Zusammenfassung
Die innenpolitische Szene in den neuen Staaten Asiens und Afrikas mit ihren häufigen gewaltsamen Konflikten zwischen verfeindeten Bevölkerungen — wir erinnern an Indien 1947, an Indonesien, Malaysia, den Irak, den Kongo und an Nigeria — kontrastiert scharf zur politischen Stabilität fast aller Industrienationen. Zu Recht werden die gewaltsamen Ausbrüche in der Dritten Welt als Ausdruck mangelnder nationalstaatlicher Integration identifiziert. Dabei bleiben ihre Ursachen weitgehend unklar. Als einer der Hauptgründe wird — unseres Erachtens mit nur sehr bedingter Berechtigung — die willkürliche koloniale Grenzziehung angeführt, durch die verwandte ethnische Gruppen oft getrennt, neutral nebeneinanderlebende oder sogar traditionell verfeindete Gruppen oft in einem Staat zusammengefaßt wurden. Auch die Sprachvielfalt der neuen Staaten — eklatantestes Beispiel ist Indien mit seinen 15 anerkannten Haupt- und 830 Nebensprachen und Dialekten 2 — wird häufig als eine wichtige Ursache innenpolitischer Konflikte und fehlenden Nationalgefühls zitiert. Dagegen konnte Joshua A. Fishman nachweisen, daß die relative sprachliche Homogenität vieler europäischer Nationalstaaten nicht Ursache, sondern Folge der Modernisierung und politischen Stabilität gewesen ist 3. Und überdies sind wir der Meinung — wir werden sie später begründen —, daß dem Faktor Sprache in der Nationalismusproblematik allgemein eine Bedeutung beigemessen wird, die er keinesfalls verdient. Die gemeinsame Sprache als wesentliches Element eines Nationalstaates ist eine ideologische (europäische) Position, vor deren kritikloser Übernahme durch die Eliten der neuen Staaten wir warnen möchten.
Abweichend von Fishman, der Bi- und Multilingualismus als Eigenschaft von Personen, sprachliche Heterogenität von Staaten dagegen als „diglossia“ bezeichnet, verwenden wir den Begriff Multilingualismus einheitlich für beide Fälle (Vgl. Joshua A. Fishman, Bilingualism with and without Diglossia; Diglossia with and without Bilingualism, in: Journal of Social Issues 23 (1967), S. 19–39. Für bibliographische Hinweise und die ßberlassung von Sonderdrucken sind wir Joshua A. Fishman, Yeshiva University, New York, sehr dankbar.
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Anmerkungen
Nach dem Zensus von 1951. Vgl. Joyce O. Hertzler, A Sociology of Language, New York 1965, S. 210 /211.
Joshua A. Fishman, The National Consequences of Bi-Lingualism: A Language Problem of Developing Nations, Referat auf dem VI. Weltkongreß für Soziologie in Evian, Frankreich, 1966, als Manuskript vervielfältigt.
Rupert Emerson, From Empire to Nation: The Rise of Self-Assertion of Asian and African Peoples, Cambridge, Mass., 1960, S. 90.
Die folgenden theoretischen Ausführungen sind im Rahmen dieses Aufsatzes notwendigerweise kurz und unvollständig. Für eine detaillierte Darstellung der hier vorgetragenen Nationalismus-Theorie vgl. Dieter Fröhlich, Nationalismus und Nationalstaat in Entwicklungsländern. Probleme der Integration ethnischer Gruppen in Afghanistan, Meisenheim am Glan 1970, Kap. I—VI.
Eine im Prinzip identische Definition politischer Gemeinschaft geben Karl W. Deutsch, Sidney A. Burell u. a., Political Community in the North Atlantic Area, Princeton, N. J., 1957, Seite 5.
Souveränität ist der Status von Regierungen, die normalerweise von äußerem Zwang unabhängig sind. Vgl. Karl W. Deutsch, Nationalism and Social Communication: An Inquiry into the Foundations of Nationality, Cambridge, Mass., 1966, zuerst 1953, S. 81.
Ethnische Gruppe definieren wir hier als Stammesgesellschaft, obwohl diese Definition zu eng und ungenau ist. Für eine präzisere Definition vgl. Fröhlich, a.a.O., Kap. I, 3.
Der gegenwärtige Konflikt in Nordirland ist nur sehr vordergründig ein Gegensatz zwischen Katholiken und Protestanten. Da beide Religionsgruppen zugleich mit einer diskriminierten und einer privilegierten sozialen Schicht identisch sind, haben die Auseinandersetzungen einen klassenkämpferischen Aspekt, der in einen nationalistischen umschlagen kann, sobald die Katholiken die Forderung nach Anschluß an die (katholische) Republik Irland erheben.
Shmuel N. Eisenstadt, The Political Systems of Empires: The Rise and Fall of the Historical Bureaucratic Societies, New York 1963, S. 84. Siehe auch S. N. Eisenstadt, Soziale Entwicklung und politische Stabilität in nichtwestlichen Gesellschaften, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 12 (1960), S. 189–203.
In Europa z. B. die früheren keltischen und germanischen Stämme.
Emile Durkheim, De la division du travail social, Paris 1893.
In der Ethnologie wird dieser Begriff auch in einem restriktiveren Sinne verwendet: Er bezeichnet das Fehlen einer politischen Zentralinstanz. Vgl. Christian Sigrist, Regulierte Anarchie: Untersuchungen zum Fehlen und Entstehen politischer Herrschaft in segmentären Gesellschaften, Freiburg—Olten 1967.
Angelsächsische Autoren verfallen leicht dem Irrtum, politische Partizipation nur als demokratische Teilnahme, operationalisiert durch Wahlverhalten, zu sehen. Dies ist der Fall z. B. bei Daniel Lerner, The Passing of Traditional Society: Modernizing the Middle East, Glencoe, Ill., und London 1964. Tatsächlich läßt sich politische Teilnahme als traditionale, totalitäre und demokratische spezifizieren.
Talcott Parsons, Sociological Theory and Modern Society, New York—London 1967, S. 423. 19 Richard Thurnwald, Die menschliche Gesellschaft in ihren ethno-soziologischen Grundlagen, Bd. I: Repräsentative Lebensbilder von Naturvölkern, Berlin—Leipzig 1931, S. 87.
Thurnwald, a.a.O. — Für diese Interpretation bietet die ethnologische Literatur eine Fülle von Belegen. Wir müssen im Rahmen dieses Aufsatzes auf Einzelbeispiele verzichten und verweisen auf die detaillierte Darstellung in Fröhlich, a.a.O., Kap. II, 4b und c.
Damit wird die zentrale Hypothese der Nationalismustheorie Deutschs (Nationalism and Social Communication, a.a.O.) unbrauchbar; Deutsch erklärt das Entstehen des Nationalismus durch die im Prozeß gesellschaftlicher Modernisierung sich ständig erweiternde Möglichkeit „sinnvoller“ Kommunikation zwischen den Mitgliedern der Gesellschaft, was eine wachsende Vereinheitlichung von Normen und Werten impliziert. Gerade das Gegenteil ist der Fall, und gerade dies ist die Entstehungsursache des Nationalismus. Vgl. die anschließenden Ausführungen in diesem Aufsatz. Zu einer detaillierten Kritik der Theorie von Deutsch vgl. Herbert Goldhamer, Fashion and Social Science, in: World Politics 6 (1953), und Fröhlich, a.a.O., Kap. I, 2.
Daniel Lerner, a.a.O., S. 49/50. — Die Fähigkeit zur eigenen Meinung ist eine Eigenschaft der mobilen Persönlichkeit und bei der Majorität der Mitglieder traditionaler Gesellschaften nicht entwickelt. Die eigene Meinung ist das Recht statushoher Personen und steht der Person mit niedrigem Sozialstatus nicht zu. Abwärtsgerichtete vertikale Kommunikation hat die Qualität autoritativer Anweisungen und verfolgt nicht den Zweck der Meinungsbildung, Vgl. Lerner, a.a.O., S. 113/114.
Zur Bedeutung der Reduktion übermäßiger Komplexität für die Konstituierung sozialer Systeme und Identität vgl. Niklas Luhmann, Soziologie als Theorie sozialer Systeme, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 19 (1967), S. 615–644.
Eine Ausnahme ist z. B. der berühmte jüdische „Selbsthall“: Ergebnis einer mangelhaft gelösten Identitätskrise; „negative Identität”.
Für empirische Belege vgl. z. B. William Buchanan und Hadley Cantril, How Nations See Each Other, Urbana, Ill., 1953; K. S. Sodhi und R. Bergius, Nationale Vorurteile, Berlin 1953. — Interessanterweise erfüllen Nationalismus und soziale Vorurteile dieselbe Funktion: Sie ermöglichen die Orientierung in undurchsichtigen Situationen und reduzieren übermäßige soziale und psychische Komplexität; vgl. Peter Heintz, Soziale Vorurteile, Köln 1957, S. 28; Otto Klineberg, Die menschliche Dimension in den internationalen Beziehungen, Bern—Stuttgart 1964, S. 45.
So wurde im 19. und 20. Jahrhundert in Deutschland die Germanistik an den Universitäten häufig als die „Wissenschaft vom deutschen Wesen“, „Deutsdiwissenschaft”, „Wissenschaft vom deutsdien Volk für das deutsche Volk“ definiert; vgl. „Mit dem Latein am Ende”, in: Der Spiegel, Nr. 31 vom 28.7. 1969, S. 86–96.
Karl W. Deutsch, Nationalism and Social Communication, a.a.O., S. 173.
Man beachte die ungeheuer schwierige Aufgabe des amerikanischen Kongreß-Ausschusses „House-Committee on Un-American Behavior“!
Diese Klassifikation ist logisch erschöpfend.
Bezeichnend ist hier, daß Edmund Burkes „Reflections on the French Revolution“ (1790) 30 Auflagen in kürzester Zeit („almost at once”) erlebte; vgl. George B. Adams, Constitutional History of England, London 1963, zuerst 1921, S. 415.
Das Beispiel Frankreichs zeigt, daß nationale Identität auch wieder gefährdet werden und inhaltlich umdefiniert werden kann (französische Sprache!).
Es ist dies wohl auch eine mißverstandene Imitation der relativen sprachlichen Geschlossenheit Englands und Frankreichs.
Zu den imperialen politischen und sozialen Verhältnissen der österreichisch-ungarischen Monarchie vgl. die vorzügliche Arbeit von Robert A. Kann, Werden und Zerfall des Habsburgerreiches, Graz—Wien—Köln 1962, zuerst als: The Habsburg Empire: A Study of Integration and Desintegration, New York 1957.
In Anlehnung an Deutsch (Nationalism and Social Communication, a.a.O.) definieren wir „Nation“ als eine Bevölkerung, die den Anspruch auf einen eigenen, souveränen Staat mit Erfolgsaussicht (S. 105), „Nationalität” als eine Bevölkerung, die diesen Anspruch ohne Erfolgsaussicht erhebt (S. 104).
Es führt zu weit, spezielle Strategien, die ein Staat zum Aufbau der Nation anwenden kann, hier aufzuführen. Für Einzelheiten vgl. Fröhlich, a.a.O., Kap. V, 3–6. — Unsere Unterscheidung in sekundären und tertiären Nationalismus entspricht in ihren theoretischen Implikationen den beiden Nationalismus-Typen, die Fishman mit „nationalism“ und „nationism” bezeichnet. Vgl. Joshua A. Fishman, Nationality — Nationalism and Nation — Nationism, in: Joshua A. Fishman, Charles A. Ferguson und Jyotirindra Das Gupta, Hrsg., Language Problems of Developing Nations, New York—London—Sidney—Toronto 1968, S. 39–51.
Vgl. die interessanten Versuche von Lerner (a.a.O.) und Jack P. Gibbs und Walter T. Martin, Urbanization, Technology, and the Division of Labor, in: American Sociological Review 27 (1962), S. 667–677.
Pakistan: Das saubere, reine, d. h. religiös (moslemisch) homogene Land. 95 Vgl. J. Hertzler, a.a.O., S. 194, 238.
Vgl. Joshua A. Fishman, Varieties of Ethnicity and Varieties of Language, in: Monograph Series on Languages and Linguistics (Georgetown University), Nr. 18, 1965, S. 70.
Vgl. Heinz Kloss, Bilingualism and Nationalism, in: Journal of Social Issues 23 (1967), S. 39–47.
Die indischen Eliten hatten bereits sehr früh die europäische Sprachideologie übernommen, und schon in den zwanziger Jahren war die Kongreßpartei gespalten wegen der beiden Sprachen Hindi und Urdu. Beide Gruppen verfochten einen jeweiligen Sprachpurismus, der sich zur Glorifizierung der eigenen literarischen, kulturellen und schließlich auch religiösen Vergangenheit auswuchs. Vgl. Jyotirindra Das Gupta und John J. Gumperz, Language, Communication, and Control in North-India, in: Fishman u. a., Hrsg., a.a.O., S. 158.
Vgl. Ali A. Mazrui, Some Sociopolitical Functions of English Literature in Africa, in: Fishman u. a., a.a.O., S. 185. Dasselbe meint Tabouret-Keller, wenn er sagt: „For an African the motivation for using English and French is cultural not directly national“ (A. Tabouret-Keller, Sociological Factors of Language Maintenance and Language Shift, in: Fishmann u. a., Hrsg., a.a.O., S. 109 ).
Vgl. Pierre Alexandre, Linguistic Problems of Nationbuilding in Africa, in: Fishman u. a., Hrsg., a.a.O., S. 126.
P. Alexandre, a.a.O., S. 124/125.
Z. B. entwickelt sich das indische Englisch in diese Richtung.
Ein Beispiel hierfür bietet Clifford H. Prator, A British Heresy in TESL, in: Fishman u. a., Hrsg., a.a.O., S. 459–476.
Stephen A. Wurm, Papua — New Guinea Nationhood: The Problem of a National Language, in: Fishman u. a., Hrsg., a.a.O., S. 354.
Vgl. Wurm, a.a.O., S. 364.
Joseph Fisher, Indonesia, in: James S. Coleman, Hrsg., Education and Political Development, Princeton, N. J., 1965, S. 92–122; desgl. S. A. Wurm, a.a.O., S. 360; Takdir Alisjahbana, Indonesian Language and Literature: Two Essays, New Haven, Conn., 1962, S. 1–22.
Vgl. Lyndon Harries, Swahili in Modern East Africa, in: Fishman u. a.., Hrsg., a.a.O., S. 415–429.
Zitiert bei Edgar Polomé, The Choice of Official Languages in the Democratic Republic of the Congo, in: Fishman u. a., Hrsg., a.a.O., S. 306.
Der Autor befand sich im Frühjahr 1965 in Indien und konnte die Entwicklung in der Tagespresse verfolgen. Im Konflikt zwischen dem drawidischen Süden und dem Norden Indiens, der sich bereits seit der Teilung in südindischen Regionalparteien manifestiert, wird zusätzlich ein Aufbegehren der unteren Kasten gegen die Brahmanen, den „arischen“ Überlagerern Nordindiens, sichtbar. Die Einführung des Hindi hätte somit die traditionelle Kasten-und Klassenstruktur weiter gestützt.
Diesen prägnanten Ausdruck verwendet Jyotirindra Das Gupta, Language Diversity and National Development, in: Fishman u. a., Hrsg., a.a.O., S. 23.
Vgl. John N. Paden, Language Problems of National Integration in Nigeria: The Special Position of Hausa, in: Fishman u. a., Hrsg., a.a.O., S. 199.
Vgl. Klaus Ferdinand, Nomadic Expansion and Commerce in Central Afghanistan, in: Folk 4 (1962), S. 136.
Vgl. H. F. Schurmann, The Moghols of Afghanistan: An Ethnography of the Moghols and Related Peoples of Afghanistan, ‘s-Gravenhage 1962, S. 40, 49.
Vgl. Max Klimburg, Afghanistan: Das Land im historischen Spannungsfeld Mittelasiens, Wien—München 1966, S. 104.
Vgl. Pierre L. van den Berghe, Language and „Nationalism“ in South Africa, in: Fishman u. a., Hrsg., a.a.O., S. 215–224.
Vgl. Ulrich Oevermann, Schichtenspezifische Formen des Sprachverhaltens und ihr Einfluß auf die kognitiven Prozesse, in: Heinrich Roth, Hrsg., Begabung und Lernen (Gutachten des Deutschen Bildungsrat, Bd. 4), Stuttgart 1969, S. 297–355.
Vgl. Robert G. Armstrong, Language Policies and Language Practices in West Africa, in: Fishman u. a., Hrsg., a.a.O., S. 232, 233; John Bowers, Language Problems and Literacy, in: Fishman u. a., Hrsg., a.a.O., S 385.
Die moralische und finanzielle Unterstützung der deutschen Sprache durch die dänische Regierung wurde selbst nach Beendigung der deutschen Okkupation des 2. Weltkrieges gewährt; vgl. Walter B. Simon, A Comparative Study of the Problem of Multi-Lingualism, in: Mens en Maatschappij 42 (1967), S. 96.
Die Ursache von Sprachkonflikten in Sozialkonflikten hat Herbert C. Kelman sehr überzeugend dargestellt, und er zieht daraus die berechtigte Schlußfolgerung, „that language planning must be closely linked with economic planning“ (Herbert C. Keimen, Language as Aid and Barrier to Involvement in the National System, Referat auf der „Conference on Language Planning Processes”, East-West Center, Honolulu, 7.-10. April 1969, S. 15, als Manuskript vervielfältigt).
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Fröhlich, D. (1969). Multilingualismus und der Aufbau der Nation. In: König, R. (eds) Aspekte der Entwicklungssoziologie. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, vol 13. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-02319-7_18
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