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Also sprach Zarathustra

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Friedrich Nietzsche
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Zusammenfassung

Der Satz Nietzsches an seinen Verleger Schmeitzner, “Ich schreibe nur, was von mir erlebt worden ist, und ich verstehe es auszudrücken ” (KGB III,1,250), hat für Zarathustra eine ganz besondere Gültigkeit. Die in diesem Werk enthaltene Philosophie dient vor allem der Verarbeitung von Lebensereignissen und Erfahrungen, die als fatal im Sinne von lebensgefährdend und persönlichkeitszerstörend erlebt werden. Der Bewältigungsversuch hat aber, wie in den übrigen vergleichbaren Schriften Nietzsches, etwa der “FGT” und “Ecce homo”, den Charakter der Verleugnung und der illusionär grandiosen Umdeutung negativer Erfahrungen. Im Gegensatz zu dem “FGT” und zu “Ecce homo” sind aber die persönlichen Erfahrungen und Erlebnisse auf vielfache Weise verschleiert und verschlüsselt, so daß das Werk nicht unmittelbar den Charakter des Autobiographischen trägt. Der Grund für diese Verschleierung ist aller Wahrscheinlichkeit nach, daß die zugrundeliegenden Erfahrungen besonders schmerzlich und peinlich sind, es handelt sich nämlich vor allem um die Lou-Affäre, obwohl das Werk schon vor diesem katastrophalen Ereignis konzipiert wurde. Obwohl es für jeden, der ein wenig Einblick in das Leben Nietzsches besitzt, eigentlich recht deutlich ist, was für brisante Lebensprobleme hier abgehandelt werden, wurde das Werk bisher unter weitgehender Abstraktion von Nietzsches Leben interpretiert1). Im folgenden soll auch zunächst versucht werden, primär einige werkinterne Sinnzusammenhänge herauszuanalysieren.

“Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönend Erz oder eine klingende Schelle.

Und wenn ich weissagen könnte und wüßte alle Geheimnisse und alle Erkenntnis und Mtte allen Glauben, also daß ich Berge versetzte, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich nichts.” (Paulus, Erster Brief an die Korinther, Kap.13)

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Anmerkungen

  1. Eine der wenigen Ausnahmen ist Wilhelm Resenhöft, der schon 1972 in seinem Buch “Nietzsches Zarathustra-Wahn. Deutung und Dokumentation zur Apokalypse des Übermenschen” überzeugend für die Identität von Nietzsche und Zarathustra argumentiert. Resenhöft präsentiert zudem die höchst interessante These, das ganze Werk “Zarathustra” ziele auf “die Offenlegung der Identität der Zarathustra-Gestalt Nietzsches mit dem ‘Uebermenschen’ und weiterhin des Zarathustra-Uebermenschen mit Nietzsche selbst.” (Resenhöft, S.15) Resenhöft betont zudem die Identifikation Nietzsches mit Jesus als dem Menschensohn.

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  2. Platon, S.213.

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  3. In wenigen Zeilen dringt Alice Miller zu der zentralen Problematik des “Nachtliedes” vor, das sie zur Kindheit Nietzsches in Beziehung setzt, die “aus ständigem Geben bestand.” (Miller 1988, S.64) Miller fährt fort: “Das Kind war dazu da, um die andern zu verstehen, Geduld mit ihnen zu üben, ihnen alles nachzusehen, ihr Selbstgefühl zu bestätigen, aber niemals, um seinen Hunger nach Verständnis zu stillen. Die Tragik dieses Lösungsversuches, die Tragik des Schenkenden und des Durstenden beschreibt Nietzsche im Nachtlied” (Ebd.) Aus diesem Gedicht spreche “der Neid auf diejenigen, die nehmen können, die als Kind Liebe bekommen konnten, die sich in einer Gruppe geborgen fühlen konnten, die nicht dazu verdammt sind, in der Einsamkeit neue Welten zu erschließen, sie den anderen zu schenken und dafür deren Feindseligkeit zu ernten.” (Ebd., S.66) Karl Jaspers aber begreift von dem wirklichen Problem des “Nachtliedes” nicht das Geringste. “Dies ‘Lied eines Liebenden’ ist Nietzsches ergreifende Klage aus der Einsamkeit der klaren Wahrheit, als die er nicht geliebt wird und nicht mehr lieben kann, aber als die er sich verzehrt in der Bereitschaft des Willens zur Liebe, in einem unbestimmten, weltlosen und freundlosen Lieben.” (Jaspers, S.229f)

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  4. Wie Nietzsche in ehrlichen Augenblicken über das Verhältnis zwischen Nehmen und Geben in seinen Freundschaftsbeziehungen dachte, bekennt er 1878 Maria Baumgartner, einer seiner damaligen Bewunderer: “Wissen Sie, daß es seit lange meine Empfindung ist ‘ich verdiene alles das nicht, was ich an Freundschaft und Liebe erfahren habe’, daß ich mitunter gegen meine Freunde voll Verdruß bin, weil ich Ihnen nicht wiedergeben kann. So ist es: geben ist seliger schon als wiedergeben, aber immer nur nehmen, nehmen müssen — das kann einen unselig machen. Zu ändern ist es nicht, hier steht das Fatum vor uns.” (KGB II,5,363) Was hier aus Nietzsche spricht, ist die Empfindung des Kindes, immer den anderen Liebe und Dankbarkeit zu schulden, und die ständig wachsende Erfahrung des Erwachsenen, diese Liebe nicht geben zu können, ohne sich selbst zu verlieren. Dadurch ist im Grunde das, was er empfängt, nicht nur wertlos, sondern geradezu eine Last. Was er seinen Freunden und Bewunderern mit seinen Werken, in denen sie auch ihre Lebensprobleme ausgedrückt fanden, tatsächlich geschenkt hat, nimmt er nicht wahr, und er kann es vor allem nicht mit ihnen als gemeinsame Erfahrung teilen.

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  5. Hahn, Karl-Heinz (Hrsg.), “Friedrich Nietzsche. Ecce homo, Faksimiliausgabe der Handschrift”.

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  6. Zu dem griechischen Eros-Gedanken vgl. Anders Nygren, “Eros und Agape”. Leider bin ich allzu spät darauf aufmerksam geworden, daß Nygrens Analyse von dem Unterschied und der wechselseitigen Beeinflussung des griechischen und des christlichen Liebesmotivs sehr gut geeignet wäre, meine Analyse des erotischen Denkens bei Nietzsche zu pmfilieren, zu perspektivieren und zu vertiefen. Der wesentliche Unterschied zwischen Eros und Agape ist nach Nygren, daß Eros ein Streben des Ichs nach dem Göttlichen ist, ein Streben das auf die Vervollkommnung des Ichs abzielt, also grundsätzlich egozentrisch ist, während Agape von Gott ausgeht und unverdienterweise dem unvollkommenen Menschen zukommt. Agape ist theozentrisch, stiftet eine Gemeinschaft in Gott und begründet die Nächstenliebe. Die Liebesvorstellung, die im “Zarathustra” in der Konzeption des Willens zur Macht enthalten ist, hat sowohl Züge des griechischen Eros, das Streben nach göttlicher Vollkommenheit, und der christlichen Agape, das grundlose Schenken aus göttlichem Überfluß, das Nietzsches Konzeption der schenkenden Tugend inspiriert haben mag. Die beiden Tendenzen sind bei Zarathustra gleichsam ein intrapsychisches Vorgehen: einerseits ist Zarathustra das Subjekt, das dem über ihm schwebenden göttlichen Ideal nachstrebt und sich dabei immer selbt überwindet, andererseits hat er nicht nur das Ideal selbst produziert, sondern er ist auch selber das Ideal, die Sonne, d.h. der Gott, der ihm selbst und anderen in seiner schenkenden Tugend beschenkt. In der “Weihnachtsgabe” des 13jährigen Nietzsche an seine Mutter wird Jesus als die große Sonne bezeichnet, die Gott in seiner Güte den sündigen Menschen schenkt. In der Figur “Zarathustra” stellt sich Nietzsche selber als die schenkende Sonne vor So verschmelzen egozentrischer Liebe und theozentrischer Liebe in einem unüberbietbaren omnipotenten narzißtischem egozentrischen Selbstbild. Diese eigenartige Verschmelzung von Eros und Agape bei Nietzsche hat Nygren nicht bemerkt, obwohl er in anderen Zusammenhängen oft Nietzsche zitiert.

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  7. Vgl. Wilhelm Mader, “The Endangering of Peace by Narcissistic Ideas of Defence: A Psychoanalytic Contribution”, in: Störner, Torben u.a. “Peace and the Future”, S.113f.

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  8. Es ist ein “Einsfühlen” im Sinne Schelers. Vgl. Kap.VII, Anm.25.

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  9. In “Ecce homo” stellt Nietzsche das Nicht-Reagieren als ein hygienisches Mittel gegen das Ressentiment dar und brüstet sich damit, er habe sich über das Ressentiment aufgeklärt und sich davon befreit: “Wenn irgend Etwas überhaupt gegen Kranksein, gegen Schwachsein geltend gemacht werden muss, so ist es, dass in ihm der eigentliche Heilinstinkt, das ist der Wehr- und Waffen-Instinkt im Menschen mürbe wird. Man weiss von Nichts loszukommen, man weiss mit Nichts fertig zu werden, man weiss Nichts zurückzustossen, — Alles verletzt. Mensch und Ding kommen zudringlich nahe, die Erlebnisse treffen zu tief, die Erinnerung ist eine eiternde Wunde. Kranksein ist eine Art Ressentiment selbst. — Hiergegen hat der Kranke nur Ein grosses Heilmittel — ich nenne es den russischen Fatalismus, jenen Fatalismus ohne Revolte, mit dem sich ein russischer Soldat, dem der Feldzug zu hart wird, zuletzt in den Schnee legt. Nichts überhaupt mehr annehmen, an sich nehmen, in sich hineinnehmen, — überhaupt nicht mehr reagiren... (...) Und mit Nichts brennt man rascher ab, als mit den Ressentiments-Affekten. Der Ärger, die krankhafte Verletzlichkeit, die Ohnmacht zur Rache, die Lust, der Durst nach der Rache, das Giftmischen in jedem Sinne — das ist für Erschöpfte sicherlich die nachtheiligste Art zu reagiren: ein rapider Verbrauch von Nervenkraft, eine krankhafte Steigerung schädlicher Ausleerungen, zum Beispiel der Galle in den Magen, ist damit bedingt. Das Ressentiment ist das Verbotene an sich für den Kranken — sein Böses: leider auch sein natürlichster Hang. (...) Das Ressentiment, aus der Schwäche geboren, Niemandem schädlicher als dem Schwachen selbst, — im andern Falle, wo eine reiche Natur die Voraussetzung ist, ein üüberflüüssiges Gefühl, ein Gefühl, über das Herr zu bleiben beinahe der Beweis des Reichtums ist. Wer den Ernst kennt, mit dem meine Philosophie den Kampf mit den Rach- und Nachgefühlen bis in die Lehre vom ‘fleien Wllen’ hinein aufgenommen hat — der Kampf mit dem Christenthum ist nur ein Einzelfall daraus — wird verstehen, weshalb ich mein persönliches Verhalten, meine Instinkt-Sicherheit in der Praxis hier gerade an’s Licht stelle. In den Zeiten der decadence verbot ich sie mir als schädlich; sobald das Leben wieder reich und stolz genug dazu war, verbot ich sie mir als unter mir. Jener ‘russische Fatalismus’, von dem ich sprach, trat darin bei mir hervor, dass ich beinahe unerträgliche Lagen, Orte, Wohnungen, Gesellschaften, nachdem sie einmal, durch Zufall, gegeben waren, Jahre lang zäh festhielt, — es war besser als sie ändern, als sie verärnderbar zu fühlen, als sich gegen sie aufzulehnen...Mich in diesem Fatalimus stören, mich gewaltsam aufwecken nahm ich damals tödtlich übel: — in Wahrheit war es auch jedes Mal tödtlich gefährlich. — Sich selbst wie ein Fatum nehmen, nicht sich ‘anders’ wollen — das ist in solchen Zuständen die grosse Vernunft selbst.” (KSA 6,272f) An dieser Stelle wird besonders deutlich, daß Nietzsche nicht von dem Standpunkt eines Machtgefühls aus denkt, sondern vom Standpunkt der Krankheit und der Ohnmacht her. Nietzsches Philosophie ist vor allem eine Philosophie der Verteidigung, der Wehr und Abwehr, auch das Angreifen steht bei Nietzsche immer im Dienst der Verteidigung. Zwar meint er daß er auch Zeiten, wo er reich und stolz war, erlebt hat. Wie wir wissen, waren diese Zeiten nur von kurzer Dauer, und das Gefühl des Reichtums basierte dabei auf einer bedenklichen Aktivierung archaischer Omnipotenzvorstellungen, die selber Teil seiner Krankheit, seiner pathologischen Kommunikations- und Persönlichkeitsstörung waren. Verräterisch ist dabei, daß er es auch in Zeiten des Reichtums nötig hat, sich das Ressentiment zu verbieten, als wäre es immer noch eine drohende Gefahr, als müßte er seine Ressentimentslosigkeit unter Beweis stellen. Im Rahmen von Nietzsches Denken, läßt sich dies nur dadurch erklären, äaß er eben nicht “im Grunde gesund ist” (KSA 6,266), sondern im tiefsten Grunde — nach seiner eigenen Definition — krank. Nicht nur das, was Nietzsche hier Krankheit und Decadence nennt, sondern auch das, was er Gesundheit und Reichtum nennt, gehören zu seiner Krankheit. Das, wogegen er sich in Zeiten der Decadence schützt, ist die menschliche Gesellschaft, die er eben wegen seiner narzißtischen Kommunikationsstörung nicht aushält, was er durch seinen russischen Fata-lismus erreicht, ist nicht eine Heilung seiner Persönlichkeits- und Kommunikationsstörung, sondern nur ein Schutz gegen den totalen Verlust seiner persönlichen Integrität und die Bewahrung der Möglichkeit kurzer euphorischer Exaltationen. In der Schutzund Schonzeit muß der Philosoph des dionysischen Lebens seine Lebensprozesse auf ein Minimum hinunterschrauben. Wenn Nietzsche behauptet, er wolle sich nicht anders, darf nicht vergessen werden, daß seine ganze narzißtische Persönlichkeitsstruktur auf einem Sich-anders-Wollen aufgebaut ist. Nietzsche verzichtet im Grunde darauf, im moralischen Sinne er selbst zu sein, um die kurzatmigen Augenblicke der Ekstase, des Fliegens, des Außer-sich-Seins, des Sich-als-Gott-Fühlens erleben zu können. Nur wenn er außer sich ist, wähnt er er selbst zu sein, auf der Höhe seiner selbst zu sein. Was hier als Weisheit und Aufklärung präsentiert wird, ist vor allem Selbstbetrug. Daß das Nicht-Reagieren von Ressentiments sollte befreien können, ist ebenso unglaubwürdig wie das Postulat seiner tieferen Gesundheit. Daß das Nicht-Reagieren tatsächlich eine seelische Reaktion zur Folge hat, und zwar die der Selbstverachtung, — demonstrieren Zarathustras Reflexionen über sein Verhältnis zu den Menschen in dem Kapitel “Die Heimkehr”.

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  10. Peter Sloterdijk hat in seinem Nietzsche-Buch “Der Denker auf der Bühne” Nietzsches ganze Philosophie des Willens zur Macht einer grundsätzlichen Kritik ähnlicher Art unterzogen: “Nun läßt sich zeigen, wie Nietzsche seiner früheren Einsicht auf subjektivistisch-willensmetahpysische Weise untreu wird. Wenn Leben Selbstdichtung ist, dann ist der Wille zur Macht nur eine seiner möglichen Auslegungen — wahrscheinlich nicht seine grundlegende; denn älter als jedes Wollen muß das Können sein. (...) In Wahrheit aber kann sich die selbstdichtende Struktur des Lebens nur aus der Übernahme eines Könnens optimal entfalten. Ich meine daher: der Wille zur Macht ist eine Perversion des Rechts zur Kraft. Wo ein Wille zur Macht als der Weisheit letzter Schluß vorgetragen wird, dort mißtraut das Subjekt bereits seiner Selbstdichtungskraft und versucht, sich durch Willenseinsätze in Sicherheit zu denken. Kein Wille zur Macht muß unterstellt werden, solange das Recht zur Kraft an sich selbst glaubt. Inwiefern aber ein Nichtglaubenkönnen an ein Eigenes Nietzsches logischen Motor antreibt, haben wir bereits angedeutet. Wenn die Kraft sich durch ein Übermaß an hemmender Gegenkraft in ihrem Auslauf behindert fühlt, muß sie sich selbst in ihrem restlichen Ausdruck um so mehr wollen. Ihr Sichselbstwollen hat im Grunde nicht die Struktur eines Machtwillens, sondern eines Willens zum Wollenkönnen, der nichts anderes bedeutet als das Phantasma von der Restauration der naiven, ungebrochenen, fessellosen Kraft, die sowohl kann als auch darf und — gelegentlich — will. Wahrscheinlich ist es Nietzsches psychologisch wie philosophisch bedenklichster Irrtum, den Willen aus dem Gelegentlichen ins Grundsätzliche versetzt zu haben. Demnach verriete sich die Konstruktion des Willens zur Macht als ein Symptom übermäßig gehemmter Kraft — was keineswegs gleichbedeutend ist mit Schwäche, sondern im Gegenteil, auf Kraft mit schlechtem Gewissen deutet. Es ist Energie, die ihrem Gehemmtsein nicht gewachsen ist. Deswegen will sie, enthemmungshungrig, sich mit einem immoralistischen Entfesselungsakt frei-sprechen, gewiß nicht, um der Bosheit als solcher Tür und Tor zu öffnen, sondern um einem absoluten Ausdruck der Kraft zu applaudieren; kaum nötig zu sagen, daß dieser Applaus inspieriert ist von einer Utopie der Unschuld des Leibes — einer Utopie, in der die Traumata des zivilisatorischen Prozesses ihren Protest anmelden. Unüberhörbar spricht darin die Stimme des verletzten Lebens; darum hängt sie — als Revolte — dialektisch mit einem Unterdrückungsschicksal zusammen.” (Sloterddijk, S.98) Es scheint mir, daß Sloterdijk mit dieser Analyse die philosophische Grundproblematik Nietzsches schärfer gefaßt hat, als die unkritischen Nietzsche-Verehrer wie z.B. Heidegger und Deleuze. Diese Sätze wären ein ausgezeichnetes Fundament einer neuen konstruktiven, philosophischen Nietzscherezeption.

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  11. Wolfgang Müller-Lauter hat in seinem Buch “Nietzsche. Seine Philosophie der Gegen- sätze und die Gegensätze seiner Philosophie” die innere Widersprüchlichkeit der Übermenschen- und Wiederkehrphilosophie Nietzsches von einem rein philosophischen Standpunkt aus sehr scharf analysiert und weist dabei nach, daß es in Nietzsches Philosophie zwei Übermenschentypen gibt, denen zwei verschiedene Verhälmisse zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit inhärieren: “Entweder sucht die Unendlichkeit die Endlichkeit aufzusaugen. Oder die Unendlichkeit hat keine andere Funktion als die der definitiven Fixierung der Endlichkeit.” (Müller-Lauter, S.133) Müller-Lauter konkludiert: “Diese Differenz zeigt sich angesichts des unterschiedlich gearteten Inder-Welt-Seins der beiden Typen des Übermenschen besonders deutlich. Zwar wird dieses in beiden Fällen durch das Jasagen zu allem, was ist, war und sein wird, konstitutiert. Doch hat das Ja jeweils eine andere Bedeutung. Dem einen Typus geht es darum, im Strome des Werdens, sich und alles andere uneingeschränkt immer wieder begehrend, aufzugehen. Er ist der Mächtige, insofern er dem Wechsel entspricht und in solcher Entsprechung über jede fixierbare Besonderung des Wollens hinaus ist. Der andere sucht seine Herrschaft im Wollen der Wiederkehr für alle Zeiten zu befestigen. In solcher Befestigung, der Verewigung seiner Herrschaft, wird er zum Mächtigen. Obwohl beide Typen des Übermenschen die Wiederkehr wollen, wollen sie doch in ihr und durch sie Verschiedenes. Da die Wiederkehr jedoch nur als Gedanke und Lehre ist, so bleibt ihr Sinn auf unüberbrückbare Weise in eine Zweiheit gespalten. Wo die Widersprüchlichkeit der Gedankengänge Nietzsches am Ende überwunden zu sein scheint, bricht letztlich wieder jene Kluft auf, auf die wir in dieser Untersuchung bei allen seinen wesentlichen Ausführungen gestoßen sind.” (Ebd.) Dazu möchte ich hinzufügen, daß dem Geiste nach Nietzsches Philosophie eindeutig darauf hinausläuft, ihn als den Mächtigen zu inthronisieren. Die Frage ist, ob das im Grunde nicht für beide Übermenschentypen gilt. Im ersten Falle hat Zarathustra/Nietzsche sich nur mit dem All, mit dem Leben als Totalität identifiziert, im zweiten Fall hat er die Allmacht in sich aufgesogen. Was aus logischer Sicht ein unüberbrückbarer Widerspruch geht aus psychologischer und existentieller Sicht reibungslos ineiander über wie Sadismus und Masochismus, Aktivität und Passivität, Introjektion und Identifikation.

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  12. Nicht von ungefähr heißt es bei Thomas Mann über Zarathustra: “Dieser gesichts- und gestaltlose Unhold und Flügelmann Zarathustra mit der Rosenkrone des Lachens auf dem unkenntlichen Haupt, seinem ‘Werdet hart!’ und seinen Tänzerbeinen ist keine Schöpfung, er ist Rhetorik, erregter Wortwitz, geqäulte Stimme und zweifelhafte Prophetie, ein Schemen von hilfloser Grandezza, oft rührend und allermeist peinlich — eine an der Grenze des Lächerlichen schwankende Unfigur.” (Thomas Mann, “Neue Studien”, S.116) Wer sich aber vergegenwärtigt, wer und welche Leiden sich hinter dem unkenntlichen Haupt verbergen, dem vergeht allerdings bald das Lachen.

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  13. Vgl. Heidegger I,257.

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  14. Heidegger I,312.

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  15. Vgl. dazu Heidegger: “Entweder wird die Ausschaltung jeglicher Vermenschung für möglich gehalten, dann muß es so etwas geben können wie den Standpunkt der Standpunktsfreiheit; oder aber der Mensch wird in seinem Eckensteherwesen anerkannt, dann muß auf eine nichtvermenschende Erfassung des Weltganzen verzichtet werden. Wie entscheidet sich Nietzsche in diesem Entweder-Oder, das ihm kaum verborgen bleiben konnte, weil er es zum Teil mitenfalten sollte? Er entscheidet sich für beides, sowohl für den Willen zur Entmenschung des Seienden im Ganzen als auch für den Willen, mit dem Eckensteherwesen des Menschen Ernst zu machen. Nietzsche entscheidet sich für den Zusammenschluß beider Willen. Er fordlert die höchste Vermenschung des Seienden und die äußerste Vernatürlichung des Menschen in Einem. Nur wer bis in diesen denkerischen Willen Nietzsches vordringt, ahnt etwas von seiner Philosophie. Steht aber die Frage so, dann wird erst recht entscheidend, welche Ecke es ist, aus der heraus der Mensch sieht, und woher sich die Ecke in ihrem Ort bestimmt. Zugleich wird entscheidend, wie weit hinaus der Horizont der möglichen Entmenschung des Seienden im Ganzen gelegt wird; und es wird vollends entscheidend, ob und wie bei der Ortsbestimmung der Ecke, in die der Mensch, und zwar notwendig, zu stehen kommt, jener Ausblick auf das Seiende im Ganzen maßgebend mitspricht. Wenngleich Nietzsche diese Zusammenhänge sich nicht in dieser Ausdrücklichkeit und Begrifflichkeit ins Wissen hob, so hat er sich doch, wie wir nachträglich sehen können, in ihnen mit seinem innersten denkerischen Willen eine Strecke weit bewegt. Wir sahen von Anfang an bei der Darstellung seines Grundgedankens, wie das zu Denkende — das Weltganze und das Denken des Denkers — sich nicht voneinander ablösen lassen. Jetzt fassen wir deutlicher, worauf sich diese Unablösbarkeit bezieht und was sie besagt: es ist der notwendige Bezug des Menschen als eines standörtlich Seienden inmitten des Seienden im Ganzen auf dieses selbst. Wir denken dieses Grundverhältnis im entscheidenden Ansatz des Menschseins überhaupt so aus, daß wir sagen: Das Sein des Menschen — und soweit wir wissen nur des Menschen — gründet im Dasein; das Da ist der mögliche Ort für den je notwendigen Standort seines Seins. Wir entnehmen aber zugleich aus diesem Wesenzusammenhang die Einsicht: Die Vermenschung wird als Gefährdung der Wahrheit um so wesenloser, je ursprünglicher der Mensch den Standort einer wesentlichen Ecke bezieht, d.h. das Da-sein als solches erkennt und gründet. Die Wesentlichkeit der Ecke aber bestimmt sich aus der Ursprünglichkeit und Weite, in der das Seiende im Ganzen nach der allein entscheidenden Hinsicht, nämlich der des Seins, erfahren und begriffen ist”. (Heidegger I,3800f)

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  16. Über Nietzsches Aufzeichnungen zur Wiederkunftlehre meint Heidegger: “Überblicken wir das Wenige, was in der Zarathustra-Zeit an ausdrücklichen Besinnungen über die Wiederkunftslehre vorliegt, dann ist es seinem Gehalt nach sehr viel; alles Wesentliche steht in der straffsten Form weniger Sätze und eindeutig gestellter Fragen. Nietzsches denkerisches Dichten hat in diesem schwersten Gedanken für seine weitesten Ausschläge das Pendel, das ihm das ständige Zustreben auf die Mitte sichert und in allem Aufruhr des Fragens und Forderns die heitere Ruhe des leidgewohnten Siegers gibt. Die Ruhe und Beruhigung gewinnt Nietzsche auch hinsichtlich der Frage der möglichen Wirkung der Lehre.” (Heidegger I,409) Kennt man Nietzsches Briefe der achtziger Jahre nach der Lou-Affäre, und die klägliche Gemütsverfassung, die in diesen Briefen zum Ausdruck kommt, so wirkt diese Deutung von Nietzsches heiterer und sieghafter Ruhe in dieser Zeit ziemlich grotesk. Die Kritiklosigkeit eines sonst so kritisch fragenden Geistes wie Heidegger, läßt auf Idealisierungszwang und Identifikation schließen. Heidegger ist auffallend immun gegen alles, was den leisesten Verdlacht hinsichtlich der moralischen, philosophischen und vitalen Souveränität und Autorität Nietzsches und Zarathustras eriegen könnte. Dies schließt allerdings nicht aus, daß Nietzsche in dem Nachlaß der achtziger Jahre wesentliche philosophische Gedanken formuliert hat. Podach hat zwar durch eine Analyse der weitläufigen und ambitiösen philosophischen Pläne Nietzsches der achtziger Jahre überzeugend dafür argumentiert, daß Nietzsche es nicht vermocht hat, die Konzeption eines Hauptwerkes auch nur annähernd einzulösen. (Podach 1963, S.11). Dies verhindert aber nicht, daß Nietzsche in dem Nachlaß der achtziger Jahre geniale Gedanken zu philosophischen Einzelproblemen formuliert haben mag. Es mag durchaus sein, daß diese Texte, wo Nietzsche versucht, sich auf einige philosophische Grundprobleme zu konzentrieren, seine philosophisch wertvollsten Schriften sind. Von Heiterkeit, Sieghaftigkeit und Ruhe ist bei Nietzsche in dieser Zeit aber keine Rede, höchstens von vereinzelten kurzen Perioden der euphorischen Exaltation. Die Briefe Nietzsches verraten seit den dramatischen Ereignissen um seine Begegnung mit Lou in Tautenburg einen Menschen, der sich in einer permanenten schweren Krise befindet und der nur mit der allergrößten Mühe und dem Aufwand all seiner psychischen Kräfte den Lebensmut und den Glauben an sich selbst aufrechterhält. In diesem Zusammenhang spielt seine sogenannte Aufgabe eine wichtige Rolle, sie ist die notwendige Voraussetzung seines Glaubens an sich selbst und der Sinn seines Lebens. Einerseits ist natürlich dieser Glaube ein Ausdruck seiner narzißtischen Selbstüberschätzung, andererseits kommt durch die Forciertheit dieses Glaubens gerade auch die Kehrseite seines narzißtischen Größenwahns deutlich zum Vorschein, Nietzsche ist sich seiner Tollheit halb bewußt, da er weiß, daß sein Glaube an seine hohe Aufgabe zwanghaft ist, ein Tonikum, das er nötig hat, um nicht der hellen Verzweiflung, der Depression oder wie er selber sagen würde, dem Nihilismus und der Lebensmüdigkeit zu verfallen. Davon zeugen z.B. folgende Zeilen aus einem Brief an Rohde: “(...) es ist mir zu schwer zu leben, wenn ich es nicht im größten Stile thue, im Vertrauen gesagt, mein alter Kamerad! Ohne ein Ziel, welches ich nicht für unaussprechlich wichtig hielte, würde ich mich nicht oben im Lichte und über den schwarzen Fluthen gehalten haben! Dies ist eigentlich meine einzige Entschuldigung für diese Art von Litteratur, wie ich sie seit 1876 mache: es ist mein Recept und meine selbstgebraute Arznei gegen den LebensÜberdruß.” (KGB III,1,226). Daß der Ausdruck “schwarze Fluthen” eine Metapher für Depression ist, geht aus dem Kontext deutlich hervor Dieser Brief ist schon vor den katastrophalen Ereignissen in Tautenburg geschrieben und zeigt, daß sich Nietzsche schon damals in einer schweren existentiellen Krise befand. Nach Tautenburg spitzt sich diese Krise noch zu und er braucht die große Aufgabe noch nötiger. An Overbeck schreibt er z.B.: “Ich habe ein Ziel, welches mich nöthigt, noch zu leben und dessentwegen ich auch mit den schmerzhaftesten Dingen fertig werden muß. Ohne dieses Ziel würde ich es leichter nehmen — nämlich, längst nicht mehr leben. (...) Das Unglück des vorigen Jahres ist nur im Verhältniß zu dem mich beherrschenden Ziele und Zwecke so groß; ich war und bin furchtbar zweifelhaft über mein Recht geworden, mir ein solches Ziel zu setzen — das Gefühl meiner Schwäche überfiel mich, in einem Momente, wo Alles, Alles, Alles mir hätte Muth machen sollen! (...) Ich habe, soweit ich berechnen kann, noch das nächste Jahr nöthig zu leben- hilf mir dazu, daß ich noch fünfzehn Monate aushalte.” (KGB III,1, 426f)

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  17. Vgl. Anm.15.

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  18. In einem Brief an Paul Rée schreibt Nietzsche: “Weshalb fühlt man sich so wohl in der freien Natur? Weil diese keine Meinung über uns hat. — ” (KGB II,5,246)

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  19. Vgl. etwa folgende ueffende Formulierung Schelers: “Nicht ‘Mitleid als solches — ist gegen die Scham’, wie Nietzsche sagt, sondern das Mitleid ohne Liebe zu dem, der bemitleidet wird. Das einzige, was Mitleid erträglich macht, ist die Liebe, die es verrät.” (Schele S.148)

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  20. Auch Peggy Nill hebt den Aspekt der Schwangerschaft, des Gebärens, der Individuierung, des “Sich-zu-sich-selbst-Schaffens” hervor, vgl. etwa Nill S.58, 87, 104. Nill übersieht aber vollständig den narzißtischen und illusionären Charakter dieser Vorstellungen, wie Heidegger und viele andere kreditiert sie Zarathustra unkritisch eine echte Entwicklung zu sich selbst. Bei Nill fehlt bezeichnenderweise auch jede Auseinandersetzung mit den realen Erfahrungen Zarathustras/Nietzsches.

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Kjaer, J. (1990). Also sprach Zarathustra. In: Friedrich Nietzsche. Kulturwissenschaftliche Studien zur deutschen Literatur. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-06748-1_11

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