Brasiliens Wohlfahrtsstaat zwischen globalen Zwängen und Verfassungsgebot

Zusammenfassung

Die Welt blickt auf Brasilien wie auf ein aktuelles Experimentierfeld zur Lösung sozialer Probleme unter Wahrung des global wie lokal anerkannten Zwanges zu ausgeglichenen Staatshaushalten und unternehmerischer Zurückhaltung des Staates. Neuer Protagonist ist — neben dem brasilianischen Wähler und den internationalen Finanzanleger mit ihren vielfältigen Einflussmitteln — der ehemalige Gewerkschaftsführer Luiz Inácio Lula da Silva, seit dem 01.01.2003 Staats- und Regierungschef der größten Demokratie Lateinamerikas. Angetreten ist er inmitten der gravierendsten Vertrauenskrise, die Brasiliens Ökonomie in den letzten Jahrzehnten zu meistern hatte, mit einem Rezept, das einerseits mittels strikter Stabilitätspolitik internationale Anleger beruhigen, andererseits aber auch die „soziale Schuld“ des brasilianischen Staates bedienen sollte. Das Rezept heißt: Fiskalische Austerität, Strukturreformen und Start eines „Null-Hunger-Programms“ schon vom ersten Jahr seiner Amtszeit an. Ob dieser dreifache Spagat lange auszuhalten ist, hängt auch davon ab, ob es Lula gelingt, diesen durch beherztes Angehen der historischen Fehlleistungen und sozialen Defizite des brasilianischen Wohlfahrtsstaates abzubauen. Um diese geht es im vorliegenden Artikel. Nach einem Rückblick auf Rolle und Verlauf des brasilianischen Wohlfahrtsstaates wird dessen Verschlankung und Reaktivierung während der achtjährigen Regierung des Sozialdemokraten Fernando Henrique Cardoso (1995–2002) im Überblick dargestellt, um anschließend die Chancen für die Regierung Lula einzuschätzen.