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Der Briefwechsel zwischen Nietzsche und seiner Mutter 1850–58 und einige unveröffentlichte Geburtstagsgedichte Nietzsches für seine Mutter. Die verordnete Liebe

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Book cover Friedrich Nietzsche
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Zusammenfassung

Der erste überlieferte Brief von Nietzsche an seine Mutter ist vom 8. Aug. 1850 datiert. Die Mutter hielt sich damals in Eilenburg auf und Nietzsche war noch keine 6 Jahre alt:

“Meine liebe Mutter. Ich denke recht oft an Dich und möchte immer gern wissen wie Du Dich befindest; komm ja bald wieder zu uns. Ich bin gesund und munter, habe Dich sehr lieb und will seyn Dein gehorsamer Fritz”. (KGB I,1,1)

Man könnte von einem solchen konventionellen Brief, in dem genau das gesagt wird, was man zu dieser Zeit von einem Kind erwartete, und bei dem sogar aller Wahrscheinlichkeit nach Großmutter und Tanten behilflich gewesen sind, meinen, daß er gar nicht als Ausdruck von Nietzsches eigenen Gedanken und Gefühlen verstanden und analysiert werden könne. Häufig werden denn auch die schriftlichen Produkte nicht nur des ganz kleinen, sondern überhaupt des Kindes Nietzsche bis zu seiner vermeintlichen intellektuellen Selbständigkeit, etwa nach der Übersiedlung nach Schulpforta, abgefertigt als Ausdruck von Konventionalität in der Bedeutung von äußerlicher Anpassung. Daß sich das Kind Nietzsche extrem an die Erwartungen seiner sozialen Umwelt angepaßt hat, liegt auf der Hand, auch daß diese Anpassung sich vor allem durch seine Aneignung von den ihm zur Verfügung gestellten konventionellen, sprachlichen Ausdrücken manifestiert.

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Anmerkungen

  1. Vgl. etwa Piaget, S.38.

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  2. “Die ‘Vernunft’ in der Sprache: oh was für eine alte betrügerische Weibsperson! Ich fürchte, wir werden Gott nicht los, weil wir noch an die Grammatik glauben...” (KSA 6,77f)

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  3. Die in Nietzsches Milieu allgemeine läturell institutionalisierte Grammatik und Semiotik im Bereich der Beziehungen zwischen Eltern und Kindern findet man in dem Katechismus Luthers, besonders in seiner Auslegung der zehn Gebote. Das vierte Gebot wird in dem Kleinen Katechismus folgendermaßen präsentiert und ausgelegt: “Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, auf daß dir’s wohlgehe und du lange lebst auf Erden.Was ist das? Wir sollen Gott fürchten und lieben, daß wir unsere Eltern und Herren nicht verachten noch erzürnen, sondern sie in Ehren halten, ihnen dienen, gehorchen, sie lieb und wert haben.” ( “Der kleine Katechismus Doktor Martin Luthers in der gemeinsamen Fassung der vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands und der evangelischen Kirche der Union”, Hamburg 1980) Die Grammatik und Semiotik dieses Gebotes und seiner Auslegung ist bedeutend subtiler als die explizite Vorschrift, daß man Gott und seine Eltern fürchten und lieben solle. Einige Momente seien hervorgehoben: a. Die Textstelle enthält eine explizite Verheißung: es wird einem auf Erden wohlgehen, wenn man seine Eltern liebt und ihnen gehorcht und dient, dahinter steckt aber eine Drohung: wenn man seine Eltern nicht liebt, wird es einem auf Erden nicht wohlgehen. b. Das Kind wird in jeder Hinsicht als inferior betrachtet: es ist schwach und ohnmächtig gegenüber der Macht Gottes und der Eltern, es ist von vornherein im Unrecht gegen sie, alles potentielle Unrecht liegt von vornherein beim Kind, das Kind ist es, das seinen Eltern und Gott etwas schuldet. Das Kind hat keine Rechte gegenüber den Eltern und die Eltern haben keine Pflichten gegenüber dem Kind. c. Dieses Gebot verordnet nicht nur ein bestimmtes Verhalten (dienen), sondern auch ein bestimmtes Gefühl (lieben, lieb haben). Da es für den Protestantismus allgemein gilt, daß es auf das Herz und den Glauben mehr ankommt als auf die Werke, werden zwangsläufig Handlungen nicht nur auf ihren sozialen Wert oder ihre unmittelbare kommunikative Bedeutung hin bewertet, sondern als Zeichen von etwas anderem und Eigentlicherem und zwar den Gefühlen und Gesinnungen, die dahinter stecken, verstanden und beurteilt. Die protestantische Erziehung muß, wenn man den Anweisungen der von Luther ausgelegten zehn Gebote folgt, notwendigerweise den Charakter der schamlosesten Seelenerforschung und der Maßregelung des Herzens, d.h. der intimsten Gefühle bekommen. Dem Kind wird kein inneres Schongebiet eingeräumt, das gegen den Zugriff der Erzieher sakrosankt wäre. Diese pädagogische Einstellung wird interessanterweise mit großer Prägnanz von einem Pädagogen zum Ausdruck gebracht, der der Mutter Nietzsches Ratschläge hinsichtlich der Erziehung ihrer Kinder gibt. Dieser hat sie nach Adelbert Oehler folgendermaßen formuliert: “Des Kindes Auge muß sein so hell wie ein klarer Bach, und merkt man eine Veränderung im Auge, so muß man suchen, die Ursache zu erforschen.” (A. Oehler, S.57) Der Protestantismus verordnet als notwendige Konsequenz seiner Dogmatik eine äußerste Radikalisierung der Verfolgung unliebsamer, unerwünschter Gefühle des Kindes. Ortodoxe protestantische Erziehung zwingt die Kinder, ihre negativen, d.h. aggressiven Gefühle den Eltern gegenüber zu verdrängen, zu verleugnen, zu exkommunizieren, zu desymbolisieren oder umzudeuten. Dasselbe trifft für die sexuellen Triebe und Gefühle und alle sogenannten eigensinnigen und selbstsüchtigen Gefühle zu. Die protestantische Erziehung betreibt eine radikale Spaltung der Gefühle des Kindes in gute und böse, die an der Zeichensprache nicht nur der verbalen Ausdrücke, sondern auch der Taten abgelesen werden, die als Ausdruck von entweder guten (gehorsamen) oder bösen (ungehorsamen) Gesinnungen gedeutet werdlen. Letzten Endes läuft das auf eine Spaltung des Kindes in das gute und das böse Kind hinaus, wobei das böse Kind das absolut verworfene Kind ist, das sowohl die Liebe der Eltern als auch die Gnade Gottes verlieren muß. So gehört die Drohung mit Liebesentzug und der totalen Verwerfung des Kindes zu den Erziehungsmitteln, die aus der Fundamentalgrammatik der Beziehungen zwischen Kindern und Eltern notwendig folgen. K. E. Løgstrup meint mit Recht: “Die Forderung, das Leben des anderen, das uns ausgeliefert ist, in Schutz zu nehmen ist — zu welchen Worten und Taten sie auch immer Anlaß geben möge — stets gleichzeitig eine Forderung, dem anderen Zeit zu lassen und ihm seine Welt so weit und geräumig zu machen wie nur möglich. Die Forderung, die dem Ausgeliefertsein des anderen an mich entspringt, verlangt immer zugleich von mir, daß ich dieses sein Eingesperrtsein sprenge und ihm den Horizont für seinen Blick freimache und weite. Will einer aber, besessen von einem erbitterten Willen zur Vollkommenheit, die Menschen umformen, so macht er nirgends Halt, auch vor der Individualität und vor dem Willen des andern nicht. Er benutzt den Umstand der fließenden Grenzen, und versucht, sich der Reaktionen des anderen zu bemächtigen — er verfolgt sie unablässig und will die Individualität des anderen wegdrängen. Der andere soll von Grund auf — beim Willen angefangen — umgeformt werden. Nichts gibt einem aber das Recht, sich der Individualität oder des Willens eines Menschen zu bemächtigen, weder die gute Absicht, dem anderen zu helfen, noch die gute Einsicht in das, was ihn fördert, nicht einmal das Unheil, das den anderen bedroht und das abzuwehren man imstande wäre.” (Løgstrup, S.28f). Zwischen dieser humanen Warnung vor Machtmißbrauch und den zehn Geboten in der Lutherschen Auslegung klafft ein Abgrund, denn letztere geben eben den Eltern das Recht, ihre Macht über das ihnen schutzlos ausgelieferte Kind unumschränkt zur Maßregelung des Kindes, zur Formung seines Willens, seiner Gefühle und seiner Individualität einzusetzen. Die Erzieher Nietzsches haben diese Ermächtigung mit besonderem Geschick und mit bestem Gewissen ausgenützt.

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  4. Leider konnte ich der Frage nicht weiter nachgehen, wie allgemein verbreitet diese Tradition zur Zeit Nietzsches war und in welchem Umfang entweder die Standardgedichte einfach reproduziert oder ihre Klischees in seinen Gedichten frei kombiniert wurden. Durch Nachforschungen gelang es mir, noch ein paar Beispiele dieser literarischen Gattung zu ermitteln, z.B. aus dem dänischen Archiv für Volkskunde “Dansk Folkemindesamling”, Kopenhagen. Es handelt sich um einige Geburtstagsgedichte der Geschwister Henriette und Marie Wamberg an ihre Eltern aus den Jahren 1856–62. Im Vergleich zu den elaboriertesten von Nietzsches Gedichten sind sie kürzer und gedankenärmet

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  5. GSA, Nietzsche 214,3 Mp I.

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  6. GSA, Nietzsche 214,3 Mp Ia.

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  7. GSA, Nietzsche 214,3 Mp I.

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  8. Nietzschebiographen pflegen, wenn sie die Überanpassung und Gehorsamkeit des kleinen Nietzsche illustrieren wollen, die von Elisabeth Förster-Nietzsche überlieferte Anekdote zu zitieren, wo Nietzsche im Platzregen ruhig und gesittet, wie es die Schulverordnung verlangt, nach Hause schreitet. Dieser “Folgsamkeitsrekord”, wie Ross es nennt (Ross, S.32), belegt aber nur die äußere Anpassung. Ross meint sogar in Nietzsches Benehmen einen gewissen demonstrativen Trotz bemerken zu können. Viel aufschlußreicher für die Denkweise und seelische Grundeinstellung des kleinen und des jungen Nietzsche sind indessen die vielen Berichte über seinen Lebensernst und seinen Eifer, seine Frömmigkeit in Praxis zu demonstrieren. So berichtet z.B. seine Schwester: “Mein Bruder war, wie man aus seinen Aufzeichnungen und den Urtheilen der Freunde sieht, ein sehr frommes Kind; er dachte viel über religiöse Dinge nach und war stets bemüht, sein Denken in Handeln zu übersetzen. Als wir einst in einer Missionsstunde waren, und der fremde Missionar sich besonders an alle anwesenden Kinder wandte, so überlegte mein Bruder sogleich, was wir wohl thun könnten;(...).” (EFN 1895, S.53) Nietzsche kommt auf die Idee, den Heidenkindern etwas zu Weihnachten zu schenken, und er und seine Schwester wählen unter ihrem Spielzeug etwas Passendes aus. Die Missionsschwester, bei der sie die Weihnachtsgeschenke abgeben, schließt aus dem Gebaren der kleinen Elisabeth, daß die Kinder ihr liebstes Spielzeug verschenkt haben, und lobt sie bewegt wegen ihrer Opferbereitschaft. Die Kinder, denen die Opfererzählungen der Bibel vertraut sind, gehen beschämt nach Hause, denn sie hatten nicht ihr liebstes Spielzeug geopfert. “In der dunklen Treppenecke sagte Fritz sehr kummervoll: ‘Ich wollte, Lisbeth, ich hätte die Kavallerie gegeben’. Das waren seine schönsten und liebsten Bleisoldaten. Aber ich war Schlange und Eva genug und fing zögernd an: ‘Fritz, sollte Gott wirklich unsre allerhübschesten Spielsachen von uns fordern?’(...) Aber Fritz meinte mit bedeckter Stimme: ‘Doch, Lisbeth.’” (S.54) Berichte ähnlicher Art sind nicht nur von der Schwester überliefert. Für den Propheten der “heiligen Selbstsucht” blieb im Grunde der Märtyrer, der sich selbst opfert, immer ein bewundernswürdiges Ideal. Unter allen Bekannten Nietzsches hat Lou von Salorné am tiefsten in den ernsten religiösen Grund des Denkens Nietzsches hineingeblickt. Seine seelische Spaltung und sein ständiges Sich-selbst-Überwinden deutet sie sich folgendermaßen: “Indem nämlich die Vielheit unverbundener Einzeltriebe sich in zwei einander gleichsam gegenüber stehende Wesenheiten zerspaltet, von denen die Eine herrscht, die Andere dient, — wird es dem Menschen ermöglicht, zu sich selber nicht nur wie zu einem anderen, sondern auch wie zu einem höhern Wesen zu empfinden. Indem er einen Theil seiner selbst sich selber zum Opfer bringt, ist er einer religiösen Exaltation nahe gekommen. In den Erschütterungen seines Geistes, in denen er das hemische Ideal eigener Preisgebung und Hingebung zu verwirklichen wähnt, bringt er an sich selbst einen religiösen Affect zum Ausbruch.” (Salomé, S.34) Vgl. dazu auch Nietzsches Darstellung der Praxis Jesu im “Antichrist” Abschnitt 33 (KSA 6,2050. Obwohl Nietzsche hier das Christentum radikal kritisiert, trifft seine Kritik nicht so sehr den Erlöser, der sich durch den Tod am Kreuze bewährte, sondern die späteren Verfälscher des Christentums, besonders Paulus.

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Kjaer, J. (1990). Der Briefwechsel zwischen Nietzsche und seiner Mutter 1850–58 und einige unveröffentlichte Geburtstagsgedichte Nietzsches für seine Mutter. Die verordnete Liebe. In: Friedrich Nietzsche. Kulturwissenschaftliche Studien zur deutschen Literatur. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-06748-1_3

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  • Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden

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