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Biotechnische Eingriffe in die innere Natur als Infragestellung personaler Identität

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Streitfall Natur
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Zusammenfassung

Der identitätsorientierte Diskurs, so haben wir oben (Kap. 2.2) behauptet, begründet gesellschaftliche Institutionen mit bestimmten Phänomenen der inneren Natur des Menschen. Indem ‘Natur’ als nicht vom Menschen gemacht, dauerhaft und ewig vorgestellt wird, erscheint sie der Begründungspflicht und der Veränderbarkeit durch menschliche Eingriffe enthoben. Modernisierung bedeutet Auflösung dieses Konnexes — soziale Institutionen werden als menschengemacht durchschaut und daher als begründungspflichtig und veränderbar zur Disposition gestellt. Aber nicht nur durch Aufklärung, auch durch physische Prozesse kann der identitätsorientiertkonservative Rekurs auf Natur unter Druck geraten. Die Bezugnahme verliert an Plausibilität, wenn die zugrundeliegenden natürlichen Phänomene sich materiell ändern oder gar, aufgrund neuer technischer Optionen, generell kontingent erscheinen.

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Literatur

  1. Gegen die linearen Modernisierungsvorstellungen von Henry Sumner Maine (auf die sich van den Daele 1991: 588 bezieht) hat bereits Max Weber (1980: 399ff.) konstatiert, dass die moderne Gesellschaft keineswegs allein auf dem Abbau von naturalistisch verstandenen Statusbeziehungen und der Ersetzung durch individuell konsentierte Vertragsbeziehungen beruht, sondern teilweise auch auf der Neuentstehung von Statusverhältnissen, wo früher frei gestaltete Vertragsbeziehungen üblich waren. Dies gilt interessanterweise z.B. für das Erbrecht. Interessant insofern, als Familienbande heute als natürlich gelten, während sie früher wegen der damals viel umfassenderen gesellschaftlichen Bedeutung verhandelbar waren, wir jedoch ‘früher’ normalerweise mit Ursprung=Natur gleichsetzen.

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  2. Letztlich ist das eine empirische Frage (Kap. 1.4.5). Kulturell abweichende Wahrnehmungen auf dieser Ebene sind mir nicht bekannt.

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  3. So vermerkt das ‘Allgemeine Handwörterbuch der philosophischen Wissenschaften nebst ihrer Literatur und Geschichte’ von W.T. Krug in seiner zweiten Auflage von 1832ff. zu dem entsprechenden Eintrag (Bd.3, S.13): “Nation (von nasci, erzeugt oder geboren werden, dann üüberhaupt entstehen, daher natus, erzeugt oder geboren) ist eine durch physische Abstammung (daher auch Sprache, Sitte, Charakter usw.) verwandte Menschenmenge, also eben das, was wir ein Volk nennen.”

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  4. In Stammesgesellschaften werden auch nicht-menschliche Entitäten, z.B. Pflanzen und Tiere, zum Teil direkt in institutionelle Ordnungen einbezogen (Luckmann 1980; vgl. Descola 1996). Im Totemismus etwa wird den Wohneinheiten im Dorf jeweils eine kosmologisch bedeutsame Pflanzen- oder Tiergattung zugeordnet. Auf diese Weise wird die sozialstrukturelle Ordnung in der äußeren Natur, und die Ordnung der äußeren Natur in der Sozialstruktur gespiegelt (vgl. Lévi-Strauss 1989). In vormodernen Hochkulturen wird die äußere Natur teilweise noch durch Gottheiten repräsentiert; allerdings werden die Einzelwesen selbst meistens nicht mehr als beseelt angesehen (Müller 1974). Die bestehende Sozialstruktur wird aber zum Beispiel auch im Europäischen Mittelalter weiterhin als gottgewollt oder ‘natürlich’ aufgefasst. Technologische Innovationen, die die Sozialstruktur verändern könnten, werden daher oft abgelehnt. So wurden z.B. im 16. Jahrhundert Feuerwaffen auch in Japan eingeführt und produziert (Perrin 1996). Allerdings zeigte sich sehr bald, dass dadurch die Rolle der Samurai, des japanischen Schwert-Adels, untergraben wurde. Denn Feuerwaffen konnten auch von nicht-adeligem Personal bedient werden und im Kugelhagel wurden Adelige ebenso getroffen wie Gemeine, wenn sie sich nicht ‘feige’ in Deckung begaben. Heldenmut und Fechtkunst und damit das Kriegerethos der Samurai waren entwertet. Daraufhin beschloß man, alle Waffenschmiede in Zentren zusammenzuziehen und mit anderen Aufgaben zu beschäftigen — Japan blieb daraufhin frei von Feuerwaffen, bis USamerikanische Kanonenboote im 19. Jahrhundert die Öffnung der Inselgruppe erzwangen. Ähnliche Widerstände gab es selbstverständlich auch in Europa (vgl. van den Daele 1989), aber schließlich wurden mit der Abschaffung des Zunft- und Ständewesens und der Einführung liberaler und demokratischer Verfassungen Wirtschaft und Staat zur (Selbst-)Veränderung freigegeben. Demgegenüber wird aber die Person und mit ihr die innere Natur verstärkt geheiligt. Dies ist auch der Grund, warum innerhalb der Moderne “moralische Erschütterungen ... nicht [mehr] von den Revolutionen der Physik oder Astronomie ausgegangen sind, etwa dem Indeterminismus der Quantentheorie, von der Relativitätstheorie oder der Urknallhypothese, sondern von den Resultaten und Theoremen der Humanwissenschaften und Biologie: vom Darwinismus, vom Behaviourismus, von der Psychonanalyse, der Soziobiologie” (van den Daele 1991: 590).

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  5. Reichstag, 80. Sitzung der laufenden Legislaturperiode am 21.4.1893, Stenographische Berichte S.1952ff.; 179. Sitzung der laufenden Legislaturperiode am 24.4.1900, 180. Sitzung am 25.4.1900, 209. Sitzung am 12.6.1900, Stenographische Berichte, S. 5060ff., 5077ff., 6010ff.

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  6. 1902 wurden einer Frau, bei der seit dem 19. Lebensjahr keine Menstruation mehr aufgetreten war, die eigenen, dysfunktionalen Ovarien entfernt und Eierstockgewebe einer anderen Frau eingepflanzt. Danach setzte die Menstruation wieder ein, vier Jahre später wurde eine gesunde Tochter geboren. Man nahm an, dass dieses Kind genetisch Abkömmling der Gewebespenderin sei. Daraufhin setzte eine Diskussion ein, wer die Mutter sei: Die Gewebespenderin oder die -empfängerin (Schlich 1998: 214). Ähnliche Probleme gab es infolge der Übertragung von Hodengewebe.

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  7. Manche Phänomene, die gemeinhin als sehr aktuell gelten, erweisen sich beim näheren Hinsehen als überraschend alt. Dies gilt insbesondere für die Reanimation mittels künstlicher Beatmung oder Elektroschock. Beide Verfahren wurden bereits zur Mitte des 18. Jahrhunderts erfolgreich eingesetzt — mit der sozialen Folge einer wachsenden Unsicherheit über die Grenze zwischen Leben und Tod (Pernick 1988:21ff.). Die Organtransplantation, die vor allem durch die erste Herztransplantation 1967 publik wurde, hatte man schon seit den 1880er Jahren erprobt. Allerdings bekam man damals die Abstoßungsreaktion noch nicht in den Griff, so dass die Experimente 1930 aufgegeben und erst nach dem 2. Weltkrieg wieder aufgenommen wurden (Schlich 1998).

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  8. Selbstverständlich ist es richtig, dass v.a. seit dem Hochmittelalter im Christentum leibfeindliche Strömungen sich zu regen begannen und der ‘Kampf gegen die Sündhaftigkeit des Fleisches’ propagiert wurde (vgl. Schnädelbach 2000). Im Katholizismus (Zölibat) blieb dieser Kampf aber weitgehend religiösen Virtuosen vorbehalten, während das Projekt instrumenteller Selbstkontrolle in der Breite der Bevölkerung eher vom Protestantismus — und der Aufklärung, etwa in der Entgegensetzung von res cogitans und res extensa bei Descartes — vorangetrieben wurde. Die relative Ferne des Fleisches zu Gott soll dem notorischen Sünder lediglich seine niedrige Rangstellung auf dieser Welt verdeutlichen — bevor er im Jenseits durch die ‘Auferstehung des Fleisches’ (und eben nicht nur des Geistes!) eventuell erlöst wird. In diesem Sinne ‘dient’ die von den Anforderungen her strenge, bei Überschreitung aber relativ tolerante (‘barmherzige’) Sündenlehre des Katholizismus eher zur Rechtfertigung von Hierarchien und zur Abfindung mit dem ‘irdischen Los’ als zur effektiven ‘Zivilisierung der Triebe’ (im Sinne von Norbert Elias). Die vermeintliche ‘Feindschaft gegenüber dem Fleisch’ darf also nicht mit effektiver Repression verwechselt werden.

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  9. Vgl. hierzu von naturwissenschaftlicher Seite z.B. Strohmann 1994.

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  10. So wundert sich z.B. das Technikfolgenabschätzungsbüro des dt. Bundestages (Hennen/Stöckle 1992: 15f.) bei der Auswertung einer eigenen Umfrage über die relativ hohe (52%) Zustimmung zur “Veränderung menschlicher Erbanlagen zur Therapie genetisch bedingter Erbkrankheiten”, obwohl diese durch das Embryonenschutzgesetz seit 1991 ausdrücklich verboten ist: “Dies ist umso überraschender als sich aus anderen Umfragen ergibt, daß humangenetische Anwendungen eher kritischer als andere Anwendungen gesehen werden (OTA 1987, Eurobarometer 35.1). Allerdings wurde dort deutlich, daß auch bei humangenetischen Anwendungen der Gentechnologie die Akzeptanz vom beabsichtigten Zweck abhängt (...) Der Begriff ‘Therapie’ setzt den Eingriff in die Erbsubstanz in den Kontext von Medizin/Heilung, womit — siehe [sehr positive] Einstellung zu Medikamenten — positive Konnotationen verbunden werden, die dann möglicherweise ethische Bedenken, die sich beim Begriff ‘Eingriff in die (oder Manipulation der) menschliche(n) Erbsubstanz’ einstellen, überlagern. So wird auch die Gentherapie von weniger Befragten als ‘unzulässiger Eingriff in den Bauplan der Natur’ angesehen, als dies für die Freisetzung gentechnologisch veränderter Nutzpflanzen oder die gentechnologische Produktion von Lebensmitteln der Fall ist.” Entsprechend kommen die Autoren zu dem Schluß: “Es wäre somit nicht unplausibel, das positive Urteil über den Eingriff in die menschliche Erbsubstanz damit zu erklären, daß mit zunehmender Konkretisierung gentherapeutischer Möglichkeiten — also eines medizinischen Nutzens — ethische Bedenken, die sich an Eugenik und Menschenzüchtung knüpfen und das Bild in der Vergangenheit geprägt haben, fallen gelassen werden.”

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  11. Dass die Reaktionen auf Medien-Darstellungen der Biotechnologie nicht durch deren normative ‘Färbung’ beeinflusst werden, zeigen die Forschungen in Hampel/Renn 1999; insbesondere die Versuche von Peters (1999). Damit werden ältere Vorstellungen (und Hoffnungen der BiotechnologieBefürworter) hinfällig, dass die mangelnde bzw. schwankende Akzeptanz eine Folge negativ gefärbter Berichterstattung, also durch Journalisten gezielt zu beeinflussen sei (Kepplinger et al. 1991). Es wird vielmehr für die BRD in den 1990er Jahren gezeigt, dass der Tenor der Berichterstattung weitgehend positiv ist, die Haltung der Bevölkerung aber trotzdem ziemlich skeptisch bleibt.

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  12. Interessant ist in diesem Zusammenhang ein Projekt von Irmhild Saake und Armin Nassehi, das den Umgang mit Einbrüchen im Lebensverlauf und das Verhältnis zum Tod anhand von biografischen Interviews untersucht. Einer der von ihnen gebildeten Typen wird als “Todesforscher” bezeichnet: “Nicht die Angst vor dem Risiko, sondern der Gebrauch des Risikos zeichnet diese Biografien aus. Auch der Tod erscheint so nicht als Restrisiko, sondern als Option. Vielleicht erhält man ja ein neues Leben, vielleicht ergibt sich die Möglichkeit, im Sterben wirklich zu beweisen, wie heldenhaft man ist. Aber all das wird immer nur als Vermutung mitgeliefert, die mitreflektiert, daß auch im weiteren Verlauf des Lebens alles ganz anders kommen kann und der Tod dann eine andere Bedeutung erfahren wird.” (Saake 2000: 8). Ein solcher Umgang mit dem Tod entspricht tatsächlich einer alteritätso- rientierten Haltung. Interessant wäre, wie stark verbreitet dieses Verhältnis zum Tod ist und ob es auch mit einem anderen, weniger instrumentellen Umgang mit Krankheit einhergeht.

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  13. Manche Behinderte wünschen sogar den Einsatz der Humangenetik, um sicherzustellen, dass ihre Kinder selbst wiederum behindert sind (Gen-ethischer Informationsdienst Nr.130, Dez. 1998: 32). Insbesondere für gehörlose Eltern ist es nämlich ein Problem, nicht-gehörlose Kinder zu erziehen (die sie mit einiger Wahrscheinlichkeit aufgrund genetischer Gesetzmäßigkeiten empfangen), weil sie sich diesen gegenüber aufgrund ihres Handicaps nur schwer durchsetzen können. Zum Teil hat sich unter Gehörlosen auch ein regelrechter Stolz auf ihr Anderssein, ihre Sprachgemeinschaft (Gebrdensprache) und ihre Kultur herausgebildet (vgl. Die Zeit v. 25.4.2002, S.27f.)

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  14. Die Grünen ergehen sich hier weiterhin in weltanschaulicher Totalkonfusion. So sucht die GrünenVorsitzende Renate Künast in Bezug auf den Umgang mit Erbkrankheiten Zuflucht bei der ‘christlich-jüdischen Tradition’ und zitiert ausgerechnet Kardinal Joseph Ratzinger mit den Worten: “Wir wollen keine Sklaven produzieren”. (Die Welt v. 14.12.00: “Nicht alles Machbare soll erlaubt sein”). Damit ist aber kein Umdenken in der Abtreibungsfrage verbunden. Vgl dazu auch das ausführliche Interview mit der Grünen-MdB Monika Knoche in Brummet/Mav 2000: 214ff.

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  15. Zum Beispiel Chorea Huntington: Wenn bei einem Elternteil die Krankheit ausgebrochen ist, können sich die Kinder schon immer, also auch ohne spezielle Gendiagnostik, ausrechnen, dass sie mit 50-prozentiger Wahrscheinlichkeit selbst betroffen sein werden (autosomal-dominanter Erbgang). Die Krankheit bricht im Allgemeinen zwischen dem 30. und dem 70. Lebensjahr aus, der geistige und körperliche Verfall zieht sich über viele Jahre hin und endet tödlich. Mit molekulargenetischer Gendiagnostik lässt sich heute (mit relativer Gewissheit) feststellen, ob man nun Genträger ist — nicht jedoch, wann die Krankheit ausbrechen wird. Für die Betroffenen heißt das, dass ein positives Testergebnis tödliche Lähmung lange vor der Zeit bedeuten kann, ebenso wie ein negatives Testergebnis nicht immer nur Erleichterung, sondern auch Schuldgefühle zur Folge haben kann. Viele potentielle Genträger verzichten daher bewusst auf den Test.

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  16. Theoretisch kann man zwar — mit Max Weber, aber nicht mit Karl Marx — vom Primat der Wertideen über die Interessenwahrnehmung ausgehen und insofern behaupten, dass Wertkonflikte grundlegender seien als Verteilungskonflikte. Empirisch muss man hier aber in Rechnung stellen, dass die parlamentarische Demokratie sich erst in der Nachkriegszeit als erfolgreicher Modus der Bewältigung von Klassenkonflikten erwiesen hat. Auch lässt sich aus der Tatsache, dass einige Fundamentalisten — etwa im Abtreibungskonflikt — die Geltung von Mehrheitsentscheidungen infrage stellen, noch nicht auf eine Legitimationskrise schließen.

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  17. Vielleicht muss man hier mittlerweile sogar von einer Strategie sprechen — und nicht nur von einem zufällig zustandekommenden Muster des Politikverlaufs. Was anfangs vielleicht ein allseits nichtintendiertes Ergebnis war, ist für erfahrene Akteure mittlerweile zum kalkulierbaren Verlauf geworden. Dies wird an Ausführungen von Wolf-Michael Catenhusen, langjähriger SPD-MdB und jetziger Staatssektretär im Forschungsministerium, deutlich (dok. in einem Interview, Brummet/May 2000: 156–168).

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Gill, B. (2003). Biotechnische Eingriffe in die innere Natur als Infragestellung personaler Identität. In: Streitfall Natur. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-07784-8_6

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  • DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-663-07784-8_6

  • Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden

  • Print ISBN: 978-3-531-13838-1

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