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Weitere Zeugnisse der schweren Jugendkrise Nietzsches und das Problem der Sexualität. Männliche Sexualität als Skandal und narzißtische Kränkung

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Friedrich Nietzsche
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Zusammenfassung

Die vielen überlieferten Dokumente aus Nietzsches Leben in Schulpforta bezeugen, daß die Jugendkrise Nietzsches sehr qualvoll war und daß sie, wie üblich bei jungen Menschen, zu tiefgreifenden Änderungen seiner Persönlichkeit und seiner Lebensanschauung führte. In vieler Hinsicht sind Nietzsches Reaktionen und Verhaltensweise typisch für junge Männer aus gut bürgerlichen Häusern des 19. Jahrhunderts, nur fehlt das entscheidende Moment der Revolte gegen die Eltern. Gegen den Vater revoltieren kann er ja aus guten Gründen nicht. Gegen die Mutter zu revoltieren, ist generell schwieriger, hat einen vollständig anderen Sinn und ein ganz anderes Ergebnis als die Revolte gegen die väterliche Autorität. Dazu folgende generelle Überlegungen:

  • Die Revoke gegen den Vater dient der psychischen Lösung von den Eltern und der Entwicklung der männlichen Autonomie und Geschlechtsidentität. Wo der Vater fehlt und kein Ersatz sich anbietet, ist die Bewältigung dieser Aufgaben von vornherein erschwert. Besonders schwierig ist die Situation solcher Jungen, die von alleinstehenden, leidenden, an die Empathie der Söhne appellierenden Müttern erzogen werden, ohne wesentlichen Kontakt mit anderen primären Bezugspersonen, weil sie mit besonders starken emotionellen Banden an den mütterlichen Elternteil gebunden sind1).

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Anmerkungen

  1. Ohnehin ist die Sozialisation der Kinder seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts in den industrialisierten Ländern Europas durch die zunehmende Dominanz der Mutter und die schwindende Präsenz des Vaters gekennzeichnet. Gerhard Vinnai spricht sogar von einem heimlichen Matriarchat in der bürgerlichen Gesellschaft (Vinnai, S.84). Am entschiedensten hat aber die französische Psychoanalytikerin Christiane Olivier in starker Polemik gegen Freud auf dieses Ungleichgewicht in der Sozialisation und seine katastrophalen Folgen hingewiesen. Nicht der Vater, König Laios, sei die entscheidende Figur in der Sozialisation des Kindes, sondern die diskriminierte Jokaste. Das männliche Kind ist von der Wiege an in der ödipalen Situation. Wie Alice Miller meint Olivier, daß die inzestuösen Wünsche nicht so sehr vom Kind ausgehen wie von den Eltern. Bei Olivier steht hier eindeutig die Mutter im Vordergrund: “Durch seine Geburt in die Hände einer Frau braucht das männliche Kind den Ödipus nicht erst herzustellen oder in ihn einzutreten, es ist in dieser Situation von Anfang an. Es fällt kopfüber in den Ödipus, und für dieses Kind wird es besonders schwer sein, wiederaufzutauchen, herauszukommen aus dieser ‘fatalen’ Verbindung der Geschlechter und dabei seine Integrität zu bewahren.” (Olivier, S.72) Ähnlich wie Pilgrim meint Olivier, daß die Mutter durch den Sohn ihre Diskrimination und Zurücksetzung als inferiores Geschlecht kompensiert, jedoch nicht so sehr in sozialer als in sexueller Hinsicht: “In ihrem Sohn hat die Mutter nämlich die einzigartige Gelegenheit, sich in männlicher Gestalt zu sehen: dieses aus ihr hervorgegangene Kind ist vom anderen Geschlecht, und die Frau kann hier an den alten Menschheitstraum glauben, an die Bisexualität, an die so oft in griechischen Statuen dargestellte Zweigeschlechtlichkeit. Seht doch, wie sie ihn stolz herumträgt, diesen Sohn, der kommt, um sie zu vervollständigen, wie kein anderer es kann, seht den Zustand der Erfüllung, der in das Gesicht all dieser Madonnen gemalt ist. Lobpreisen nicht all die italienischen ‘Madonnen mit Sohn’ dies Mutterweib, das Glück und Vollständigkeit finden kann ohne den Umweg über den Vater, der in einen Mythos verwandelt wiri. Gott der ‘Vater’...Eine Männer-Religion verordnet von Männern, die an der Frau nur den Bauch anerkennen, der sie getragen hat. Es muß eine ödipale Religion gewesen sein, da man den Vater verschwinden ließ zugunsten der Mutter, wie in unseren Tagen.” (Olivier, 5.720

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  2. Vgl. dazu Paul Deussen: “Während der ganzen Zeit in Schulpforta blieb die engere Freundschaft mit Nietzsche bestehen, wenn auch nicht ohne vorübergehende Erschütterungen. Noch in Untersekunda bildete sich eine sogenannte forsche Clique, in der man rauchte, trank und Fleißigsein als unehrenhaftes Strebertum verurteilte. Auch wir wurden in ihre Netze gezogen, dadurch den anderen näher und von einander etwas weiter abgebracht. Für die Macht dieser Vorurteile mag ein Beispiel dienen. Wir hatten Sonntag nachmittags von 2–3 Uhr Arbeitsstunde für solche, welche den Nachmittagsgottesdienst nicht besuchen wollten. Ich las gerade im Livius den Übergang Hannibals über die Alpen und war davon so gefesselt, daß ich als die Freistunde schlug und die anderen ins Freie eilten, noch eine Weile zu lesen fortfuhr Da kommt Nietzsche herein, um mich abzuholen, ertappt mich über dem Livius und hält mir eine strenge Strafpredigt: ‘Also so treibst Du es, und das sind die Mittel und Wege, welche Du in Anwendung bringst, um Deine Kameraden zu überflügeln und Dich bei den Lehrern in Gunst zu setzen! Nun die anderen werden es Dir wohl noch deutlicher sagen.” (Deussen, 5.4f) Wie man sieht war die Vermutung der Mutter, Nietzsche sei in schlechte Gesellschaft geraten, nicht aus der Luft gegriffen, wenn man ihren Maßstab gelten läßt. Aber auch in dieser Periode der Kultivierung der Gruppe änderte sich nichts an dem Prekären in Nietzsches Umgang mit anderen Menschen. Mit Gruppen hatte er schon als Kind in der Naumburger Knabenbürgerschule, die er nicht nur ein Jahr, sondern, wie R.Bohley als Erster nachgewiesen hat, zweieinhalb Jahre besuchte. Der Beweis sind die Zeugnisse Nietzsches aus dieser Zeit (Nietzschestudien 1987, S.167). Daß Nietzsche in dieser Schule nicht gedieh, indizieren auch seine Zensuren. Für die Periode Michaelis 1850 bis Ostern 1851 erhielt Nietzsche folgende Zensuren: “1. Betragen: lobenswerth. 2. Schulbesuch: ordentlich. 3. Fleiß: recht gut. 4. Kenntnisse und Fertigkeiten im Denken und Sprechen: gut. im Lesen: gute. im Schreiben: gut. im Rechnen: gut.” (GSA Nietzsche, 360,1) In der Periode Michaelis 1852 bis Ostern 1853 sind bei anscheinend gesteigertem Fleiß und vorschriftsmäßigem Schulbesuch und Betragen die Leistungen Nietzsches schlechter geworden: “1. Betragen: gut. 2. Schulbesuch: gut. 3. Fleiß: gut. 4. Kenntnisse und Fertigkeiten in Hinsicht auf Religion: befriedigend. Muttersprache: befriedigend.” Rechnen: genügend. Schönschreiben: gut. Erdbeschreibung: befriedigend. (GSA Nietzsche 360,2) Daß Nietzsches Kenntnisse und Fertigkeiten in Religion und Muttersprache nur “befriedigend” sein sollten, ist natürlich absurd. Da er früher eine bessere Benotung bekommen hat und immer noch für sein Betragen gelobt wird, kann der Rückgang kaum auf Unwillen und besonderen Unverstand der Lehrer zurückgeführt werden, sondern eher auf eine allgemeine Gehemmtheit und Verunsicherung durch die Neckereien seiner Kameraden. Heutzutage weiß man, daß solche systematischen Neckereien geradezu traumatisierende Konsequenzen haben kann. Im Falle Nietzsches haben sie ohne Zweifel auch dazu beigetragen, daß ihm seine Mutter und die übrigen weiblichen Verwandten im verstärkten Maße als die fürsorglichen, wohlwollenden und schützenden Wesen erschienen, bei denen er sich geborgen fühlen und Trost holen konnte. Die Kehrseite davon muß notwendig eine noch größere emotionale Abhängigkeit von der problematischen kleinfamilialen Nestwärme und eine verstärkte Bindung an die Mutter gewesen sein. Kollektive von Gleichaltrigen konnten u.a. schon deswegen auf die Dauer keine Alternative zu den Beziehungen zur Mutter und zur Familie sein, weil Nietzsche in solchen Kollektiven auf ähnliche gruppendynamische Mechanismen stieß wie in der Kleinfamilie, sich auch dort unverstanden fühlte und immer fürchtete, entweder als Sonderling ausgegrenzt zu werden oder sich unter Verlust seiner Individualität und seiner persönlichen Integrität Menschen anpassen zu müssen, die er von seinem narzißtischen Selbstbild her als ihm unterlegen beurteilte und deren Normen und Kommunikationsformen er als fremd und vulgär erlebte. In seinen Vorstellungen von Demokratie, Sozialismus und ressentimenthafter Vernunft der Herde amalgieren sich seine schlechten Erfahrungen mit der Mutter der Kleinfamilie, der Schule und der menschlichen Sozialität überhaupt. Daß Nietzsche auch später als Erwachsener mit sozialen Gruppen und mit der Gesellschaft im allgemeinen schlechte Erfahrungen machte, obwohl er doch in den erlesensten Kreisen des Bildungsbürgertums verkehrte, und daß er unter seinen Zeitgenossen keine Vorbilder fand, denen er nachstreben konnte, läßt sich auch daraus erklären, daß die Zeit, in der er lebte, eben eine Zeit des Verfalls der bürgerlichen Ideale und der allgemeinen Kulturauflösung war. Nietzsche, dem in der Jugend die höchsten Ideale vorschwebten und der immer auf der Suche nach dem Vater war, suchte leidenschaftlich Anschluß an die geistige und künstlerische Elite seiner Zeit und fand ihn verblüffend schnell und mühelos. Als Hausfreund der Familie Wagner befand er sich im Zentrum einer maßgeblichen Kulturströmung des wilhelminischen Deutschland. Aber auch in diesem Kreis hielt Nietzsche es nicht lange aus, er witterte schnell den mondän-snobistischen Charakter des ganzen Wagnerischen Unternehmens. Ebenso hörte seine Begeisterung für Bismarcks Machtpolitik und das deutsche Reich kurz nach Verwirklichung dieses Reiches auf, dessen Ideen und geschichtlicher Machtwille nicht das geringste mit den heroischen Taten der alten Griechen gemeinsam hatten, an denen er ständig seine Gegenwart maß. Die schlechten Erfahrungen, die er im Mikrokosmos der Familie und in anderen Kleingruppen gemacht hatte, wurden durch die Erfahrungen bestätigt, die er mit der Kultur und der Politik der Makrokogesellschaft machte, wobei natürlich auch in Betracht zu ziehen ist, daß ein Mensch mit den Sozialisationserfahrungen Nietzsches und mit einer so fundamentalen Störung seiner sozialen Interaktionsfähigkeit ohnehin dazu neigt, sowohl auf soziale Intimität als auch auf Vereinnahmung durch Kollektivströmungen der Makrogesellschaft mit Angst und Mißtrauen zu reagieren. Es ist in Wirklichkeit undenkbar, daß Nietzsche in dieser Gesellschaft hätte Anschluß an einflußreiche Kreise und Bewegungen finden können, denen er innerlich gewachsen war und mit denen er sich von seinen Voraussetzungen her in Übereinstimmung befunden hätte. Was in dieser Gesellschaft Einfluß hatte, waren nicht mehr der Geist, die Bildung, die Kunst, die Kultur oder einzelne große, schöpferische Persönlichkeiten, sondern die kruden und meistens anonymen wirtschaftlichen, sozialen und militärischen Realitäten. Die “Exstirpation des deutschen Geistes zu Gunsten des ‘deutschen Reiches’” bedeutete auch die Deklassierung und Umfunktionierung des Bildungsbürgers zum spezialisierten Staatsdiener oder seine “Freisetzung” als Bohemien. In dieser Gesellschaft war Nietzsche rettungslos verloren, er hielt weder seine knechtische Existenz als Beamter noch seine vogelfreie Bohemeexistenz aus, obwohl die Verhältnisse in Basel liberaler und humaner waren als an den Reichsdeutschen Universitäten. Sein Anspruch auf geistige Führerschaft war in dieser Gesellschaft unerfüllbar. Auch die Arbeiterbewegung, die die einzige Alternative zu diesem allgemeinen Kulturverfall bildete, konnte Nietzsche aus vielen Gründen unmöglich als eine solche auffassen. Auf dem Hintergrund seiner Sozialisationserfahrungen mußte sie ihm im Gegenteil gerade als das Symbol der drohenden Übermacht geistloser und ungebildeter Menschen, mit denen er in seiner Familie und der Schule so unangenehme Bekanntschaft gemacht hatte, als Inbegriff der Exstirpation des Geistes durch den ungebildeten Mob, als abscheuliches Symptom des Verfalls gelten. Man ist versucht zu sagen, daß Nietzsche bei seiner traumatisierenden Sozialisation in dieser ihm fremd und bedrohlich erscheinenden Gesellschaft keine andere Möglichkeit des psychischen Überlebens hatte als den Weg in die ‘heroische’ Einsamkeit. Trotz der großen Gesten war es ein Weg der Ohnmacht und der Verzweiflung. In diesem Sinne vertritt er, wie Lukács diagnostiziert, tatsächlich den Verfall des Bürgertums und drückt er, wie Hans Heinz Holz meint ( “Bruder Nietzsche”, 5.178f), die Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft aus. Nietzsche ist sozialpsychologisch gesehen ein typischer deklassierter Intellektueller, der sich im Widerspruch zur bürgerlichen Gesellschaft befindet und gerade dadurch repräsentativ wird, sowohl für die Widersprüche als auch für die Intellektuellen dieser Gesellschaft. Was aber bisher übersehen wurde, ist, wie tief Nietzsche schon seit seiner Kindheit in diesen Widersprüchen verstrickt war und wie ihm diese Widersprüche durch seine Sozialisation als Kommunikationspathologie und Persönlichkeitsstörung vermittelt wurden.

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  3. In einem Gedicht über Ludwig den XVI. vom August 1862 wird Jesus “der Freiheit größter Sohn, der Sansculotte Jesus Christ” genannt (HKAW 11,75). Für die Hundstagsferien 1863 steht u.a. folgendes auf dem Programm: ‘Novum Testamentum. Jesus als Volksredner zu betrachten, dazu die Evangelien durchzulesen. Er erräth die Gedanken. Die Gleichnisreden und ihr Zweck. Seine Familienreden vor seinen Jüngern. Das Poetische in seinen Reden.’ (HKAW 11,221) Die Aufzeichnungen, die einige der Ergebnisse seiner Untersuchungen widerspiegeln, demonstrieren, wie die Jesusgestalt ihn nach wie vor fasziniert, aber jetzt als eine weltlich-übermenschliche Gestalt interpretiert wird. Jesus ist ein Mensch, dessen Charakter und Geist man u.a. im Zusammenhang mit seiner Kindheit verstehen müsse. Eins der Stichworte heißt “Jesu freie Erziehung”.

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  4. Vgl. Günter Schulte, “Ich impfe euch mit dem Wahnsinn” und Wolfgang Schömel, “Apokalyptische Reiter sind in der Luft”.

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  5. Im Zusammenhang mit seiner Darstellung der christlichen Erziehung Nietzsches zitiert Reiner Bohley eine aufschlußreiche Aussage Karl Ludwig Nietzsches, der in einem Brief an E. Schenk schreibt: “Bruder Fritz ist dagegen ein wilder Knabe, den manchmal allein der Papa noch zur Raison bringt, sintemalen von diesem die Ruthe nicht fern ist”. (Nietzsche-Studien, Bd. 16, 1987, S.169) Der Brief findet sich im GSA unter der Bezeichung Nietzsche Familie, 396.

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  6. Am 15. Dezember 1846 schreibt Ludwig Nietzsche an seinen Freund Emil Schenk “(...) unsere Elisabeth gedeiht auch an der lieben Mutterbrust prächtig und scheint einen rechten lieben sanften Mädchencharakter zu erhalten”, am 19. März 1847 an denselben Adressaten: “(...) mein Fränzchen will nämlich nach Ostern das kleine Mädel entwöhnen”. Das Stillen scheint eine Selbstverständlichkeit zu sein, es wird nicht voreilig wegen einer Brustentzündung abgebrochen: In einem Brief vom 3. Aug. 1846 an Schenk schreibt Nietzsches Vater “Ich reise nicht nach Bibra und auch meine Mutter und Schwester nicht, die wieder angefangene homoeopathische Kur meiner Schwester ist der Badekur entgegen so daß Dr. Ehrhardt (?) uns ernstlich vor Bibra abrieth, worauf wir Alle um so lieber eingingen, als das Befinden meines Fränzchens die Anwesenheit meiner Mutter und Schwester — meiner nicht zu erwähnen — noch nöthig macht. Wir leben nämlich immer noch in der Sorge, daß es auch dießmal wieder nicht ohne böse Brust abgehen wird (meine Hervorhebung, J.K.); bis jetzt scheinen es die angerathenen nassen Umschläge verzögert zu haben, vielleicht verhüten sie es ganz, da doch das Stillen selbst noch ununterbrochen fortgesetzt werden konnte und auch das Kleine daher recht gut gedeiht.” (GSA Nietzsche Familie, 396, Ludwig Nietzsche an Emil Schenk). Aus diesen Worten darf man schließen, daß auch Nietzsche gestillt wurde und daß Franziska Nietzsche beim Stillen an einer Brustentzündung litt.

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  7. Das Wort Verführung braucht man nicht metaphorisch zu verstehen. Lorenzer geht unter Berufung auf H. Lichtenstein davon aus, daß schon beim Stillen ein Moment der Verführung vorliegt, da die Lust zum Saugen nicht ausschließlich und automatisch vom Kind ausgeht, sondern auch eine werbende Aktivität von Seiten der Mutter erfordert. (Lorenzer, S.36)

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  8. Das Verhältnis zwischen Mutter und Sohn nimmt, nachdem Nietzsche als Geisteskranker in mütterliche Pflege gekommen ist, auf beiden Seiten den Charakter des offen Inzestuösen an. Da jedoch die genitale Sexualität ausgeklammert bleibt und andere Formen sinnlicher Zärtlichkeit von der Mutter nicht mit Sexualität in Verbindung gebracht werden, kann sie sich Overbeck gegenüber ungeniert folgendermaßen äußern: “(...) in seinen Äußerungen gegen mich ist er dann besonders zärtlich. Überhaupt wenn ich ihm meine Hände auf die Stirne lege, sieht er mich so dankbar an und sagt ‘Du hast eine gute Hand’, ebenso liegt er oft neben mir auf dem Sofa, wenn ich ihm am Tische vorlese und er hält da meine rechte Hand stundenlang fast kramphaft fest auf der Brust und man fühlt, was das ihm für eine Freude und Beruhigung ist. Auch sieht man das arme Kind mit so inniger Liebe doch an, da sagt er so und so oft den Tag ‘Meine Mutter Du hast eine gute Sache in Deinen Augen’ und kommt dann oft zu den überschwenglichsten Ergüssen darüber.” (Podach 1937, S.144) Die Mutter brüstet sich sogar mit ihrer Mutterliebe, deren Macht sie sich sehr bewußt ist: “Ein namenloser Weh durchzieht oft meine Seele, doch muß ich dem Allbarmherzigen innig danken, daß er mich dabei gesund erhält, was sollte nur sonst aus dem armen armen Kinde werden, dem die mütterliche Liebe so wohltut und ich bin auch der Überzeugung, daß es eine Art Macht ist, so eingebildet es klingt, daß es eben zu keinen Ausschreitungen kommt. — ” (Podach 1937, S.145)

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  9. Vgl. Stanislav Grof, “Topographie des Unbewußten” S.67f.

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  10. Ebd., S.117f.

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  11. Ebd., S.93f.

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  12. “Faktoren von überragender Bedeutung scheinen die Gefühlsatmosphäre in der Familie und die zwischenmenschlichen Beziehungen unter den Familienmitgliedern zu sein. Ein einzelnes traumatisches Ereignis kann von großer pathogener Bedeutung sein, wenn es vor dem Hintergrund einer spezifischen dysfunktionalen Familienstruktur stattfindet. Offenbar kann jedoch auch die viele Monate und Jahre andauernde tagtägliche pathogene Interaktion mit anderen Familienmitgliedern, die fortlaufend in den Gedächtnisbanken registriert und in verdichteter Form summiert wird, schließlich einen pathologischen Brennpunkt bilden, jenem vergleichbar, der als Folge eines Makrotraumas entsteht. Die in den LSD-Sitzungen wiedererlebte Kernerfahrung stellt in letzterem Fall eine Art pars pro toto dar (eine einzelne Erfahrung repräsentiert die Gesamtheit ähnlicher Ereignisse).” (Ebd., S.94)

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  13. “Wenn die Fundamente eines COEX-Systems gelegt sind, beeinflussen sie offenbar den betreffenden Menschen in seiner Wahrnehmung der Umwelt, seinem Erleben, seinen Einstellungen und seinem Verhalten. Unter dem Einfluß der Kernerfahrung entwickeln sich starke spezifische Erwartungen bei ihm wie auch allgemeine Vorausannahmen gegenüber bestimmten Kategorien von Menschen und bestimmten Situationen. Diese folgen dem Muster der Kernerfahning und können von deren besonderem Inhalt logisch abgeleitet werden. Als Folge eines frühen traumatischen Ereignisses oder einer wiederholt gemachten Erfahrung kann sich bei einem Kind zum Beispiel das Gefühl entwickeln, daß man Menschen im allgemeinen nicht trauen kann; ein solcher Mensch ist ständig auf der Hut, und jede neue Person wird als potentieller Feind oder Angreifer betrachtet. Ein anderer Typus traumatischer Erfahrung kann die Überzeugung schaffen, daß eine Gefühlsbindung ein großes Risiko mit sich bringe, enttäuscht und seelisch verletzt zu werden, und daß sie eine Schwäche sei, die man vermeiden muß, koste es, was es wolle.” (Ebd., S.95) Das letzte Beispiel liest sich wie ein Kornmentar zu der Situation Nietzsches.

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  14. Die Erfahrung “vulkanischer Ekstase”, die ein wesentliches Element der III. perinatalen Matrix ist, steht nacht Grof “in enger Beziehung zu Nietzsches Vorstellung vom dionysischen Element im Menschen.” (Ebd., S.156) Die Phänomenologie der III. PM wird von Grof folgendermaßen beschrieben: “Intensivierung des Leidens bis in kosrnische Dimensionen; die Erfahrung der Grenze zwischen Schmerz und Lust: ‘vulkanische’ Form von Ekstase; leuchtende Farben; Explosionen und Feuerwerke; sadomasochistische Orgien; Morde und Blutopfer, aktive Teilnahme an erbitterten Schlachten; Atmosphäre wilder Abenteuer und gefährlicher Erkundungen; intensive sexuelle orgastische Gefühle, Harems- und Karnevalsszenen; Erlebnisse des Sterbens und Wiedergeboren- werdens; Religionen, bei denen Blutopfer gebracht werden (Azteken, Christi Leiden und Tod am Kreuz, Dionysos usw.); intensive physische Manifestationen (Druckgefühle und Schmerzen, Erstickungsgefühl, Muskelspannung und Entladung in Zittern und Zuckungen, Übelkeit und Erbrechen, Hitze- und Kältewallungen, Herzangst, Schwitzen, Probleme der Schließmuskelkontrolle, Ohrensausen.” (Ebd., S.125) Wie man sieht: Dionysos und der Gekreuzigte.

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  15. Wertvolle Informationen über die Situation des neugeborenen Nietzsche im Verhältnis zu seiner Mutter und Großmutter enthält folgendes Gedicht vom 11.Dez. 1844, das von Nietzsches Vater im Namen Nietzsches gedichtet wurde: “Der kleine Fritz an seine liebe Großmutter den 11.ten Dezember 1844”. “Mein Vater und Mutter sagen mir, daß heute Geburtstag wäre hier; Mein liebes Großmütterlein soll sechundsechzig Jahre alt geworden sein! Da komme ich kleines kaum Sechswochenkind und bringe meinen Geburttagswunsch geschwind, Denn wenn ich auch noch nicht viel Tage zählte, Eine ists doch, die sich mein Herz erwählte -Die vom ersten Tag an so freundlich mir Liebe und Sorge erwiesen für und fü,Und keine Mühe und Plage gescheuet hat, bald einmal mich zu bringen ins Wasserbad, Dann wieder trocken zu legen mit liebender Hand mich zu beschauen sorglich und unverwandt, Jetzt zu spaßen mit holdseligem Witz, dann zu füttern den kleinen Fritz -, O, die ich auch sah mit Beten und Flehen als liebe Pathin an dem Taufstein stehen! Ja, liebe Großmutter, dich liebe ich sehr und will dir gern danken je länger je mehr, Jetzt mußt du freilich dich gar sehr begnügen, da ich dir bereite noch wenig Vergnügen, Doch mit der Zeit solls besser schon werden, dazu erhalte dich der liebe Gott lange auf Erden! Das ist auch der Wunsch, den mir aufgetragen Vater und Mutter dir heute zu sagen: Du möchtest noch lange recht glücklich bei uns leben, damit sie dir können viel Beweise geben: Wie sie dankbar deine große Güte ermessen und diese Dankbarkeit niemals wollen vergessen! Bleibe du auch in Liebe freundlich gesinnt meinem Vater und Mutter und ihrem Kind! (gez.) Friedrich Wilhelm”. Adalbert Oehler schreibt in seiner Biographie, daß die “Erziehung der Kinder schon im Hause der Schwiegermutter ganz und gar in ihrer Hand gelegen hatte; denn weder das ‘alte schwache Großmütterchen’, noch die vielbeschäftigte, himmlisch gute Auguste’, geschweige denn die ‘furchtbar nervöse Rosalie’ waren imstande gewesen, der Erziehung der Kinder eine feste Richtung zu geben und sich regelmäßig um sie zu kümmern.” (Oehler, S.50). Die Quelle dieser Mitteilungen ist ein Brief Franziska Nietzsche an den Verfasser ihrer Biographie. Aus dem zitierten Gedicht geht jedoch hervor, daß die Großmutter jedenfalls in der Zeit unmittelbar nach der Geburt Nietzsches dazu imstande war, das kleine Kind körperlich zu pflegen und sich regelmäßig um es zu kümmern. Im Grunde ist diese Beteiligung der Großmutter an der Kinderpflege ja auch zu erwarten, Überraschend ist eher, daß es der jungen Mutter aller Wahrscheinlichkeit nach gelungen ist, sich sehr früh als die verantwortliche Mutter durchzusetzen, war sie doch als junges, unwissendes und sich einfältig und ungebildet fühlendes Mädchen in der gebildeten Familie Nietzsche sehr verunsichert. Franziska Nietzsche hatte aber ein sehr starkes Muttergefühl, laut ihrer eigenen Biographie spielte sie leidenschaftlich mit Puppen auch in einem Alter, wo Mädchen damals normalerweise mit dieser als kindlich betrachteten Aktivität aufhörten. Zudem erhöhte ihre Rolle als Mutter — vor allem als gute, fürsorgliche Mutter — ihr Prestige und ihre Macht in der Familie Nietzsche. So war sie extrem dafür motiviert, das Kind vorbildlich zu betreuen und tat es denn auch, was natürlich nicht einen ständigen verschwiegen-unterschwelligen Wettbewerb um die Gunst des Kindes auschließt. Die Fürsorglichkeit der jungen Mutter wird von Oehler bestätigt, der indessen nicht ahnt, welche schweren Probleme der symbiotischen Bindung hinter der rührenden Fürsorglichkeit der jungen Mutter stecken könnten. Oehler schreibt: “Bezeichnend für die hingebungsvolle und dabei doch einsichtige Liebe der jungen Mutter ist folgende Episode: Fritz macht durchaus keine Anstalten zu sprechen, obgleich er kräftig und gesund ist und längst das Alter erreicht hat, in dem andere Kinder schon ein paar Worte stammeln. Der Hausarzt, (...) hat seine Freude an dem prächtigen kleinen Burschen und lobt jedesmal sein gutes Gedeihen. ‘Nur daß er nicht sprechen will’, bemerkt Fränzchen einmal dazu. Der erfahrene Doktor weist sie nun darauf hin, daß sie zu sorgsam auf die Zeichen achtet, mit denen das Kind seinen Willen ausdrückt, weshalb Fritzchen gar nicht die Notwendigkeit empfindet, sich durch Worte verständlich zu machen. Die Mutter sieht sofort ein, daß sie in ihrer zärtlichen Aufmerksamkeit zu weit gegangen ist; sie kümmert sich nicht mehr um die Zeichensprache des Kindes, und der Erfolg bleibt nicht aus.” (Oehler, S.42)

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  16. Im Quellenmaterial gibt es mehrere Hinweise auf das jähzornige Temperament des kleinen Nietzsche, von dem schon der Vater in seinem Brief an Emil Schenk spricht (Anm.5). So etwa auch EFN 1895, S.27, wo die Schwester zudem mitteilt, daß ihr Bruder früh anfing, “Selbstbeherrschung zu üben. Wenn er etwas Ungeschicktes gethan, etwas zerbrochen hatte und darüber Schelte erhielt, so wurde er zwar sehr roth, sagte aber kein Wort, sondern zog sich schweigend in irgend welche Einsamkeit (...) zurück.” (Ebd., S.27f)

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  17. Es gibt unzählige Belege für die seelische Verbundenheit Nietzsches mit dem hellen, reinen, blauen, sonnigen, unbewölkten Himmel und seine Abneigung gegen die Wolken. In “Zarathustra” gibt er diesem Gefühl ergreifenden Ausdruck, und zwar im Kapitel “Vor Sonnenaufgang”, wo Zarathustra zu seiner “Schwesterseele” sagt: “Oh Himmel über mir, du Reiner! Tiefer! Du Licht-Abgrund! Dich schauend schaudere ich vor göttlichen Begierden. In deine Höhe mich zu werfen — das ist meine Tiefe! In deine Reinheit mich zu bergen — das ist meine Unschuld! (...) Und wen hasste ich mehr, als ziehende Wolken und Alles, was dich befleckt? Und meinen eignen Hass hasste ich noch, weil er dich befleckte! Den ziehenden Wolken bin ich gram, diesen schleichenden Raub-Katzen: sie nehmen dir und mir, was uns gemein ist, — das ungeheure unbegrenzte Ja- und Amen-sagen.” (KSA 4,207f) Beim bewölkten Himmel wird ihm physisch und psychisch elend, wie wenn die Kommunikation zwischen ihm und seinen Verwandten getrübt wird. Wenn Nietzsche die Metapher “hellen Himmel” für menschliche Beziehungen gebraucht, ist das kein verblaßtes Klischee, sondern wortwörtlich zu nehmen. In seiner Erfahrung gibt es eine buchstäbliche Identität zwischen dem Erlebnis des hellen Himmels und der ungetrübten Beziehung zu seinen Lieben. An folgender Briefstelle, die sich auf die Auseinandersetzung Nietzsches mit seiner Schwester nach seiner Begegnung mit Lou von Salomé in Tautenburg bezieht, sieht man deutlich diese Kopplung: “Das ausgezeichnete helle Wetter kam mir zu Hülfe, vor allem aber die herzliche und aufrichtige Art unsres geschwisterlichen Zusammenseins. Ich denke, daß nun für die Zukunft zwischen mir und meiner Schwester der Himmel wieder hell gemacht ist.” (KGB III,1,543) Vgl. auch die Mitteilung Franziska Nietzsches in einem Brief an Overbeck: “Auch sieht man das arme Kind mit so inniger Liebe doch an, da sagt er so und so oft den Tag ‘Meine Mutter Du hast eine gute Sache in Deinen Augen’ und kommt dann oft zu den überschwenglichsten Ergüssen darüber.” (Podach 1937, S.144)

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  18. Vgl. etwa Oehler, S.42.

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  19. Diese Problematik schneidet Nietzsche in allgemeiner Form in “Morgenröte” Aphorismus 111 an: “An die Bewunderer der Objectivität. Wer als Kind mannichfaltige und starke Gefühle, aber wenig feines Urtheil und Lust an der intellectualen Gerechtigkeit bei den Verwandten und Bekannten, unter denen er aufwuchs, wahrgenommen und folglich im Nachbilden von Gefühlen seine beste Kraft und Zeit verbraucht hat: bemerkt als Erwachsener an sich, daß jedes neue Ding, jeder neue Mensch sofort Zuneigung oder Abneigung oder Neid oder Verachtung in ihm rege macht; unter dem Drucke dieser Erfahrung, gegen den er sich ohnmächtig fühlt, bewundert er die Neutralität der Empfindung, oder die “Objectivität”, wie ein Wunderding, als Sache des Genie’s oder der seltensten Moralität, und will nicht daran glauben, daß auch sie nur das Kind der Zucht und Gewohnheit ist.” (KSA 3,99f)

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  20. Die zugleich metaphysisch-undialektische und antiaufklärerische Position Nietzsches in der “Geburt der Tragödie” hat Gert Sautermeister in einem Artikel zu Nietzsches Grundlegung des Ästhetizismus in dieser Schrift überzeugend herausgearbeitet. Er geht dabei einer dreifachen Fragestellung nach — einer erkenntnistheoretischen, kunstphilosophischen und historisch-gesellschaftlichen. Nietzsche antizipiert nach Sautermeister den Ästhetizismus der Jahrhundertwende, seine Ästhetik nähert sich einem “kriegerischen Heroismus an, der bald darauf seinen zeitgemäßen Ausdruck im wilhelminischen Imperialismus findet.” (Sautermeister, S.224)

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  21. Vgl. Gert Mattenklott.

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  22. Es ließe sich hierzu eine Fülle von Belegen angeben, die folgenden sind nur eine knappe Auswalhl. Wenn Nietzsche in “Ecce homo” sagt: “Man ist am wenigsten mit seinen Eltern verwandt: es wäre das äusserste Zeichen von Gemeinheit, seinen Eltern verwandt zu sein. Die höheren Naturen haben ihren Ursprung unendlich weiter zurück (...). Julius Cäsar könnte mein Vater sein — oder Alexander, dieser leibhafte Dionysos...” (KSA 6,268f), so gilt die Distanzierung nicht so sehr seinem Vater, wie seiner Mutter. Ferner ist zu berücksichtigen, daß diese Aussage nicht ausschließlich ein Indiz für den ausbrechenden Wahnsinn ist, denn Nietzsche hat Ähnliches früher in seinem Leben gesagt, z.B. schon im “FGT”. An folgender Stelle schwingt das Grundproblem “Mutter” deutlich mit als Hintergrund seiner Ablehnung der Beeinflussung durch das Milieu: “ — Daß diese Melodie schön klingt, wird nicht den Kindern durch die Autorität oder Unterricht beigebracht: ebenso wenig das Wohlgefühl beim Anblick eines ehrwürdigen Menschen. Die Wertschätzungen sind angeboren, trotz Locke!, angeerbt; freilich, sie entwickeln sich stärker und schöner, wenn zugleich die Menschen, welche uns hüten und lieben, mit uns gleich schätzen. Welche Marter für ein Kind, immer im Gegensatz zu seiner Mutter sein Gut und Böse anzusetzen und dort, wo es verehrt, gehöhnt und verachtet zu werden!” (KSA 12,15) Die in diesem Zitat enthaltene Aussage über die Vererbung braucht nicht zu heißen, daß Nietzsche hier Vererbung im normalen biologischen Sinne meint. Wie er auf eigenartige Weise Vererbung als eine Art Seelenwanderung auffaßt (ähnlich wie im “FGT”), kommt an folgender Stelle im Nachlaß des Jahres 1887 deutlich zum Ausdruck: “Der Egoismus. Hat man begriffen, inwiefern ‘individuum’ ein Irrthum ist, sondern jedes Einzelwesen eben der ganze Prozeß in gerader Linie ist (nicht bloß ‘vererbt’, sondern er selbst...), so hat dies Einzelwesen eine ungeheuer große Bedeutung.” (KSA 12,349) Umgekehrt, wenn der einzelne erst durch normale biologische Vererbung und Einfluß des Milieus er selbst wird, so ist er in den Augen Nietzsches ein ohnmächtiges Nichts. Das war schon ein Grundproblem im “FGT”. Im Zusammenhang mit der Ablehnung des bestimmenden Einflusses des Milieus wird auch die “fatalistische Unterwerfung unter das Tatsächliche” kritisiert, die wie Nietzsche meint, das 19. Jahrhundert kennzeichnet (KSA 12,442). Vgl. zum Problem Vererbung und Milieu zudem KSA 12,294f; KSA 12,304.

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  23. Vgl. dazu Reiner Bohleys aufschlußreichen Artikel über “Nietzsches Taufe” in “Nietzsche-Studien”, Bd.9, 1980. Werner Ross hat überzeugend die Bedeutung und Funktion der ominösen Namensymbolik und der väterlichen Erwartungen für das Identitäts- und Selbstgefühl Nietzsches herausgearbeitet, der das Glück oder vielmehr Unglück hatte, am Geburtstag des Königs geboren zu sein. (Ross, S.14f) Die narzißtischen Projektionen der Mutter hatten ohne Zweifel schon eine Grundlage in den narzißtischen Projektionen des Vaters, der gehofft hatte, der Sohn würde “ein Königskind und ein Gotteskind” sein, wie es Ross formuliert. (S.18)

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  24. In diesen Zusammenhang gehört auch Foucaults revolutionierende These von der Sexualität als Gegenstand eines Dispositivs d.h. einer komplexen Menge von Vorkehrungen, um den Sex zu kontrollieren und in Rechnung zu stellen, wobei es gar nicht einseitig darauf ankommt, ihn zu unterdrücken oder zu verschweigen und wobei es auch keine zentrale verbietende Instanz oder ein einheitliches verbietendes Gesetz gibt. Anstatt daß in dem vergangenen viktorianischen Jahrhundert ein allgemeines Schweigegebot verhängt gewesen wäre, sei eher ein allgemeines Geständnisgebot inthronisiert worden und im hundertjährigen Kampf gegen die kindliche Sexualität habe es sich gar nicht darum gehandelt, diese aus der Welt zu schaffen, sondern darum, “sie zu zwingen, sich zu verstecken, damit man sie anschließend entdecken konnte” (Foucault, S.57). Das Laster des Kindes sei nicht so sehr der Gegner der Erwachsenen, als vielmehr ein Stützpunkt ihrer Macht. Bei dieser Sachlage erweitert sich aber mit der Kontrolle auch die Macht der bzw. des Kontrollierten. “Scheinbar handelt es sich um eine Sperrdisposition, tatsächlich aber hat man rund um das Kind endlose Durchdringungslinien gezogen. Das soziale und kulturelle Gesamtergebnis ist eine endlose Verfächerung verschiedenartiger Machtverhältnisse und Lustquellen um den Sex herum. Zumindest sei eine neue Lust erfunden worden, “die Lust an der Wahrheit, die Lust sie zu wissen, sie auszukleiden, sie zu enthüllen, sich von ihrem Anblick faszinieren zu lassen, sie zu sagen, andere mit ihr zu fangen und zu fesseln, sie im Verborgenen mitzuteilen, sie listig aufzuspüren” (S.91). Sowohl in der Charakteristik dieser neuen Lust als auch in seiner Theorie von den vielen Machtzentren steht Foucault wahrscheinlich unter dem Einfluß Nietzsches, obwohl Nietzsche die Lust an der Wahrheit oft eher im Verhüllen der Wahrheit sieht. In Nietzsches Reden von Enthüllung und Verhüllung der Wahrheit gibt es oft sexuelle Konnotationen z.B. am Schluß der Vorrede der “Fröhlichen Wissenschaft”, wo es heißt: “Wir glauben nicht mehr daran, dass Wahrheit noch Wahrheit bleibt, wenn man ihr die Schleier abzieht; wir haben genug gelebt, um dies zu glauben. Heute gilt es uns als eine Sache der Schicklichkeit, dass man nicht Alles nackt sehn, nicht bei Allem dabei sein, nicht Alles verstehn und ‘wissen’ wolle. ‘Ist es wahr dass der liebe Gott überall zugegen ist?’ fragte ein kleines Mädchen seine Mutter: ‘aber ich finde das unanständig’ — ein Wink für Philosophen! Man sollte die Scham besser in Ehren halten, mit der sich die Natur hinter Räthsel und bunte Ungewissheiten versteckt hat. Vielleicht ist die Wahrheit ein Weib, das Gründe hat, ihre Gründe nicht sehn zu lassen? Vielleicht ist ihr Name, griechisch zu reden, Baubo?” (KSA 3,352) Gegenüber Foucaults Theorie zeugt diese zentrale Aussage Nietzsches weder von Macht, Machtgefühl oder Lust an der Enthüllung des Sexes, sondern von Angst und Abscheu vor der Sexualität und Angst vor Kränkung und Beschämtwerden. Nietzsche spricht nicht als Teilnehmer der sexuellen Machtverteilung, die Foucault annimmt, sondern eindeutig als deren Opfer Der Angst vor den weiblichen Genitalien, symbolisiert durch Baubo, entspricht seine Angst vor den männlichen Genitalien und ihrer Funktion, und die Kritik der Unanständigkeit Gottes, eine Kritik, die der Kritik des häßlichsten Menschen in “Zarathustra” an der Zudringlichkeit Gottes ähnlich ist, könnte sehr wohl auf das schamlose Eindringen der Eltern und der Erzieher in das intimste Leben des Kindes verweisen, das im Namen Gottes geschah. In Nietzsches Fall war der sexuelle doublebind von Verführung und Tabuisierung und Verschweigen traumatisierend, weil er früh stattgefundene narzißtische Kränkungen ergänzte und die persönlichkeitsstörenden Wirkungen dieser Kränkungen radikalisierte. Klaus Theweleit sieht ähnlich wie Foucault die Tabuisierung der Sexualität in der bürgerlich-puritanischen Kleinfamilie nicht so sehr als Unterdrückung der Sexualität, sondern vielinehr als ein Moment einer Herrschaftsstrategie. Er denkt dabei an “(...) die Verrücktheiten, die die Erwachsenen zwischen das Kind und die Erfahrung seiner Sexualität stellen: das ’Abbrechen bestimmter Gespräche beim Erscheinen des Kindes (...), die vielsagenden Blicke, das Ausweichen beim Nachfragen des Kindes (...) — all das — führt beim Knaben, bedingt durch das ungeheure Geheimnis, das aus dem anderen Geschlecht gemacht wird, durch eine Installierung des ‘Geheimnisses Frau’ also, gerade nicht dazu, daß seine Triebwünsche sich von der Frau fernhalten. Diese angebliche Erziehung zur Keuschheit ist im Gegenteil zunächst eine Erziehung zur aufgestauten Geilheit, die Installation eines ungestillten Verlangens als Dauerzustand. Der Knabe wird sexualisiert. Sein Verlangen wird auf die Frau gerichtet, soll sich gerade auf die Frau richten. Alle Vorstellungen, Hoffnungen, Wünsche, Pläne, die der heranwachsende Junge hat, sollen sich zusammenziehen, konzentrieren, fixieren auf die Eroberung dieses einen Objektes: Frau, und dieses Objekt Frau wird codiert mit einer Frau der Familie. Es ist nicht unbedingt die Mutter; dies ist der Vorgang, in dem die Schwester die große Bedeutung zu bekommen scheint, (...)”. (Theweleit 1,389) Das sogenannte Inzestverbot ist nach Theweleit in Wirklichkeit ein “Inzestgebot”: “Das Inzesttabu im Kapitalismus ist künstlich neu erzeugt worden, ein Herrschaftssicherungsinstrument; es dient zur Konstruktion eines wirkungsvollen double-bind: mit Lockungen und Versprechungen wird der Jüngling auf das Bild der Frau geworfen (in dem kaum entwirrbar die einander widersprüchlichen Leiber von Schwester und Mutter schimmern) — ‘das ist es, was du willst’ — während beide unerreichbar gehalten werden und die Frauen, die sie ‘ersetzen’ könnten, auf die konsequente Nichterfüllung der beim jungen Mann geweckten Wünsche hingelenkt werden.” (Theweleit 1,392) Das Ergebnis dieses double-bind ist die Beherrschbarkeit des Mannes und ein Gefühl der permanenten Schuld (Theweleit 1,393). Mindestens ebenso wichtig scheint mir aber das Schamgefühl zu sein. Ohne daß hier der Unterschied zwischen Scham und Schuld analysiert werden soll, möchte ich doch andeuten, daß das Schamgefühl irgendwie fundamentaler und radikaler ist als das Schuldgefühl. Eine Schuld kann u.U. abgetragen und gesühnt weiden, das Sich-schuldig-Fühlen verhindert nicht notwendigerweise an sich eine weitgehende Integrität der Person. Wenn man sich über etwas schämt, ist man dagegen immer im Kern seiner Person betroffen, Schamgefühl bedeutet eine allgemeine Abwertung seiner selbst als Reflex einer sozialen Ächtung. Gegen eine Herrschaftsstrategie, die über die Installierung eines Schuldgefühls läuft, kann ein Mensch sich u.U. durch Trotz wehren, er kann zu seinen Taten stehen, sich mit ihnen identifizieren und durch negative Abgrenzung gegen seine Umwelt sein Selbstgefühl und seinen Selbstrespekt aufbauen. Wer sich aber über sich selbst schämt, ist von vornherein so tief in seiner Persönlichkeit geschädigt, daß die Abwehrstrategien entsprechend radikal und umfassend sein müssen. Gegenüber einer Herrschaftsstrategie, die auf der Installierung von Schamgefühlen basiert, ist der einzelne Mensch immer im Hintertreffen. Daher ist die Verhöhnung und das Beschämen ein bevorzugtes Instrument der schwarzen Pädagogik und ein pmbates Mittel im Kampf der Geschlechter Die sexuelle Demütigung, die ein integriertes Moment der meisten sexuellen Gewaltakte ist, ist die Rache für die Demütigungen, Kränkungen und Verhöhnungen, denen der Täter als Geschlechtswesen selber von Seiten des anderen Geschlechts ausgesetzt gewesen ist.

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  25. Max Scheler hat in “Wesen und Formen der Sympathie” dem Mitgefühl eine eindringliche und subtile Analyse gewidmet, die gerade in diesem Zusammenhang sehr frucht- bar ist. Scheler unterscheidet zwischen vier Formen des Mitgefühls und zwar dem unmittelbaren Mitfühlen, dem Mitgefühl “an etwas “ (Mitfreude an, Mitleid mit), der bloßen Gefühlsansteckung und der echten Einsfühlung. Nur die beiden ersten Phänomene sind ethisch qualifiziert. Die beiden letzten sind lediglich spontane, unwillkürliche Gefühlsreaktionen. Echtes, ethisch qualifiziertes Mitleid setzt die Aufrechterhaltung des Unterschiedes zwischen dem Leid des anderen und meinem Mitleiden damit voraus. Bei einer reinen Gefühlsansteckung verhält man sich eben nicht zum Leiden eines anderen, sondern es wird ureigenes Leid. Scheler kritisiert Nietzsche, weil er Mitleiden mit Gefühlsansteckung verwechselt (Scheler, S.28). Die Einsfühlung ist nach Scheler ein Grenzfall, insofern hier das “fremde Ich (geradezu in allen seinen Grundhaltungen) mit dem eigenen Ich identifiziert wird.” (S.29) Die Einsfühlung gebe es in zwei polaren Formen: eine idiopathische und eine heteropathische, je nachdem, ob das fremde Ich durch das eigene aufgesogen wird oder das Ich, von dem anderen “konsterniert und hypnotisch gefesselt und gefangen” wird, so daß “an meine formale Ich-Stelle ganz das fremde individuelle Ich tritt mit allen ihm wesentlichen Grundhaltungen: ich lebe dann nicht in ‘mir’, sondern ganz in ‘ihm’, dem andern (wie durch ihn hindurch).” (5.290 Das letztere war ohne Zweifel weitgehend bei dem kleinen Nietzsche der Fall, dies macht es auch verständlich, warum Nietzsche Mitleid mit Gefühlsansteckung verwechseln konnte und es als verderblich für die Autonomie des einzelnen und seine Lebenslust ansehen konnte. Diesen lebensgeschichtlichen Hintergrund der Nietzscheschen Auslegung des Mitleids sieht Scheler allerdings nicht, weil er sich gar nicht für diese Dimension interessiert. Mit seinem theoretischen Ansatz hätte Scheler jedoch vieles begreifen können, was sich sonst zu seiner Zeit jedem Begreifen entzog. Scheler nennt sogar den “Konnex zwischen Mutter und Kind” als Beispiel der Einsfühlung (S.37). Scheler sieht interessanterweise auch Zusammenhänge mit der Fähigkeit zum Einsfühlen und primitivem Denken und Fühlen: Ahnenkult, Reinkarnationslehren, antike Mysterien, hierunter die orphisch-dionysischen Mysterien. (S.30f)

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  26. Klaus Theweleit sieht das Aufkommen der Verfolgung von Onanie als Korrelat zur Sexualisierung der bürgerlichen Frau und der Einbindung der Sexualität in “einen neuen effektiven double-bind”. (Theweleit I,355)

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  27. Als z.B. Nietzsche seiner Mutter eine begeisterte Schilderung der Schillerfeier in Pforta zuschickt, antwortet ihm die Mutter in einer Nachschrift zu einem Brief der Schwester völlig verständnislos: “Schreibest Du ein Andermal mein guter Junge so schreibe doch mehr von Deinem Befinden und Leben es fehlte mir das beste als ich die begeisterte Schillerfeier gelesen hatte. Weihnachten frohes Wiedersehen!!!” (KGB I,1,339)

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  28. Auch wenn man die Sozialisation Nietzsches in einem größeren gesellschaftlichen Kontext zu verstehen versucht, muß der frühe Tod seines Vaters mitreflektiert werden. Hierzu folgende Bemerkungen: Der Verlust des Vaters bedeutet, daß nicht nur der irdische Gott, sondern auch der autoritative Vertreter der gesellschaftlichen Ideale aus dem Leben des Kindes verschwindet. Mit ihm verliert das Kind die Person und die Autorität, durch deren Vermittlung es überhaupt erst eine wesentliche Beziehung zur Makrogesellschaft bekommen könnte. Daß es dafür von der Mutter und anderen Frauen so sorgfältig erzogen wurde, heißt nicht, daß es dadurch alternative weibliche Werte internalisierte, sondern daß seine Emotionen, seine sozialen Beziehungen und seine Persönlichkeitsentwicklung in der Privatheit der Kleinfamilie korrumpiert wurden. Inhaltlich vermittelten seine Erzieherinnen dieselben patriarchalischen Werte wie der Vater, und vielfach auch im Namen des Vaters. Sie taten es aber ohne die gesellschaftuntermauerte Autorität eines Vaters. Was Nietzsche bei der Frau als Feigheit kritisiert, ist nicht zuletzt die ängstliche Sorge um eigenes physisches Wohlergehen, das Fehlen jeden Bezugs auf das gesellschaftlich Allgemeine. Was Nietzsches Mutter ihrem Sohn als Lebenssinn, Lebensaufgabe und Ideal vermittelte, lief hauptsäch- lich darauf hinaus, daß er ihr eine Stütze sein, ihr das Leben erleichtern, kurz: seine Mutter glücklich machen sollte (vgl. Kap. II und VIII). Ohne Zweifel hat der Verfall der bürgerlichen Ideale und die “Zerstörung der Vernunft”, die Nietzsche als Erwachsener als ein makrogesellschaftliches Kulturphanomen erfuhr auch diese Komponente der Abdikation des Vaters als Vertreter des gesellschaftlichen Allgemeinen in der Erziehung. Nietzsche erlebte diesen Verlust auf besonders dramatische Weise nicht nur durch das plötzliche physische Verscheiden des Vaters, sondern auch durch die geistige Verfassung des Vaters während seiner Krankheit. Die Erkrankung des Vater erfolgt zufälligerweise in dem Revolutionsjahr 1848 und dieses Ereignis macht einen tiefen Eindruck auf ihn. Was ihn dabei am tiefsten berührt und fast zur Verzweiflung gebracht hat geht aus einem Brief an seinen Freund Schenk hervor: “Ja lieber Schenk, ich bitte Dich um Gottes und unserer Freundschaft willen ziehe mich nicht auf ob meiner politischen Naivetät, denn, was Du so nennst, ist ein kindlicher Glaube, den ich mir nur mit blutendem Herzen entreißen lassen kann, ein Glaube an den ich mich jetzt festklammere, wo alle Ereignisse der Art sind, daß er sehr erschüttert und verringert werden könnte! — Was mich aber so jammert ist nicht soviel das vergoßne Blut, darin erkenne ich mehr nur ein gerechtes Verhängnis Gottes, womit er die Radicalen und Liberalen einmal bestraft hat, daß dabei freilich mancher Unschuldiger mit den Schuldigen hat leiden müssen, ist leider sehr wahr und bejammernswerth, sondern ich jammere darob, daß unser König todt ist, denn der Friedrich Wilhelm, welcher in den Straßen Berlins, mit der Freiheitsfahne und den Burschenbändern geschmückt, umherreitet, ist nicht mehr der König, für den ich noch gestern am Altar als unsern Herrn gebetet habe, das ist nicht der König, welcher einst gesprochen “wehe dem, der an meine Krone rührt”, das ist auch nicht der König, dem ich einst in tiefster Ehrfurcht ins Auge geschaut als Einen, der von Gottes Gnaden vor uns stand! — Ich habe gehört, daß unmittelbar nach jenem Umzug hoch gestellt Offiziere den König um ihit Entlassung gebeten hätten ‘denn einem solchen König könnten sie nicht dienen!’ Ich finde das erklärlich, denn wen müßte es nicht empören, wer früher einen monarchischen und (unleserliches Wort, J.K.) König lieb gehabt hat, ihn nun zu einem solchen in der Gewalt des Volkes stehenden constitutionellen König herabgewürdligt zu sehen, und zwar ihn dabei so zu sehen und zu hören, als ob dieser veränderte Zustand ihm ganz recht sei, als ob er mit allen den gottlosen Neuerungen innerlich übereinstimme!” (Brief vom 27. März 1848 an Emil Schenk, GSA Nietzsche Familie). Reiner Bohley hat zum ersten Mal einen Auszug aus diesem Brief publiziert (Nietzsche-Studien, Bd.16 1987, S.173) Es ist undenkbar, daß Nietzsches Vater nicht ähnliche Jammerklagen seiner Familie gegenüber vorgetragen hat. So stand das Schicksal des kleinen Nietzsche nicht nur im Zeichen des physischen Dahinscheidens des Vaters, sondern auch im Zeichen einer drohenden Entwertung der väterlichen Autorität überhaupt. Denn deutlicherweise hing ja die Autorität des Vaters von der des Königs und die Autorität des Königs von der Gottes ab, wenn der König durch den Vater selbst entwertet wurde, so drohte der Zusammenbruch aller Autoritäten und Werte. Dies war für den kleinen Nietzsche um so akuter, als die starken Affekte, mit denen der Vater an den König gebunden war, auch einen symbolischen Ausdruck in der Namensgebung seines Sohnes gefunden hatten. So war das Selbstgefühl des Jungen durch diese katastrophale Entwertung unmittelbar mitgefälhrdet. Nietzsches spätere maßlose Idealisierung seines Vaters könnte auch durch eine angstvolle Abwehr dieser unerträglichen Gesamtdevaluierung der Welt und seiner selbst mit motiviert sein. Zudem wird durch diese Verkoppelung des drohenden Zusammenbruchs aller festen Werte der patriarchalischen Kultur mit der Herabwürdigung des Königs durch die Volksmassen die Abneigung Nietzsches gegen Volksmassen und Demokratie noch besser verständlich. Der dänische Germanist Bengt Algot Sørensen zeichnet in seinem Buch “Herrschaft und Zärtlichkeit” ein außerordentlich nuanciertes Bild des Patriaithalismus im acht- zehnten Jahrhundert, und zwar als Familienstruktur und Wertsystem. Er weist u.a. nach, daß die feudalabsolutistische Herrschaft kritisch an dem Maßstab der patriarchalischen Familie gemessen wurde. Die Idealvorstellung von der Familie bildete den Ausgangspunkt für demokratisch-humane Kritik an autoritärer Herrschaft, oder aber man leugnete, wie Rousseau, die Analogie von Familie und Staat und verwarf die politische Herrschaftsstruktur, anerkannte indessen weiterhin die patriaichalische Familie als naturgegebene Ordnung. (Sørensen 5.600 Die unmittelbare Parallellisierung von Autoritätsstrukturen des politischen und des familialen Bereiches als Angriffsziele einer antiautoritären Kritik, wie man sie bei der Frankfurterschule findet, werde daher den realen Verhältnissen des 18. Jahrhunderts nicht gerecht. Vergleicht man die Situation der Familie, wie sie von Sørensen dargestellt wird, mit der Entwicklung im 19. und 20. Jahrhundert, gewinnt man den Eindruck, daß nicht so sehr die Emotionalisierung des Verhältnisses zwischen den mehr partnerschaftlich miteinander umgehenden Familienmitgliedern das entscheidend Neue ist, sondern die Tatsache, daß die Autorität immer weniger vom Vater und immer mehr von der Mutter vertreten wird, sofern überhaupt von Autorität die Rede ist. Zudem verstärkt sich der Eindruck, daß die Emotionalisierung vor allem eine pathologische, neurotisierende ist. Mit der geschwächten Position des Vaters und mit den vielen anderswo oft beschriebenen sozioökonomiscchen Änderungen im Zuge der Durchsetzung des Kapitalismus und der Industrialisierung löst sich der im 18. Jahrhundert noch als Einheitskultur bzw. einheitliches Wertsystem funktionierende Patriarchalismus weitgehend auf. Den neuen Herrschaftstrukturen fehlt ein eindeutiger, manifester, stabiler und einheitlicher ideologischer Überbau und sie müssen mit zahllosen Widersprüchen und Integrationsproblemen fertig werden. Ein besonders krasser Widerspruch herrscht zwischen der Hegemonie der Männer und des auf instrumentelle Rationalität und Herrschaft ausgerichteten und reduzierten Denkens in der Makrogesellschaft und der Vorherrschaft der Frau in der häuslichen Erziehung. Die kulturell institutionalisierte Koordinierung der Ansprüche, die an die Männer in der Makrogesellschaft gestellt werden und die Sozialisation, die die Erfüllung dieser Ansprüche voraussetzt, ist aus den Fugen geraten. Für die Männer, die in der Makrogesellschaft die Macht haben, sind die Vorstellungen und Verhaltensweisen, die ihnen von ihren wohlmeinenden Müttern eingegeben werden, oft dysfunktional. Wie für Nietzsche ist der Übergang von der Kindheit zur Männerwelt mit einer radikalen Desillusionierung verbunden. Die elementaren natürlichen und gesellschaftlichen Gegebenheiten, mit denen der junge Mann konfrontiert wird, erscheinen ihm ohne kulturelle oder religiöse Deutung als krude Realitäten. Das Wort Realität hat im 19. Jahrhundert meistens einen Beigeschmack von Desillusionierung. Nietzsche hat diese Auflösung des Patriarchalismus in besonders krasser Form erlebt.

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Kjaer, J. (1990). Weitere Zeugnisse der schweren Jugendkrise Nietzsches und das Problem der Sexualität. Männliche Sexualität als Skandal und narzißtische Kränkung. In: Friedrich Nietzsche. Kulturwissenschaftliche Studien zur deutschen Literatur. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-06748-1_8

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