Zusammenfassung
Ein Vergleich zwischen Kant und Tönnies anhand ihrer begrifflichen Architektonik von Gemeinschaft und Gesellschaft mag als fragwürdiges Unternehmen erscheinen: in systematischer Hinsicht sind beide Begriffspaare jeweils sehr unterschiedlichen Begründungszusammenhängen und analytischen Aufgabenfeldern zugeordnet, zudem besitzen sie innerhalb der jeweiligen Theorie einen höchst disparaten kategorialen Stellenwert. Der Reiz eines Vergleichs speist sich offenbar nur aus dem Interesse an einer Kontrastierung sehr verschiedenartiger Theorieansätze. Für Kant erweist sich der Begriff Gemeinschaft nämlich keineswegs als Angelpunkt des gesamten philosophischen Systems, sondern tritt nur dort als prägnantes Analyseinstrument hervor, wo er im gleichwertigen Verbund mit weiteren Kategorien Grundbedingungen der Erfahrung erläutert und damit in den Dienst einer kritischen Selbstaufklärung über subjektive Wahrnehmungskriterien tritt. Im Rahmen der erkenntniskritischen Schriften, die selbst wiederum nur einen — wenngleich den philosophiegeschichtlich bedeutsamsten — Bestandteil des philosophischen Werks von Kant repräsentieren, gewinnt er also lediglich den Symbolwert eines aufschlußreichen Elements im facettenreichen Funktionszusammenhang der Erkenntniskritik.
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Literatur
Alle Zitatnachweise in den Schriften Kants beziehen sich auf: “Kant’s gesammelte Schriften”, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, XXIII Bde., Berlin, Leipzig (1902 – 1955). Die römische Ziffer bezeichnet den Band, die arabische die Seitenzahl.
Den ersten bedeutenden Schlag gegen Kant hat Hegel mit seiner Klassifikation der Kantschen Pflicht als leeren Formalismus” ausgeführt (Georg Wilhelm Friedrich Hegel, 1967, § 135, S.120). Er beanstandet die fehlende Explikation einer sittlichen Grundlage für die Pflicht, die ohne inhaltliche Bestimmung “von außen” nichts weiter sei als die logisch formalisierte “Festsetzung der abstrakten Unbestimmtheit”. Ausführlicher widmet sich Schopenhauer, der in seinem prägenden Einfluß auf Tönnies besonderes Augenmerk verdient, einer Kritik der Ethik Kants, der er die Mißachtung eines Motivs zur Einhaltung von Pflicht vorhält. Unter Hinweis auf die Möglichkeit religiöser Inspiration erläutert er seinen Vorwurf, die Kantsche Annahme eines “unbedingten Sollens” sei undenkbar und widersinnig und stelle sich geradezu als “contradictio in adjecto” dar (Arthur Schopenhauer, 1950, S. 123).
Mit diesen Formulierungen, die in ihrer umständlichen Diktion auffällig an Kants Sprachstil in den kosmopolitischen Schriften erinnern, knüpft Tönnies inhaltlich eng an die Genossenschaftstheorie Otto von Gierkes an, den er als geistigen Lehrmeister in der Vorrede zur ersten Auflage von “Gemeinschaft und Gesellschaft” ausdrücklich hervorhebt (vgl. Ferdinand Tönnies, 1972, S. XXIV; vgl. auch 1922a, S465).
Nach Seneca: “Schicksale führen den Willigen, ziehen den Widerspenstigen fort”. Vgl. Immanuel Kant (1902 – 1955, Zum ewigen Frieden, Bd. VIII, S. 365).
Detaillierte Belege finden sich in der “Grundlegung zur Metaphysik der Sitten” (Immanuel Kant, 1902–1955, Bd. IV, S. 456), in “Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung” (Bd. VIII, S. 37 f.) und in “Zum ewigen Frieden” (Bd. VIII, S. 381).
Freilich hat Tönnies auch in späteren Schriften mißverständliche Formulierungen nicht vermieden, die zur schiefen Übernahme seiner ontologischen Kategorien in praktische Handlungsorientierungen Anlaß geben. So heißt es etwa in seiner erstmals 1931 erschienenen “Einführung in die Soziologie”: “Die Brüderlichkeit ist es aber, die vorzüglich im sozialen Leben als Verhältnis der Gemeinschaft zur Geltung kommt. Dies rührt daher, daß besonders Jünglinge mit Jünglingen sich verbinden zu gemeinsamer äußerer Tätigkeit, zum Zusammenwirken, in ursprünglichen Zuständen insbesondere zur Jagd und zum Kampfe, darum aber auch zu gemeinsamen Genusse: zum Schmausen und Zechen” (Ferdinand Tönnies, 1965, S. 48).
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© 1991 Leske + Budrich, Opladen
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Richter, E. (1991). Erkenntniskritik versus kritische Ontologie Gemeinschaft und Gesellschaft bei Kant und Tönnies. In: Clausen, L., Schlüter, C. (eds) Hundert Jahre „Gemeinschaft und Gesellschaft“. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-01367-9_8
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Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden
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