Zusammenfassung
Bei Versicherungsnehmern als Haushalten und Versicherern handelt es sich jeweils nach der neueren Systemtheorie um autopoietische Systeme,433 und zwar um Organisationen.434 Ihre Beziehung läßt sich heuristisch als Interaktionssystem beschreiben, das sich aus ihren Interaktionen und Kommunikationen bildet.435 Es umfaßt als Elemente Interaktionen, d.h. Kommunikationen unter Anwesenden, nämlich von Außendienst und den Versicherten, und weitere Kommunikationen unter Nichtanwesenden, z.B. von Innendienst und Versicherten.436 Diese Kommunikationen werden vom System selbst als Handlungen aufgefaßt.437 Keine Elemente dieses Interaktionssystems sind dagegen der Versicherer und die Versicherungsnehmer, sie sind Systeme in der Umwelt dieses Systems.
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Literatur
Vgl. zum Konzept der Autopoiese, das grundlegend für das Verständnis sozialer Systeme ist und das Luhmann von den Biologen Maturana und Varela übernommen hat, Maturana (1982) S. 58. Das Konzept bezieht sich bei Maturana und Varela auf die Beobachtung, daß Zellen, das Nervensystem oder ganze Organismen sich selbst reproduzieren und zwar nicht nur in der Replikation in der Generationenfolge, sondern durch die kontinuierliche Selbsterzeugung ihrer selbst. So ersetzt eine Zelle in einem kontinuierlichen Prozeß die Bestandteile, aus denen sie besteht. Vgl. zu den vier begriffskonstituierenden Eigenschaften autopoietischer Systeme, bei denen es sich um die operative Geschlossenheit des Systems, die Selbstspezifikation der Elemente durch das System, die Selbsthervorbringung durch die Reproduktion der Elemente und die Selbstbestimmung der Systemgrenze handelt, Stichweh (1987) S. 448 ff.
Vgl. zu Organisationssystemen Luhmann (1988a) S. 165 ff. und ders. (1993) S. 16. Vgl. zur Verwendung systemtheoretischen Gedankenguts zur Beschreibung eines Versicherungsunternehmens auch Fricker (1982), der ein Lenkungsmodell einer Versicherungsunternehmung beschreibt. Die systemtheoretische Grundlage Frickers ist aufbauend auf Ulrich (1970) der Ansatz offener Systeme. Als offenes sozio-technisches System beschreibt auch SchmidGrotjohann den privaten Krankenversicherer. Vgl. Schmid-Grotjohann (1995) S. 40 ff.
Vgl. zur notwendigen Erweiterung des Produktionstheorie von Versicherung um ein Interaktionsmodell Lehmann (1989) S. 258 ff., S. 273 ff, S. 324 ff und die Abschnitte 4.1.1. und 4.1.2. Vgl. auch Weber (1995): “Die Produktion einer Dienstleistung kann nicht autonom erfolgen, sondern bedingt das Zusammenwirken von Unternehmen und Kunde. Wenn deren Beziehung aber zu einem zentralen Moment der Dienstleistung wird, genügt die industrielle Produktionsoptik nicht mehr. Erforderlich ist dann eine persönliche Interaktionsperspektive.” (Weber (1996) S. 10 f.). Vgl. auch ders. S. 228 ff. Dabei tritt bei Weber das Interaktionsmodell neben das Produktionsmodell, ohne die Produktionsperspektive selbst zu verändern. Vgl. S. 127 ff.
Während bei Interaktionen die Reproduktionswahrscheinlichkeit der Kommunikation durch die Anwesenheit erhöht wird, wird die Reproduktionswahrscheinlichkeit der Kommunikation ohne Anwesenheit in dem speziellen Interaktionssystem von Versicherer und Versicherungsnehmern durch den Bezug der Kommunikation auf Geld – und damit durch Referenz auf das Wirtschaftssystem – und die strukturelle Kopplung von Versicherer und Versicherungsnehmern über Verträge erhöht.
Elemente sozialer Systeme sind für Luhmann Kommunikationen wie auch Handlungen, die durch Zurechnung von Kommunikationen auf Personen entstehen. Luhmann formuliert: “Auf die Frage, woraus soziale Systeme bestehen, geben wir mithin die Doppelantwort: aus Kommunikationen und aus deren Zurechnung als Handlung.” (Luhmann (1993) S. 240). Kommunikation ist nach Luhmann mehr als die Mitteilung einer Nachricht vom Sender auf den Empfänger. Nach Luhmann kommt Kommunikation nur als Koppelung dreier Selektionen zustande, wenn erstens eine Information, zweitens ein Mitteilungsverhalten seligiert wird und drittens ein Verstehen der mitgeteilten Information erfolgt. Vgl. Luhmann (1993) S. 193 ff. und ebd. S. 203. Über den Kommunikationsprozeß hinaus muß nach Luhmann jedes soziale System das Mitteilen selbst als Handeln auffassen, um durch diese Selbstsimplifikation die Anschlußfähigkeit einer Kommunikation an die andere zu erhöhen. Nach der eigenen Selbstbeschreibung des Systems sind – dann wiederum in Übereinstimmung mit der traditionellen Vorstellung – die Mitteilungen Handlungen einzelner Kommunikationspartner. Vgl. ebd. S. 229.
Vgl. Willke (1993) S. 67.
Vgl. zur Selbsthervorbringung eines autopoietischen Systems Stichweh (1987) S. 449. Vgl. zum Begriff Reproduktion auch Luhmann (1993) S. 61 f. und S. 258.
Vgl. zu Zahlungen als spezifische Kommunikation auch Teil V.2.2.
Das Interaktionssystem von Versicherer und Versicherungsnehmern läßt sich als ein operativ geschlossenes System beschreiben, das sich in einer basalen Zirkularität der Handlungen von Versicherer und Versicherungsnehmern selbst reproduziert. Die Produktion einer Handlung bezieht sich dabei immer auf eine andere Handlung des Systems. In ihrer basalen Zirkularität sind autopoietische Systeme, die immer auch operativ geschlossene Systeme sind, geschlossen, d.h. unabhängig und unbeeinflußbar von ihrer Umwelt. Wird die operative Geschlossenheit unterbrochen, so hört ein autopoietisches System auf zu existieren. Vgl. Maturana (1982) S. 58. Für Luhmann steht die operative Geschlossenheit eines Systems nicht in Widerspruch zu seiner Umweltoffenheit, sondern ermöglicht sie erst. Vgl. Luhmann (1993) S. 63. Denn die Autopoiesis eines Systems bedarf der Fremdreferenz, wobei die Selbstreferenz immer mitläuft. Vgl. auch ebd. S. 604. Nach Willkeläßt sich dies Verhältnis von operativer Geschlossenheit und Offenheit, bzw. Selbst- und Fremdreferenz, so fassen, daß ein autopoietisches System von seiner Umwelt hinsichtlich der Tiefenstruktur seiner Selbststeuerung und seiner daraus folgenden rekursiven Operationsweise unabhängig ist. Vgl. Willke (1987) S. 49. Andererseits ist es abhängig von seiner Umwelt hinsichtlich der Konstellationen und Ereignisse, aus denen es Informationen und Bedeutungen ableiten kann und welche die Selbstbezüglichkeit seiner Operationen anreichern. Nur über diesen operativ geschlossenen Reproduktionsprozeß der Kommunikationen wird auf Phänomene oder Ereignisse in der Umwelt des Versicherungssystems Bezug genommen. Vgl. Luhmann (1993) S. 79.
Vgl. ebd. S. 28, S. 102 und 388 ff.
Vgl. ebd. S. 503.
Ebd. S. 471.
Zwar nimmt die Anzeige von Versicherungsfällen auf die Liquidation erbrachter Heilbehandlungen Bezug, d.h. in bezug auf das Interaktionssystem externe Ereignisse, aber die Bezugnahme auf diese Ereignisse in der Umwelt des Interaktionssystems wie auch ihre Veränderungen erfolgt nur in Abhängigkeit von der Reproduktion der Handlungen von Versicherer und Versicherungsnehmern.
Vgl. im Unterschied dazu in Teil III.5.1.1. bei Farny die Unterscheidung von Gefahr und Risiko.
Ebd. S. 152.
Vgl. zur Verwendung des Begriffs black box ebd. S. 156. Luhmann verwendet hier auch als Terminologie Ego und Alter, um offen zu halten, ob es sich um psychische oder um soziale Systeme handelt, die es miteinander zu tun haben. Vgl. ebd. S. 152.
Vgl. zur doppelten Kontingenz ebd. S. 156 f. und 166 f.
Vgl. zur Verwendung des Begriffs Änderung auch Luhmann: “Von Änderung kann man nur in bezug auf Strukturen sprechen. Ereignisse können sich nicht ändern, weil zwischen ihrem Entstehen und Vergehen keine Dauer besteht, in der etwas “Ereignishaftes” besteht, was trotz Änderung kontinuieren könnte.” (Ebd. S. 472).
Ebd. S. 157.
Vielmehr handelt es sich bei der Vorwegnahme der Schadenauszahlungen und bei der Bestimmung der Ausscheideordnung um selektive, riskante Handlungen des Versicherers.
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Schencking, F. (1999). Versicherung als sich reproduzierende Dienstleistung. In: Entwicklungsmöglichkeiten privater Krankenversicherung. Gabler Edition Wissenschaft. Deutscher Universitätsverlag, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-08197-5_20
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