Zusammenfassung
Daß die Idee des sich selbst regulierenden Marktes eine „krasse Utopie“ war, die, konsequent praktiziert, zur Zerstörung der Gesellschaft und ihrer Lebensgrundlagen führen muß (Polanyi 1944, 1977), wird an kaum einem Phänomen deutlicher als am Arbeitsmarkt des 19. Jahrhunderts und den durch ihn hervorgebrachten Arbeitszeiten. Die physische Zerrüttung breiter Schichten der Bevölkerung aufgrund des Teufelskreises exzessiver Arbeitszeiten und niedriger Löhne war dramatisch und ging so weit, daß in den führenden Industrieländern sogar die Militärs um die ausreichende Rekrutierung tauglichen Nachwuchses besorgt waren. Heute bildet Polanyis Feststellung, daß die Arbeitskraft keine Ware und deshalb der Arbeitsmarkt ohne außerökonomische institutionelle Regulierungen nicht funktionsfähig ist, einen Gemeinplatz der Arbeitsmarkttheorie. Einen „Arbeitsmarkt“ kann es nur geben, wenn beide Parteien in der Lage sind, als marktrational handelnde Subjekte aufzutreten, d.h. ihr Verhalten an Preisänderungen anzupassen. Wo eine Seite aus Gründen der bloßen Existenzerhaltung gezwungen ist, jedes Angebot anzunehmen, sind die Regeln des Marktes außer Kraft gesetzt. Die Funktionsfähigkeit des Arbeitsmarktes setzt folglich voraus:
-
1.
Eine soziale Grundsicherung, die ein Minimum an materieller Unabhängigkeit von den Marktkräften und damit an sozialer Autonomie der Lohnabhängigen sicherstellt. In den frühen Phasen der Industrialisierung verfügten viele Menschen noch über eine solche Grundsicherung in Gestalt des landwirtschaftlichen oder handwerklichen Nebenerwerbs im Rahmen der Familie. Obwohl die familiäre Subsidiarität auch heute noch keineswegs verschwunden ist, dominiert in den entwickelten Ländern gegenwärtig zweifellos die soziale Sicherung durch den Sozialstaat.
-
2.
Institutionelle Regulierungen die den einzelnen Arbeitnehmer daran hindern, aus kurzfristigen Überlebensinteressen heraus ruinöse Löhne und Arbeitsbedingungen zu akzeptieren, die — allgemein üblich geworden — eine dauerhafte Reproduktion der Lohnarbeiterschaft unmöglich machen würden.
Access this chapter
Tax calculation will be finalised at checkout
Purchases are for personal use only
Preview
Unable to display preview. Download preview PDF.
Literatur
Blyton P., 1985: Changes in Working Time. An International Review. London/Sidney.
Brentano L., 1983: Über das Verhältnis von Arbeitslohn und Arbeitszeit zur Arbeitsleistung, ( 2. Aufl. ). Leipzig.
Brose H.G., 1985: Die Bedeutung der Zeitdimension für die Analyse des Verhältnisses von Arbeit und Persönlichkeit, in: E.H. Hoff, L. Lappe und W. Lempert (Hrsg.), Arbeitsbiographie und Persönlichkeitsentwicklung. Bern, S. 142–153.
Deutschmann C., 1985: Der Weg zum Normalarbeitstag. Die Entwicklung der Arbeitszeiten in der deutschen Industrie bis 1918. Frankfurt.
Deutschmann C., 1987a: Arbeitszeit in Japan. Organisatorische und organisationskulturelle Aspekte der „Rundumnutzung“ der Arbeitskraft. Frankfurt.
Deutschmann C., 1987b: Der „Betriebsclan“. Der japanische Organisationstypus als Herausforderung an die soziologische Modernisierungstheorie, in: Soziale Welt, Jg. 38, Heft 2, S. 133–147.
Eckart C., 1990: Der Preis der Zeit. Eine Untersuchung der Interessen von Frauen an Teilzeitarbeit. Frankfurt.
Erler G., 1985: Frauenzimmer. Für eine Politik des Unterschieds. Berlin.
Groh D., 1987: Strategien, Zeit und Ressourcen. Risikominimierung, Unterproduktivität und Mußepräferenzen - die zentralen Kategorien von Subsistenzökonomien, in: PROKLA 67,17. Jg., Nr. 2.
Herzberg F., 1966: Work and the Nature of Man. New York.
Kohli M., 1988: Normalbiographie und Individualität. Zur institutionellen Dynamik des gegenwärtigen Lebenslaufregimes, in: H.G. Brose und B. Hildenbrand (Hrsg.), Vom Ende des Individuums zur Individualität ohne Ende. Opladen, S. 57–85.
Marx K., 1968: Das Kapital, Bd. 1, ( 4. Aufl. ). Berlin.
Piore M., und Œ. Sabel, 1985: Das Ende der Massenproduktion. Studie über die Requalifizierung der Arbeit und die Rückkehr der Ökonomie in die Gesellschaft. Berlin (zuerst 1984 ).
Polanyi K., 1944: The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen. Wien, dt. Ausgabe 1977.
Scase R., und R. Goffee, 1989: Reluctant Managers. Their Work and Lifestyles. London.
Schmiede R., und E. Schudlich, 1976: Die Entwicklung der Leistungsentlohnung in Deutschland. Eine historisch-theoretische Untersuchung zum Verhältnis von Lohn und Leistung unter kapitalistischen Produktionsbedingungen. Frankfurt/New York.
Simmel G., 1989: Über sociale Differenzierung. Die Probleme der Geschichtsphilosophie (1892). Gesamtausgabe Band 2. Frankfurt.
Sorokin P., und R.K. Merton, 1937: Social Time. A Methodological and Functional Analysis, in: The American Journal of Sociology, Vol. XLII, Nr. 5, S. 615 ff.
Stearns P., 1980: Arbeiterleben. Industriearbeit und Alltag in Europa 1890–1914. Frankfurt/M.
Thompson E., 1973: Zeit, Arbeitsdisziplin und Industriekapitalismus, in: R. Braun, H. Volkmann u.a. (Hrsg.), Gesellschaft in der industriellen Revolution. Köln, S. 81 ff.
Editor information
Editors and Affiliations
Rights and permissions
Copyright information
© 1990 Springer Fachmedien Wiesbaden
About this chapter
Cite this chapter
Deutschmann, C. (1990). Der Normalarbeitstag. In: König, H., von Greiff, B., Schauer, H. (eds) Sozialphilosophie der industriellen Arbeit. LEVIATHAN Zeitschrift für Sozialwissenschaft, vol 11. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-01683-0_4
Download citation
DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-663-01683-0_4
Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden
Print ISBN: 978-3-663-01684-7
Online ISBN: 978-3-663-01683-0
eBook Packages: Springer Book Archive