Zusammenfassung
Es drängt sich die Frage auf, welcher der beiden Begriffe von Politik der leistungsfähigere sei, der konflikttheoretische, der darunter Maßnahmen “in dem von Hobbes bis Carl Schmitt geklärten Sinn einer existentiellen Selbstbehauptung” (1) jeweils partikularer Subjekte versteht, oder der systemtheoretische, der darunter Realisierung von Gemeinwohl versteht und dem “die Gesellschaft” das Subjekt ist, das sie vollbringt. Auf diese Frage eine Antwort zu geben, setzte jedoch voraus, daß man eine feste Position besäße, auf die man beide Begriffe beziehen könnte, um so ihre Vorzüge und Nachteile eindeutig sichtbar zu machen. Nun soll an dieser Stelle nicht erörtert werden, ob man als Theoretiker eine solche feste Positionüberhaupt findenund einnehmen kann, in welchem Sinne dies sicher als unmöglich zu gelten hätte und in welchem Sinne es doch möglich sein könnte. Geht man aber einfach einmal von irrationalen — oder besser: prärationalen — Werthaltungen aus, die Festigkeit zumindest psychologisch denkbar machen, so bieten sich zwei alternative Positionen an, die als Bezugssysteme zur Ermittlung der Vor- und Nachteile der beiden Politikbegriffe brauchbar erscheinen könnten: die Positionen des Konservatismus und des Progressismus.
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Anmerkungen
J.Habermas, “Theorie und Praxis”, a.a.O., S. 249.
M. Horkheimer und T.W. Adorno, “Sociologica II”, a.a.O., S. 115.
Als Sekundärquelle ist dazu informativ F. Rosenzweig, “Hegel und der Staat”, 2 Bde, München u. Berlin 1921.
Vgl. dazu “Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation”, wiedererschienen in: “Auf der Suche nach Wirklichkeit”, a. a. O. , S. 439 ff.
Unter diesem Titel versammelt sie E. Bloch. Vgl. dazu “Das Prinzip Hoffnung”, Berlin 1955, Bd. II.
Vgl. “Soziologie des Parteiwesens”, zuerst 1911, wiedererschienen Stuttgart 1925.
Vgl. dazu insbesondere seine beiden Schriften “Reflexions sur la violence” und “Les illusions du progres”, beide erschienen Paris 1908; vgl. ferner M. Freund, “Georges Sorel. Der revolutionäre Konservatismus”, Frankfurt/Main 1932,
Hans Barth, “Maße und Mythos”, Hamburg 1959.
Vgl. dazu “The Managerial Revolution”, New York 1945. In diesem Zusammenhang symptomatisch wie auch informativ ist ferner sein Buch “Die Machiavelli-sten. Verteidiger der Freiheit”, Zürich 1949.
Vgl. zu diesem wissenschaftlichen Bewußtsein unter den Bedingungen der Herrschaft einer kommunistischen Parteielite K. Messelken, “Zur Rolle von Semiotik und Kybernetik in der marxistischen Philosophie”, a. a. O.
Vgl. dazu die Abhandlung “Manifest and Latent Functions”, in: Social Theory and Social Structure”, a. a. O.
Vgl. etwa “An Outline of the Social System”, a. a. O. , S. 46.
Ein Beispiel dafür scheint die postatalinistische Entwicklung in der Sowjetunion abzugeben, in-der die zunächst nur auf Grund besonderer Umstände eingetretene Schwäche der Parteiführung eine Kritik an deren Politik ermöglichte, die sich wirkungsvoll auf die Ideologie dieser Partei selbst berufen konnte. Eine solche Wirkung der humanen Gehalte des Marxismus, obwohl und gerade weil er zu Ideologie geworden war, tritt besonders eindrucksvoll hervor, wenn man in einem Gedankenexperiment zum Vergleich die Probe anstellt, wie die Ideologie eines siegreichen Nationalsozialismus gewirkt hätte. Widerstand gegen seine barbarische Politik hätte sich jedenfalls auf die zynisch-inhumanen Gehalte seiner Ideologie nicht stützen können.
So betrachtet, gibt sich die Vernunft im Pazifismus zu erkennen. Wenn der heute in den westlichen Ländern in der Antiatomwaffen-Bewegung organisierte Pazifismus die Regierungen unter innerpolitischen Druck setzen kann, sich auf Abrüstungsverhandlungen einzulassen, könnte von ihm der Impuls ausgehen, mit dem das sich ständig steigernde Verhältnis von Furcht und Rüstung in eins von Vertrauen und Abrüstung umzuwandeln wäre, auf deren Grundlage eine allgemeine und wirksame Friedensordnung zu entwickeln wäre. Gegen das Argument, mit Vorleistungen durch erste einseitige Abrüstungsschritte, die nach der Logik des Pazifismus ein Vertrauensklima heraufführen sollten, würden nur Angriff und also Krieg provoziert, steht dabei das nicht minder einsichtige Gegenargument, das Experiment einseitiger Abrüstung sei zwar gewiß nicht risikolos, jedoch das einzige Verhalten, das unter den gegebenen Umständen sein Risiko wirklich wert sei. Unverkennbar war übrigens ein Erfolg des so argumentierenden Pazifismus, als die letzte konservative Regierung in England um ihrer Wahlchancen willen Verhandlungen über die Einstellung von Atombombenversuchen in Gang brachte, die tatsächlich zu einem Abkommen führten, das deutlich Entspannung bewirkte.
Merton gibt diese Kritik, wo er die gängigen Argumente gegen den Strukturfunktionalismus sammelt, mit den Worten wieder: “. . . functional theory is merely the orientation of the conservative social scientist who would defend the present order of things, just as it is” (“Social Theory and Social Structure”, a.a.O., S.37).
Die wissenschaftliche Selbstkritik weitet sich dabei natürlich in allgemeine Kritik der Gesellschaft aus; denn obwohl Wissenschaft heute eine der wichtigsten Produktivkräfte ist, wäre es doch lächerlich, wenn sie dieses Problem durch Umorga-nisation allein in ihrem eigenen Bereich lösen wollte. Eine derartige Umorgani-sation wäre schon wegen der gegenseigigen Durchlässigkeit gesellschaftlicher Bereiche zum Scheitern verurteilt, und wenn sie doch gelänge, dann eben nur in hermetischer Isolation gegen die Umwelt, was eine Selbstbeschränkung der Einwirkungsmöglichkeiten nach außen bedeutete.
“Auf der Suche nach Wirklichkeit”, a. a. O. , S. 377.
Einige solcher Lebensläufe zitiert Merton. Vgl. dazu “Social Theory and Social Structure”, a.a.O., S. 138.
Mit diesem in den USA geläufigen Satz illustrieren Horkheimer und Adorno, daß die Amerikaner “ihr eigenes Selbst nach seinem Marktwert” (“Dialektik der Aufklärung”, Amsterdam 1949, S. 249) beurteilen. Merton hat denselben Sachverhalt vor Augen, wo er ausführt, wie “monetary success” als “cultural goal” die Einstellungbewirkt, “that success or failure are results wholly of personal qualities; that he who fails has only himself to blame, for the corollary to the concept of the self-made man is the self-unmade man” (“Social Theory and Social Structure”, a.a.O. , S. 168).
Vgl. dazu C. Taeuber und Irene B. Taeuber, “The Changing Population of the United States”, New York/London 1958.
Die Armut ist in Amerika ja gerade wiederentdeckt worden und stellt als soziales Problem dort einen ebenso beliebten Untersuchungsgegenstand dar wie bei uns zur Zeit der Bildungsnotstand. Die bekannteste Veröffentlichung über die Armut in den USA dürfte J. K. Galbraith, “The Affluent Society”, London 1958, sein.
S.Wheeler führt dazu aus: “Crime rates are high, and may be getting higher. To say that a rate of crime is high is to suggest a criterion that distinguishes a high rate from a low one. Here we mean simply that crime rates in the Unites States are apparently among the highest in industrialized societies. . . . Despite a preponderance of property crimes among the more serious offences, the amount of personal violence is high Specifically, our homicide rates are much higher than those of European countries, as are our rates of assault. ... A characteristic feature of American criminality is the presence of organized crime — the development of large scale organizations for criminal activities. “ (“Delinquency and Crime”, in: H. S. Becker (Hrsg.): “Social Problems. A Modern Approach”, New York/London/Sidney 1966, S.211 f.)
Wenig hat sich verändert, seit W. Sombart über das Gros der amerikanischen Unions urteilte: “Sie stehen auf dem reinen Geschäfts Standpunkt, der sie dazu führt, durch Exklusivität und Monopolbestrebungen das Interesse der von ihnen vertretenen Gewerbegruppen wahrzunehmen, ohne Rücksicht auf die Klasse des Proletariats als Ganzem noch insbesondere auf die Unterschicht der ungelernten Arbeiter. Sie haben infolgedessen stark zünftlerische Abschließungstendenzen und bewirken dadurch eine wesentlich vertikale Gliederung des Proletariats, des sen Zusammenschluß zu einer einzigen geschlossen handelnden Klasse sie natur gemäß aufhalten. “ (“Warum gibt es in den Vereinigten Staaten keinen Sozialismus? “, Tübingen 1906, S. 33.) Vgl. auch S. H. Slighter, “The Challenge of Industrial Relations. Trade Unions, Management, and the Public Interest”, Ithaca (N. Y.) 1947.
Ein Standardwerk über das amerikanische Sozialversicherungswesen beginnt mit dem Satz: “Social insurance is newer and less fully developed in the United States than in most other civilized countries. “ (D. Gagliardo, “American Social Insu rance”, New York 1949, S.XVII.) Diese Feststellung dürfte nach wie vor zutreffen; eher hat man sogar den Eindruck, daß der Vorsprung der sozialpolitischen Gesetzgebung in Europa inzwischen noch gewachsen ist.
Dies ist vor allem an der Zähigkeit und Entschlossenheit deutlich geworden, mit der einzelne Südstaaten an der Rassensegregation festhalten und die Integrationspolitik der Bundesregierung teils in offenem, teils in passivem Widerstand sabotieren. DemAspekt der Korruption in der lokalen Selbstverwaltung ist A.F. Macdonalds Kapitell “Municipal Government and Corruption”, in: K. Davis, H. C. Bredemeier, M. J. Levy, “Modern American Society. Readings in the Problems of Order and Change”, New York 1949, gewidmet.
“Social Theory and Social Structure”, a.a.O., S. 167.
Vgl. dazu ebd. S. 137.
“Structure and Process in Modern Societies”, a. a. O. , S. 230.
Ebd. S.206.
Dieselben Vorgänge, die Mills, B. Moore jr. und Dahrendorf etwa als Entpoliti-sierung verstehen, insofern sie die Bürger zu Suburbaniten machen und einen Teil ihrer Autonomie auf andere Gewalten übertragen, versteht Parsons als Ausdruck von Politisierung, insofern sie die Voraussetzung zu organisierter Kooperation und damit wirksamem Handeln des Ganzen der Gesellschaft legen.
Der Begriff des gesellschaftlichen Totalphänomens ist hier in dem Sinne verstanden, wie ihn G. Gurvitch von M. Mauss übernommen und tiefensoziologisch differenziert hat. Vgl. dazu “La vocation actuelle de la sociologie”, 2 Bde. , Bd. 1, “Vers la sociologie differentielle”, Paris 1963.
“The Political Aspect of Social Structure and Process”, a.a.O., S. 106.
Die Ähnlichkeit mit dem originären Marxismus ist dabei ganz oberflächlich. Nicht nur führt die Entwicklung der Produktivkräfte hier regelmäßig zu Disproportionen zwischen der fortgeschrittenen Leistungsfähgikeit der Basis und dem zurückgebliebenen Überbau (des Normensystems, wie Parsons sagen würde, samt allem, worauf es sich stützt und was von ihm abhängt wie Polizei, Militär, Justiz, Kirche), die sich in scharfen gesellschaftlichen Konflikten entladen und das System von Grund auf verwandeln, sondern am Ende der blinden wirtschaftlichen Entwicklung steht im Marxismus auch ihre rationale gesellschaftliche Kontrolle.
W. C. Mitchell, “The American Polity. A Social and Cultural Interpretation”, New York/London 1962, S.266.
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Messelken, K. (1968). Dimensionen, Hintergründe und Stoßrichtungen der Politikbegriffe von Systemtheorie und Konflikttheorie. Akzentuierungen. In: Politikbegriffe der modernen Soziologie. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-02842-0_5
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