert ist. Die etablierten Kirchen praktizieren eine Form säkularisierter Religion und sind entweder vom Staat oder vom Markt abhängig; damit verlieren sie einen Großteil ihrer Fähigkeit zur Durchsetzung von Verhaltensnormen im Austausch gegen das Spenden von Trost oder den Verkauf himmlischer Immobilien. Die Herausforderung an den Patriarchalismus und die Krise der patriarchalischen Familie bringen die ordnungsgemäße Abfolge durcheinander, in der kulturelle Codes von einer Generation zur anderen weitergegeben werden, und erschüttern die Grundlagen persönlicher Sicherheit. Sie zwingen daher Männer, Frauen und Kinder dazu, neue Lebensformen zu finden. Politische Ideologien, die aus den industriellen Institutionen und Organisationen hervorgegangen waren — vom demokratischen Liberalismus auf der Grundlage des Nationalstaates bis hin zum auf der Arbeit basierenden Sozialismus — sehen sich in dem neuen gesellschaftlichen Zusammenhang ernsthafter Bedeutung beraubt. Damit verlieren sie ihre Anziehungskraft, versuchen ihr Überleben durch endlose Anpassungsversuche zu sichern und rennen der neuen Gesellschaft wie verstaubte Banner vergessener Kriege hinterher.
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Castells, M. (2003). Schluss: Sozialer Wandel in der Netzwerkgesellschaft. In: Die Macht der Identität. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-09737-2_9
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DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-663-09737-2_9
Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden
Print ISBN: 978-3-8100-3899-9
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