7.1 Die japanischen Tonio Kröger-Retranslations im institutionellen Kontext

Hinsichtlich der äußeren Tonio Kröger-Übersetzungsgeschichte konnte dargestellt werden, dass die akademische Quasi-Institutionalisierung der japanischen Thomas Mann-Übersetzung ihren Ursprung insbesondere in den kyōyōshugi-affinen Institutionen des alten Bildungssystems und deren Nachfolgeinstitutionen hatte. Dies betrifft in erster Linie das fachgermanistische Institut der Kaiserlichen Universität Tōkyō, an dem Saneyoshi Hayao, Takeyama Michio, Takahashi Yoshitaka, Satō Kōichi und Ueda Toshirō allesamt ihren Abschluss erwarben. Infolge der japanischen Kriegsniederlage wurde diese Institution in die Universität Tōkyō (Tōkyō Daigaku bzw. Tōdai) überführt, an der auch Fukuda Hirotoshi, Morikawa Toshio, Kataoka Keiji und Maruko Shūhei ihr Studium abschlossen. Während Fukuda, Morikawa und Maruko dort in die direkte Einflusssphäre Satō Kōichis gerieten, studierte einzig Kataoka Keiji nicht Germanistik, sondern Kunstgeschichte. Ebenso schlug Asai Masao dahingehend etwas aus der Art, dass er als einziger unter den Tonio Kröger-Übersetzenden an der Waseda-Universität studierte; gleiches gilt für Hirano Kyōko, die ihr Studium an der Ochanomizu-Frauenuniversität abschloss, und Asai Shōko, die an der Universität Kyōto studiert hat. Eine wichtige Rolle bezüglich der kyōyōshugi-nahen Thomas Mann-Übersetzung spielten außerdem die Oberschulen des alten Bildungssystems (kyūsei kōtōgakkō). In diesem Zusammenhang ist für Takeyama Michio der Besuch der Ersten Oberschule in Tōkyō und für Takahashi Yoshitaka der ebenfalls vorkriegszeitliche Besuch der Oberschule in Kōchi verbürgt. Als Oberschullehrer im alten Bildungssystem waren ferner Saneyoshi Hayao, Takeyama Michio, Takahashi Yoshitaka, Satō Kōichi und Ueda Toshirō tätig. Darüber hinaus hatten fast alle Übersetzenden eine Professur inne. Ausgenommen hiervon sind einerseits Mukasa Takeo und Toyonaga Yoshiyuki, zu denen keine ausreichenden biografischen Informationen vorliegen. Auch in Hinblick auf Takeyama Michio ist das Kriterium der Professur insoweit zu relativieren, als der Schriftsteller diese nur für kurze Zeit innehatte; ebenso scheint Fukuda Hirotoshi der akademischen Karrierelaufbahn schließlich den Rücken gekehrt zu haben. Noch klarer von allen übrigen Übersetzenden abgegrenzt sind die Berufsübersetzerinnen Hirano Kyōko und Asai Shōko, deren Übersetzungstexte im Unterschied zur Mehrzahl der vorigen Retranslations nicht auf akademische Qualifikation und Profilierung abzielen.

Insbesondere in Anbetracht dieser Kontextfaktoren sowie auf Grundlage der im sechsten Kapitel dargestellten Zusammenführung von äußerer und innerer Übersetzungsgeschichte lassen sich die Tonio Kröger-Übersetzenden in fünf Gruppen einteilen. Diese sind ebenso mit dem textbezogenen Modell einer Kerngruppe bzw. einer Übersetzungsperipherie zu vereinbaren, wie sie auch anschlussfähig an den in Hinblick auf die äußere Übersetzungsgeschichte thematisierten „inneren Kreis“ der japanischen Thomas Mann-Übersetzung sind.

7.1.1 Erste Teilgruppe: Die erste Übersetzergeneration im Bann von kyōyōshugi

Die erste Teilgruppe entspricht der ersten, noch im alten Bildungssystem und damit kyōyōshugi-nah akademisch sozialisierten Tonio Kröger-Übersetzergeneration. Zu ihr gehören Saneyoshi Hayao, Takeyama Michio, Takahashi Yoshitaka, Satō Kōichi und Ueda Toshirō, die alle ihren Abschluss am germanistischen Institut der Kaiserlichen Universität Tōkyō erworben haben und als Oberschullehrer im alten Bildungssystem tätig waren. Obwohl der Oberschulbesuch nur für Takeyama Michio und Takahashi Yoshitaka explizit dokumentiert ist, kann er auch für die anderen genannten Übersetzer aufgrund ihres späteren akademischen Werdegangs als gesichert gelten. Zudem hatten alle Angehörigen der ersten Teilgruppe wenigstens zeitweilig Professuren inne.

Bemerkenswert ist hierbei, dass mit Ausnahme Ueda Toshirōs alle Mitglieder der ersten Teilgruppe als zentrale Akteure der japanischen Tonio Kröger-Rezeption charakterisiert werden können. Darüber hinaus waren alle genannten Übersetzer außer Ueda zeitgleich an denselben Bildungseinrichtungen angestellt und standen somit in direktem Kontakt zueinander: Während Saneyoshi und Takahashi beide Ende der 1930er- bzw. Anfang der 1940er-Jahre an der Tōkyōter Furitsu-Oberschule unterrichteten, lehrten Takahashi, Satō und Takeyama alle Mitte bis Ende der 1940er-Jahre an der (Ersten) Oberschule in Tōkyō. Entsprechend dürften sich einerseits Saneyoshi und Takahashi, andererseits Takahashi, Satō und Takeyama persönlich gekannt haben. Uedas Außenseiterposition wird vor diesem Hintergrund auch dadurch veranschaulicht, dass seine Tonio Kröger-Retranslation als einziger aus der ersten Teilgruppe hervorgegangener Text nicht bei einem einflussreichen Verlag erschienen ist.

In der inneren Übersetzungsgeschichte, die die Ähnlichkeitsbeziehungen der Übersetzungstexte abbildet, nehmen Saneyoshis 1927 erschienene Erstübersetzung und Takeyamas 1941 publizierte Retranslation eine zentrale Position ein; hinsichtlich der äußeren Übersetzungsgeschichte gebührt dieser Status neben Saneyoshi in erster Linie Takahashi und Satō. Diese konnten im Zuge der historischen Kontextualisierung als ehrgeizige Hauptakteure innerhalb der Thomas Mann-Forschung und -Übersetzung identifiziert werden, die beide an der NS-Kompromittierung der kyōyōshugi-affinen japanischen Fachgermanistik teilhatten und sich nach Kriegsende mithilfe von Thomas Mann-Publikationen umgehend rehabilitierten und profilierten. Dass Satō dabei eher auf eine hohe Publikationsfrequenz und umfangreiche Übersetzungstexte, also auf Quantität setzte, zeigt sich auch an seiner derivativen, wiederholt Anleihen bei Asai (1955) nehmenden Tonio Kröger-Retranslation. Demgegenüber ließ sich Takahashi i. A. etwas mehr Zeit und vermittelte infolgedessen auch in seiner Retranslation zwischen traditionellen Konsensübersetzungen und möglicherweise durch seine Essayistik beeinflussten neuartigen Übersetzungsvarianten.

Im Unterschied hierzu hatte Saneyoshi Hayao einen doppelten Sonderstatus sowohl in Hinblick auf die äußere als auch in Hinblick auf die innere Übersetzungsgeschichte inne: Er veröffentlichte die erste japanische Tonio Kröger-Übersetzung überhaupt, die im prestigeträchtigen Bildungsverlag Iwanami Shoten bis heute in hohen Auflagenzahlen erscheint. In Anbetracht dieser Sonderstellung zollten ihm die darauffolgenden Übersetzenden sowohl durch paratextuelle Erwähnungen als auch durch eine Orientierung am vielfach durch ihn definierten Übersetzungskonsens Respekt. Zu vergleichbarem Ruhm wie Takahashi und Satō innerhalb der Thomas Mann-Forschung brachte es Saneyoshi jedoch nicht nur aufgrund seines relativ frühen Todes nicht, sondern auch deswegen, weil sein Ansehen hauptsächlich auf den Übersetzungen zweier relativ kurzer Erzählungen basierte.

Von Saneyoshi, Takahashi, Satō sowie von allen übrigen Übersetzenden grenzte sich Takeyama Michio insofern ab, als er zwar ebenfalls als Oberschullehrer im alten Bildungssystem, also in einem kyōyōshugi-geprägten Umfeld tätig war, sich aber zugleich erfolgreich als literarischer Autor etablieren konnte. Infolgedessen scheinen mit Takeyama, obwohl zumindest Takahashi und Satō ihn persönlich gekannt haben dürften, keine akademischen Kooperationen möglich gewesen zu sein. Umso bemerkenswerter ist es daher, dass spätere Retranslations in der digital gestützten Analyse eine genetische Beeinflussung durch Takeyama erkennen ließen, sodass sein Übersetzungstext als (formalstilistisches) Bindeglied zwischen vor- und nachkriegszeitlicher japanischer Tonio Kröger-Übersetzung identifiziert werden konnte. Auf Textebene war Takeyama dementsprechend hochgradig einflussreich, als Übersetzerpersönlichkeit hingegen nicht.

Eine noch klarer als solche erkennbare Außenseiterposition innerhalb der ersten Übersetzergeneration hatte Ueda Toshirō inne, der seine Tonio Kröger-Retranslation erst gegen Ende seiner akademischen Laufbahn beim Lehrbuchverlag Ōbunsha publizierte und sich hierbei an Vorstellungen einer kyōyōshugi-basierten hochliterarischen Sprachdidaktik orientierte. Dafür, dass Ueda kaum an akademischer Abgrenzung und Profilierung gelegen war, spricht zudem die konservativ-konsensnahe Charakteristik seiner Tonio Kröger-Retranslation.

7.1.2 Zweite Teilgruppe: Die frühzeitig Ausgeschiedenen

Auf die überwiegend prominenten Mitglieder der ersten Teilgruppe folgten mit Mukasa Takeo und Toyonaga Yoshiyuki zwei Tonio Kröger-Übersetzer, deren Spur sich nach Ende des Zweiten Weltkriegs verlor. Beide sind also hinsichtlich der äußeren Übersetzungsgeschichte als Außenseiter zu bezeichnen, obwohl insbesondere Toyonagas akademische Karriere in unmittelbarer Nähe zur ersten Teilgruppe begonnen haben könnte. Da dem jedoch ein jähes Ende beschieden gewesen zu sein scheint, bilden sie eine zweite Teilgruppe der frühzeitig ausgeschiedenen Übersetzer.

In Hinblick auf die innere Übersetzungsgeschichte konnte vor diesem Hintergrund eine Abgrenzung Mukasa Takeos (1928) von der im Vorjahr erschienenen Erstübersetzung Saneyoshis festgestellt werden. Zudem wurden genetische Einflussbeziehungen zu Toyonaga (1940), Takahashi (1967 [1949]), Morikawa (1966.5) und Maruko (1990) offengelegt. Anzunehmen ist daher, dass Mukasa zwar beim breiteren Publikum, nicht aber innerhalb der Übersetzungs- und Forschungsgemeinschaft in Vergessenheit geraten war. Dass Toyonaga, Takahashi, Morikawa und Maruko Mukasas Übersetzungstext zwar konsultiert haben dürften, explizite Bekenntnisse hierzu jedoch vermieden, könnte durch Mukasas mutmaßlich linke politische Orientierung bedingt gewesen sein, die aus dem Vorwort seiner Tonio Kröger-Retranslation und aus seinen weiteren Übersetzungsaktivitäten hervorgeht. Vor diesem Hintergrund ist eine institutionelle Anbindung Mukasas an die ebenfalls politisch links ausgerichtete Fachgermanistik der Kaiserlichen Universität Kyōto denkbar, was ihn ebenfalls vom an der Kaiserlichen Universität Tōkyō verorteten inneren Kreis um Takahashi Yoshitaka und Satō Kōichi distanziert hätte.

Auch Toyonaga Yoshiyukis Spur verliert sich nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges; im Unterschied zu Mukasa, der nur zwei Erzählungen Manns übersetzte, sind für Toyonaga aber eindeutigere akademische Ambitionen erwiesen: Nachdem er 1939 seine erste Übersetzung überhaupt publiziert hatte, wurde Toyonaga bereits 1940 im Kontext der Mikasa-Gesamtausgabe mit mehreren Thomas Mann-Übersetzungen betraut. Dies rückt ihn in die Nähe Satōs, der 1936 seinen Abschluss am germanistischen Institut der Kaiserlichen Universität Tōkyō erworben hatte und mit einer Übersetzung des Romans Die Geschichten Jakobs ebenfalls einen Beitrag zur Mikasa-Gesamtausgabe leistete (Kobayashi 1976: 29); auch an einer bei Mikasa verlegten Hesse-Gesamtausgabe waren sowohl Toyonaga als auch Satō beteiligt. Genau wie Satō dürfte folglich auch Toyonaga ein aufstrebender Junggermanist mit vielversprechenden Karriereaussichten gewesen sein, sodass das abrupte Ende seiner Publikationsaktivitäten im Jahr 1943 umso mysteriöser ist. Falls Toyonaga tatsächlich zu den japanischen Kriegstoten gehörte, wäre es in Anbetracht eines solchen tragischen Schicksals einigermaßen erstaunlich, dass ihn keiner seiner damaligen Kollegen später erwähnt haben sollte, zumal die innere Übersetzungsgeschichte auf eine Konsultation der Toyonaga-Retranslation durch spätere Übersetzende hindeutet. Demzufolge wurde die Toyonaga-Retranslation ebenso wie diejenige Mukasas zwar teilweise berücksichtigt; die frühzeitig aus dem akademischen Karrierewettstreit ausgeschiedenen Übersetzerpersönlichkeiten Toyonaga Yoshiyuki und Mukasa Takeo verschwanden allerdings von der Landkarte der äußeren Übersetzungsgeschichte.

7.1.3 Dritte Teilgruppe: Die Tōdai-Germanistik als Nachfolgegeneration

Im Unterschied zu den frühzeitig Ausgeschiedenen bildete sich um Fukuda Hirotoshi, Morikawa Toshio und Maruko Shūhei eine dritte Teilgruppe, die den Anschluss an die germanistische kyōyōshugi-Elite suchte. Bedingt war dies dadurch, dass Fukuda, Morikawa und Maruko alle am germanistischen Institut der Universität Tōkyō studierten, also der Nachfolgeinstitution derjenigen Fachgermanistik, die die erste Teilgruppe hervorgebracht hatte. Deswegen standen alle drei in direktem Kontakt zum damals noch dort lehrenden Satō Kōichi, wobei insbesondere Morikawa und Maruko diese Vernetzung nutzen konnten, um in die 1972 von Takahashi und Satō herausgegebene Shinchōsha-Gesamtausgabe aufgenommen zu werden. Morikawas Tonio Kröger-Retranslation ist dementsprechend durch ein Vermitteln zwischen traditionellen Konsensübersetzungen und eigenen Abgrenzungsversuchen charakterisiert, das Morikawa zur Etablierung als Thomas Mann-Forscher und -Übersetzer verhalf. Dagegen dürfte Maruko Shūheis erst 1990 publizierte Tonio Kröger-Übersetzung, die in der Basisklassifikation zwar zunächst der Übersetzungsperipherie zugeordnet, dann aber als konservativ-konsensnah eingestuft wurde, zu Marukos wissenschaftlicher Profilierung deutlich weniger beigetragen haben als dessen vorherige Übersetzungspublikationen. Während sich Morikawas beim kleinen Fachverlag Sanshūsha erschienene Tonio Kröger-Retranslation allerdings an ein vorwiegend akademisches Publikum richtete, konnte Maruko seine Retranslation bei Shūeisha, also demselben einflussreichen Verlag publizieren, bei dem ein knappes Vierteljahrhundert zuvor auch die Tonio Kröger-Übersetzung seines Mentors Satō erschienen war.

Von den erfolgreichen Satō-Schülern Morikawa und Maruko etwas abgegrenzt ist Fukuda Hirotoshi, der sich trotz einer ähnlich begonnenen akademischen Laufbahn nach zwei Thomas Mann-Übersetzungen aus der kyōyōshugi-affinen Fachgermanistik zurückzog. Seine Tonio Kröger-Retranslation ermöglicht diesbezüglich allenfalls dahingehend Rückschlüsse, dass Fukuda mit der Veröffentlichung des Textes bei Chūōkōronsha ein nach wie vor kyōyōshugi-affines Publikum erreichen, sich aber dennoch teilweise gegenüber der bisherigen Übersetzungstradition distinguieren wollte; die so erzielte Resonanz hielt sich in Grenzen.

Neben Morikawa, Maruko und Fukuda dürfte zur dritten Gruppe auch Nojima Masanari gehört haben, der durch gemeinsame Veröffentlichungen ebenfalls mit der Tōdai-Germanistik assoziiert war. Dies lässt sich hinsichtlich der inneren Übersetzungsgeschichte insofern bestätigen, als sich Nojimas Tonio Kröger-Retranslation u. a. schwerpunktmäßig an Satō, Morikawa und Fukuda, also an Angehörigen der Tōdai-Germanistik orientiert. Veröffentlichen konnte Nojima seine Retranslation in mehreren Ausgaben bei Kōdansha, also einem Reichweite durch Massentauglichkeit garantierenden Verlag.

7.1.4 Vierte Teilgruppe: Satelliten der Tōdai-Germanistik

Trotz fließender Übergänge zwischen der dritten und der vierten Teilgruppe lassen sich charakteristische Unterschiede feststellen zwischen den Tōdai-Germanisten und den nur mittelbar hiermit assoziierten Tonio Kröger-Übersetzern Asai Masao und Kataoka Keiji, deren Thomas Mann-Retranslations Bestandteil diversifizierter Übersetzungsportfolios waren. Asai Masao hatte ebenso wie die Mitglieder der ersten Teilgruppe die Institutionen des alten japanischen Bildungssystems durchlaufen, erwarb seinen Abschluss aber nicht am germanistischen Institut der Kaiserlichen Universität Tōkyō, sondern an der ebenso namhaften Waseda-Universität, wo er es infolgedessen bis zur Professur brachte. Affiliationsbedingt war er so von den Tōdai-Germanisten distanziert und konnte sich, obwohl ein Kontakt zu Saneyoshi Hayao erwiesen ist, nur geringe Hoffnungen auf eine Profilierung in der durch die Tōdai-Germanistik dominierten Thomas Mann-Forschung machen. Dementsprechend konzentrierte sich Asai in Folge seines Aufstiegs zur Professur auf diverse Übersetzungsprojekte mit und ohne Thomas Mann-Bezug, die zur Sicherung seiner bereits erreichten Position beigetragen haben dürften. Diesbezüglich haben auch die auf die innere Übersetzungsgeschichte bezogenen Analyseergebnisse gezeigt, dass sich Asai (1955) teils an Saneyoshis Erstübersetzung orientiert und teils innovative Übersetzungsvarianten definiert, die auf Textebene insbesondere Satō (1966.5 [1963]) beeinflusst haben – ohne dass Letzteres je explizit thematisiert worden wäre.

Ebenso von der Tōdai-Germanistik abgegrenzt war auch Kataoka Keiji, der seinen Abschluss zwar an der Universität Tōkyō, aber im Bereich Kunstgeschichte erworben hatte. Dass Kataoka nach dem Abschluss zunächst ausschließlich als Übersetzer und Essayist tätig war, grenzt ihn von den Fachgermanisten der ersten und dritten Teilgruppe insoweit ab, als seine kulturtheoretischen Publikationen nur z. T. germanistischen Forschungsinteressen entsprachen. Dass Kataoka dennoch infolge seiner Tonio Kröger-Retranslation bzw. im fortgeschrittenen Alter von 55 Jahren eine Professur antrat, nachdem er zuvor an einer Nachhilfeschule und an zwei Universitäten gelehrt hatte, legt nahe, dass er sich von der Tonio Kröger-Übersetzung eine akademische Profilschärfung versprach. Dem entspricht die Charakteristik seines Tonio Kröger insofern, als sich dieser Text einerseits durchaus an der kanonisierten Erstübersetzung orientiert, andererseits aber auch möglicherweise durch seine Essayistik sowie teils durch ältere Übersetzungstexte beeinflusste Abgrenzungsversuche beinhaltet.

Verfestigt wurde der institutionelle Außenseiterstatus Asais und Kataokas auch dadurch, dass ihre Tonio Kröger-Retranslations bei kleinen Verlagen mit begrenzter Reichweite erschienen sind. Keinem von beiden ging es also realistischerweise darum, den Thomas Mann-Koryphäen Takahashi und Satō ihren Rang streitig zu machen, sondern darum, das eigene Übersetzungsportfolio durch eine Thomas Mann-Übersetzung und die entsprechenden kyōyōshugi-Assoziationen attraktiver zu gestalten.

7.1.5 Fünfte Teilgruppe: Die Neuübersetzungen

Bis auf Mukasa, Toyonaga und Nojima, für die keine entsprechenden Informationen vorliegen, hatten alle bisher diskutierten Übersetzer früher oder später Professuren inne und gehörten damit ungeachtet der Anbindung an den inneren Kreis der (vorkriegszeitlichen) Tōdai-Germanistik zum nachhaltig durch das kyōyōshugi-Bildungsverständnis und die damit assoziierte machtgeschützte Innerlichkeit geprägten akademischen Establishment, das so als Einflusskontext zweiter Ordnung eingestuft werden kann. Den diesbezüglichen Paradigmenwechsel bringen die in den 2010er-Jahren entstandenen Neuübersetzungen Hirano Kyōkos und Asai Shōkos, die beide als Berufsübersetzerinnen eine gänzlich andere akademische Laufbahn als ihre Vorgänger durchlaufen haben. Dabei spiegeln die beiden Neuübersetzungen ihren grundsätzlich anderen Entstehungsrahmen auch auf Textebene insofern wider, als sich insbesondere Hiranos sowie teils auch Asais Retranslation durch Countertranslations gezielt von der bisherigen Übersetzungstradition abgrenzen. Dass Hirano im direkten Vergleich zu Asai noch konsequenter auf neuartige Übersetzungsvarianten setzt, ist auch darauf zurückzuführen, dass ihre Tonio Kröger-Version beim Literaturverlag Kawade Shobō Shinsha erschienen ist, der eine domestizierende, am japanischsprachigen Zielpublikum orientierte Übersetzung erwartete. Demgegenüber war Asai Shōkos Retranslation als Teil einer Serie von Neuübersetzungen hochliterarischer Klassiker implizit dazu angehalten, zwischen einer den Status der Neuübersetzung rechtfertigenden Abgrenzung einerseits und andererseits dem traditionellen Übersetzungskonsens, auf den sich der Klassikerstatus begründet, zu vermitteln.

Gemeinsam haben die beiden Neuübersetzungen jedoch, dass die in ihnen realisierte Übersetzungsinnovation – bedingt durch generell andere Erwartungen an weibliches Übersetzen – schwerpunktmäßig auf Verständnissicherung ausgerichtet ist. Diese Abkehr von elitären, die zielsprachliche Verständlichkeit von Übersetzungstexten bewusst hintenanstellenden kyōyōshugi-Ansprüchen entspricht globalen Trends eines standardisierten, vereinfachenden Übersetzens (Toury 2012: 303–304; Koller 2011: 120, Kenny 2011a: 61). Daneben ist die den Neuübersetzungen entgegengebrachte Erwartungshaltung insofern eine andere als bei den älteren Texten, als sowohl Hirano als auch Asai im Unterschied zur Mehrzahl ihrer Vorgänger weitgehend unabhängig vom die äußere Tonio Kröger-Übersetzungsgeschichte prägenden „inneren Kreis“ um Takahashi und Satō agiert haben. Doch obwohl dies beträchtliche Entwicklungs- und Gestaltungsräume eröffnet, konnte in der Analyse nach wie vor eine genetische Beeinflussung durch ältere Übersetzungstexte nachgewiesen werden. Weder in Hinblick auf die Textgestaltung als solche noch in Hinblick auf die Vermarktung der Neuübersetzungen agierten Hirano und Asai also losgelöst von der wissenschaftlich-akademischen Tonio Kröger-Übersetzungstradition.

Zudem hatten beide Übersetzerinnen zum Veröffentlichungszeitpunkt ihrer jeweiligen Tonio Kröger-Projekte bereits erfolgreich anderweitige Übersetzungstexte publiziert und waren hierfür mit renommierten Übersetzungspreisen ausgezeichnet worden. Dementsprechend mussten sich Hirano und Asai die Glaubwürdigkeit, die zuvor insbesondere den Tōdai-Germanisten aufgrund ihrer Verdienste im Wissenschaftsbetrieb zugeschrieben wurde, anhand ihres Übersetzungsportfolios erarbeiten. Zugleich zeigt sich so, dass auch die Tonio Kröger-Neuübersetzungen Hirano Kyōkos und Asai Shōkos auf eine Form der Profilierung abzielten: Die beiden Übersetzerinnen suchten zwar nicht den Anschluss an die akademische Übersetzungstradition, profitierten hinsichtlich ihrer Positionierung im japanischen Literaturbetrieb aber durchaus vom akademischen Renommee einer Tonio Kröger-Übersetzung.

7.1.6 Die drei Generationen der Tonio Kröger-Übersetzenden

Vor diesem Hintergrund lassen sich drei Generationen der japanischen Tonio Kröger-Übersetzenden identifizieren. Die erste Generation ist um die Jahrhundertwende geboren; aus ihr gingen zentrale Akteure der Thomas Mann-Übersetzung und -Forschung hervor, die im alten Bildungssystem der Vorkriegszeit eine kyōyōshugi-affine akademische Sozialisierung erfahren hatten. Dagegen sind die Angehörigen der zweiten Generation mehrheitlich in den 1920er- und 1930er-Jahren geboren; sie traten entweder die direkte Nachfolge der ersten Generation an und profitierten indirekt von deren Renommee oder suchten vergeblich den Anschluss an diese. Die dritte Generation umfasst mit Hirano Kyōko und Asai Shōko zwei Übersetzerinnen, zwischen denen ein Altersunterschied von 33 Jahren besteht; dennoch sind sie deutlich jünger als sämtliche ihrer Vorgänger und mit ihrem jeweiligen Tätigkeitsschwerpunkt erstmalig außerhalb des Wissenschaftsbetriebs verortet. Im Verbund mit einer gewandelten Erwartungshaltung gegenüber Übersetzerinnen und Übersetzungstexten hat dies v. a. im Falle Hiranos eine vergleichsweise radikale Übersetzungsinnovation ermöglicht, die als Reaktion auf einen Bedeutungsverlust sowohl Thomas Manns als auch des kyōyōshugi-Bildungsideals zu deuten ist. Eine mit der Thomas Mann-Popularisierung der unmittelbaren Nachkriegszeit vergleichbare Öffnung zum Massenpublikum stellte aufgrund des allgemeinen Rückzugs der Rezeptionsaktivitäten in die Fachgermanistik allerdings keine realistische Perspektive dar.

Demzufolge sind Hiranos und Asais Neuübersetzungen einerseits nach wie vor zu sehr der akademischen Übersetzungstradition verpflichtet, als dass sie für das junge literarische Japan ohne Anbindung an die Fachgermanistik attraktiv wären; andererseits weichen sie zu sehr von den in der fachgermanistischen Tradition immer noch wirksamen kyōyōshugi-Übersetzungsnormen der formalen Äquivalenz, der Verfremdung der Zielsprache und des Primats der Zeitlichkeit (jidaisei; Imai 2013: 2) ab, um eine ähnliche Resonanz wie die kanonisierten Tonio Kröger-Übersetzungsklassiker Saneyoshis und Takahashis zu erzielen. Relevant ist dieser Vergleich insofern, als sämtliche Tonio Kröger-Übersetzungstexte im Verlauf der knapp 100-jährigen Übersetzungsgeschichte aktive Retranslations (Pym 1998: 82) gewesen sind: Insbesondere die Erstübersetzung Saneyoshi Hayaos sowie die Retranslation Takahashi Yoshitakas wurden durchgängig neu aufgelegt und standen damit in Dauerkonkurrenz zu allen darauffolgenden Tonio Kröger-Übersetzungstexten, wodurch es zu den hier untersuchten intensiven Wechselwirkungen kommen konnte.

7.2 Übersetzungskultur zwischen Unterordnungsgestus und Machtstrategie

Diese generationale Einteilung veranschaulicht den im digital gestützten Algorithmic Criticism herausgearbeiteten Zusammenhang zwischen der institutionellen Anbindung der Übersetzenden und der jeweiligen Übersetzungscharakteristik, also zwischen den akademischen Macht- und Einflussstrukturen der äußeren Übersetzungsgeschichte und den relationalen Charakteristiken der inneren Übersetzungsgeschichte. So konnten die beiden innovativen Neuübersetzungen nur außerhalb des Einflussbereichs der alten, kyōyōshugi-geprägten Tōdai-Fachgermanistik entstehen, wogegen sich die in dieser machtgeschützten Innerlichkeit und der damit assoziierten Übersetzungskultur entstandenen Texte entweder gänzlich an einem konservativen Übersetzungskonsens orientierten oder zwischen diesem und individueller Abgrenzung vermittelten. Der durch Implementierung digitaler Methoden ermöglichte Dialog von äußerer und innerer Übersetzungsgeschichte veranschaulicht folglich die akademische Quasi-Institutionalisierung der Tonio Kröger- bzw. Thomas Mann-Übersetzung in der japanischen Fachgermanistik und damit die Teilüberlappung von textlichen und akademischen Einflussstrukturen, die in beiden Fällen durch latente kulturheteronome Auffassungen geprägt sind.

Unterschiede zwischen der inneren und äußeren Tonio Kröger-Übersetzungsgeschichte betreffen dagegen die jeweilige interne Strukturierung der Kerngruppe (innere Übersetzungsgeschichte) und des inneren Kreises (äußere Übersetzungsgeschichte): Beide verhalten sich weitgehend deckungsgleich; das jeweilige Zentrum unterscheidet sich aber je nachdem, ob die innere Übersetzungsgeschichte (Takeyama und eventuell Saneyoshi im Zentrum der Kerngruppe) oder die äußere Übersetzungsgeschichte (Takahashi und Satō im Zentrum des inneren Kreises) den Betrachtungsschwerpunkt bildet. Demzufolge beeinflussen sich äußere und innere Übersetzungsgeschichte gegenseitig, sind aber nicht identisch: Die innere Übersetzungsgeschichte spielte sich tendenziell „hinter den Kulissen“ der akademisch quasi-institutionalisierten japanischen Thomas Mann-Forschung ab. Bezüglich dieser äußeren Übersetzungsgeschichte war der Publikationsrahmen im Qualifikations- und Profilierungszusammenhang mindestens ebenso bedeutsam wie die Textgestaltung. Die japanische Übersetzungskultur im kyōyōshugi-geprägten Umfeld des frühen und mittleren 20. Jahrhunderts zielte folglich auf eine äußerliche Repräsentativität ab, die auch auf Textebene – in Form einer Orientierung am formaläquivalenten, verfremdenden Übersetzungskonsens – die kulturheteronome Unterordnung gegenüber dem westlichen Ausland und seinen literarischen Repräsentanten voraussetzte.

Hierbei spielten Anachronismen eine wesentliche Rolle: Während kyōyōshugi ein aus dem vorherigen Jahrhundert stammendes Bildungsideal aufrechtzuerhalten suchte, war die japanische Auseinandersetzung mit Thomas Mann gleichermaßen durch einen latenten Frühwerkfokus geprägt. Dementsprechend zeichnen sich die äußere und die innere Tonio Kröger-Übersetzungsgeschichte (z. B. in Hinblick auf die Orientierung an einem überwiegend bereits Ende der 1920er-Jahre etablierten Übersetzungskonsens) durch anachronistische Tendenzen aus, die mit dem Eintritt ins 21. Jahrhundert nur teilweise überwunden wurden. Im relationalen Close Reading ließ sich diesbezüglich nachvollziehen, dass sich der durch die Erstübersetzung (1927) etablierte Übersetzungskonsens an einem formalen Äquivalenzgedanken orientiert, der die Kanonisierung dieses Textes entscheidend bedingt (Kita/Tsuji 1980: 66) und so auch spätere Abgrenzungsversuche erschwert hat.

Ein als Übersetzungstradition und -konsens normativ bzw. kanonisierend festgeschriebener formaler Äquivalenzanspruch, der die Verfremdung zielsprachlicher Normen sowie die hierdurch beeinträchtigte Verständlichkeit im elitären kyōyōshugi-Umfeld als literarisches Qualitätsmerkmal befürwortet, impliziert dabei eine ästhetische Überlegenheit des Ausgangstextes und damit auch der westlichen Ausgangssprache. Im Unterschied zu den literarischen Übersetzungen der Jahrhundertwende bedingte die daraus resultierende Verfremdung japanischer Sprachnormen allerdings keinen gesamtgesellschaftlichen Sprachwandel, sondern blieb als eine Art Fachsprache den akademischen Eliten vorbehalten, die sich während der Vor- und und unmittelbaren Nachkriegszeit formiert hatten. Übereinstimmend mit der anachronistischen Verfasstheit sowohl des kyōyōshugi-Bildungsideals als auch der japanischen Thomas Mann-Rezeption war also auch dieser spezifische Übersetzungsduktus ein anachronistisches sprachliches Zugeständnis an einen idealisierten westlichen Bildungskanon des 19. Jahrhunderts. In den verkrusteten akademischen Strukturen der japanischen Fachgermanistik blieben diejenigen kulturheteronomen Selbstauffassungen erhalten, die Japans an westlichen Vorbildern orientierte zivilisatorische Aufholjagd im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert charakterisiert hatten. Wie grundlegend das Selbstverständnis der japanischen Fachgermanistik hierdurch geprägt ist, verdeutlicht sich daran, dass eine Teilemanzipation, wie sie Hirano Kyōko und Asai Shōko geleistet haben, nicht direkt aus den eigenen Reihen, sondern nur aus der außerakademischen Berufsübersetzung kommen konnte. Für die Angehörigen der am vorkriegszeitlichen Modell orientierten japanischen Fachgermanistik stand hingegen zu viel auf dem Spiel, als dass man die eigene, mühsam erkämpfte Position durch übersetzerische Alleingänge zu gefährden bereit gewesen wäre.

In Anbetracht einer solchen Verflechtung von gesellschaftlicher Macht und literaturbezogener Forschungs- bzw. Übersetzungspraxis erschließt sich nicht nur die zeitweilige NS-Kompromittierung der japanischen Fachgermanistik; auch verdeutlicht das Beispiel der japanischen Tonio Kröger-Retranslations, dass sich das vergleichsweise statische, selbst durch die historische Zäsur der japanischen Kriegsniederlage zunächst nicht ins Wanken geratene Machtgefüge des kyōyōshugi-geprägten akademischen Establishments auch in Bezug auf die innere Übersetzungsgeschichte durch einen zunehmend anachronistischen Übersetzungskonsens über Jahrzehnte hinweg selbst reproduziert hat. Im Zuge dieser Selbstreproduktion fungierte neben den Verlagen die institutionelle Anbindung v. a. an das kyōyōshugi-affine germanistische Institut der (Kaiserlichen) Universität Tōkyō als ein die innere Übersetzungsgeschichte direkt beeinflussender Kontext erster Ordnung, während das kyōyōshugi-Bildungsideal als Kontext zweiter Ordnung wirkte (Jones 2011: 155–156; Milroy 1987: 46–47). Ein demgegenüber nochmals abstrakterer Kontext dritter Ordnung bestand in der auch kyōyōshugi ursächlich bedingenden japanischen Selbstverortung gegenüber dem Westen, die bspw. im durch „ameisenartigen Fleiß“ charakterisierten Selbstverständnis der Thomas Mann-Übersetzer resultierte (Takahashi 2010: 263). Die Wahrnehmung des westlichen Auslandes wirkte sich damit im Sinne der komparatistischen Imagologie direkt auf die eigenen Übersetzungsschwerpunkte aus und hatte die Orientierung an formalen Äquivalenzvorstellungen und eine Bereitschaft zum verfremdenden Übersetzen zur Folge. In Hinblick auf alle drei Kontexttypen konnte zudem im 20. Jahrhundert ein grundlegender historischer Wandel festgestellt werden. Diesen brachte allerdings weniger die Zäsur des Zweiten Weltkriegs, die sich kaum auf die personelle Aufstellung der kyōyōshugi-affinen japanischen Fachgermanistik auswirkte. Tiefgreifendere Konsequenzen hatte stattdessen der allmähliche Bedeutungsverlust des kyōyōshugi-Bildungsideals in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Vor diesem Hintergrund dauerte es bis in die 2010er-Jahre, bis von der in einer machtgeschützten Innerlichkeit konservierten wissenschaftlichen Übersetzungstradition zumindest teilweise emanzipierte Tonio Kröger-Neuübersetzungen entstehen konnten.

Zusammenfassend lassen sich die eingangs aufgeworfenen Forschungsfragen folglich dahingehend beantworten, dass sich gesellschaftliche Einfluss- und Machtstrukturen in der Tat nicht nur auf die äußere, sondern auch auf die innere Übersetzungsgeschichte der japanischen Tonio Kröger-Retranslation ausgewirkt haben. Wer wen wie übersetzen und die Ergebnisse in welchem Rahmen publizieren durfte, erlaubt wichtige Rückschlüsse darauf, wie sich das moderne Japan bis weit ins 20. Jahrhundert in seinem Verhältnis zum westlichen Ausland selbst wahrgenommen hat: Als eine Horde ameisenartiger, emsiger Männchen, die einem Literaturnobelpreisträger als monumentalem westlichem Kulturrepräsentanten die ihm gebührende Ehre erwies, hierbei aber gleichzeitig in machtgeschützter Innerlichkeit die elitäre Abgrenzung von Frauen und Nichtakademikern zelebrierte, sich also paradoxerweise durch einen literarisch-akademischen Unterordnungsgestus über Ihresgleichen erhob. Dies veranschaulicht die aus dem übersetzerischen Kulturtransfer resultierenden (Deutungs-)Machtpotenziale: Gleich zwei Generationen japanischer Fachgermanisten nutzten die vermittelnde Auseinandersetzung mit Thomas Mann, um sich innergesellschaftlich zu profilieren, innerhalb akademischer Machtstrukturen vorteilhafte Positionen zu besetzen und das so entstandene Machtgefüge durch weitere Übersetzungen sowie durch die Definition spezifischer Kanonisierungskriterien für literarische Übersetzungstexte (wie Formaläquivalenz und Berücksichtigung der Zeitlichkeit/jidaisei) zu konsolidieren. Gerade das Kriterium der Zeitlichkeit bzw. der zeitlichen Kontextgebundenheit scheint hierbei insofern darauf ausgerichtet zu sein, eine Übersetzungsinnovation durch mögliche Nachfolger*innen präventiv abzuwerten, als eine formaläquivalent-verfremdende Übersetzungsstilistik wie insbesondere diejenige Saneyoshi Hayaos als synonym zum stilistischen Duktus des Ausgangstextes aufgefasst wurde. Jede Abgrenzung von der durch Saneyoshi definierten Übersetzungstradition ließ sich dementsprechend als Abweichung vom Ausgangstext deuten.

Die so hergestellte Assoziation mit Thomas Mann wirkte sich umso günstiger aus, je direkter sie war. Während Übersetzungen die zentrale Voraussetzung hierfür waren, nutzte insbesondere der ehrgeizige Tonio Kröger-Übersetzer Takahashi Yoshitaka den persönlichen Briefkontakt zu Mann, um in der öffentlichen Wahrnehmung direkt mit dem Literaturnobelpreisträger in Verbindung gebracht zu werden. Mann selbst trug außerdem durch seine aktive Kontaktaufnahme zum japanischen Publikum maßgeblich zum Erfolg dieser fachgermanistischen Profilierungsanstrengungen bei.

Vor diesem Hintergrund waren die Orientierung an Konsensübersetzungen und Gesten der Ehrerbietung gegenüber prominenten Thomas Mann-Übersetzern nicht nur durch die im kyōyōshugi-Umfeld verbreitete, konfuzianisch beeinflusste Auffassung einer Meister-Schüler-Beziehung geprägt. Sie gingen auf eine gemeinsame Mitwisserschaft am exklusiven Bildungsgut Thomas Mann zurück, denn ein Glaubwürdigkeitsverlust drohte japanischen Thomas Mann-Spezialisten wenn, dann durch die eigene Fachgermanistik. Da Hirano Kyōko und Asai Shōko außerhalb dieser aus der Vorkriegszeit stammenden akademischen Machtstrukturen agierten, konnten sie sich zumindest teilweise von den Zwängen einer solchen machtkonsolidierenden kulturellen Unterordnung freischreiben. Ausgehend hiervon wurde am Beispiel einer digital gestützten Analyse der japanischen Tonio Kröger-Retranslations nachgewiesen, dass literarische Übersetzungstexte im gesamtgesellschaftlichen Kontext nicht nur durch Macht- und Einflussstrukturen geprägt sind, sondern diese – sowohl in Hinblick auf die äußere als auch auf die innere Übersetzungsgeschichte – aktiv reproduzieren. Zugleich wurden im Topic Modeling jedoch erstmalig genetische Einflussbeziehungen einer ausschließlich inneren Übersetzungsgeschichte freigelegt, die weniger auf gesellschaftliche Machtinteressen als auf literarischen Gestaltungswillen zurückzuführen sind.

7.3 Methodenreflexion und Forschungsperspektiven

Ein weiterer im Eingangskapitel formulierter Anspruch dieser Arbeit wurde insofern erfüllt, als auf Grundlage digitaler Themenmodelle ein adäquates Analyseinstrument für den digital gestützten Vergleich literarischer Übersetzungstexte entwickelt wurde. Anhand dieses Analyseinstruments konnte ein vierschrittiger Algorithmic Criticism umgesetzt und so – nicht nur im Kontext der Japanwissenschaften oder der Thomas Mann-Forschung, sondern im Zusammenhang der Übersetzungswissenschaft sowie der digitalen Geisteswissenschaft überhaupt – erstmalig ein umfassender Dialog zwischen äußerer und innerer Übersetzungsgeschichte hergestellt werden. Möglich war dies dadurch, dass der auf digitalen Themenmodellen basierende Algorithmic Criticism unterschiedliche, von der Ebene der Gesamttexte bis hin zu einzelnen Tokens und ihren Übersetzungsvarianten reichende Skalierungsebenen berücksichtigt und so eine hermeneutische Argumentationsstruktur zwischen dem Textganzen und seinen Bestandteilen bzw. zwischen allgemeinen Übersetzungsschwerpunkten und ihrer Umsetzung im Einzelfall erlaubt. Hierbei hat das in den ersten drei Analyseschritten implementierte digitale Distant Reading die bisherigen Erkenntnisse zur äußeren Tonio Kröger-Übersetzungsgeschichte nicht nur bestätigt, sondern zudem bisher verborgene Einflussbeziehungen der inneren Übersetzungsgeschichte aufgedeckt.

Mit dem Blended Reading konnte darüber hinaus die Skalierungsebene der äußeren Übersetzungsgeschichte in Form von Einflusskontexten erster, zweiter und dritter Ordnung in den digital gestützten Übersetzungsvergleich integriert werden. Die Tatsache, dass sich der Wechsel zwischen diesen Skalierungsebenen, zwischen unterschiedlichen Analysemodi und zwischen Faktoren der inneren und der äußeren Übersetzungsgeschichte keineswegs nahtlos gestaltet, wurde im Rückgriff auf das Konzept des Scalable Reading problematisiert und reflektiert: Faktoren der äußeren Übersetzungsgeschichte könnten demzufolge zwar bestimmte Textcharakteristiken bedingt haben; dergleichen kann aber lediglich als Wahrscheinlichkeit und nicht als historische Tatsache angenommen werden. Auch das Ineinandergreifen der vier im Rahmen dieser Arbeit entwickelten Analyseschritte ist zwar durch die der Methode Topic Modeling inhärenten Skalierungsebenen geleitet, doch hat z. B. der in den Abschnitten 5.4.4.7 und 5.4.7 dargelegte Abgleich zwischen quantitativen und qualitativen Ergebnissen gezeigt, dass auf allen Stufen der Analyse zwischen solchen Ergebnissen, die sich v. a. auf stilometrische Texteigenschaften, Funktionsvokabular und so mit erhöhter Wahrscheinlichkeit auf typologische Ähnlichkeitsrelationen beziehen, und solchen, die im Sinne der Übersetzungsähnlichkeit i. e. S. auch als genetische Einflussbeziehungen qualitativ interpretierbar sind, differenziert werden muss.

Zwischen dem Geflecht inoffizieller Einfluss- und Ähnlichkeitsbeziehungen und den im Kontext der äußeren Übersetzungsgeschichte auf einzelne prominente Übersetzerpersönlichkeiten bezogenen Fremdzuschreibungen hat sich infolgedessen eine Kluft aufgetan: Nicht jede innovative und intensiv rezipierte Tonio Kröger-Übersetzung garantierte automatisch die Anerkennung der Forschungsgemeinde und damit eine zentrale Stellung in der äußeren Übersetzungsgeschichte. Während z. B. die 1941 publizierte Tonio Kröger-Retranslation Takeyama Michios auf Textebene als Bindeglied zwischen vor- und nachkriegszeitlicher Tonio Kröger-Übersetzung fungiert und damit eine herausragende Stellung innehat, hat sie in der äußeren Tonio Kröger-Übersetzungsgeschichte – ebenso wie Takeyama selbst – nur eine untergeordnete Rolle gespielt; gleiches gilt für den Waseda-Germanisten Asai Masao und seine 1955 publizierte Retranslation. Diese Ergebnisse sind im Sinne des Scalable Reading insoweit zu präzisieren, als Takeyamas übersetzungsgeschichtliche Bindegliedsfunktion überwiegend durch Funktionsvokabular realisiert, also stilometrischer Natur ist und deswegen in den quantitativen Analyseschritten besonders deutlich hervortrat, wogegen sich Asai Masaos Übersetzungsinnovation in Form inhaltlich interpretierbarer genetischer Einflussbeziehungen zeigt und dementsprechend v. a. im relationalen Close Reading, also einem qualitativen Analyseschritt erkennbar geworden ist. Auch dies veranschaulicht, dass die aus der Analyse unterschiedlicher Skalierungsebenen hervorgegangenen Ergebnisse zwar zueinander in Beziehung gesetzt werden können, aber nicht zwingend derselben Argumentationslogik folgen: Takeyama Michios Retranslation ist ein übersetzungsgeschichtliches Bindeglied, weil sein Text die entsprechenden, quantitativ erzeugten Ähnlichkeitshierarchien mehrheitlich anführt; Asai Masaos Retranslation ist deswegen einflussreich, weil die darin enthaltenen Countertranslations in charakteristischer Weise z. B. auch bei Satō belegt sind. Auf der einen Seite steht also eine auf die Gesamttexte und ihre Beziehungen bezogene quantifizierende Logik, auf der anderen Seite die qualitative Logik besonders auffälliger Interpretationsbeispiele, die Indizien für die Rekonstruktion verborgener Einflussbeziehungen liefern.

Gleichzeitig verdeutlichten insbesondere die Analyseschritte mit qualitativer Schwerpunktsetzung, dass nicht jeder allgemein respektierte Übersetzende ausnahmslos herausragende Übersetzungstexte hervorgebracht hat, sodass bspw. Satō Kōichis Tonio Kröger-Retranslation generell eher derivativ ausfällt. Dass zwischen der eigentlichen Übersetzungstätigkeit und -rezeption einerseits und der akademischen Profilierung und Vernetzung andererseits also mitunter Welten lagen, ist insofern als weitere Parallele zu kyōyōshugi zu betrachten, als auch hier Literarizitäts- und Innerlichkeitsideale zwar ostentativ aufgebauscht wurden, akademisches Profilierungsdenken und Karriereopportunismus aber in nicht wenigen Fällen letztlich mehr galten.

Bemerkenswert ist außerdem, dass sowohl die digital umgesetzte quantitative Analyse als auch die qualitativen Analyseverfahren übereinstimmend eine Abgrenzung Hirano Kyōkos, Asai Shōkos und Mukasa Takeos von den übrigen Übersetzenden und Übersetzungstexten ergaben. Die in der Analyse festgestellte Differenzierung zwischen dem breiten Hauptstrom der akademisch institutionalisierten Kerngruppe und einer durch Hirano, Mukasa und Asai konstituierten Übersetzungsperipherie war also auch im digitalen Distant Reading evident, wurde dort jedoch in Hinblick auf genetische Einflussbeziehungen der Mukasa-Retranslation (1928) zu den Retranslations Toyonagas (1940), Takeyamas (1967 [1949]), Morikawas (1966.5) und Marukos (1990) teilweise relativiert. Auf diese Weise legte die digital gestützte Analyse der inneren Tonio Kröger-Übersetzungsgeschichte ein Geflecht der auf Textebene realisierten Einfluss- und Ähnlichkeitsbeziehungen frei, innerhalb dessen die Mukasa-Retranslation – im Unterschied zur äußeren Übersetzungsgeschichte – durchaus ihren Platz hat. Dementsprechend besteht eines der wesentlichen Erkenntnispotenziale des durch Themenmodelle realisierten Algorithmic Criticism in der Erschließung der inneren Übersetzungsgeschichte als einem Netzwerk verborgener Einflussbeziehungen, das wichtige Einblicke die tatsächliche Übersetzungspraxis jenseits von Repräsentations- und Profilierungsinteressen bietet.

Auch bezüglich der Konsequenz, mit der bestimmte Übersetzungsprioritäten auf Textebene realisiert sind, ermöglichte die digital gestützte Übersetzungsanalyse ein differenziertes Urteil: Weder übersetzte Saneyoshi Hayao ausnahmslos alle Übersetzungstokens wörtlich noch orientierten sich alle Übersetzenden der zweiten Generation an ihm noch meiden die beiden Neuübersetzungen jeglichen Anklang formalen Äquivalenzdenkens. Keiner der betrachteten Übersetzungstexte zeichnet sich also durch ein durchgängig konservatives oder durchgängig innovatives Übersetzen aus; vielmehr realisiert jeder Text eine spezifisch gewichtete Kombination unterschiedlicher Übersetzungsprioritäten. In diesem Zusammenhang ermöglicht die auf Themenmodellen basierende quantitative Analyse – im Unterschied zu den nur stichprobenartig realisierbaren Close Readings – durch Berücksichtigung sämtlicher Textbestandteile ein nuanciertes Verständnis der Variation von Übersetzungsschwerpunkten auf Textebene. Dies erweist sich dahingehend als anschlussfähig an den literarischen Stilbegriff, „dass Stil-Haben immer beides meint, kollektive Nachahmung und individuelle Distinktion“ (Weitin 2021: 55). Der kollektiven Nachahmung wurde im akademisch-institutionellen Kontext der japanischen Tonio Kröger-Retranslation oftmals mehr Gewicht beigemessen, während individuelle Distinktion eher dosiert zum Einsatz kam.

Die Gewichtung unterschiedlicher Übersetzungsprioritäten ist maßgeblich durch die äußere Übersetzungsgeschichte sowie durch aus dieser hervorgegangene normative Kanonisierungskriterien beeinflusst. Deshalb kann die durch die Retranslation Hypothesis suggerierte Qualitätsevolution (Berman 1990: 5; Chesterman 2014: 23) in Hinblick auf die japanische Tonio Kröger-Übersetzung nicht bestätigt werden: Geht man von den normativen Qualitätszuschreibungen der äußeren Übersetzungsgeschichte aus, dominieren die Übersetzungstexte Saneyoshi Hayaos von 1927 sowie die erstmals 1949 erschienene Retranslation Takahashi Yoshitakas das Feld der Tonio Kröger-Übersetzung. Legt man in diesem Zusammenhang die innerhalb von Japans fachgermanistisch dominierter Forschungsdiskussion geltenden, auf Formaläquivalenz abzielenden Qualitätsmaßstäbe zugrunde, müsste daher sogar von einem allmählichen Qualitätsverlust im Laufe der Übersetzungsgeschichte die Rede sein. Hinzu kommt, dass selbst dann, wenn Übersetzungsqualität mit normativ aufgeladenen Kriterien wie bspw. einem überwiegend verfremdenden oder einem überwiegend domestizierenden Zugang gleichgesetzt würde, aufgrund der in der relationalen Analyse festgestellten alternierenden Übersetzungscharakteristiken keine einheitlich auf ein spezifisches Qualitätsziel ausgerichtete Teleologie festgestellt werden kann. Als im Vergleich zur Retranslation Hypothesis weitaus angemessener erweist sich daher bspw. Gürçağlars Konzept der Retranslation als Kampf um interpretatorische Deutungshoheit (Gürçağlar 2011: 235) oder um akademische Profilierung, der durch gesamtgesellschaftlich wirksame Machtansprüche und Autoritätszuschreibungen bspw. in Hinblick auf Geschlechtsidentitäten geprägt ist. Dieser auch in Japan um Tonio Kröger geführte Deutungskampf verläuft keineswegs linear: Einerseits lassen bereits ältere Übersetzungstexte wie Takeyama Michios 1941 publizierte Retranslation domestizierende, sich vom verfremdenden Ansatz der Erstübersetzung abgrenzende Strategien erkennen und andererseits ist selbst Asai Shōkos jüngst erschienene Retranslation noch durch deutlich erkennbare Einflüsse älterer, verfremdender Übersetzungstexte charakterisiert.

Aus dem Abgleich der quantitativ und qualitativ generierten Analyseergebnisse im Algorithmic Criticism (bzw. im Scalable Reading) ist außerdem die Erkenntnis hervorgegangen, dass durch die quantitative Analyse in erster Linie stilistische Ähnlichkeitsbeziehungen erfasst werden, bezüglich derer die auf semantischen Äquivalenzvorstellungen basierende Übersetzungsähnlichkeit i. e. S. nur eine Teilmenge bildet. Ebenso wie im Topic Modeling keine Themen an sich, sondern nur diesen weitgehend entsprechende Wahrscheinlichkeitsverteilungen erfasst werden, bezieht sich demzufolge auch der digital gestützte Übersetzungsvergleich zunächst auf relationale Textcharakteristiken, die sich ähnlich, aber nicht deckungsgleich zur Übersetzungsähnlichkeit i. e. S. verhalten. Dies hat zur Folge, dass sich die Ergebnisse der quantitativen Übersetzungsanalyse keineswegs durchgängig intuitiv erschließen, sondern – im Bewusstsein der mit Scalable Reading einhergehenden argumentativen Fallstricke – unbedingt mit den Ergebnissen qualitativer Analyseverfahren abgeglichen werden müssen. Hierbei erweisen sie sich als anschlussfähig in Hinblick auf Rhodys Beobachtungen zu den für literaturwissenschaftliche Interpretationen besonders aufschlussreichen semantisch unklaren Topics (Rhody 2012: 31–33) und ermöglichen eine differenziertere Annäherung an das Phänomen einer somit unterschiedlich definierbaren Übersetzungsäquivalenz. Dies gilt insbesondere im Vergleich zu den bisher in der digitalen Übersetzungsforschung eingesetzten, sich ausschließlich auf wörtlich übereinstimmende Übersetzungsvarianten beziehenden Analyseverfahren. Dass die die quantitativen Ähnlichkeitsbeziehungen konstituierende stilistische bzw. stilometrische Ähnlichkeit für die ästhetische Charakteristik der Übersetzungstexte indessen keineswegs irrelevant ist, konnte insbesondere in Hinblick auf unterschiedliche übersetzerische Annäherungen an das Phänomen der freien indirekten Rede gezeigt werden, die sich in den quantitativ generierten Analyseergebnissen durch erhöhte Frequenzen für das Personalpronomen jibun, also durch ein sich nicht unmittelbar semantisch erschließendes Übersetzungscharakteristikum geäußert hatten.

Beobachtet wurde in diesem Zusammenhang ein partieller Bruch zwischen den in den ersten drei Analyseschritten betrachteten quantitativen Ähnlichkeitsrelationen und den relationalen Übersetzungscharakteristiken, die im vierten Analyseschritt quantitativ und qualitativ untersucht wurden. Auch dieser eingangs in Hinblick auf das Konzept des Scalable Reading bereits angedeutete Bruch kann auf die unterschiedlichen Analyseschwerpunkte (stilistische Ähnlichkeit vs. äquivalenzbasierte Übersetzungsähnlichkeit) zurückgeführt werden. Diesbezüglich wäre es sinnvoll, im Rahmen zukünftiger Projekte noch gezielter zu erkunden, bis zu welchem Grad die äquivalenzbasierte Übersetzungsähnlichkeit i. e. S. die Ergebnisse des quantitativen Distant Reading beeinflusst. Der Übersichtlichkeit halber nicht ausführlicher thematisiert werden konnten außerdem die in der relationalen Analyse für spezifische Absatzdokumente beobachteten Übersetzungscharakteristiken. Diesbezüglich wären von weiteren relationalen Close Readings Erkenntnisse dazu zu erwarten, inwiefern bestimmte Absatzdokumente generell eher konservativ oder eher innovativ übersetzt werden und ob sich dabei Zusammenhänge zwischen diesen unterschiedlichen Übersetzungsschwerpunkten und der inhaltlichen oder formalen Charakteristik der Textabsätze nachweisen lassen: Werden bspw. als übersetzerische Herausforderung wahrgenommene Textabsätze tendenziell konservativer, andere Textabsätze hingegen eher innovativ übersetzt? Und falls ja: Bedeutet das Vorhandensein eines schwer zu übersetzenden Textcharakteristikums, dass auch andere Charakteristiken des betreffenden Absatzes automatisch mit verstärkter Orientierung an vorherigen Konsensübersetzungen realisiert werden?

Trotz der nicht zu leugnenden Divergenzen zwischen unterschiedlichen Analysemodi und Skalierungsebenen ist jedoch von einer grundsätzlichen Anschlussfähigkeit zwischen den Ergebnissen der quantitativen Analyse und der qualitativen Interpretation einzelner Übersetzungstokens auszugehen. Dies wurde nicht nur in Bezug auf die oben erwähnten Retranslations der Übersetzungsperipherie, sondern auch in Bezug auf die im dritten Analyseschritt quantitativ untersuchten Termüberschneidungen auf Dokumentebene gezeigt: Sofern die entsprechenden Werte hoch waren, konnten im relationalen Close Reading für das betreffende Topic- bzw. Korporapaar im jeweiligen Absatzdokument Übersetzungsähnlichkeiten i. e. S. und sogar genetische Einflussbeziehungen festgestellt werden. Aus diesem Grund ist in Hinblick auf weitere Vergleichsanalysen zu erwägen, in der relationalen Analyse sowie im relationalen Close Reading eventuell nur Topicpaare zu berücksichtigen, bezüglich derer zuvor erhöhte Termüberschneidungswerte auf Absatzebene festgestellt wurden.

Hierbei stand, da bisher nur wenige Anwendungsbeispiele für eine anhand der ursprünglich für die Sozialwissenschaften entwickelten Themenmodelle umgesetzte literaturwissenschaftliche Forschung – und keine Beispiele für einen entsprechenden literarischen Übersetzungsvergleich – vorlagen, zu Beginn der Arbeit am hier vorgestellten Projekt noch keineswegs fest, in welchem Umfang sich die digitalen Themenmodelle für entsprechende Untersuchungen eignen würden. Erwiesen ist nun aber, dass insbesondere die durch Topic Modeling operationalisierte Quantifizierung thematischer und insbesondere stilistischer Ähnlichkeitsbeziehungen nicht nur unter methodischen Gesichtspunkten den bisherigen Erkenntnisstand beträchtlich erweitert, sondern auch in Bezug auf die innere Tonio Kröger-Übersetzungsgeschichte. Verdichtet wurden die daraus resultierenden Erkenntnispotenziale in einer Vielzahl alternativer Textgestalten, zu denen neben der Topic Explorer-Benutzeroberfläche die diese konstituierende SQL-Datenbank sowie die aus den entsprechenden Berechnungen hervorgegangenen Ergebnistabellen und relationalen Entwicklungsgrafiken gehören. Diese erhellenden Texttransformationen setzen im Prinzip das um, was auch der japanische Schriftsteller Tsuji Kunio bereits Ende der 1950er- bzw. Anfang der 1960er-Jahre im Sinn hatte, als er Teile von Thomas Manns Roman Buddenbrooks mithilfe eines handschriftlich angelegten Karteikartensystems analysierte (Horiuchi 1994: 11). Sie bedienen sich dabei aber technischer Möglichkeiten, an die zu Tsujis Zeiten noch nicht zu denken war.

Ansatzpunkte für weitere Analyseiterationen im Rahmen des Algorithmic Criticism bietet darüber hinaus insbesondere der festgestellte Zusammenhang zwischen den die innere Übersetzungsgeschichte auf Textebene konstituierenden genetischen Einflussbeziehungen und den sich auf die äußere Übersetzungsgeschichte auswirkenden gesellschaftlichen und institutionellen Machtverhältnissen. Diese Machtverhältnisse konnten sowohl in Hinblick auf die machtgeschützte Innerlichkeit des akademischen kyōyōshugi-Klüngels als auch in Hinblick auf spezifische Erwartungshaltungen gegenüber Übersetzungstexten und insbesondere gegenüber weiblichen Übersetzerinnen beobachtet werden, sodass auch hier eine vertiefte, diese Zusammenhänge gezielt in den Blick nehmende Analyse aufschlussreiche Erkenntnisse erwarten ließe. Bereits die im Rahmen dieser Arbeit vorgestellte Analyseiteration hat jedoch gezeigt, dass sich mithilfe digitaler Methoden nicht nur ein sinnvoller Dialog zwischen Distant Reading und Close Reading, sondern insbesondere auch zwischen einer äußeren und inneren Übersetzungsgeschichte herstellen lässt, der weit über den disziplinären Rahmen einer japanwissenschaftlichen Thomas Mann-Forschung hinausweist: Obwohl das Phänomen der Retranslation aufgrund der hier grundsätzlich gegebenen Vergleichbarkeit der betrachteten Texte sowie aufgrund des unmittelbaren Zusammenhangs zu bestimmten Denkschulen und Gruppenidentitäten den geeigneten Rahmen für eine digital gestützte Erkundung der wechselseitigen Bedingtheit von werkimmanenter Sprach- und Themengestaltung und werkexternen, gesellschaftlich und kulturell wirksamen Macht- und Einflussstrukturen bietet, sind vergleichbare, digital gestützte Untersuchungen zu auf unterschiedlichen Ausgangstexten basierenden Übersetzungen ebenso denkbar.

Zudem können auf Grundlage der Analyseergebnisse Antworten auf die in Orientierung an Matthew Jockers (2013: 28) eingangs aufgeworfenen Kernfragen einer digital gestützten quantifizierenden Literaturwissenschaft formuliert werden. In diesem Sinne ist ein evolutionärer Charakter von Literatur zwar nicht in Form der durch die Retranslation Hypothesis suggerierten Qualitätssteigerung festzustellen, aber doch insofern, als sich die Übersetzenden sehr gründlich mit vorhandenen Texten auseinandergesetzt und nicht unabhängig von diesen übersetzt haben. Dies haben insbesondere die alternierenden Übersetzungscharakteristiken in der relationalen Analyse sowie die teils sehr spezifischen genetischen Einflussbeziehungen zwischen mitunter im Abstand von mehreren Jahrzehnten publizierten Texten eindrucksvoll veranschaulicht. Es ist also hinsichtlich des hier untersuchten Fallbeispiels durchaus von einer als Evolution interpretierbaren Erkenntnisakkumulation auszugehen, die aber keineswegs linear ist. Ferner konnte insbesondere mit Blick auf die Neuübersetzung Hirano Kyōkos, aber auch für weitere im relationalen Close Reading identifizierte Countertranslations gezeigt werden, dass diese Erkenntnisakkumulation keineswegs so frei von Brüchen verläuft, wie es der Evolutionsbegriff suggeriert. Dementsprechend durchlaufen die japanischen Tonio Kröger-Retranslations insofern eine Evolution, dass sie sich im Laufe eines längeren Zeitraums kontinuierlich verändert und hierbei zumindest in einigen Aspekten an gewandelte gesellschaftliche und kulturelle Kontextbedingungen angepasst haben; teleologisch ist dieser Vorgang jedoch nicht.

Ferner konnte in Bezug auf die Kernfrage nach der Entwicklung literarischer Schulen und Traditionen nachvollzogen werden, dass sich insbesondere im kyōyōshugi-affinen Umfeld des germanistischen Institutes der (Kaiserlichen) Universität Tōkyō eine Übersetzungsschule entwickelt hat, die in der vorliegenden Arbeit als „innerer Kreis“ charakterisiert worden ist. Mit einer literarischen Schule hat dieser innere Kreis nicht nur das mutmaßliche, in quantitativ messbaren Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen den Übersetzungstexten resultierende Zusammengehörigkeitsgefühl seiner Angehörigen gemeinsam, das bspw. auch dazu geführt haben dürfte, dass es Übersetzende von außerhalb (wie der Waseda-Germanist Asai Masao) schwer hatten, mit ihren Tonio Kröger-Retranslations Ruhm und Anerkennung im Rahmen der äußeren Übersetzungsgeschichte zu erlangen. Insbesondere in Bezug auf Übersetzende der zweiten Generation wie Morikawa Toshio und Maruko Shūhei konnte außerdem ein deren Übersetzungs- und Publikationsaktivitäten prägendes Schüler-Mentor-Verhältnis zur Thomas Mann-Koryphäe Satō Kōichi festgestellt werden, das das Zusammenspiel zwischen erster und zweiter Übersetzungsgeneration ebenfalls einer literarischen Schule annähert. Für die Kernfrage nach der Herausbildung einer literarischen Tradition relevant ist ferner der vielfach bereits durch Saneyoshi Hayaos 1927 erschienene Erstübersetzung etablierte Übersetzungskonsens, der selbst noch in den jüngsten, fast hundert Jahre später publizierten Tonio Kröger-Retranslations teilweise aufrechterhalten wird. Besonders anhand der im relationalen Close Reading betrachteten Interpretationsbeispiele ließ sich außerdem nachvollziehen, dass es hierbei nicht ausschließlich um eine wörtliche Übernahme von Übersetzungsvarianten geht, sondern um die oben erwähnten, für literarische Übersetzungstexte definierten Kanonisierungskriterien, also um einen spezifischen Übersetzungsduktus, der von Zeitgenossen wie dem Schriftsteller Kita Morio mit Thomas Manns Stilistik gleichgesetzt wurde.

Dementsprechend haben sich aus dieser Analyse auch Rückschlüsse in Hinblick auf die Kernfrage nach den Entstehungsbedingungen von Kanonisierung und Popularität ergeben: Die Vorliebe für den stilistischen Duktus der Erstübersetzung spricht dafür, dass hinsichtlich der Kanonisierung und Popularität der Tonio Kröger-Retranslations Charakteristiken der Textgestaltung zweifelsohne eine Rolle gespielt haben. Insbesondere in der Analyse der äußeren Übersetzungsgeschichte bzw. in Hinblick auf prominente Beispiele wie Satō Kōichi konnte jedoch gezeigt werden, dass sich akademisches Renommee, institutionelle Affiliation sowie das mit dem jeweiligen Publikationsrahmen assoziierte Prestige gleichermaßen auf die Wahrnehmung der Übersetzungstexte und damit auf deren Kanonisierung und Popularität ausgewirkt haben. In diesem Zusammenhang wurde zudem deutlich, dass die insbesondere ab der Nachkriegszeit beliebten Sammlungen zur Weltliteratur zwar der Mehrzahl der Tonio Kröger-Übersetzenden eine Bühne zur Veröffentlichung ihrer Texte boten, die günstigeren bunkobon-Taschenbuchreihen demgegenüber aber deutlich höhere Auflagenzahlen und so deutlich mehr Resonanz erzielten.

Nachvollziehen ließ sich so, dass literarische Texte wie Tonio Kröger und die darauf basierenden japanischen Retranslations, selbst wenn Letztere scheinbar hauptsächlich in der machtgeschützten Innerlichkeit der kyōyōshugi-Bildungselite produziert und rezipiert worden sind, unter keinen Umständen losgelöst von einem spezifischen, gesellschaftlich und kulturell geprägten Machtgefüge existieren: Die Mehrzahl der japanischen Tonio Kröger-Übersetzungstexte hat sich durch ein formales Äquivalenzideal und durch eine die zielsprachlichen Normen verfremdende Übersetzungsstrategie implizit westlichen Literaturvorbildern wie Thomas Mann untergeordnet, ist aber innerhalb der japanischen Gesellschaft aus der privilegierten Position der kyōyōshugi-Bildungselite hervorgegangen. Dagegen können die Tonio Kröger-Neuübersetzungen Asai Shōkos und insbesondere Hirano Kyōkos gerade auch deswegen einen höheren Grad an Souveränität gegenüber dem hochgradig kanonisierten westlichen Ausgangstext beanspruchen, weil sie aus einem gänzlich andersartigen soziokulturellen Umfeld heraus entstanden sind, das gesellschaftliche Privilegien nicht länger unmittelbar an die kulturheteronome Unterordnung gegenüber einer von Thomas Mann verkörperten 3000-jährigen westlichen Kulturvergangenheit (zit. nach Boes 2019: 19) knüpft.