Zusammenfassung
Nach Erscheinungsform und Terminologie ist der moderne Wohlfahrtsstaat ein Kind dieses Jahrhunderts. Er ist aus dem liberalen Verfassungsstaat, wie er um 1800 konzipiert wurde, hervorgegangen und vor allem durch eine laufende Erweiterung politischer Zielsetzungen gekennzeichnet. Der Wohlfahrtsstaat konnte auf Ziele hin entworfen und fast ohne Theorie in Gang gebracht werden, solange diese Ziele Verbesserung von Sachlagen, Vermehrung von Sicherheiten, Steigerung von Versorgungsleistungen mit hinreichend breit gewähltem Empfängerkreis waren. Diese Aufbauphase ist abgeschlossen. Die Amelioristik der Ziele dient immer noch der Bekundung guter politischer Absichten. Sie zeigt gleichzeitig aber Züge der Überspannung und Ermattung. Verheißungen können nicht erfüllt oder müssen gar abgeschwächt werden. Wo Politiker Verbesserungen größeren Stils ankündigen, kann man fast schon vermuten, daß sie es nicht ernst meinen. Jedenfalls fällt es schwer, ihnen daraufhin schon Vertrauen zu schenken. Aber die Sprache der Politik hat sich noch nicht umgestellt. Sie pendelt zwischen Zielen und Mitteln, zwischen an sich Wünschenswertem auf der einen und dem Fehlen der Mittel auf der anderen Seite. Es fehlt ihr ein theoretisches Konzept und vor allem ein Kriterium für die Frage, welche Erwartungen eigentlich an Politik gerichtet werden können und welche nicht.
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Literatur
B. Conant, R. S./W. R. Ashby, “Every Good Regulator of a System Must be a Model of That System”, International Journal of System Science, 1 (1970), S. 89 - 97;
Varela, F. J., “A Calculus for Self-Reference”, International Journal of General Systems, 2 (1975), S. 5 - 24.
Siehe Luhmann, N., „Gesellschaftsstrukturelle Bedingungen und Folgeprobleme des naturwissenschaftlich-technischen Fortschritts“, in: R. Löw/P. Koslowski/Ph. Kreuzer (Hrsg.), Fortschritt ohne Maß, München 1981, S. 113-131. In diesem Band S. 49-63.
Sehr schöne Analysen dazu bei Morin, E., La Méthode 1, Paris 1977, S. 210 ff. Vgl. auch Varela, F.J., Principles of Biological Autonomy, New York 1979.
Bei Autoren, die an dieser Unterscheidung festhalten, fällt denn auch auf, daß sie an einem historischen Kontext präsentiert wird. Vgl. Böckenförde, E.-W., „Einleitung“, in: ders. (Hrsg.), Staat und Gesellschaft, Darmstadt 1976,
ferner Kriele, M., Einführung in die Staatslehre: Die geschichtlichen Legitimitätsgrundlagen des demokratischen Verfassungsstaates, Reinbek 1975, S. 292 ff., und Koslowski, P., Gesellschaft und Staat: Ein unvermeidlicher Dualismus, Stuttgart 1982. Vgl. ferner in diesem Band S. 67 ff.
Koslowski, a.a.O., S. 4, Anm. 10, weist darauf hin, daß der Staat kein Funktionssystem unter anderen sei, weil er eine besondere Qualität besitze: die Hoheitlichkeit. Aber genau dies gilt mutatis mutandis für alle Funktionssysteme und ist Bedingung ihrer Ausdifferenzierung; sie alle berufen sich auf eine besondere Qualität ihres funktionalen Beitrags zum menschlichen Zusammenleben. Wer würde das für Religion leugnen, oder für Recht, oder für Erziehung, oder für Wirtschaft?
In die Probleme dieser Fehlschaltung verstrickt sich z. B. Lavau, G., „Le système politique et son environnement“, Revue français de sociologie, 11, 12 (1971), No. special, S. 169-181.
In der klassischen Logik vom Ganzen und Teil war genau dies nicht faßbar gewesen, man hatte deshalb analytische divisio und reale partitio unterscheiden müssen und nur eine einzige Form der Realteilung (gesellschaftlich: die nach Schichtung) anerkennen können. Vgl. zu den logischen Problemen auf dieser Basis Saarnio, U., „Der Teil und die Gesamtheit“, Actes du XIème Congrès international de Philosophie, 5, Amsterdam/ Louvain, 1953, S. 35-37.
Im Sinne der Staatslehre Hermann Hellers.
Hierzu ausführlicher: Luhmann, N., Politische Theorie im Wohlfahrtsstaat, München 1981.
Die Wendung der Einschätzung ist eingeleitet worden durch einen wichtigen Beitrag von Maruyama, M., “The Second Cybernetics: Deviation-Amplifying Mutual Causal Processes”, General Systems, 8 (1963), S. 233 - 241.
Morin, a.a.O. (1977), S. 222: „il faut penser aujourd’hui que les termes de folie/sagesse ne s’excluent qu’à certains niveaux, et non à tous, non aux plus fondamentaux“.
Zur inneren Affinität von Demokratisierung und Bürokratisierung gibt es (abgesehen vom Bereich der privaten Vereine) noch wenig Forschung. Vor allem durch die spektakuläre Entwicklung der früheren Universitäten zu den heutigen Großbürokratien ist man darauf aufmerksam geworden. Vgl. Nias, D.J., “The Sorcerer’s Apprentice: A Case Study of Complexity in Educational Institutions”, in: T.R. LaPorte (Hrsg.), Organized Social Complexity: Challenge to Politics and Policy, Princeton N.J. 1975, 256 - 278;
Luhmann, N., „Zwei Quellen der Bürokratisierung in Hochschulen“, Festschrift Reinhard Mohn (Privatdruck), o. O., o. J. (1981), S. 150-155. In diesem Band S. 212-215;
ders., „Organisation und Entscheidung“, in: ders., Soziologische Aufklärung 3, Opladen 1981, S. 335-389, hier S. 344ff.;
Cafferata, G.L., “The Building of Democratic Organizations: An Embryological Metaphor”, Administrative Science Quarterly, 27 (1982), S. 280 - 300.
Ein Modell: Tauben auf dem Markusplatz, mit einer Fülle von parasitären Einrichtungen an Touristen, Photographen, Futterverkäufern, Straßenreinigern, die sich wechselseitig teils fördern, teils behindern, in jedem Falle aber nur in Symbiose mit der dominanten Struktur existieren, die ihrerseits durch sie überlebt.
Im Französischen kann man elegant formulieren: „La dominance écologique ne signifie pas domination“, um den Sachverhalt dann mit dem englischen Begriff von,control` in Fassung zu bringen (Morin, E., La Méthode 2, Paris 1980, S. 44). Der Sachverhalt ist klar, aber die Alltagssprache scheint schon bei derart anspruchslosen Unterscheidungen überfordert zu sein.
Vgl. z. B. Simmel, G., „Über eine Beziehung der Selektionslehre zur Erkenntnistheorie“, Archiv für systematische Philosophie, 1 (1895), S. 34 - 45;
Blachowitz, J.A., “Systems Theory and Evolutionary Models of the Development of Science”, Philosophy of Science, 38 (1971), S. 178 - 199;
Campbell, D.T., “Evolutionary Epistemology”, in: P. A. Schilpp (Hrsg.), The Philosophy of Karl Popper 1, La Salle III. 1974, S. 412 - 463;
Toulmin, S., Kritik der kollektiven Vernunft, dt. Übers., Frankfurt a.M. 1978;
Alchian, A., “Uncertainty, Evolution and Economic Theory”, Journal of Political Economy, 58 (1950),
S. 211-221; Spengler, J., “Social Evolution and the Theory of Economic Development”, in: H.R. Barringer et al. (Hrsg.), Social Change in Developing Areas: A Reinterpretation of Evolutionary Theory, Cambridge Mass. 1965, S. 243 - 272;
Nelson, R. /Winter, S., “Neoclassical vs. Evolutionary Theories of Economic Growth: Critique and Prospectus”, Economic Journal, 84 (1974), S. 886 - 905.
Vgl. hierzu die Unterscheidung verschiedener Formen von Interdependenz in Organisationen bei Thompson, J.D., Organizations in Action: Social Science Bases of Administrative Theory, New York 1967, insb. S. 54 f.
Ältere Kombinationen von System-und Evolutionstheorie haben genau dies versucht, ohne dabei die Probleme der Selbstreferenz und der Hyperkomplexität hinreichend zu beachten. Siehe noch Jantsch, E., Design for Evolution: Self-organization and Planning in the Life of Human Systems, New York 1975.
Siehe zuletzt: Forsthoff, E., Der Staat der Industriegesellschaft: Dargestellt am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland, München 1971; ferner auch ders., Rechtsstaat im Wandel: Verfassungsrechtliche Abhandlungen 1950-1964, Stuttgart 1964.
Eine vergleichbare Funktion erfüllt im Wirtschaftssystem der Bezug auf Geld und die Bindung aller wirtschaftlichen Operationen an die Zahlung monetärer Äquivalente. Die Zuordnung zur Wirtschaft wird dadurch unabhängig von inhaltlichen Kriterien der Wirtschaftlichkeit, von Produktionserfolg, Gewinn und Verlust, Rentabilität usw.
Anregungen zur Umformung des Schemas geschlossen/offen aus einem Gegensatz in einen (nicht beliebig konditionierten) Zusammenhang stammen unter anderem aus neurophysiologischen Analysen des Auges. Siehe insb. Lettvin, J.Y. et al., “What the Frog’s Eye Tells the Frog’s Brain”, Proceedings of Institute of Radio Engineers, 47 (1959), 1940 - 1951.
Siehe Schmitt, C., Der Begriff des Politischen, Neuausgabe Berlin 1963, S. 10.
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Luhmann, N. (1987). Der Wohlfahrtsstaat zwischen Evolution und Rationalität. In: Soziologische Aufklärung 4. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-01341-9_6
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