Zusammenfassung
Im sechsten Kapitel werden die Ergebnisse der relationalen Analyse von Einfluss- und Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen den Tonio Kröger-Übersetzungstexten mit den zuvor skizzierten historischen Phasen der japanischen Thomas Mann-Rezeption abgeglichen. Anschließend werden die Erkenntnisse zur äußeren und zur inneren Übersetzungsgeschichte zu Profilen der Texte und der Übersetzenden zusammengeführt.
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Im Folgenden werden die Erkenntnisse aus der Analyse der inneren Übersetzungsgeschichte zur äußeren Übersetzungsgeschichte in Beziehung gesetzt. Zunächst werden dabei die grafisch aufbereiteten Entwicklungsverläufe der relationalen Übersetzungscharakteristiken aus den Abschnitten 5.4.3 und 5.4.4 mit den in Abschnitt 3.3 herausgearbeiteten Phasen der japanischen Thomas Mann-Rezeption abgeglichen. Anschließend werden alle Ergebnisse zur inneren und äußeren Übersetzungsgeschichte für jeden Text einzeln zusammengetragen: Hinsichtlich der äußeren Übersetzungsgeschichte werden dabei analog zum vierten Kapitel erneut die Rolle der publizierenden Verlagshäuser, die Wahrnehmung besonders prominenter Übersetzender und ihrer Texte sowie die individuellen Biografien und akademischen Werdegänge der Übersetzenden thematisiert. Diese Informationen werden mit den im fünften Kapitel ermittelten Textcharakteristiken zusammengeführt, wobei sowohl die quantitativ fundierte Basisklassifikation der Gesamttexte als auch die Ergebnisse der relationalen Analyse sowie die relationalen Close Readings berücksichtigt werden. Im Unterschied zur Darstellung des vierten und fünften Kapitels werden diese Informationen also nicht für jeden der genannten Themenbereiche separat behandelt, sondern zu Profildarstellungen der Texte und der Übersetzenden aufbereitet.
6.1 Die relationale Analyse im Kontext der Rezeptionsphasen
In der relationalen Analyse sind anhand der Kategorien Konsensübersetzung und Countertranslation für elf anhand quantitativer Kriterien ausgewählte Absatzdokumente und unter Berücksichtigung unterschiedlicher Fokustopics historische Entwicklungsverläufe ermittelt sowie grafisch aufbereitet worden (s. Abb. 5.1–5.22 EZM). Da im Rahmen der Themenmodellierung sämtliche Wortarten berücksichtigt worden sind, sind hierbei auch die in der relationalen Analyse untersuchten Tokens – und damit die Beziehungen zwischen den Übersetzungstexten – mehrheitlich auf Funktionsvokabular zurückzuführen, d. h. stilistisch bedingt.
Umso erstaunlicher ist es vor diesem Hintergrund, dass sich die in Abb. 6.1 EZM nochmals aufbereiteten Ergebnisse auch bezüglich der in Abschnitt 3.3 herausgearbeiteten Phasen der japanischen Thomas Mann-Rezeption anschlussfähig zeigen: Den Umbruch zwischen der ersten, rein fachgermanistischen Rezeptionsphase, in der die Erzählung Tonio Kröger zwar schon wissenschaftlich thematisiert, aber noch nicht übersetzt wurde, und der zweiten, sich durch einen v. a. im kyōyōshugi-affinen Umfeld der alten Oberschulen zelebrierten Thomas Mann-Kult auszeichnenden Rezeptionsphase markiert insbesondere die Veröffentlichung von Saneyoshi Hayaos Tonio Kröger-Erstübersetzung in der populären Iwanami Bunko-Taschenbuchreihe im Jahr 1930: In dieser erschwinglichen, als Bestandteil einer renommierten Reihe mutmaßlich in den meisten Buchhandlungen verfügbaren Ausgabe konnte der Text zeitnah in den Schulunterricht integriert und ohne logistische Hemmnisse von Schüler*innen erworben werden. Dabei zeigen die auf Höhe der Erstübersetzung bereits vergleichsweise hohen prozentualen Anteilswerte der Konsensübersetzungen, die für die darauffolgende Mukasa-Retranslation (1928) merklich abfallen, den konsensdefinierenden Einfluss der Erstübersetzung.
Mit der dritten Rezeptionsphase korrespondieren dagegen die Übersetzungstexte Toyonaga Yoshiyukis (1940) und Takeyama Michios (1941). Während für ersteren in der relationalen Analyse allenfalls eine verstärkte Orientierung am Übersetzungskonsens (bzw. mitunter auch dessen Prägung) festgestellt wurde, zeichnet sich die Takeyama-Retranslation durch abfallende Konsens- und ansteigende Countertranslation-Kurven, also durch eine innovative Übersetzungscharakteristik aus. Diese lässt sich einerseits auf Takeyamas literarische Aktivitäten sowie auf das hieraus gespeiste übersetzerische Selbstbewusstsein zurückführen (s. Abschnitt 6.2.4). Eine weitere Rolle dürfte allerdings die Tatsache gespielt haben, dass Thomas Mann zum Veröffentlichungszeitpunkt der Takeyama-Retranslation – bedingt durch Japans kulturpolitische Gleichschaltung mit Nazideutschland – bereits zensiert wurde. Dies hatte einerseits eine vergleichsweise geringe Resonanz der Takeyama-Retranslation beim allgemeinen Publikum zur Folge. Andererseits lässt sich gerade vor diesem Hintergrund auch Takeyamas innovative Abgrenzung von den bisherigen Texten insofern noch einmal anders bewerten, als sich Takeyama selbst dann, wenn er dies gewollt hätte, Anfang der 1940-Jahre von einer Veröffentlichung mit Thomas Mann-Bezug keine akademische Profilierung mehr erhoffen konnte. Dementsprechend hatte dieser zudem literarisch emanzipierte Übersetzer karrieretechnisch nicht viel zu verlieren, was ihn prinzipiell (unter gänzlich anderen historischen Vorzeichen) in eine ähnliche, von der kyōyōshugi-affinen Fachgermanistik und ihren normativen Übersetzungsvorstellungen teilweise abgegrenzte Ausgangsposition versetzte wie (mehr als) 70 Jahre später auch Hirano Kyōko und Asai Shōko.
Hierauf folgten in der unmittelbaren und der erweiterten Nachkriegszeit ineinander übergehend die vierte und die fünfte Rezeptionsphase, in denen die Mehrzahl der untersuchten Übersetzungstexte entstanden sind. Die vierte Rezeptionsphase stand dabei ebenso wie die vorherige im Zeichen des politischen Thomas Mann, war aber durch nachkriegszeitliches Bemühen um eine weltanschauliche Rehabilitation sowohl inner- als auch außerhalb der japanischen Fachgermanistik geprägt. In diesem historischen Kontext lohnte es sich also für Übersetzende wie insbesondere Takahashi Yoshitaka, dessen Tonio Kröger-Retranslation erstmals 1949 erschien (in Abb. 6.1 EZM sind die diesbezüglichen Datenpunkte stattdessen zum Veröffentlichungszeitpunkt der berücksichtigten Ausgabe, also 1967 abgetragen), sich durch entsprechende Übersetzung- und Forschungsaktivitäten mit dem nun als „Ritter des Humanismus“ gefeierten Thomas Mann zu assoziieren. Takahashi bildete dabei lediglich die Speerspitze eines regelrechten Übersetzungs-Ansturms auf Mann, dem auch die fünfte Rezeptionsphase, in welcher der 1955 verstorbene Literaturnobelpreisträger zunehmend als literarischer Klassiker rezipiert wurde, keinerlei Abbruch tat. Stattdessen zeichnet sich hier auch in der relationalen Analyse deutlich der nachkriegszeitliche Weltliteratur- und Sammelausgaben-Boom ab, der mit einer Popularisierung von kyōyōshugi als dem Kulturideal des neuen japanischen Mittelstandes einherging: Nicht nur wurden Tonio Kröger-Retranslations insbesondere in den 1960er-Jahren in großer Zahl und in sehr kurzen zeitlichen Abständen publiziert; auch zeichnen sich die betreffenden Texte entweder durch ein Vermitteln zwischen Konsensübersetzungen und Countertranslations oder, wie es insbesondere für Satō (1966.7 [1963]) und Ueda (1970) anhand stark abfallender Countertranslation-Kurven festgestellt werden konnte, durch eine besonders konservative Übersetzungstendenz aus. Diese Vorgehensweisen können diametral zur oben beschriebenen Übersetzungsinnovation Takeyamas (1941) verstanden werden, denn während Letzterer wenig zu verlieren hatte, galt es für seine Nachfolger, beginnend mit Takahashi (1967 [1949]), das ihren akademischen Profilierungs- und Qualifikationsabsichten entsprechende Maß zwischen Konsenstreue und wohldosierter Abgrenzung auszuloten.
Die sechste und vermutlich letzte, als Schwundstufe definierte Rezeptionsphase hatte dagegen längst eingesetzt, als Maruko Shūhei 1990 seine Tonio Kröger-Retranslation veröffentlichte. Obwohl sich hier durch den insbesondere im außerakademischen Bereich zu verzeichnenden Bedeutungsverlust sowohl Thomas Manns als auch des kyōyōshugi-Bildungsideals eigentlich bereits die Voraussetzungen für eine übersetzerische Neuverortung ergeben hatten, lag Marukos Interessenschwerpunkt nach wie vor im akademischen Bereich. Hier suchte er in erster Linie den Anschluss an den durch seine erfolgreichen Mentoren etablierten bzw. verfestigten Übersetzungskonsens, was sich in der relationalen Analyse durch erhöhte Konsens- und abfallende Countertranslation-Anteilswerte äußert. Vor diesem Hintergrund wagten erst die beiden Berufsübersetzerinnen Hirano Kyōko und Asai Shōko in ihren 2011 bzw. 2018 erschienenen Tonio Kröger-Neuübersetzungen immerhin eine Teilabgrenzung von der bisherigen Übersetzungstradition. Diese äußert sich in beiden Fällen durch eine Verschränkung der Konsens- und der Countertranslation-Kurven, da erstere für zahlreiche Absatzdokumente erheblich abfallen, letztere dagegen ansteigen. Dass die in Hinblick auf Konsensübersetzungen für beide Neuübersetzungen ermittelten prozentualen Anteilswerte trotzdem diejenigen der Countertranslations im Schnitt beträchtlich übersteigen, veranschaulicht aber, dass die Gemeinsamkeiten mit der Übersetzungstradition auch hier überwiegen. Obwohl hierunter freilich auch auf allgemeine Sprachnormen zurückzuführende stilometrische Gemeinsamkeiten im Partikelngebrauch etc. subsummiert sind, führt die relationale Analyse der Tonio Kröger-Retranslations so nichtsdestotrotz die anachronistische Grundverfasstheit der japanischen Auseinandersetzung mit Thomas Mann unmittelbar vor Augen. In Kombination mit der engen Verflechtung der Rezeptionsaktivitäten mit der kyōyōshugi-Bildungselite haben derartige Anachronismen den im ausgehenden 20. Jahrhundert einsetzenden Bedeutungsverlust bzw. den Rezeptionsschwund mitbedingt, sodass die innovativen Abgrenzungsversuche Hiranos und Asais aus übersetzungsgeschichtlicher Perspektive zwar überaus bemerkenswert sind, aber dennoch für eine radikale Neuverortung der japanischen Thomas Mann-Rezeption nicht ausreichen (können).
6.2 Übersetzende und ihre Texte im Profil
6.2.1 Saneyoshi 1927: Bis Kriegsende und darüber hinaus
Die besondere Bedeutung von Saneyoshi Hayaos 1927 erschienener Tonio Kröger-Erstübersetzung ist – gerade auch im Vergleich zu anderen Retranslations, die nie eine zweite Auflage erreicht haben –, neben der inhärenten Autorität einer Erstübersetzung auch durch das langfristig mit kyōyōshugi assoziierte Publikationsformat sowie durch anhaltende Textverfügbarkeit auf dem japanischen Buchmarkt bedingt. Dem entspricht es, dass die Erstübersetzung bereits im Kontext der Basisklassifikation als Bestandteil einer sich insbesondere um die Retranslations Takeyama Michios (1941) und Toyonaga Yoshiyukis (1940) herum formierenden Kerngruppe der japanischen Tonio Kröger-Übersetzungen identifiziert werden konnte, der auch die Retranslations Satōs (1966.7), Fukudas (1965), Nojimas (1968), Uedas (1970) und Kataokas (1973) angehören. Eine Zuordnung der Texte Asais (1955) und Marukos (1990) zur Kerngruppe wurde außerdem nachträglich vorgenommen; die dazu führenden Erwägungen sind in den Teilkapiteln 6.6 und 6.13 dargelegt.
In der relationalen Analyse wurde ferner eine intensive Beeinflussung der darauffolgenden Texte durch die Erstübersetzung nachgewiesen, die je nach betrachtetem Absatzdokument und Fokustopic zwischen knapp 40 und gut 70 Prozent aller untersuchten Übersetzungstokens betrifft – für mindestens gut ein Drittel und bis zu gut zwei Drittel der analysierten Tokens etabliert Saneyoshi also den für die Mehrzahl der in den darauffolgenden Jahrzehnten publizierten Retranslations verbindlichen Übersetzungskonsens. Dies konnte im relationalen Close Reading am Beispiel der Übersetzungstokens „sich […] heraufgeholt“ in „weil der Vater sie sich einstmals von ganz unten auf der Landkarte heraufgeholt hatte“ (GKFA 247), „(mit dem) Bewußtsein“ in „mit dem Bewußtsein, eine kleine Gemeinschaft mit den Beiden hergestellt zu haben“ (GKFA 313), „tief“ in „der magere Hals stak so tief zwischen diesen armseligen Schultern“ (GKFA 312) sowie an der Umsetzung des Konjunktiv II in „er würde dann zufriedener in sein Zimmer zurückkehren“ (GKFA 313) mit de arō gezeigt werden: In allen genannten Fällen etabliert Saneyoshi Konsensübersetzungen, die auf einen hohen Grad an Wörtlichkeit bzw. auf formale Äquivalenz zum Ausgangstext abzielen.
Doch auch jenseits dieser Konsensübersetzungen konnte der besondere übersetzungsgeschichtliche Einfluss der Erstübersetzung dahingehend nachgewiesen werden, dass sich im relationalen Close Reading kein einziges Token fand, bezüglich dessen Saneyoshi nicht mindestens eine der darauffolgenden Retranslations beeinflusst (oder wenigstens eine typologische Ähnlichkeit aufgewiesen) hätte. Eine solche Beeinflussung diverser Retranslations durch die Erstübersetzung wurde dementsprechend für die Übersetzungstokens des „schlimmen Lebens“ (GKFA 266) (kurushii seikatsu übernommen von Takeyama (1941), Takahashi (1967 [1949]), Morikawa (1966.5) und Nojima (1968)), „verwachsen“ (GKFA 312) (semushi übernommen von Toyonaga (1940), Takeyama (1941), Fukuda (1965), Ueda (1970) und Kataoka (1973)), sowie ferner für das der „unberührbaren Sprödigkeit“ (GKFA 310–311) nachgewiesen, welches Saneyoshi als okashigatai reitan bzw. „würdevolle Gleichgültigkeit bzw. Kälte“ realisiert. „Kälte“ bzw. reitan wird hierbei von Mukasa (1928), Toyonaga (1940), Fukuda (1965), Morikawa (1966.5) und Maruko (1990), oshigatai bzw. „würdevoll“ dagegen von Takahashi (1967 [1949]) und Kataoka (1973) aufgegriffen. Das Token „und im Übrigen“ in (GKFA 266) wird in der erneut wörtlichen Übersetzungsvariante Saneyoshis (sono hoka no ten de wa) dagegen von Toyonaga (1940), Asai (1955), Fukuda (1965), Morikawa (1966.5) und Ueda (1970) übernommen, wogegen das von Saneyoshi mit ware o wasurete verhältnismäßig frei wiedergegebene Token der „Versunkenheit“ (GKFA 260–261) in dieser Form auch bei Morikawa (1966.5), Nojima (1968) und Ueda (1970) belegt ist. Auch das von Saneyoshi in der Variante dokutoku no bzw. „individuell“ realisierte Übersetzungstoken der „persönlichen“ Krawatten (GKFA 266) taucht so auch bei Takeyama (1941), Asai (1955), Ueda (1970) und Maruko (1990) auf; Saneyoshis erneut wörtlich-formaläquivalente Übersetzungsvariante des Tokens „unwissend“ (GKFA 266), shirazu ni iru, behalten hingegen nur Satō (1966.7) und Ueda(1970) bei. Parallelen zwischen der Erstübersetzung und den darauffolgenden Retranslations konnten außerdem in Hinblick auf den übersetzerischen Umgang mit der freien indirekten Rede festgestellt werden, die Saneyoshi ebenso wie Toyonaga (1940), Takeyama (1941), Takahashi (1967 [1949]) und Maruko (1990) systematisch mit jibun bzw. „selbst“ übersetzt hat; diesbezüglich nuancierende Variationen sind ebenfalls sowohl in der Erstübersetzung als auch in der Retranslation Toyonagas (1940) erkennbar.
Generell geht aus den oben zusammengefassten Beispielen hervor, dass sich Saneyoshi Hayaos 1927 publizierte Tonio Kröger-Erstübersetzung hinsichtlich der Mehrzahl der betrachteten Tokens durch ihren die japanische Zielsprache verfremdenden, formaläquivalenten, also besonders wörtlichen Schwerpunkt auszeichnet; dies betrifft sowohl einzelne Formulierungen (wie shirazu ni iru als Übersetzung von „unwissend“) wie auch insbesondere die bspw. der Syntaxanalyse (s. u.) entnehmbare Absicht Saneyoshis, möglichst alle ausgangsprachlichen Textelemente zielsprachlich zu reproduzieren. Diese Übersetzungsstrategie lässt sich ihrerseits auf eine kyōyōshugi-typische Priorisierung und Idealisierung des Westens zurückführen: Im zeitgenössischen Kontext des frühen 20. Jahrhunderts, in dem die insbesondere durch Übersetzungen aus westlichen Sprachen beeinflusste Entstehung der modernen japanischen Gegenwartssprache als solcher noch nachhallte, impliziert Saneyoshis Reproduktion von deutschem Ausgangstext und -sprache die Grundannahme, dass der japanische Zielkontext und die in ihm verorteten Rezipierenden von möglichst ungefilterten ausgangstextlichen und -sprachlichen Einflüssen mehr profitieren würden als von einem die fremdsprachlichen Einflüsse domestizierenden Ansatz. Dass hieraus zudem eine anspruchsvolle Herausforderung japanischer Lesegewohnheiten resultierte, entsprach ebenfalls dem elitären Selbstverständnis der akademischen kyōyōshugi-Elite. Auch vor diesem Hintergrund erschließt sich die in der Analyse nachgewiesene intensive Beeinflussung der darauffolgenden Retranslations durch die Erstübersetzung: Da die Mehrzahl der Übersetzenden wie in Abschnitt 4.3 bereits thematisiert eine vergleichbare akademische Laufbahn im kyōyōshugi-affinen Umfeld durchlief, orientierte sie sich naturgemäß an Saneyoshis mit dem kyōyōshugi-Bildungsideal im Einklang stehender, die japanische Zielsprache verfremdender Übersetzungsstilistik.
Zugleich konnte insbesondere im relationalen Close Reading auch gezeigt werden, dass Saneyoshis formaläquivalent-verfremdender Übersetzungsschwerpunkt keineswegs absolut ist, sondern in Fällen wie ware o wasurete als Übersetzung von „Versunkenheit“ durchaus aufgebrochen werden kann. Ebenso wenig absolut ist die Orientierung der darauffolgenden Retranslations an der Erstübersetzung. Dies geht nicht nur aus der Tatsache hervor, dass Saneyoshi, wie die relationale Analyse gezeigt hat, zwar für viele, aber nicht für alle untersuchten Übersetzungstokens eine Konsensübersetzung etabliert, sondern wird an den folgenden Beispielen umso klarer ersichtlich: Das Übersetzungstoken „ganz“ in „ganz aufgelöst in heißen Thränen [sic]“ (GKFA 290) ist einzig bei Saneyoshi (1927), Toyonaga (1940) und Takeyama (1941) formaläquivalent mit sukkari („ganz, gänzlich, komplett“) und tokeru („auflösen, schmelzen“) realisiert; auch Mukasa setzt es in vergleichbarer Form um. Dagegen konzentrieren sich die jüngeren Übersetzungstexte an dieser Stelle zugunsten eines eher domestizierenden Zuganges auf unterschiedliche Semantiken des Verbs „weinen“. Das Beispiel des Tokens „ganz“ legt an dieser Stelle folglich einen mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs einhergehenden Bruch zwischen den älteren vorkriegs- und kriegszeitlichen und den jüngeren Übersetzungstexten nahe. Hierfür sprechen auch die folgenden Beispiele: Sofern eine Übersetzungsvariante der Erstübersetzung nur von einem einzigen der Folgetexte übernommen wird, handelt es sich i. d. R. ebenfalls um einen älteren Text, sodass bspw. hondō als Übersetzungstoken für den „rechten Weg“ (GKFA 312) in dieser Form ausschließlich in der Erstübersetzung sowie in der Retranslation Takeyamas (1941) belegt ist. Noch gravierender zeigt sich eine teilweise Abspaltung der älteren von den jüngeren nachkriegszeitlichen japanischen Tonio Kröger-Übersetzungstexten jedoch in der Toyonaga-Retranslation (1940), welche wiederholt Übersetzungsvarianten der Erstübersetzung aufgreift, die ansonsten in keinem der übrigen Übersetzungstexte nachgewiesen werden konnten. Dies betrifft nicht nur die Syntaxanalyse, sondern ebenso das Übersetzungstoken „der nichts ist“ (GKFA 266), das einzig Saneyoshi und Toyonaga (1940) mit mukachi na („wertlos“) übersetzen, das Token „unter schweren Kämpfen“ (GKFA 290), welches nur Saneyoshi und Toyonaga mit der zusammengesetzten Verbform kurushiminuite realisieren, die wörtliche Wiedergabe des bestimmten Artikels „der“ bzw. „dem“ in „mit dem südlichen Künstler in blaue Fernen“ (GKFA 290) durch ano nankoku no geijutsuka sowie die Konjunktion to omou to als Übersetzung von „worauf“ in „worauf sie mit dem südlichen Künstler in blaue Fernen gezogen war…“ (GKFA 290).
Diese Beispiele veranschaulichen, dass Saneyoshi Hayaos Erstübersetzung trotz ihrer unbestrittenen Bedeutung sowohl für die innere als auch für die äußere Übersetzungsgeschichte auch Übersetzungstokens beinhaltet, die ausschließlich von den älteren Übersetzungstexten übernommen worden und nach Kriegsende ausgestorben sind. Die dementsprechend festzustellende Abspaltung der älteren von den jüngeren Übersetzungen spricht für die übersetzungsgeschichtliche Scharnierfunktion der Takeyama- sowie der Toyonaga-Retranslation, die einerseits den Bezug zu hiernach ausgestorbenen Übersetzungsvarianten der Vorkriegszeit herstellen und andererseits die Folgetexte geprägt haben.
6.2.2 Mukasa 1928: Versteckte Einflussspuren
Gegenüber der einflussreichen, im renommierten Iwanami-Verlag erschienenen Erstübersetzung konnte sich Mukasa Takeos 1928 publizierte Tonio Kröger-Retranslation weder in der für den Deutschunterricht konzipierten Nanzandō-Ausgabe von 1928 noch in der Kaizōsha-Ausgabe von 1930 durchsetzen. Von einer Konkurrenzsituation ist dabei nicht nur angesichts der unmittelbar aufeinanderfolgenden Publikationszeitpunkte auszugehen, sondern auch aus verlagsgeschichtlicher Perspektive: der Kaizōsha-Verlag, der Mukasas Retranslation publizierte, war in erster Linie für die zu diesem Zeitpunkt bereits an Bedeutung verlierenden enpon bzw. „Yen-Bücher“ bekannt, während Saneyoshis Erstübersetzung schon 1930 im die enpon ablösenden Format der bunkobon, also dem der Taschenbuchreihe erschien.
Diesen Beobachtungen entspricht es auch, dass in der relationalen Analyse zwischen Saneyoshi (1927) und Mukasa (1928) ein merkliches Absinken der Konsenskurven festgestellt werden konnte: Der Anteil der Konsensübersetzungen an allen analysierten Tokens beträgt demzufolge für die Mukasa-Retranslation je nach Textabsatz und Fokustopic zwischen 30 und 60 Prozent, wobei in diesen Werten jedoch im Unterschied zur Erstübersetzung nicht nur von Mukasa etablierte, sondern ebenso durch diesen aufgegriffene Konsensübersetzungen aus der Erstübersetzung enthalten sein können. Die geringeren Konsenswerte legen hier also eine Abgrenzung Mukasas von der vielfach konsensdefinierenden Erstübersetzung nahe. Hiermit decken sich auch die Ergebnisse des relationalen Close Readings insofern, als bspw. das Übersetzungstoken der „persönlichen Krawatten“, das in Saneyoshis Erstübersetzung sowie in vier der darauffolgenden Retranslations als dokutoku no nekutai bzw. als „individuell“ realisiert ist, von Mukasa hingegen in der Variante shareta nekutai bzw. „modische Krawatten“ übersetzt wird. Gleiches gilt auch für das Übersetzungstoken des „rechten Wegs“, welches Saneyoshi als hondō bzw. „Hauptweg“, Mukasa hingegen in der verstärkt moralisch konnotierten Variante seidō übersetzt. Eine weitere Abweichung Mukasas von der Erstübersetzung konnte darüber hinaus in Hinblick auf den bestimmten Artikel in der Formulierung „mit dem südlichen Künstler“ (GKFA 290) dahingehend festgestellt werden, dass Mukasa hier anders als Saneyoshi auf eine formaläquivalente Reproduktion des direkten Artikels verzichtet – ein Vorgehen, dass alle bis auf einen der darauffolgenden Übersetzungstexte beibehalten. Aufgrund der allgemein geringen Akzeptabilität einer formaläquivalent-verfremdenden Übersetzung des deutschen direkten Artikels ins Japanische ist dabei schwerlich zu beurteilen, ob sich die Folgetexte tatsächlich an Mukasa orientiert haben oder die domestizierende Übersetzungsvariante schlicht naheliegenderweise gewählt haben. Dass beide zuletzt thematisierten Tokens – das des „rechten Weges“ und das des bestimmten Artikels – in der jeweiligen Übersetzungsvariante der Erstübersetzung zeitnah von Takeyama (1941) und Toyonaga (1940) übernommen werden, legt dennoch eine Abgrenzungsabsicht Mukasas (1928) nahe. Hierfür spricht ferner auch das Übersetzungstoken „unter schweren Kämpfen“ (GKFA 290), für das Mukasa erneut in Abgrenzung von der die Variante kurushiminuite etablierenden Erstübersetzung die Konsensübersetzung hidoku kurushinde definiert, welche so auch bei Asai (1955), Fukuda (1965), Satō (1966.7), Takahashi (1967), Ueda (1970), Kataoka (1973) und Hirano (2011) belegt ist. Eine vergleichbare, ausschließlich in Hinblick auf die innere Übersetzungsgeschichte bzw. auf die Textebene nachweisbare Orientierung späterer Übersetzender an Mukasa ist auch bezüglich des oben erwähnten Tokens der „persönlichen Krawatten“ shareta nekutai erkennbar, das Toyonaga (1940) von Mukasa übernimmt, und ebenso bezüglich des Tokens des „rechten Weges“, dessen Übersetzungsvariante seidō Takahashi (1967 [1949]) und Maruko (1990) mit Mukasa gemeinsam haben.
Diese Beobachtungen legen neben der eingangs erwähnten Abgrenzung Mukasas von der Erstübersetzung zugleich eine zwar nicht zwingend konsensdefinierende, aber dennoch nachweisbare genetische Beeinflussung jüngerer Retranslations nahe, zu denen nicht nur die unmittelbar auf Mukasa folgende Übersetzung Toyonagas (1940) gehört, sondern ebenso Takahashi (1967 [1949]) und Maruko (1990). Darüber indiziert das Token „tief“ in „stak so tief zwischen diesen armseligen Schultern“ (GKFA 312) auch eine genetische Beeinflussung Morikawas (1965.5) durch Mukasa (1928), da einzig diese beiden Texte die ausgesprochen spezifische Übersetzungsvariante suppori realisieren. Diese Parallelen sind umso bemerkenswerter angesichts der Tatsache, dass keine Ausgabe der Mukasa-Retranslation jemals neu aufgelegt worden ist, was die Zugänglichkeit zu diesem Text zunehmend beeinträchtigt haben dürfte. Dies wirft wiederum die Frage auf, ob Mukasas Unterlegenheit gegenüber der konsensetablierenden Autorität der Erstübersetzung – neben äußeren Umständen wie bspw. auch Mukasas mutmaßlicher politischer Orientierung – nicht wenigstens teilweise durch erschwerte Textzugänglichkeit bedingt gewesen sein dürfte. Da das relationale Close Reading allerdings genetische Einflussbeziehungen nicht nur zwischen Mukasa (1928) und Toyonaga (1940), sondern darüber hinaus auch entsprechende Einflussspuren bei Takahashi (1949), Morikawa (1966.5) und Maruko (1990) aufgedeckt hat, ist davon auszugehen, dass Mukasas Retranslation (1928) zumindest bis in die 1960er-Jahre durchaus zugänglich war, aber vielfach ignoriert worden ist.
Trotz dieser bemerkenswerten Einsichten in die ansonsten verborgenen Einflussbeziehungen zwischen den Texten haben folglich sowohl die relationale Analyse als auch die relationalen Close Readings gezeigt, dass sich die späteren Übersetzenden mehrheitlich an der Erstübersetzung und weniger an Mukasa (1928) orientieren. Dem entspricht bereits die im ersten Analyseschritt entworfene Basisklassifikation dahingehend, dass Mukasas Retranslation auch hier in einer Übersetzungsperipherie verortet worden ist, die sich durch besonders schwach ausgeprägte quantitative Ähnlichkeitsbeziehungen zu den übrigen Übersetzungstexten auszeichnet. Dass diese Retranslation aber trotzdem Einflussspuren in späteren Texten hinterlassen hat, zeigt, in welcher Breite die japanischen Tonio Kröger-Übersetzenden die jeweiligen Vorgänger*innen konsultiert haben, wobei die hierbei an den Tag gelegte (In-)Transparenz maßgeblich vom Renommee der konsultierten Übersetzung abhängt.
6.2.3 Toyonaga 1940: Blick zurück in bewegten Zeiten
Toyonaga Yoshiyukis Tonio Kröger-Retranslation erschien 1940 im ersten Band der kurz darauf abgebrochenen japanischen Thomas Mann-Gesamtausgabe des Mikasa-Verlags. Vor dem Hintergrund dieses ehrgeizigen Projekts liegt eine Abgrenzung von den vorherigen Übersetzungstexten eigentlich nahe, doch haben sowohl die relationale Analyse als auch das relationale Close Reading gezeigt, dass Toyonagas Retranslation sehr wohl durch seine beiden Vorgänger Saneyoshi (1927) und Mukasa (1928) beeinflusst ist. In der relationalen Analyse ist dies bereits dadurch ersichtlich geworden, dass die grünen Konsenskurven zwischen Mukasa (1928) und Toyonaga (1940) ansteigen. Obwohl dies auch durch eine konsensdefinierende Funktion der Toyonaga-Retranslation bedingt sein könnte, haben die relationalen Close Readings gezeigt, dass Letztere nur in Ausnahmefällen zustande kommt; eine Orientierung an der Erstübersetzung ist also anzunehmen. Hierfür spricht auch die Tatsache, dass ansonsten ausgestorbene Übersetzungsvarianten der Erstübersetzung in mehreren Fällen ausschließlich von Toyonaga aufgegriffen werden: Neben der Syntaxanalyse manifestiert sich diese exklusive Beeinflussung auch durch das Übersetzungstoken „der nichts ist“ (GKFA 266), durch den bestimmten Artikel in „mit dem südlichen Künstler“ (GKFA 290), durch das Token „unter schweren Kämpfen (GKFA 290) und durch das Token „worauf“ in „worauf sie mit dem südlichen Künstler in blaue Fernen gezogen war…“ (GKFA 290) – wobei freilich zu beachten ist, dass drei der vier zuletzt aufgeführten Beispiele ein- und derselben Textstelle entnommen sind, hinsichtlich derer sich Toyonaga (1940) direkt an der Erstübersetzung orientiert zu haben scheint. Hinzu kommen die in Abschnitt 6.2.1 bereits thematisierten Gemeinsamkeiten zwischen den älteren Übersetzungstexten, also die Tatsache, dass Saneyoshi (1927), Toyonaga (1940) und Takeyama (1940) das Token „ganz“ in „ganz aufgelöst in heißen Thränen [sic]“ (GKFA 290) in Abgrenzung zu allen späteren Texten ausgesprochen formaläquivalent realisieren. Nur auf Saneyoshi (1927), Mukasa (1928) und Toyonaga (1940), nicht aber auf Takeyama (1941) trifft außerdem das Festhalten an der Namensschreibung Kurēgeru zu, welches in dieser Form außerdem noch bei Takahashi (1967 [1949]), Fukuda (1965) und Kataoka (1973) beobachtet wurde. Ferner zeichnen sich Saneyoshi (1927), Toyonaga (1940), Takeyama (1941), Takahashi (1967 [1949]) und Maruko (1990) allesamt durch einen vergleichbaren übersetzerischen Umgang mit der freien indirekten Rede aus.
Trotz dieser genetischen Einflussbeziehungen zwischen Saneyoshi (1927), Toyonaga (1940) und Takeyama (1941) konnte im relationalen Close Reading jedoch auch eine graduelle Abgrenzung Toyonagas von der Erstübersetzung festgestellt werden. Hiervon betroffen ist neben der innovativen Titelgebung Ai no kodoku („Die Einsamkeit der Liebe“) einerseits das Token der „persönlichen Krawatten“, bezüglich dessen sich Toyonaga nicht an Saneyoshis Übersetzungsvariante (dokutoku no bzw. „individuell“), sondern an derjenigen der 1928 erschienenen Mukasa-Retranslation (shareta bzw. „modisch“) orientiert hat. Eine noch konsequentere Abgrenzung von den beiden Vorgängern realisiert Toyonaga außerdem in Hinblick auf Saneyoshis wörtliche Konsensübersetzung des Tokens „in dem Bewußtsein“ (GKFA 313), indem er hier statt mit ishiki („Bewusstsein“) mit dōkei („Sehnsucht“) übersetzt. Gleiches gilt für das Token „ich bin am Ziel“ (GKFA 278), welches Toyonaga nicht formaläquivalent wie Saneyoshi und Mukasa, sondern interpretierend als ganmoku o tasshita bzw. „ich bin am Kernpunkt angekommen“ realisiert.
Diese Interpretationsbeispiele entsprechen insofern auch den Ergebnissen der relationalen Analyse, als in Letzterer für Toyonaga (1940) eine im Vergleich zu Saneyoshi (1927) und Mukasa (1928) stärker ausgeprägte vertikale Streuung der entsprechenden Datenpunkte, d. h. ein je nach analysiertem Absatzdokument beträchtlich schwankender Anteil an Konsensübersetzungen festgestellt wurde. Trotz einer eventuellen Konkurrenzsituation zwischen den beiden Verlagshäusern Iwanami und Mikasa scheint es Toyonaga also nicht um eine vollständige Abgrenzung gegenüber der zu diesem Zeitpunkt bereits etablierten Erstübersetzung gegangen zu sein, sondern um ein Vermitteln zwischen existierenden und neuartigen Übersetzungsvarianten. In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass Toyonaga wie erwähnt auch hiernach ausgestorbene Übersetzungsvarianten der Erstübersetzung übernommen hat, die sich also nicht als spätere Konsensübersetzung etablieren konnten und dementsprechend trotz einer Orientierung an der Erstübersetzung keine erhöhten Konsenswerte zur Folge haben.
Hierbei ist der innerhalb dieser Analyse nachweisbare genetische Einfluss der Toyonaga-Retranslation auf spätere Übersetzungstexte auf zwei Beispiele – das in der Variante muchū auch bei Asai (1955) und Satō (1966.7 [1963]) belegte Token der „Versunkenheit“ (GKFA 260–261) und die von Kataoka (1973) übernommene Konjunktiv II-Übersetzung mit darō ni – begrenzt geblieben, sodass auch die äußere Übersetzungsgeschichte keine diesbezüglichen Zeugnisse liefert. Als Gründe hierfür kommen einerseits Toyonagas Verschwinden aus dem akademischen Betrieb sowie die Assoziation mit der letztlich gescheiterten Mikasa-Gesamtausgabe infrage, andererseits aber auch die Orientierung an den beiden Vorgängern, aufgrund derer man die Toyonaga-Retranslation möglicherweise für obsolet erachtete.
Zu beachten ist in diesem Zusammenhang jedoch, dass selbst, wenn der genetische Einfluss der Toyonaga-Retranslation auf die darauffolgenden Texte begrenzt geblieben ist, auch rein formalstilistische typologische Parallelen zu den jüngeren Retranslations in Kombination mit der oben thematisierten Abkapselung der vorkriegs- und kriegszeitlichen Übersetzungstexte durchaus eine übersetzungsgeschichtliche Scharnierfunktion der Toyonaga-Retranslation bedingen könnten. Dies hieße, dass die Scharnierfunktion Toyonagas (1940) in Hinblick auf die älteren Übersetzungstexte auf genetischem Einfluss, in Hinblick auf die jüngeren Übersetzungstexte hingegen möglicherweise auf typologischen Ähnlichkeiten basiert, wie sie z. B. in Bezug auf das Token des „rechten Weges“ und Toyonagas diesbezügliche wörtliche Konsensübersetzung tadashii michi festgestellt worden sind. Hieran verdeutlicht sich nochmals, dass eine gleichermaßen qualitative und quantitative Analyseergebnisse berücksichtigende übersetzungsgeschichtliche Einordnung sowohl Einflussbeziehungen als auch eher zufällige Parallelen berücksichtigt. Die Differenzierung zwischen beiden Typen der Textähnlichkeit ergibt sich einerseits aus der Aufarbeitung der äußeren Übersetzungsgeschichte und andererseits aus der Bewertung und Einordnung im Zuge des relationalen Close Reading.
6.2.4 Takeyama 1941: (Nur) für Kenner
Die Funktion des übersetzungsgeschichtlichen Bindegliedes wurde im Rahmen der quantitativ fundierten Basisklassifikation auch für die 1941 erschienene Retranslation Takeyama Michios angenommen; im Falle der Takeyama-Retranslation ließ sich diese Scharnierfunktion im Vergleich zu Toyonaga (1940) besonders in Hinblick auf die Erkenntnisse zur äußeren Übersetzungsgeschichte allerdings noch eindeutiger nachweisen.
Bestandteil der Scharnierfunktion ist dabei einerseits der Rückbezug auf die älteren (vor-)kriegszeitlichen Übersetzungstexte, wie er bereits in Hinblick auf Toyonaga (1940) thematisiert wurde. Ansonsten ausgestorbene Übersetzungsvarianten der Erstübersetzung greift auch Takeyama in Hinblick auf das als hondō realisierte Token des „rechten Wegs“ (GKFA 312) sowie – gemeinsam mit Toyonaga (1940) – in Bezug auf das Token „ganz“ in „ganz aufgelöst in heißen Thränen [sic]“ (GKFA 290) auf. Auch das Token „Schaffender“ (GKFA 266) wird nur von Saneyoshi (1927), Takeyama (1941) und Maruko (1990) in der Variante sōsakusha realisiert. Ferner ist eine Orientierung u. a. Takeyamas an der Erstübersetzung auch in Hinblick auf das Token des „schlimmen Lebens“ (GKFA 266) (kurushii seikatsu), das Token „verwachsen“ (GKFA 312) (semushi) sowie das bereits erwähnte Token der „persönlichen“ Krawatten (GKFA 266) (dokutoku no) festzustellen; ebenso hat Takeyama die systematische Übersetzung der freien indirekten Rede durch das Personalpronomen jibun u. a. mit der Erstübersetzung gemeinsam. Alle zuletzt genannten Gemeinsamkeiten konstituieren zudem keine Konsensübersetzungen und sind demzufolge mit höherer Wahrscheinlichkeit auf eine genetische Einflussbeziehung (und nicht auf die typologisch ähnliche Orientierung am Naheliegenden) zurückzuführen.
Noch maßgeblicher als der Rückbezug auf die älteren Texte sind im Falle Takeyamas allerdings die innovativen Abweichungen von diesen, die sich mitunter maßgeblich auf die darauffolgenden Texte ausgewirkt haben. Ein entsprechendes Beispiel ist die erstmals von Takeyama (1941) eingeführte, sich verstärkt an deutschen Ausspracheregularitäten orientierende Schreibung kurēgā, die in der Folge von Asai (1955), Satō (1966.7 [1963]), Morikawa (1966.5), Nojima (1968), Ueda (1970), Maruko (1990), Hirano (2011) sowie von Asai (2018), also der Mehrzahl der Übersetzenden übernommen worden ist. Weitere Beispiele für Takeyamas nachhaltige Beeinflussung der Folgetexte sind das Token „der nichts ist“ (GKFA 266), das Takeyama (1941) in Abgrenzung von den vorherigen Texten als mu ni sugizu, also „nicht über Nichts hinausgehend“ übersetzt und hierdurch auch Fukuda (1965) prägt, sowie das Token „Ich bin am Ziel“ (GKFA 278), das bei Takeyama (1941) iyoiyo ketsuron desu („jetzt kommt endlich das Fazit“) lautet und so Takahashi (1967 [1949]) und Asai (2018) beeinflusst. Während diese von Takeyama ausgehenden Einflüsse jedoch relativ insular sind, konnten im Rahmen der relationalen Close Readings insbesondere zwei Tokens bzw. Textpassagen identifiziert werden, bezüglich derer Takeyama einen übersetzerischen Paradigmenwechsel initiiert hat: Zum einen ist in seiner Retranslation das Token „worauf“ in „worauf sie mit dem südlichen Künstler in blaue Fernen gezogen war…“ (GKFA 290) erstmalig durch die einen Widerspruch implizierende Konjunktion da no ni bzw. „obwohl“ (und nicht durch Ausdrücke der bloßen zeitlichen Abfolge) realisiert, was zwar nicht wörtlich, aber prinzipiell von Asai (1955), Satō (1966.7), Takahashi (1967), Maruko (1990), Hirano (2011) und Asai (2018) übernommen wird. Einen noch grundsätzlicheren Bruch zwischen den älteren und den jüngeren Übersetzungstexten hat darüber hinaus die Syntaxanalyse dahingehend offengelegt, dass Takeyama, während sich die drei vorherigen Texte allesamt am Versuch einer verfremdend-formaläquivalenten Reproduktion von Thomas Manns komplex verschachtelter Syntax abarbeiten, stattdessen auf die domestizierende Aufteilung des Satzgefüges und damit auf einen natürlicheren zielsprachlichen Ausdruck setzt und so auch die Mehrzahl der darauffolgenden Retranslations beeinflusst. Diese Beispiele zeigen, dass die durch Takeyama initiierte Übersetzungsinnovation in der umfassenden genetischen Beeinflussung der darauffolgenden Retranslations resultiert, also in einer übersetzungsgeschichtlichen Scharnierfunktion, die zwar auf der einen Seite ebenso wie bei Toyonaga (1940) auch die älteren Übersetzungstexte tangiert, aber insbesondere auf Einflussbeziehungen zu den jüngeren japanischen Tonio Kröger-Retranslations basiert.
Mit diesen Beobachtungen stimmen auch die Ergebnisse der relationalen Analyse insofern überein, als ein zwischen Saneyoshi (1927) und Toyonaga (1940) angesiedeltes Niveau der Konsensübersetzungen sowie bezüglich einzelner Absatzdokumente ein hoher, deutlich über dem der darauffolgenden Retranslations angesiedelter Anteilswert der Countertranslations festgestellt werden konnte. Quantifizierbar konsensdefinierend wirkt Takeyamas Retranslation also im Vergleich zur Erstübersetzung in deutlich geringerem Maße; auch das Aufgreifen älterer Übersetzungsvarianten ist hier im Vergleich zu Toyonaga schwächer ausgeprägt. Stattdessen überwiegt in Takeyamas Retranslation die Abgrenzung von den älteren Texten, die, wie das relationale Close zeigen konnte, die darauffolgenden Texte v. a. in grundlegenden übersetzungsstrategischen Fragen beeinflusst hat.
Dass sich die Takeyama-Retranslation demzufolge als in erster Linie den Anschluss an die jüngeren Texte gewährleistendes übersetzungsgeschichtliches Bindeglied etablieren konnte, dürfte dabei auch auf Takeyamas besondere Deutschexpertise, sein literarisches Ausdrucksvermögen und auf ein aus beidem resultierendes Selbstbewusstsein zurückzuführen gewesen sein. Dass die Resonanz der Takeyama-Retranslation trotzdem zumindest in bestimmten Bereichen hinter den angesichts dieser Expertise begründbaren Erwartungen zurückgeblieben ist, lässt sich auf Faktoren der äußeren Übersetzungsgeschichte zurückführen: Zwar galt Shinchōsha spätestens infolge des nachkriegszeitlichen Weltliteratur-Booms als renommierter Übersetzungsverlag und konnte bereits sehr früh ein explizites verlagsrechtliches Arrangement mit Thomas Manns Neffen Hans Erik Pringsheim vorweisen. Dass Takeyamas Retranslation aber dennoch – trotz der in ihr erbrachten Übersetzungsinnovation – auf eine einzige Auflage beschränkt geblieben ist, dürfte neben dem historisch denkbar ungünstigen Publikationszeitpunkt (mitten in der politisch motivierten Thomas Mann-Zensur der japanischen Militärdiktatur) auch dadurch bedingt gewesen sein, dass auch nach Kriegsende mit Saneyoshis Erstübersetzung einerseits ein bereits seit zwei Jahrzehnten wohletablierter Tonio Kröger-Übersetzungstext vorlag und andererseits ab 1949 mit der Retranslation Takahashi Yoshitakas ein weiterer Übersetzungstext, dessen Verfasser im Vergleich zu Takeyama Michio deutlich mehr akademische Karriereambitionen erkennen ließ. Aus diesem Grunde konnte Takeyama mit seiner Tonio Kröger-Retranslation, obwohl diese unter den übersetzenden Fachkolleg*innen durchaus geschätzt wurde und dementsprechend ihre Spuren insbesondere im relationalen Close Reading hinterlassen hat, beim breiter aufgestellten Publikum keine Rezeptionsnische besetzen, die nicht schon durch Saneyoshi oder Takahashi abgedeckt gewesen wäre. Obwohl Takeyama Michio also in den Augen der zeitgenössischen, kyōyōshugi-affinen Fachgemeinschaft insofern das ansonsten schwerlich Mögliche gelungen war, dass er einen prestigeträchtigen, Stationen wie die Erste Oberschule und das germanistische Institut der (Kaiserlichen) Universität Tōkyō umfassenden Bildungs- und Karrierewerdegang mit literarischer Eigenproduktion in Einklang brachte, beschränkte sich seine Funktion des übersetzungsgeschichtlichen Bindegliedes ebenso wie bei Toyonaga Yoshiyuki auf die Rezeption durch das übersetzende Fachpublikum.
6.2.5 Takahashi 1967 [1949]: Erfolgsformel Tradition, Abgrenzung, Ambition
In Hinblick auf Reichweite wurde Takeyamas Retranslation (1941) zweifelsohne von Takahashi Yoshitakas erstmals 1949 veröffentlichter Tonio Kröger-Retranslation überstrahlt, die im Rahmen dieser Analyse in einer Textfassung von 1967 berücksichtigt worden ist. Angesichts dieser besonderen Resonanz, die zeitweilig sogar mit der parallelen Veröffentlichung bei den beiden Verlagen Shinchōsha und Kadokawa Shoten einherging, mag es zunächst überraschen, dass Takahashis Retranslation unter quantitativen Gesichtspunkten v. a. Ähnlichkeitsbeziehungen des zweiten, gesamttextlichen Typs zu den Übersetzungstexten der Kerngruppe aufweist und deshalb gemeinsam mit Morikawa (1966.5) in deren Randbereich verortet wurde. Diese Annahme bestätigte die relationale Analyse insofern, als hier für Takahashi erhöhte Anteilswerte der Countertranslations und absinkende Werte der Konsensübersetzungen festgestellt wurden, was auf eine teilweise Abgrenzung von den den Übersetzungskonsens konstituierenden Texten der Kerngruppe schließen lässt.
Dass der Anschluss der Takahashi-Retranslation an die Kerngruppe insbesondere in Hinblick auf die Erstübersetzung sowie teilweise auch auf Takeyama (1941) dennoch gewährleistet bleibt, haben die relationalen Close Readings gezeigt. Eine Orientierung Takahashis an Saneyoshi Hayaos 1927 publizierter Erstübersetzung konnte dabei für Saneyoshis formaläquivalente Konsensübersetzung des Tokens „mit dem Bewußtsein“ (GKFA 313) durch ishiki o idaite ebenso festgestellt werden wie für das Token des „schlimmen Lebens“ (GKFA 266), bezüglich dessen Takahashi ebenfalls die Übersetzungsvariante der Erstübersetzung (kurushii seikatsu) aufgreift. Gemeinsamkeiten bestehen darüber hinaus in Hinblick auf die systematische Übersetzung der freien indirekten Rede durch das Pronomen jibun, die in dieser Form bereits in den älteren Texten Saneyoshis (1927), Toyonagas (1940) und Takeyamas (1941) ebenso nachgewiesen werden konnte wie auch in den jüngeren Retranslations Takahashis (1967 [1949]) und Marukos (1990), sodass typologische, wenn nicht gar genetische Beziehungen zwischen diesen Texten anzunehmen sind. Zudem konnte eine Orientierung Takahashis an der nur wenige Jahre zuvor publizierten Takeyama-Retranslation beobachtet werden, die insbesondere beim Token „Ich bin am Ziel“ (GKFA 278) sowie beim Token „worauf“ in „worauf sie mit dem südlichen Künstler in blaue Fernen gezogen war…“ (GKFA 290) evident ist: Ersteres ist in der Variante iyoiyo ketsuron desu („jetzt kommt endlich das Fazit“) bei Takeyama, bei Takahashi (1967 [1949]) und außerdem bei Asai (2018) nahezu wortgleich realisiert; Letzteres dürfte in Takeyamas innovativer Übersetzungsvariante da no ni neben Takahashi auch Asai (1955), Satō (1966.7 [1963]), Maruko (1990), Hirano (2011) und Asai (2018) semantisch beeinflusst haben.
Während diese Beispiele den Anschluss an die Kerngruppe herstellen, übernimmt Takahashi zugleich jedoch auch in ähnlicher Form, wie es in Abschnitt 6.2.3 bereits für Toyonaga (1940) dargestellt worden ist, ältere Übersetzungsvarianten, die sich später nicht durchsetzen konnten. Dies zeigt sich am Token der „unberührbaren Sprödigkeit“ (GKFA 310–311), bezüglich dessen Saneyoshis Übersetzungsvariante okashigatai reitan („würdevolle Gleichgültigkeit bzw. Kälte“) zumindest in Hinblick auf das Adjektiv okashigatai nur von Takahashi (1967 [1949]) sowie von Kataoka (1973) erneut aufgegriffen wird. Ähnliches ist darüber hinaus auch im Rahmen der Syntaxanalyse dahingehend zu beobachten, dass auch hier nur Takahashi (1967 [1949]) und Maruko (1990) eine der Erstübersetzung sowie der Retranslation Toyonagas (1940) ähnelnde Reproduktion von Manns komplexer Syntax realisieren, sich also im Unterschied zur Mehrzahl der Übersetzenden nicht an der domestizierenden Syntaxvariante Takeyamas (1941) orientieren.
Dementsprechend kann der Retranslation Takahashis trotz der eingangs erwähnten Verortung im Randbereich auch eine Orientierung an den älteren Texten der Kerngruppe, also insbesondere an Saneyoshi (1927) und Takeyama (1941) attestiert werden. Dieses Festhalten am durch die Erstübersetzung etablierten traditionellen stilistischen Duktus lässt sich auf Takahashi Yoshitakas traditionellen, kyōyōshugi-typischen Bildungs- und Karrierewerdegang zurückführen, welcher den Besuch der alten, vorkriegszeitlichen Oberschule, den Abschluss am germanistischen Institut der Kaiserlichen Universität Tōkyō, das Lehramt an der alten Oberschule und die Professur an der Universität Kyūshū ebenso umfasste wie auch eine zeitweilige NS-Kompromittierung im Kontext der kulturpolitisch motivierten Gleichschaltung der japanischen Fachgermanistik. In Bezug auf Letzteres gelang Takahashi jedoch nach Kriegsende die ideologische Neukalibrierung, die er sich im Zusammenhang seiner Karriereambitionen effektiv zunutze machen konnte.
Auch vor diesem kyōyōshugi-nahen individualbiografischen Hintergrund ist es naheliegend, dass Takahashi keinen gänzlichen Bruch insbesondere zur renommierten Erstübersetzung Saneyoshis wagte, sondern an die vorkriegszeitliche Übersetzungstradition anknüpfte. Bemerkenswert ist zudem, dass zumindest für ein Übersetzungstoken auch eine genetische Einflussbeziehung zwischen der in der äußeren Übersetzungsgeschichte weitgehend ignorierten Mukasa-Retranslation und Takahashi festgestellt werden konnte. Dies betrifft das Token des „rechten Wegs“ (GKFA 312), hinsichtlich dessen einzig Takahashi (1967) und Maruko (1990) Mukasas Übersetzungsvariante (seidō) bevorzugt haben; außerdem orientiert sich Takahashi beim Token der „schweren Kämpfe“ (GKFA 290) an der diesbezüglich durch Mukasa etablierten Konsensübersetzung einer Kombination von hidoi und kurushimu – wobei Letzteres freilich nicht zwingend auf eine genetische Beziehung zwischen beiden Texten schließen lässt. Da dementsprechend nur in einem Fall auf eine genetische Einflussbeziehung zwischen Mukasa (1928) und Takahashi (1967 [1949]) geschlossen werden kann, war die teilweise Abgrenzung Takahashis von den Texten der Kerngruppe offenbar weniger durch diese insulare Einflussbeziehung zu einem Peripherietext als durch seine eigenen Countertranslations wesentlich bedingt.
Gezielte Abweichungen vom Übersetzungskonsens sind dabei auch mit Blick auf Takahashis akademische Karriereambitionen als Notwendigkeit anzusehen: Durch Countertranslations konnte man gegenüber einem potenziell interessierten Publikum begründen, warum es sich lohnen sollte, anstelle der den bisherigen Standard konstituierenden Erstübersetzung Takahashis Neuübersetzung zu konsultieren. Die erstmals 1949 publizierte Tonio Kröger-Retranslation ist dabei im Zusammenhang einer ganzen Thomas Mann-Publikationsfülle dieses agilen Akademikers zu sehen, die unmittelbar nach Kriegsende einsetzte und nicht nur den Weg zur Professur ebnete: In Kombination mit intensiv forcierten Briefkontakten zum alternden Nobelpreisträger selbst hatte sie auch zur Folge, dass Takahashi von der breiteren japanischen Öffentlichkeit als Thomas Mann-Spezialist wahrgenommen wurde und schließlich 1972 als einer der Hauptherausgeber an der japanischen Gesamtausgabe mitwirkte. Entsprechend wichtig war es für Takahashi, der zum erstmaligen Publikationszeitpunkt seiner Tonio Kröger-Retranslation noch als Hilfsprofessor tätig war, seinem Übersetzungstext eine eigene Note zu verleihen. Dies resultierte in innovativen Countertranslations wie bonyari shite ita bakari ni als Übersetzung des Tokens „nur aus Versunkenheit“ (GKFA 260–261), fudan wa („normalerweise“) als Übersetzung des Tokens „und im Übrigen“ (GKFA 266), gozonjinai als innovativ-ironisierende Übersetzung von „unwissend“ (GKFA 266) und shintai ga warui („schlechter Körper(-bau))“ als Übersetzung von „verwachsen“ (GKFA 312), die von keiner der folgenden Retranslations übernommen wurden und demzufolge auch zur quantitativen Abgrenzung gegenüber der Kerngruppe beigetragen haben könnten. Dagegen weichen Takahashis Übersetzungsvarianten der Tokens „Schaffender“ (GKFA 266; bei Takahashi als sōzōsha) und „der nichts ist“ (GKFA 266; bei Takahashi als nanimono de mo nai) nicht nur von vorherigen Übersetzungsvarianten ab, sondern beeinflussen hierdurch auch die darauffolgenden Retranslations: Im Falle von sōzōsha etabliert Takahashi sogar den späteren Übersetzungskonsens, was ihn potenziell wieder den Texten der Kerngruppe annähert; im Falle von nanimono de mo nai sind immerhin genetische Einflussbeziehungen zu Morikawa (1966.5), Kataoka (1973), Maruko (1990) und Asai (2018) festzustellen.
Diese Beispiele zeigen, dass Takahashi zwar wie eingangs dargestellt bestimmte Eigenschaften der vorkriegs- und kriegszeitlichen Übersetzungstexte teilt und so den Anschluss an die Tonio Kröger-Übersetzungstradition herstellt, sich zugleich aber in ausreichendem Maße hiervon abgrenzt, um als relevant und innovativ wahrgenommen zu werden – was auch durch das Anknüpfen an die ansonsten wenig beachtete Mukasa-Retranslation (1928) gelingt. Die Voraussetzung für den Erfolg, den Takahashi mit dieser Mischung aus Tradition, Abgrenzung und Ambition sowohl in Hinblick auf die anhaltend hohen Auflagenzahlen seiner Tonio Kröger-Retranslation als auch in Hinblick auf seinen Status als anerkannte Thomas Mann-Koryphäe erzielen konnte, war neben seiner kyōyōshugi-konformen akademischen Sozialisation auch sein in eigener Essayistik entfaltetes sprachliches Gestaltungsvermögen, für das ihn auch der Schriftsteller Kita Morio gelobt hat. Hierdurch war es Takahashi möglich, eine Tonio Kröger-Übersetzung zu verfassen, die innovativ genug war, um sich in der fachgermanistischen Thomas Mann-Forschung profilieren zu können, aber nicht zu innovativ für hartgesottene kyōyōshugi-Traditionalisten. Insofern ist die zunächst quantitativ begründete Verortung dieser Übersetzung am Rande der Kerngruppe zwar bemerkenswert, ändert aber nichts an der insbesondere bei Berücksichtigung der äußeren Übersetzungsgeschichte festzustellenden zentralen Stellung Takahashi Yoshitakas und seiner Tonio Kröger-Retranslation.
6.2.6 Asai (1955): Geheime Inspirationsquelle
Asai Masaos erstmals 1955 bei Hakusuisha erschienene Tonio Kröger-Retranslation betreffend musste der erste Entwurf der quantitativ fundierten Basisklassifikation dahingehend revidiert werden, dass Asai hier zunächst in der Übersetzungsperipherie vermutet worden war. Im weiteren Verlauf der Analyse konnte jedoch ein Fehler bei der Korporaerstellung als eine mutmaßliche Ursache hiervon identifiziert werden, woraufhin Asai stattdessen der sich um die beiden übersetzungsgeschichtlichen Bindeglieder Takeyama (1941) und Toyonaga (1940) formierenden Kerngruppe zugeordnet wurde. Ob die anfängliche Zuordnung zur Übersetzungsperipherie allerdings nicht doch auch angesichts innovativer Übersetzungsansätze Asais (1955) begründbar sein könnte, wäre eine Fragestellung für weitere Analyseiterationen; dagegen spricht jedoch die im weiteren Verlauf dieses Abschnitts thematisierte ausgeprägte genetische Einflussbeziehung zur Satō-Retranslation (1966.7 [1963]) als einem aus dem inneren Kreis der japanischen Tonio Kröger-Retranslation hervorgegangenem Text.
Für eine Zuordnung von Asai (1955) zur Kerngruppe spricht derweil auch die relationale Analyse insofern, als für diese Retranslation gegenüber Takeyama (1941) ein überwiegender Anstieg der Konsenskurven festgestellt werden konnte. Dies lässt darauf schließen, dass Asai den Übersetzungskonsens in stärkerem Maße als Takeyama aufrechterhalten oder definiert hat. Untermauert wird diese Annahme auch durch seine im relationalen Close Reading festzustellende Orientierung an den älteren, vorkriegs- und kriegszeitlichen Übersetzungstexten wie insbesondere der Erstübersetzung Saneyoshis, mit der Asai (1955) die Übersetzung des Tokens der „persönlichen“ Krawatten (GKFA 266) durch dokutoku no („individuell“) ebenso gemeinsam hat wie auch die relativ wörtliche Übersetzung von „im Übrigen“ (GKFA 266) durch sono hoka no ten de wa („in allen anderen Punkten“), wobei beide Varianten zwar jeweils von mehreren Übersetzenden aufgegriffen werden, aber keinen Konsens konstituieren. Dass sich Asai Masao also auch jenseits von Konsensübersetzungen an Saneyoshi Hayaos Erstübersetzung orientiert zu haben scheint, könnte auf persönlichen Kontakt zurückzuführen sein, von dem Asais Danksagungen und explizite Bezugnahmen auf „Saneyoshi Hayao-Sensei“ (Asai 1941: 217) zeugen. Allerdings hat das relationale Close Reading keine exklusive Beeinflussung Asais durch die Erstübersetzung, sondern gleichfalls auch durch die übrigen älteren Übersetzungstexte ergeben: Bei Mukasa (1928) betrifft dies die Konsensübersetzung hidoku kurushinde für das Token „unter schweren Kämpfen“ (GKFA 290) und bei Toyonaga das Aufgreifen von muchū ni natte wita als ansonsten nur noch bei Satō (1966.7 [1963]) zu beobachtende Übersetzungsvariante des Tokens „nur aus Versunkenheit“ (GKFA 260–261). Von Takeyama (1941) übernimmt Asai (1955) ferner die einen Widerspruch implizierende Semantik bei der Übersetzung des Tokens „worauf“ in „worauf sie mit dem südlichen Künstler in blaue Fernen gezogen war…“ (GKFA 290) ebenso wie die verstärkt auf Satzteilung basierende, domestizierende Übersetzung von Manns komplexer Syntax.
Während hieraus bereits ein Kerngruppenbezug der Asai-Retranslation in Hinblick auf Saneyoshis Erstübersetzung sowie auf die beiden übersetzungsgeschichtlichen Bindeglieder Toyonaga (1940) und Takeyama (1941) ersichtlich wird, besteht ein weiterer Grund für eine Zuordnung dieses Texts zur Kerngruppe darin, dass insbesondere der prominente Thomas Mann-Spezialist Satō Kōichi in seiner erstmals 1963 publizierten und in der quantitativen Analyse eindeutig der Kerngruppe zugeordneten Tonio Kröger-Retranslation offensichtliche Anleihen bei Asai genommen hat. Ersichtlich wird dies anhand von Übersetzungstokens wie „der nichts ist“ (GKFA 266), bezüglich dessen Asai die daraufhin von Satō (1966.7), Nojima (1968) und Ueda (1970) übernommene Variante mu ni hitoshii („gleich wie nichts“) etabliert, anhand des Tokens des „schlimmen Lebens“ (GKFA 266), bezüglich dessen Asais (1955) formaläquivalente Übersetzung warui seikatsu erneut von Satō (1966.7), Ueda (1970) sowie in abgewandelter Form auch von Asai (2018) aufgegriffen wird, anhand des Tokens der „unberührbaren Sprödigkeit“ (GKFA 310–311), für das Asai (1955) die innovative Variante sumashite iru bzw. „affektiert sein“ einführt und damit erneut Satō (1966.7) sowie in abgewandelter Form auch Nojima (1968) genetisch beeinflusst, und anhand des Tokens „verwachsen“, bezüglich dessen Asais Variante kikei bzw. „Missbildung“ erneut von Satō (1966.7) und Nojima (1968) übernommen wird. Diese Beispiele legen nahe, dass Satō als zentraler Akteur der japanischen Thomas Mann-Forschung und -Übersetzung innovative Übersetzungsvarianten Asais in mehreren Fällen übernommen hat; auch hinsichtlich der Retranslations Nojimas (1968) und Uedas (1970) ist ein entsprechender, eventuell durch Satō vermittelter genetischer Einfluss anzunehmen.
Trotz dieser evidenten Einflüsse scheint Asai Masaos Retranslation für die äußere Übersetzungsgeschichte der Erzählung Tonio Kröger in Japan eine eher untergeordnete Rolle gespielt zu haben. Zu den dies bedingenden Faktoren gehört einerseits die Tatsache, dass Hakusuisha als der die Asai-Retranslation 1955 erstmals publizierende Verlag im Vergleich zu Iwanami oder Shinchōsha nur über eine begrenzte Reichweite verfügt hat. Hinzu kam, dass beide Ausgaben der Asai-Retranslation innerhalb von Sammelbänden zur Weltliteratur erschienen, die zwar im Kontext des nachkriegszeitlichen Weltliteratur-Booms populär waren, aber im direkten Vergleich zu den niederschwellig zugänglichen bunkobon-Taschenbuchreihen keine hohen Absatz- und Auflagenzahlen erreichten. Andererseits dürfte jedoch auch Asai Masaos persönlicher akademischer Werdegang auch dahingehend eine Rolle gespielt haben, dass dieser Übersetzer zwar den Weg zur Professur sehr geradlinig beschritt, hierbei aber im Unterschied zur Mehrzahl der Tonio Kröger-Übersetzenden seinen Abschluss nicht an der (Kaiserlichen) Universität Tōkyō, sondern am germanistischen Institut der Waseda-Universität erworben hatte und dort bis zu seiner Emeritierung tätig war. Sieht man von den eingangs erwähnten Bezugnahmen auf Saneyoshi Hayao einmal ab, scheint Asai Masao also die Einbindung in den insbesondere mit der Tōdai-Germanistik assoziierten, kyōyōshugi-affinen inneren Kreis der japanischen Thomas Mann-Forschung und -Übersetzung nicht geglückt zu sein bzw. nicht zu den Absichten dieses sich keineswegs auf Mann konzentrierenden Übersetzers gehört zu haben. Hierdurch war es für Satō Kōichi als einem zentralen Akteur des inneren Kreises umso leichter, Asais innovative Übersetzungsvarianten in gewissem Sinne für sich zu beanspruchen. Ferner scheinen sich auch andere Übersetzende neben Satō auf neuartige Übersetzungsvarianten Asais (1955) bezogen zu haben, wie bspw. das Übersetzungstoken „Ich bin am Ziel, Lisaweta“ (GKFA 278) bzw. die von Asai eingeführte und von Fukuda (1965) und Ueda (1970) übernommene Variante oshimai zeigt.
Damit kann Asai Masaos Tonio Kröger-Retranslation auf Grundlage sämtlicher Analyseschritte zwischen einer ausgeprägten Orientierung an der Erstübersetzung einerseits und eigenen, einzigartigen Gestaltungsinitiativen andererseits verortet werden. Dass diese Gestaltungsinitiativen Asais insbesondere den prominenten Thomas Mann-Spezialisten Satō Kōichi beim Verfassen seiner nur wenige Jahre später erschienenen Tonio Kröger-Übersetzung maßgeblich beeinflusst zu haben scheinen, ohne dass Asai Masao deswegen an Satōs Ruhm teilgehabt hätte, verdeutlicht (ebenso wie das zuvor thematisierte Beispiel der Takeyama-Retranslation), dass sich innere und äußere Übersetzungsgeschichten mitunter in getrennten Sphären abspielen, sodass die „Kerngruppe“ (innere Übersetzungsgeschichte) und der „innere Kreis“ (äußere Übersetzungsgeschichte) keineswegs deckungsgleich sind.
6.2.7 Fukuda (1965): Im Kielwasser der Kerngruppe
Im Unterschied zu Asai Masao waren bei Fukuda Hirotoshi die Kernkriterien für eine Zugehörigkeit zum inneren Kreis der japanischen Tonio Kröger-Retranslation insoweit gegeben, als Fukuda seinen Abschluss am germanistischen Institut der Universität Tōkyō erwarb und hiernach eine Professur an der Rikkyō-Universität innehatte. Dem entspricht es, dass Fukudas Retranslation im Kontext der Basisklassifikation der sich um die beiden übersetzungsgeschichtlichen Bindeglieder Takeyama (1941) und Toyonaga (1940) herum formierenden Kerngruppe zugeordnet wurde. Auch in den relationalen Close Readings ließ sich eine ausgeprägte Orientierung Fukudas (1965) insbesondere an der Erstübersetzung Saneyoshis (1927) feststellen, die bspw. an der jeweils identischen Umsetzung des Tokens „und im Übrigen“ (GKFA 266) durch sono hoka no ten de wa („die übrigen Punkte betreffend“), des Tokens der „Sprödigkeit“ (GKFA 310–311) durch reitan („Kälte“ oder „Gleichgültigkeit“) sowie des Tokens „verwachsen“ (GKFA 312) durch semushi bzw. „Buckel“ erkennbar wird. In den drei genannten Beispielen übernehmen ferner jeweils mehrere Retranslations die Übersetzungsvariante der Erstübersetzung, ohne dass hierdurch ein Übersetzungskonsens zustande käme; dies zeigt, dass die mutmaßliche Beeinflussung Fukudas durch Saneyoshi in den genannten Fällen zwar keine Exklusivangelegenheit, aber auch nicht selbstverständlich war. An einem hingegen durch Mukasa Takeo (1928) etablierten Konsens orientiert sich Fukuda in Hinblick auf das Übersetzungstoken „unter schweren Kämpfen“ (GKFA 290) bzw. auf die Kombination von hidoi und kurushimu.
Auffällige Parallelen konnten in den relationalen Close Readings überdies noch in Hinblick auf die 1941 publizierte Retranslation Takeyama Michios festgestellt werden, mit dem Fukuda (1965) einerseits eine die Verneinung des Verbs sugiru („übersteigen“) beinhaltende, in keinem anderen Text belegte Übersetzungsvariante des Tokens „der nichts ist“ (GKFA 266) ebenso gemeinsam hat wie einige Parallelen in der syntaktischen Gestaltung. Ferner spricht die jeweils gleichartige Übersetzung des Tokens „Ich bin am Ziel“ (GKFA 278) durch oshimai ebenso für eine Beeinflussung Fukudas durch Asai (1955) wie auch eine vergleichbare Neutralisierung der freien indirekten Rede durch das Personalpronomen der ersten Person Singular, boku, eine genetische Einflussbeziehung zwischen Satō (1966.7 [1963]) und Fukuda (1965) nahelegt. Folglich orientiert sich Fukuda Hirotoshi in seiner Tonio Kröger-Retranslation zwar schwerpunktmäßig, aber nicht ausschließlich an der Erstübersetzung, sondern insbesondere auch an Takeyama (1941) sowie an seinen unmittelbaren Vorgängern Asai (1955) und Satō (1966.7 [1963]).
Dabei ist es eher unwahrscheinlich, dass Fukuda den zum Veröffentlichungszeitpunkt seiner Tonio Kröger-Retranslation bereits etablierten Übersetzungskoryphäen Takahashi und Satō ihren Rang streitig machen wollte; ähnlich wie zuvor auch die Asai-Retranslation (1955) vermittelt sein Text hingegen zwischen einer Orientierung an den älteren Übersetzungen der Vorkriegs- und Kriegszeit und eigenen Abgrenzungsversuchen. Diesen Eindruck bestätigte die relationale Analyse insofern, als für Fukuda (1965) ein ähnliches Konsensniveau wie bei Asai (1955) festgestellt werden konnte; auch der Variationsgrad zwischen Konsenstreue und Abgrenzung scheint in beiden Retranslations grundsätzlich vergleichbar zu sein, aber jeweils andere Absatzdokumente zu betreffen. Während das Ausloten zwischen Tradition und Innovation jedoch auch prominente Retranslations wie insbesondere diejenige Takahashi Yoshitakas (1967 [1949]) in der relationalen Analyse kennzeichnet, besteht ein wesentliches Unterscheidungskriterium zu weniger prominenten Texten wie Fukuda (1965) in diesem Falle – neben den Faktoren der äußeren Übersetzungsgeschichte – im durch die Übersetzungsinnovation auf die darauffolgenden Texte ausgeübten genetischen Einfluss. Dieser fällt bei Fukuda eher überschaubar aus: Ebenso einzigartig wie bemerkenswert bleibt so seine Interpretation des Übersetzungstokens des „schlimmen Lebens“ (GKFA 266) als chinmoku no seikatsu bzw. als „Leben in Schweigen“. Auch die für das Token „unwissend“ (GKFA 266) anstelle des dominanten Verbs shiru von ihm eingeführte Countertranslation wakimaete inai wird in der Folge einzig von Morikawa (1966.5) aufgegriffen; mit seiner Übersetzung des Tokens „ganz aufgelöst in heißen Thränen [sic]“ (GKFA 290) durch mi mo yo mo naku […] kakikurete, d. h. „ohne an sich selbst oder die Außenwirkung denkend“ (mi mo yo mo naku) „bitterlich weinend“ (kakikurete) scheint Fukuda hingegen Asai Shōko (2018) in ihrer Neuübersetzung beeinflusst zu haben – was aufgrund des erheblichen Zeitabstandes zwischen beiden Texten wiederum veranschaulicht, wie umfassend sich die Übersetzenden vielfach mit den älteren Texten auseinandergesetzt haben dürften.
Dass die Nachwirkungen der Fukuda-Retranslation trotzdem gering geblieben sind, dürfte neben dem zumindest in der retrospektiven Aufarbeitung kaum erkennbaren Profilierungsehrgeiz Fukuda Hirotoshis auch mit dem Publikationsformat dieser Retranslation zusammenhängen. Diese erschien zwar in zwei unterschiedlichen Sammelausgaben zur Weltliteratur bei Chūōkōronsha als einem auch in kyōyōshugi-Kreisen namhaften Verlag und scheint dementsprechend, zumal die zweite Ausgabe knapp drei Jahrzehnte nach der ersten erschienen ist, ihre Abnehmer*innen gefunden zu haben; dabei blieb es aber bei jeweils einer Auflage. Dass ferner trotz der punktuellen Einflussspuren in späteren Retranslations Fremdzeugnisse der äußeren Übersetzungsgeschichte gänzlich ausgeblieben sind, zeigt, dass Fukuda Hirotoshis keineswegs gänzlich dem Vergessen anheimgefallene Tonio Kröger-Retranslation in ihrer Mischung aus bereits vorhandenen Übersetzungsvarianten und eigener Abgrenzung in der Kerngruppe aufging.
6.2.8 Satō 1966.7 [1963]: Resonanz, Renommee und fremde Countertranslations
Satōs Ruf als „Nummer Eins der japanischen Thomas Mann-Forschung“ (Matsuura 1963: 164) sowie seine diesen Status bedingende prominente Verortung hinsichtlich der äußeren Übersetzungsgeschichte bzw. im Zentrum der kyōyōshugi-affinen Tōkyōter Fachgermanistik (Abschluss und Professur am germanistischen Institut der Kaiserlichen Universität Tōkyō, Lehramt an der Ersten Oberschule) legten eine Zuordnung seiner Tonio Kröger-Retranslation zur Kerngruppe bereits vorab nahe; dies konnte in Bezug auf die quantitativ fundierte Basisklassifikation bestätigt werden. Ebenso ergab die relationale Analyse einen Abfall der roten Countertranslation- sowie einen Anstieg der Konsenskurven, also eine derivative Übersetzungscharakteristik. Diese betrifft einerseits bereits thematisierte Konsensübersetzungen, wie sie Saneyoshi (1927) für das Token „mit dem Bewußtsein“ (GKFA 313) durch ishiki (o idaite) und Mukasa für das Token „unter schweren Kämpfen“ (GKFA 290) durch hidoku kurushinde etabliert hat. Eine darüber hinausgehende Beeinflussung Satōs durch die Erstübersetzung lässt ferner das Token „unwissend“ (GKFA 266) erkennen, dessen extrem wörtliche Übersetzung durch shirazu ni iru nur bei Saneyoshi, Satō (1966.7) und Ueda (1970) in dieser Form belegt ist. In Hinblick auf das Token „worauf“ (GKFA 290) sowie auf die Syntaxübersetzung sind darüber hinaus Parallelen auch zur Takeyama-Retranslation erkennbar, durch die allerdings die Mehrzahl der darauffolgenden Übersetzungstexte charakterisiert ist.
Besonders fällt wie oben erwähnt allerdings die genetische Beeinflussung Satōs (1966.7 [1963]) durch seinen unmittelbaren Vorgänger Asai Masao (1955) auf. Dies zeigt sich im relationalen Close Reading an den Tokens des „schlimmen Lebens“ (GKFA 266), bezüglich dessen die u. a. auch von Satō aufgegriffene Variante warui seikatsu erstmalig von Asai (1955) etabliert worden ist, am Token „der nichts ist“ (GKFA 266), bezüglich dessen Satō erneut eine erstmalig in Asais Retranslation nachweisbare Variante (mu ni hitoshii bzw. „gleich wie nichts“) aufgreift sowie insbesondere auch am Token der „unberührbaren Sprödigkeit“ (GKFA 310–311), für das Asai die charakteristische Variante sumashite iru („affektiert sein“) etabliert und damit erneut Satō beeinflusst. Gleiches gilt ferner für das Token „verwachsen“ (GKFA 312), bezüglich dessen die erstmalig bei Asai belegte Übersetzung durch kikei bzw. „Missbildung“ erneut direkt von Satō übernommen wird, sowie auch für das Übersetzungstoken „nur aus Versunkenheit“ (GKFA 260–261), welches in der Form muchū ni natte wita („wie in Trance“) zwar bereits bei Toyonaga (1940), ansonsten aber ausschließlich bei Asai (1955) und Satō (1966.7) nachgewiesen werden kann, was nahelegt, dass Satō diese Variante nicht direkt von Toyonaga, sondern ebenfalls von Asai übernommen haben könnte.
Hinzu kommt, dass sich im relationalen Close Reading kein einziger Fall ermitteln ließ, in dem Satō (1966.7 [1963]) bspw. über eine gemeinsame Orientierung am Übersetzungskonsens hinausgehend Übersetzungsvarianten der an sich einflussreichen Takahashi-Retranslation (1967 [1949]) übernommen hätte. Dies legt die Schlussfolgerung nahe, dass Satō, der auch im karriereförderlichen Umgang mit den im Zusammenhang der NS-Kompromittierung der japanischen Fachgermanistik gewandelten politischen Rahmenbedingungen einige Flexibilität an den Tag gelegt hatte, in seiner mehrheitlich derivativen Übersetzungspraxis kalkuliert vorging: Großzügige Anleihen an der Takahashi-Retranslation wären mit höherer Wahrscheinlichkeit aufgefallen; da aber Asai Masao (1955) in der kyōyōshugi-affinen Tōkyōter Fachgermanistik eher eine Außenseiterposition innehatte, war es hier deutlich eher möglich, auf Asai zurückgehende Übersetzungsinnovation für sich in Anspruch zu nehmen. Für eine solche strategischen Überlegungen möglicherweise bedingende übersetzerische Konkurrenzsituation insbesondere zwischen Takahashi und Satō spricht dabei, dass bspw. auch der Schriftsteller Kita Morio die jeweilige Thomas Mann-Übersetzungsproduktion der beiden explizit verglichen und die übersetzerische Überlegenheit Takahashis festgestellt hat. Dieser Eindruck einer möglichen Konkurrenz, der Satō aus dem Weg gehen wollte, wird außerdem dadurch untermauert, dass die relative Gleichrangigkeit dieser beiden japanischen Thomas Mann-Koryphäen spätestens mit der gemeinsamen Herausgeberschaft der bei Shinchōsha verlegten japanischen Thomas Mann-Gesamtausgabe 1972 (die Satō selbst freilich nicht mehr erlebte) offiziell wurde.
Diese Beobachtungen schließen derweil keineswegs aus, dass Satōs insgesamt eher traditionsverbundener Ansatz einerseits auch auf sein kyōyōshugi-typisches Verehrungspathos sowohl gegenüber Thomas Mann als auch gegenüber den akademischen Vorgängern zurückzuführen gewesen sein könnte oder aber andererseits Satōs enorme Übersetzungsproduktivität direkt nach Kriegsende überhaupt erst ermöglichte. Dass auch dieser Übersetzer prinzipiell allerdings durchaus zur moderaten Abgrenzung von vorherigen Konsensübersetzungen bereit war, belegen Tokens wie „ganz aufgelöst in heißen Thränen [sic]“ (GKFA 290), bezüglich dessen Satō „ganz“ im Unterschied zu den übrigen Übersetzenden in der Variante kokoro kara ( „von Herzen“) realisiert und hierdurch mutmaßlich auch Ueda (1970) beeinflusst hat, sowie „Ich bin am Ziel“ (GKFA 278), bezüglich dessen Satō die anschließend von Morikawa (1966.5) und Nojima (1968) übernommene Übersetzung owaru etabliert hat. Daneben ist Satōs Retranslation (1966.7 [1963]) in der Chronologie der betrachteten Übersetzungen sogar der erste Text, der die freie indirekte Rede – im Unterschied zur Erstübersetzung sowie insbesondere auch zu Takahashi – durch das Personalpronomen der ersten Person Singular, boku, neutralisiert und so die Mehrzahl der darauffolgenden Retranslations beeinflusst hat. Doch auch diese Beobachtung ändert nichts daran, dass Satōs Tonio Kröger-Retranslation zwar in vier unterschiedlichen Sammelausgaben zur Weltliteratur bei drei unterschiedlichen Verlagshäusern erscheinen konnte, aber trotzdem bezüglich der Auflagenzahlen von den zu Beginn der 1960er-Jahre bereits selbst kanonisierten Tonio Kröger-Übersetzungen Saneyoshis (1927) und Takahashis (1967 [1949]) überstrahlt worden ist. Dem entspricht es ferner, dass Satōs Text bei Kawade Shobō Shinsha, Shūeisha sowie bei Shufu no Tomosha jeweils in Sammelausgaben zur Weltliteratur erschienen ist, die sich weder in ihrem literarischen Prestige noch hinsichtlich der Auflagenzahl mit den bei Iwanami oder Shinchōsha publizierten bunkobon-Taschenbuchreihen messen konnten.
6.2.9 Morikawa 1966.5: Abgrenzung und Ambition
Auch Morikawa Toshio kann in Hinblick auf seinen Abschluss am germanistischen Institut der Universität Tōkyō sowie seine Professuren an der Hitotsubashi-Universität und der Tōkyō International University der kyōyōshugi-nahen akademischen Elite zugeordnet werden, wobei seine Tonio Kröger-Retranslation nur wenige Jahre vor Antritt der ersten Professur entstand. Sie dürfte ähnlich karriereförderlich gewirkt haben wie auch Morikawas Kontakte zu den prominenten Thomas Mann-Spezialisten Takahashi Yoshitaka und insbesondere Satō Kōichi, wobei Letzterer zu Morikawas akademischen Mentoren gehört zu haben scheint. Dies hatte zur Folge, dass Morikawa auch an der von Takahashi und Satō ab 1972 herausgegebenen Gesamtausgabe aktiv mitwirken durfte und im Anschluss langfristig als Thomas Mann-Übersetzer aktiv war. Er gehörte demzufolge ohne Zweifel zum sich anhand von Faktoren der äußeren Übersetzungsgeschichte konstituierenden inneren Kreis der japanischen Tonio Kröger-Übersetzung und machte sich diese Verbindungen zunutze.
Vor dem Hintergrund dieser offenkundigen Ambitioniertheit ist es bemerkenswert, dass Morikawas 1966 erschienene Tonio Kröger-Retranslation im Zusammenhang der Basisklassifikation ebenso wie diejenige Takahashi Yoshitakas in einem Randbereich der Kerngruppe verortet wurde, da quantitative Ähnlichkeitsbeziehungen zu anderen Texten der Kerngruppe hier nur in Hinblick auf den zweiten, gesamttextlichen Ähnlichkeitstyp festzustellen waren. Angesichts dieser Parallele zu Takahashi ist es ferner umso interessanter, dass nicht nur für Takahashi, sondern auch für Morikawa eine von Mukasa (1928) ausgehende genetische Einflussbeziehung durch das charakteristische Token „tief“ in „der magere Hals stak so tief zwischen diesen armseligen Schultern“ (GKFA 312) bzw. durch die einzigartige Übersetzungsvariante suppori („ganz eingeführt“) belegt ist. Dass hier ebenso wie im in Abschnitt 6.2.5 thematisierten Falle Takahashis die Orientierung an der ihrerseits der Übersetzungsperipherie zugeordneten Mukasa-Retranslation, auch wenn sie nur hinsichtlich eines einzelnen, spezifischen Tokens erfolgt, mit einer unter bestimmten Aspekten geminderten quantitativen Ähnlichkeit zu den Texten der Kerngruppe einhergeht, bietet Anlass für weitere, sich auf diesen Zusammenhang konzentrierende Analyseiterationen.
Dass Morikawas (1966.5) Abgrenzung von den Texten der Kerngruppe keineswegs absolut ist, zeigen indessen Tokens wie „nur aus Versunkenheit“ (ware o wasurete bzw. „selbstvergessen“), das Token des „schlimmen Lebens“ (GKFA 266) (kurushii seikatsu), das der „unberührbaren Sprödigkeit“ (GKFA 310–311) (okashigatai reitan, d. h. „würdevolle Gleichgültigkeit bzw. Kälte“) sowie „und im Übrigen“ (GKFA 266) (sono hoka no ten de wa, also „die übrigen Punkte betreffend“), die Morikawa allesamt in Orientierung an Saneyoshis Erstübersetzung (1927) realisiert hat, obwohl Letztere in diesen Fällen keine Konsensübersetzung konstituiert. Den Anschluss an die Kerngruppe stellt darüber hinaus auch ein zumindest indirekt durch Takeyama (1941) beeinflusster Umgang mit der Ausgangstextsyntax her, während Morikawa die freie indirekte Rede anknüpfend an Satō (1966.7 [1963]) durch das Personalpronomen der ersten Person Singular neutralisiert und so eine Ähnlichkeitsbeziehung zur Mehrzahl der jüngeren Retranslations erzeugt. Eine darüber hinausgehende Beeinflussung Morikawas durch Satō (1966.7 [1963]) ist ferner angesichts der Übersetzung von „Ich bin am Ziel“ (GKFA 278) durch owaru anzunehmen, während das Token „der nichts ist“ (GKFA 266) in der wörtlichen Variante nanimono de mo nai eine genetische Beeinflussung Morikawas durch Takahashi (1967 [1949]) sowie das Token „unwissend“ (GKFA 266) in der Übersetzungsvariante wakimaete inai eine exklusive Beeinflussung durch Fukuda (1965) nahelegt. Diese Beispiele zeigen, dass Morikawa (1966.5) nicht nur bei Mukasa (1928), sondern bei diversen Übersetzungstexten auch jenseits der jeweiligen Konsensübersetzungen offenkundige Anleihen genommen hat.
Dies deckt sich mit den Ergebnissen der relationalen Analyse insofern, als die prozentualen Anteilswerte der Konsensübersetzung für Morikawas (1966.5) tendenziell abnehmen; der ebenfalls in diesem Zusammenhang festgestellte erhebliche Anstieg der Countertranslation-Anteilswerte musste dagegen mit Blick auf die Publikationsabfolge etwas relativiert werden. Dennoch ließen sich im relationalen Close Reading für Morikawas Retranslation (1966.5) einige beträchtliche Abweichungen vom bisherigen Übersetzungskonsens dahingehend feststellen, dass er das bereits mehrfach thematisierte Token „unter schweren Kämpfen“ (GKFA 290) auf einzigartige Weise semantisch spezifizierend als byō to hageshiku tatakainagara („heftig mit der Krankheit kämpfend“) übersetzt. Ebenso einzigartig ist Morikawas Umsetzung der Charakterisierung von Tonios Mutter, die „überhaupt so anders war, [sic] als die übrigen Damen der Stadt, weil der Vater sie sich einstmals von ganz unten auf der Landkarte heraufgeholt hatte“ (GKFA 247), in der er Satzthema und -subjekt durch das japanische Leidenspassiv vom Vater auf die Mutter verlagert. Auch das Token „verwachsen“ (GKFA 312) hat Morikawa in der Variante nekoze no kimi ga aru, d. h. „Anschein eines Katzenbuckels“ in einzigartiger Abgrenzung insbesondere auch von der Variante der Erstübersetzung (semushi) realisiert. Dass jedoch keine dieser innovativen Übersetzungsvarianten Morikawas von einem der darauffolgenden Texte übernommen worden ist, spricht für Morikawas (1966.5) Sonderstellung gegenüber der auf quantitativen Ähnlichkeitsbeziehungen basierenden Kerngruppe.
Diese Sonderstellung könnte u. a. auch darauf zurückzuführen sein, dass der hervorragend vernetzte Morikawa mit seiner Tonio Kröger-Retranslation durchaus beabsichtigt hatte, ein Statement zu setzen. Hiermit ist er jedoch zumindest dahingehend gescheitert, dass sich die Nachwirkungen seines Textes in der inneren Übersetzungsgeschichte in Grenzen gehalten haben und auch in Bezug auf die äußere Übersetzungsgeschichte keine durch Auflagenzahlen messbare Breitenwirkung zur Folge hatten. Zu den Gründen hierfür mag erneut die Etabliertheit der Vorgänger Saneyoshi und Takahashi ebenso wie eine generelle Sättigung des Tonio Kröger-Übersetzungsmarktes gehört haben, denn immerhin handelte es sich bei Morikawa (1966.5) um die inzwischen neunte Übersetzung dieses hochgradig kanonisierten Textes. Daneben hat vermutlich auch die Veröffentlichung bei Sanshūsha als einem auf Deutschlehrmaterialien und Wörterbücher spezialisierten Fachverlag mit eher geringer Reichweite eine Rolle gespielt. Dass dieser Text überhaupt noch in einer weiteren Ausgabe beim selben Verlag erscheinen konnte, dürfte dementsprechend v. a. auf das akademische Renommee Morikawa Toshios zurückzuführen sein.
6.2.10 Nojima 1968: Risikoarm für die Masse
Im Unterschied zu Morikawas nur teilweise geglücktem Profilierungsversuch dürfte Nojima Masanaris 1968 erschienene Tonio Kröger-Retranslation den intendierten Zweck insofern erfüllt haben, als diese vom schwerpunktmäßig auf Unterhaltung und Massentauglichkeit ausgerichteten Kōdansha-Verlag als „verlagseigene“ Tonio Kröger-Version in verhältnismäßig kurzem zeitlichem Abstand mehrfach lukrativ verwertet werden konnte. Auf eine graduelle Öffnung hin zum breiteren, auch nichtakademischen Publikum ließ dabei auch das Vorhandensein von Illustrationen schließen. Mit Nojima hatte man ferner einen Übersetzer verpflichtet, der zum Veröffentlichungszeitpunkt bereits in fachgermanistischen Kreisen als Übersetzer sowie als Verfasser eines Deutschlehrbuchs etabliert war und sogar eine Verbindung zum prominenten Thomas Mann-Spezialisten Satō Kōichi aufweisen konnte, ohne sich selbst in vergleichbarer Weise auf Mann spezialisiert zu haben. Dementsprechend nahe liegt es, dass Nojima in seiner Tonio Kröger-Retranslation keine allzu großen Übersetzungsexperimente unternimmt und folglich bereits in Hinblick auf die quantitativ fundierte Basisklassifikation der Kerngruppe zugeordnet werden konnte. Auch hier bleibt das Stichwort ähnlich wie bei mehreren Vorgängern dasjenige der Variation zwischen Konsens und (in diesem Falle moderater) Abgrenzung, sodass sich auch die für Nojima in der relationalen Analyse ermittelten Anteilswerte der Konsensübersetzungen und der Countertranslations im Vergleich zu den übrigen Übersetzungstexten auf einem Durchschnittsniveau bewegen. Dass die für beide Kurventypen in diesem Zusammenhang erhobenen Datenpunkte relativ weit gestreut sind, lässt ferner darauf schließen, dass Nojima, während Vorgängertexte wie bspw. Satō (1966.7 [1963]) ein konstantes Verhältnis zwischen Tradition und Abgrenzung realisiert haben, je nach Textabsatz stärker variiert.
Dem relationalen Close Reading zufolge überwiegt hierbei eindeutig die Orientierung einerseits an der Erstübersetzung (1927) sowie andererseits an Nojimas unmittelbareren Vorgängern Asai Masao (1955) und Satō Kōichi (1966.7 [1963]): Mit der Erstübersetzung teilt Nojima nicht nur die auf das Token „mit dem Bewußtsein“ (GKFA 313) bezogene Konsensübersetzung ishiki o idaite, sondern ebenso die entsprechenden Varianten zum Token „nur aus Versunkenheit“ (ware o wasurete bzw. „selbstvergessen“) sowie zum Token des „schlimmen Lebens“ (GKFA 266; kurushii seikatsu). Während sich in Hinblick auf den Umgang mit Manns komplex verschachtelter Syntax auch im Falle Nojimas – wie bei der Mehrzahl der jüngeren Retranslations – eine implizite Beeinflussung durch Takeyamas (1941) domestizierenden Ansatz erkennen lässt, sind demgegenüber die Parallelen zu Asai (1955) noch auffälliger: Hier übernimmt Nojima (1968) als einer von jeweils nur zwei bis maximal drei Texten die charakteristischen Übersetzungsvarianten mu ni hitoshii („gleich nichts“) für das Token „der nichts ist“ (GKFA 266), die Variante kikei („Missbildung“) für das Token „verwachsen“ (GKFA 312) und die Variante sumashite iru („affektiert sein“) für das Token der „unberührbaren Sprödigkeit“ (GKFA 310–311). Bemerkenswert ist außerdem, dass alle drei zuletzt aufgeführten Varianten, die eine genetische Einflussbeziehungen zwischen Asai (1955) und Nojima (1968) nahelegen, in dieser Form auch bei Satō (1966.7 [1963]) belegt sind. Owaru als Übersetzung des Tokens „Ich bin am Ziel“ (GKFA 278) sowie die Neutralisierung der freien indirekten Rede durch das Pronomen boku als weitere, ihrerseits durch Satō etablierte Übersetzungsvarianten sind zudem ebenfalls in der Nojima-Retranslation (1968) nachweisbar, sodass auch eine indirekte, durch Satō vermittelte Übernahme der Asai-Varianten durch Nojima denkbar ist.
Eine Abgrenzung Nojimas von den vorherigen Übersetzungstexten bleibt hingegen auf zwei Tokens beschränkt: Zum einen „unter schweren Kämpfen“ (GKFA 290), bezüglich dessen Nojima die daraufhin auch durch Maruko (1990) übernommene durch Countertranslation zuibun kurushimu etabliert, zum anderen das Token „ganz aufgelöst in heißen Thränen [sic]“ (GKFA 290), das einzig in der Nojima-Retranslation mit dem ein „stilles Weinen“ meinenden Adverb samezame to realisiert ist. Dass Nojima Masanari in seiner Tonio Kröger-Retranslation also in erster Linie traditionelle Übersetzungsvarianten der Erstübersetzung mit neueren, durch seine Vorgänger eingeführten Abgrenzungen hiervon kombiniert hat, wirkt dementsprechend wie eine vergleichsweise risikoarme Übersetzungsformel („Tradition plus insbesondere durch die Koryphäe Satō erprobte Neuerungen“), die zwar nicht zu Nojimas Profilierung als bahnbrechender Tonio Kröger-Übersetzer führte, aber mit den Publikations- und Vermarktungsinteressen des Kōdansha-Verlages gut in Einklang zu bringen war.
6.2.11 Ueda 1970: Liebhaberprojekt eines Deutschlehrers
Ebenso wie die soeben thematisierte Nojima-Retranslation konnten auch für die 1970 publizierte Tonio Kröger-Retranslation Ueda Toshirōs verhältnismäßig wenige Versuche einer innovativen Abgrenzung vom bisherigen Übersetzungskonsens festgestellt werden; stattdessen dominiert auch hier die Orientierung einerseits an der Erstübersetzung (1927) sowie andererseits an den jüngeren Retranslations Asais (1955) und eventuell Satōs (1966.7 [1963]). Auch Ueda konnte hierbei grundsätzlich einen kyōyōshugi-konformen Werdegang vorweisen, der den Abschluss am germanistischen Seminar der Kaiserlichen Universität Tōkyō ebenso umfasste wie das Oberschullehramt im alten Bildungssystem sowie anschließende Professuren an der Gakushūin Universität und der Hitotsubashi-Universität. Bemerkenswert ist hierbei jedoch, dass Ueda auch nach seiner Emeritierung als Deutschlehrer tätig war und bereits während seiner Zeit an der Hitotsubashi-Universität ein auf hochliterarischen Textbeispielen basierendes Deutschlehrbuch veröffentlicht hatte. Auch seine Tonio Kröger-Retranslation publizierte er kurz vor seiner Emeritierung bei Ōbunsha als einem ausgesprochenen Lehrbuchverlag ohne allzu große Reichweite. Folglich dürfte sich der eher am Ende seiner akademischen Laufbahn stehende Ueda von seiner Tonio Kröger-Retranslation also kaum einen Profilierungsschub erhofft, sondern diese Übersetzung vielmehr im gedanklichen Zusammenhang mit seiner zwei Jahre nach deren Veröffentlichung erneut schwerpunktmäßig aufgenommenen Deutschlehrtätigkeit angefertigt haben. Davon zeugt nicht nur seine im Rahmen der Basisklassifikation festgestellte Zugehörigkeit zur Kerngruppe oder der in der relationalen Analyse festgestellte geringe Anteil an Countertranslations: Dass die Datenpunkte in der relationalen Analyse kaum gestreut sind, deutet zudem darauf hin, dass Ueda seine im relationalen Close Reading festgestellte konservative Übersetzungscharakteristik in unterschiedlichen Textabsätzen kaum variiert. Dies betrifft einerseits seine evidente Orientierung an der Erstübersetzung (1927), die anhand von Tokens wie „nur aus Versunkenheit“ (GKFA 260–261; ware o wasurete bzw. „selbstvergessen“), „und im Übrigen“ (GKFA 266; sono hoka no ten de wa bzw. „die übrigen Punkte betreffend“), „persönliche[n] Krawatten“ (GKFA 266; dokutoku no bzw. „individuell“) und „verwachsen“ (GKFA 312; semushi bzw. „Buckel“) erwiesen ist. Während hierbei Uedas Orientierung an der Erstübersetzung gerade deshalb, weil es sich nicht um Konsensübersetzungen handelt, umso klarer hervortritt, könnte seine Ähnlichkeit zu Mukasa (1928) in Hinblick auf die Konsensübersetzung des Tokens „unter schweren Kämpfen“ (GKFA 290) auch auf spätere Texte zurückzuführen sein. Ebenso ist aus den Parallelen zu Takeyamas (1941) Ansatz einer domestizierenden Syntaxübersetzung nicht zwingend eine genetische Einflussbeziehung abzuleiten, da die Mehrzahl der jüngeren Texte diese Variante übernahm. Ueda könnte sich also ebenso an Asai (1955), Satō (1966.7 [1963]), Fukuda (1965), Morikawa (1966.5) oder Nojima (1968) orientiert haben.
Eine derartige Beeinflussung ist umso wahrscheinlicher, da im relationalen Close Reading auch auffällige Gemeinsamkeiten zu Asai (1955) und teilweise zu Satō (1966.7 [1963]) festgestellt werden konnten. Letzteres betrifft zunächst die Neutralisierung der freien indirekten Rede durch boku als Personalpronomen der ersten Person Singular, welche erstmalig bei Satō belegt ist und in der Folge u. a. auch Ueda (1970) beeinflusst zu haben scheint. Gleiches gilt zudem für die extrem wörtlich-formaläquivalente Übersetzung des Tokens „unwissend“ (GKFA 266) durch shirazu ni iru, die in dieser Form ausschließlich bei Saneyoshi (1927), Satō (1966.7) und Ueda (1970) nachgewiesen werden konnte, sodass hier sowohl eine direkte Einflussbeziehung zur Erstübersetzung als auch eine Vermittlerfunktion Satōs vorstellbar ist. Dies trifft ebenso zu auf die Tokens „der nichts ist“ (GKFA 266), welches vor Ueda (1970) bereits Asai (1955), Satō (1966.7 [1963]) und Nojima (1968) mit der Variante mu ni hitoshii („gleich wie nichts“) übersetzt haben, sowie das Token des „schlimmen Lebens “ (GKFA 266), bezüglich dessen die wörtliche Übersetzungsvariante warui seikatsu erneut nur bei Asai (1955), Satō (1966.7 [1963]) und Ueda (1970) sowie in abgewandelter Form auch bei Asai (2018) belegt ist. Dementsprechend konnte nicht abschließend geklärt werden, ob eine genetische Einflussbeziehung nun zwischen Ueda (1970) und Asai (1955) oder aber zwischen Ueda (1970) und Satō (1966.7 [1963]) besteht: Dadurch, dass einerseits die Übersetzungsvariante kokoro kara bzw. „von Herzen“ als Übersetzung des Tokens „ganz“ in „ganz aufgelöst in heißen Thränen [sic]“ (GKFA 290) eine eindeutige Orientierung Uedas an Satō belegt, wogegen oshimai als Übersetzung von „Ich bin am Ziel“ (GKFA 278) eine ebenso eindeutige Beeinflussung Uedas durch Asai (1955) beweist, ist hier kein abschließendes Urteil möglich.
Zentral ist derweil die Erkenntnis, dass sich Ueda überwiegend an der Erstübersetzung (1927) sowie an Asai (1955) und Satō (1966.7 [1963]) orientiert, selbst aber kaum Abgrenzungsversuche unternommen hat. Das einzige Beispiel einer durch Ueda (1970) eingeführten Countertranslation, das das relationale Close Reading zu Tage gebracht hat, besteht daher in der Übersetzung der „unberührbaren Sprödigkeit“ (GKFA 310–311) durch toritsukushima mo nai yō na hiyayakasa („wie abweisend wirkende Kühle“), die jedoch von keinem der Folgetexte übernommen worden ist. Wie die Ausführungen zur äußeren Übersetzungsgeschichte gezeigt haben, lag es derweil auch gar nicht in Ueda Hirotoshis Absicht, sich durch besonders innovative Übersetzungsvarianten zu profilieren. Seine Retranslation dürfte im Unterschied bspw. zu Takahashi (1967 [1949]) kein strategisches Mittel zum Zwecke des Karrierefortschritts, sondern das Liebhaberprojekt eines alternden Germanistikprofessors gewesen sein, der, selbst im Geiste des elitären kyōyōshugi-Bildungsideals akademisch sozialisiert, davon überzeugt war, dass hochliterarische Texte wie Tonio Kröger japanischen Lernenden den geeigneten Zugang zur deutschen Sprache böten. Sein Anspruch war daher nicht der einer Konkurrenz zum Tonio Kröger-„Übersetzungsklassiker“ Saneyoshi Hayao oder zum distinguierten Spezialisten Satō Kōichi, sondern ein „Best of“ klassischer Übersetzungsvarianten für den Deutschunterricht.
6.2.12 Kataoka 1973: Buntes Portfolio inklusive Tonio
Ebenso, wie dies im vorherigen Abschnitt für Ueda dargestellt worden ist, spielt auch bei der Einordnung der 1973 publizierten Kataoka-Retranslation die äußere Übersetzungsgeschichte eine maßgebliche Rolle für die Bewertung der Analyseergebnisse: Kataokas akademische und berufliche Laufbahn konnte dabei insofern als etwas holprig charakterisiert werden, dass er seinen Abschluss zwar an der Literaturfakultät der Universität Tōkyō, aber nicht am Institut für Germanistik, sondern im Bereich Kunstgeschichte erworben hatte, zunächst als Übersetzer, Kritiker und Nachhilfelehrer tätig war und sich erst allmählich bis zu einer Fremdsprachenprofessur an der Dokkyō-Universität hocharbeiten konnte. Da Kataoka zum Veröffentlichungszeitpunkt seiner Tonio Kröger-Retranslation dementsprechend noch eher am Anfang seiner akademischen Karriere stand, ist anzunehmen, dass ihm diese Publikation zusammen mit einem diversifizierten Übersetzungs- und Publikationsportfolio auch ohne Anbindung an die kyōyōshugi-affine Fachgermanistik zum Erfolg verhelfen sollte. Seine Tonio Kröger-Übersetzung dürfte also durchaus der akademischen Profilschärfung gerade auch in Hinblick auf die anvisierte Professur gedient haben, sodass auch die im Kontext der Basisklassifikation vorgenommene Einordnung in die Kerngruppe schlüssig ist: Wollte Kataoka am Prestige des Tonio Kröger-Ausgangstextes sowie der hierauf bezogenen japanischen Übersetzungstradition teilhaben, wäre es für ihn nicht zielführend gewesen, sich komplett von Letzterer zu distanzieren.
Dabei war auch die Veröffentlichung seiner Retranslation innerhalb einer sich an ein überwiegend junges Publikum richtenden Weltliteratursammlung ebenfalls grundsätzlich dazu geeignet, an die während der Nachkriegszeit popularisierte kyōyōshugi-Tradition anzuknüpfen. Eine sprachdidaktische Motivation für die Veröffentlichung im Lehrbuchverlag Rippū Shobō ist dabei im Vergleich zu Ueda (1970) jedoch eher unwahrscheinlich. Stattdessen dürfte dieser relativ junge und folglich in seiner Reichweite begrenzte Verlag Kataoka überhaupt den Quereinstieg in die Thomas Mann-Übersetzung ermöglicht haben, während die größeren Verlagshäuser zu Beginn der 1970er-Jahre längst allesamt eigene Tonio Kröger-Übersetzungsausgaben auf den Markt gebracht hatten.
Kataokas akademische Qualifikations- und Profilierungsabsichten konnten auch im relationalen Close Reading anhand einer innovativen Abgrenzung von den vorherigen Übersetzungstexten teilweise nachvollzogen werden. Dies betrifft das Token „schlimm“ in „schlimmes Leben“ (GKFA 266), das Kataoka erstmalig durch tsurai übersetzt und hierdurch mit Maruko (1990) und Hirano (2011) die Mehrzahl der darauffolgenden Texte beeinflusst. Weitere innovative Übersetzungsvarianten Kataokas, zu denen hitamuki ni („aufrichtig“) als ironisierende Übersetzung des Tokens „ganz“ in „ganz aufgelöst in heißen Thränen [sic]“ (GKFA 290), sono yo ni tsuite wa als Übersetzung von „und im Übrigen“ (GKFA 266) und mezasu tokoro ni ikitsuita („ich habe den anvisierten Ort bzw. Punkt erreicht“) als Countertranslation des Tokens „Ich bin am Ziel“ (GKFA 278) gehören, wurden jedoch von keinem der darauffolgenden Texte übernommen.
Diese Ergebnisse stimmen mit denen der relationalen Analyse insofern überein, dass Letztere einen Anstieg der prozentualen Anteilswerte für Countertranslations ergeben hat. Gleichzeitig wurde aber auch eine zunehmende vertikale Streuung der entsprechenden Datenpunkte und damit ein höherer Variationsgrad der Übersetzungsschwerpunkte je nach betrachtetem Textabsatz beobachtet. Jenseits der erwähnten Abgrenzungsbemühungen eröffnet sich durch dieses Variationsspektrum Spielraum für Kataokas (1973) auch jenseits von Konsensübersetzungen ausgeprägte Orientierung an der Erstübersetzung (1927). Diese zeigte sich im relationalen Close Reading an Tokens wie dem durch ishiki o idaite realisierten „mit dem Bewußtsein“ (GKFA 313), dem durch semushi bzw. „Buckel“ übersetzten Token „verwachsen“ (GKFA 312) sowie außerdem an dem der „unberührbaren“ Sprödigkeit (GKFA 310–311), wobei die Übersetzungsvariante oshigatai („würdevoll“) hier ausschließlich für Saneyoshi, Takahashi (1967 [1949]) und Kataoka (1973) belegt ist. Für eine wiederum von Takahashi (1967 [1949]) ausgehende Einflussbeziehung zu Kataoka sprechen darüber hinaus Parallelen in Bezug auf das Token „der nichts ist“ (GKFA 266), das neben Takahashi und Kataoka auch Morikawa (1966.5), Maruko (1990) und Asai (2018) in der wörtlichen Variante nanimono de mo nai realisieren, während die auch Kataoka charakterisierende systematische Übersetzung der freien indirekten Rede durch das Pronomen jibun sowohl auf Takahashi als auch auf die Erstübersetzung zurückzuführen sein könnte. Bemerkenswert ist darüber hinaus jedoch die Tatsache, dass sich Kataoka (1973) nicht nur bezüglich der auf das Token „unter schweren Kämpfen“ (GKFA 290) bezogenen Konsensübersetzung (hidoku kurushimu) an Mukasa (1928) orientiert zu haben scheint, sondern ebenso, wie die Syntaxanalyse gezeigt hat, im Umgang mit Manns verschachteltem Satzbau. Eine sehr spezifische genetische Einflussbeziehung wurde ferner auch zwischen Toyonaga (1940) und Kataoka (1973) bezüglich der Konjunktivübersetzung von „er würde […] zurückkehren“ (GKFA 313) durch den idiomatischen Ausdruck darō ni festgestellt.
Diese Beispiele veranschaulichen, dass sich Kataoka im Kontext seiner 1973 publizierten Tonio Kröger-Retranslation nicht nur durch eigene innovative, möglicherweise von seiner Essayistik beeinflusste Abgrenzung zu profilieren versucht hat, sondern insbesondere auch durch eine Kombination aus Übersetzungsvarianten, die aus deutlich älteren Texten wie der Erstübersetzung, Mukasa (1928), Toyonaga (1940) und Takahashi (1967 [1949]) stammten und mehrheitlich noch von keinem anderen der jüngeren Texte aufgegriffen worden waren. Ähnlich wie in Hinblick auf Satōs (1966.7 [1963]) übersetzerische Anleihen bei Asai (1955) darf dementsprechend auch Kataoka Keiji die Absicht unterstellt werden, Übersetzungsvarianten der vorherigen Texte zur eigenen Profilierung zu nutzen; bedingt durch Faktoren der äußeren Übersetzungsgeschichte wie insbesondere die fehlende institutionelle Anbindung ging diese Strategie in diesem Falle allerdings nur teilweise auf.
6.2.13 Maruko 1990: Neukombination der Traditionsströme
Im Unterschied zu Kataoka war Maruko Shūhei kyōyōshugi-typisch ausgebildet, hatte seinen Abschluss am germanistischen Institut der Universität Tōkyō erworben und konnte sich anschließend für eine Professur an der Tōkyō Toritsu Daigaku bzw. Tōkyō Metropolitan University qualifizieren. Im Rahmen seines Studiums knüpfte er darüber hinaus wichtige Kontakte zum inneren Kreis der japanischen Tonio Kröger-Übersetzung bzw. insbesondere zu Satō Kōichi; außerdem sind Übersetzungskooperationen mit dem ebenso prominenten Takahashi Yoshitaka sowie ein Mitwirken Marukos an der von Satō und Takahashi herausgegebenen Gesamtausgabe belegt. Bereits vor Tonio Kröger hatte Maruko bereits mehrere Großromane Manns ins Japanische übersetzt und damit sein Profil geschärft; seine Tonio Kröger-Retranslation publizierte er hingegen erst Jahre nach Erlangen der Professur.
Vor dem Hintergrund dieser hervorragenden Anbindung Marukos an den inneren Kreis der japanischen Tonio Kröger-Übersetzung ist es durchaus überraschend, dass die Basisklassifikation zunächst eine Verortung dieses Textes in der Übersetzungsperipherie ergeben hat, die dann aufgrund der im relationalen Close Reading festgestellten Orientierung an der Erstübersetzung revidiert wurde. Für Letzteres sprachen darüber hinaus auch die Ergebnisse der relationalen Analyse insofern, als für Maruko (1990) nicht nur abfallende Countertranslation-Anteilswerte, sondern auch der neben Satō (1966.7 [1963]) größte Abstand zwischen Konsens- und Countertranslationkurven und damit eine besonders konservative Übersetzungsstrategie festgestellt werden konnten. Eine damit einhergehende Orientierung an der Erstübersetzung indiziert auch das relationale Close Reading: Übersetzungsentscheidungen Marukos wie die von Saneyoshi (1927) übernommene Konsensübersetzung ishiki o idaite für das Token „mit dem Bewußtsein“ (GKFA 313), reitan („Gleichgültigkeit bzw. Kälte“) als ebenfalls durch Saneyoshi eingeführte Übersetzung der „unberührbaren Sprödigkeit“ (GKFA 310–311), dokutoku no bzw. „individuell“ als gleichermaßen auf die Erstübersetzung zurückgehende Variante der „persönlichen Krawatten“ (GKFA 266) sowie die systematische Übersetzung der freien indirekten Rede durch das Pronomen jibun legen dabei eher allgemein eine Zugehörigkeit zur Kerngruppe nahe. Besondere Auffälligkeiten sind indessen in Hinblick auf das nur von Saneyoshi (1927), Mukasa (1928), Takeyama (1941) und Maruko (1990) in der Variante sōsaku realisierte Token des „Schaffenden“ (GKFA 266) sowie in Bezug auf das Token „Ich bin am Ziel“ (GKFA 278) festzustellen, bezüglich dessen einzig Maruko (1990) nach mehr als 60 Jahren die Formulierung der Erstübersetzung (mokuhyō ni tasshita wake desu) fast wortgetreu (sore de mokuhyō ni tasshimashita) übernommen hat. Dies lässt ebenso wie entsprechende, in der Syntaxanalyse festgestellte Parallelen darauf schließen, dass Maruko (1990) gezielt Bezüge zur Erstübersetzung hergestellt hat.
Dagegen ist seidō als Übersetzungsvariante des „rechten Wegs“ (GKFA 312) zwar von Mukasa (1928) etabliert, in dieser Form aber nicht nur von Maruko (1990), sondern bereits von Takahashi (1967 [1949]) übernommen worden. Eine Orientierung Marukos (1990) an Takahashi erscheint hierbei nicht nur aufgrund von dessen im Vergleich zu Mukasa deutlich größerem Bekanntheits- und Verbreitungsgrad wahrscheinlich, sondern auch deswegen, weil sich Maruko (1990) hinsichtlich des Tokens „der nichts ist“ (GKFA 266) bzw. der Übersetzungsvariante nanimono de mo nai ebenfalls auf Takahashi bezogen zu haben scheint. Dass Maruko neben den „Klassikern“ Saneyoshi und Takahashi auch die 1968 publizierte Nojima-Retranslation konsultiert haben dürfte, legt außerdem die nur in diesen beiden Texten nachweisbare Übersetzungsvariante einer Kombination von zuibun und kurushimu für das Token „unter schweren Kämpfen“ (GKFA 290) nahe. Schlussfolgern lässt sich daher, dass sich Maruko (1990) besonders intensiv mit der Erstübersetzung (1927) sowie ergänzend mit Takahashi (1967 [1949]) und Nojima (1968) auseinandergesetzt hat, also mit zwei Texten der Kerngruppe sowie mit einem, der in deren Randbereich lokalisiert ist. Zur Satō (1966.7 [1963]) konnten dagegen keine genetischen Einflussbeziehungen i. e. S. festgestellt werden. Dies ist nicht nur in Hinblick auf die mutmaßliche Mentorstellung Satōs gegenüber Maruko bemerkenswert, sondern auch insofern, als Maruko (1990) beim Shūeisha-Verlag, der 1966 schon Satōs Tonio Kröger-Übersetzung in einer Weltliteratur-Sammlung publiziert hatte, die inoffizielle Nachfolge Satōs antrat. In Anbetracht dessen scheint es, als wären allzu offensichtliche Parallelen zwischen Marukos Retranslation und der seines prominenten Mentors nicht erwünscht gewesen.
Eine Abgrenzung Marukos (1990) von allen bisherigen Übersetzungstexten resultierte aus dieser Abgrenzung gegenüber Satō (1966.7 [1963]) hingegen nur in begrenztem Maße. Als entsprechende Beispiele konnten die Tokens „verwachsen“ (GKFA 312), das Maruko in der Variante byōkuru ni kakatta hito, also „jemand, der an Rachitis leidet“ ebenso einzigartig realisiert hat wie auch das Token „ganz aufgelöst in heißen Thränen [sic]“ (GKFA 290), welches in Marukos Übersetzungsvariante namida ni nakinurete ita bzw. „tränenüberströmt“ ebenfalls in keinem anderen Übersetzungstext belegt ist. Diese einzigartigen Varianten scheinen jedoch ebenso wenig eine Zuordnung dieses Textes zur Übersetzungsperipherie zu rechtfertigen wie auch die Countertranslation tsurai sei, die Maruko bezüglich des „schlimmen Lebens“ etabliert, hierbei aber das Attribut tsurai von Kataoka (1973) übernommen hat. Auch die oben thematisierten Bezugnahmen Marukos auf ansonsten (weitgehend) ausgestorbene ältere Übersetzungsvarianten insbesondere der Erstübersetzung liefern keine ausreichende Grundlage für die anfängliche Verortung dieses Textes in der Übersetzungsperipherie. Vor diesem Hintergrund, dem der insgesamt eher derivativen Übersetzungscharakteristik der Maruko-Retranslation und insbesondere angesichts der hervorragenden Anbindung dieser Übersetzerpersönlichkeit an den inneren Kreis ist es dementsprechend sinnvoll gewesen, den Anfangsentwurf der Basisklassifikation zugunsten einer Zuordnung zur Kerngruppe zu revidieren. Die Entscheidung des Shūeisha-Verlages für die Veröffentlichung dieses späten Tonio Kröger-Nachfolgers lässt sich angesichts dieser Erkenntnisse dahingehend begründen, dass zwar eine moderate Abgrenzung von der über 20 Jahre zuvor im selben Verlag erschienenen Satō-Retranslation (1966.7 [1963]), aber dennoch keine modernisierte Neuauflage, sondern vielmehr eine Neukombination vorhandener Traditionsströme gefragt war.
6.2.14 Hirano 2011: Ein Vorstoß
Der 2011 beim japanischen Literaturverlag Kawade Shobō in der Reihe Kawade Bunko erschienenen Tonio Kröger-Neuübersetzung Hirano Kyōkos ist der übersetzungsgeschichtliche Paradigmenwechsel bereits in Hinblick auf die Rahmenfaktoren der äußeren Übersetzungsgeschichte in die Wiege gelegt gewesen: Wie erwähnt war Hirano die erste Frau, die erste Berufsübersetzerin (die überdies bereits mit dem Lessing-Übersetzungspreis der Bundesrepublik Deutschland für deutsch-japanische Übersetzungen ausgezeichnet worden war) sowie die erste Übersetzende weitgehend ohne Anbindung an die akademische und insbesondere an die kyōyōshugi-affine Fachgermanistik, die eine Retranslation dieses hochgradig kanonisierten Textes publiziert hat. Der Verlag Kawade Shobō bot für eine solche Neuverortung insofern ein geeignetes Umfeld, als er sich zwar durch einen ausgesprochenen Literaturschwerpunkt, aber weder durch denselben Auslandsfokus noch durch dieselben elitären kyōyōshugi-Bildungsansprüche wie insbesondere Iwanami auszeichnet. Hiranos Neuübersetzung musste damit weder denselben akademischen Qualifikations- und Profilierungszwecken genügen wie die Mehrzahl der zuvor veröffentlichten Texte noch waren die Erwartungen von Verlagsseite aus jeweils vergleichbar: Wenngleich auch Hiranos Retranslation keineswegs gänzlich unabhängig von der bisherigen Übersetzungstradition vermarktet werden oder überhaupt erst entstehen konnte, überwog zum Zeitpunkt der Veröffentlichung bereits die Auffassung der Übersetzungstätigkeit nicht als Akt der akademischen Profilierung, sondern als einer sich am Zielpublikum orientierenden Dienstleistung. Auch deswegen legen Hiranos Tonio Kröger-Neuübersetzung ebenso wie auch ihre weiteren Publikationen eine Tendenz zur domestizierenden und semantisch spezifizierenden Vereinfachung an den Tag, die zwangsläufig in der Abgrenzung von der bisherigen, einen durch Verfremdung erhöhten Schwierigkeitsgrad als Qualitätsmerkmal auffassenden Übersetzungstradition resultierte.
Die vor diesem Hintergrund zu erwartenden Charakteristiken der inneren Übersetzungsgeschichte konnten in der quantitativ-qualitativen Analyse durchgängig bestätigt werden – beginnend im Kontext der Basisklassifikation mit der Zuordnung von Hiranos Neuübersetzung zu einer Übersetzungsperipherie, in der insbesondere Mukasa (1928) und Asai (2018) verortet sind, und fortgeführt in Bezug auf den in der relationalen Analyse festgestellten Abfall der Konsenskurven bei gleichzeitig so starkem Anstieg der Countertranslation-Kurven, dass sich beide Kurventypen kreuzen und so ein besonders ausgeprägtes Innovationsniveau indizieren. Zugleich wurde in diesem Zusammenhang jedoch eine erhebliche Streuung der jeweiligen Datenpunkte festgestellt, welche nahelegt, dass auch Hirano ihre Übersetzungsprioritäten durchaus je nach Textabsatz unterschiedlich gewichtet hat. Dementsprechend konnten im relationalen Close Reading auch Rückbezüge auf zuvor etablierte Übersetzungsstrategien wie bspw. auf Mukasas (1928) Konsensübersetzung (hidoku kurushimu) für das Token „unter schweren Kämpfen“ (GKFA 290) ebenso nachgewiesen werden wie auch die implizite Orientierung an Takeyamas (1941) Ansatz einer domestizierenden Syntaxübersetzung sowie die mutmaßlich auf Satō (1966.7 [1963]) zurückgehende Neutralisierung der freien indirekten Rede durch boku. Auch Hiranos Interpretation des Tokens „verwachsen“ (GKFA 312) ließ ferner in der Formulierung shintai ni chotto shita shōgai ga aru („[als litte sie] hinsichtlich ihres Körperbaus an einer Behinderung“) Parallelen zu Takahashis (1967 [1949]) Variante shintai ga warui erkennen.
Obwohl auch eine umfassende Abgrenzung von der bisherigen Übersetzungstradition demzufolge keineswegs im übersetzungsgeschichtlichen Vakuum stattfindet, haben im relationalen Close Reading dennoch Beispiele für die Abgrenzung Hiranos von der bisherigen Übersetzungstradition überwogen. So übersetzt Hirano das Token des Schauspielers, „der nichts ist“ (GKFA 266), überaus frei mit der Countertranslation kagayaki o ushinatte iru („der seinen Glanz verloren hat“); ebenso ist bei ihr in Hinblick auf das Token der „persönlichen Krawatten“ (GKFA 266) erstmalig von tokubetsusei no nekutai, also von „speziell angefertigten Krawatten“ die Rede. Auch das Token des „schlimmen Lebens“ (GKFA 266) interpretiert sie insofern abweichend von ihren Vorgängern, als dass sie zwar das Attribut tsurai von Kataoka (1973) bzw. Maruko (1990) übernimmt, aber „Leben“ erstmalig in der Variante nichijō bzw. „Alltag“ umsetzt. Selbiges gilt ferner auch für das Token „Ich bin am Ziel“ (GKFA 278), das sie abweichend von den zumeist formaläquivalenten älteren Ansätzen in der Form Sate, hanashi wa koko kara da… („Also, die Rede [was ich eigentlich sagen will] beginnt ab jetzt“) semantisch konkretisiert, sowie für das Token „ganz“ in „ganz aufgelöst in heißen Thränen [sic]“ (GKFA 290), das bei ihr in der Variante nakikuzurete ita, die neben naku bzw. „weinen“ erstmals auch die Komponente kuzureru bzw. „zusammenbrechen“ umfasst. Schließlich weicht auch ihre übersetzerische Annäherung an das Übersetzungstoken der „unberührbaren Sprödigkeit“ (GKFA 310–311) durch tsumetaku chikayorigatai („auf kühle Weise unnahbar“) von allen zuvor dagewesenen Übersetzungsvarianten ab.
Die hier noch einmal zusammengetragenen Beispiele verdeutlichen folglich, dass im Falle der Hirano-Neuübersetzung von 2011 ein Paradigmenwechsel der äußeren Übersetzungsgeschichte auch einen Paradigmenwechsel der inneren Übersetzungsgeschichte nach sich gezogen hat. Gezeigt werden konnte so, dass sich Hirano (2011) in höherem Maße als alle übrigen Übersetzungstexte von der bisherigen Übersetzungstradition abgrenzt, indem sie sich nicht an formaler, sondern schwerpunktmäßig an funktionalen Äquivalenzansprüchen und demzufolge an zielsprachlicher Akzeptabilität und Verständlichkeit orientiert. Die dementsprechend schwach ausgeprägten quantitativen Ähnlichkeitsbeziehungen zu den übrigen Übersetzungstexten legitimieren zwar eine Verortung dieser Neuübersetzung in der Übersetzungsperipherie; im Zusammenhang der relationalen Close Readings ließ sich jedoch nichtsdestotrotz auch nachvollziehen, dass Hirano ihre Retranslation keineswegs in Unkenntnis der vorherigen Übersetzungsvarianten konzipiert hat und selbst dort, wo sie sich entschieden von der bisherigen Übersetzungstradition abgrenzt, keineswegs zwangsläufig auch in stärkerem Maße als diese von der Ausgangstextsemantik abweicht.
6.2.15 Asai 2018: Quo Vadis, Tonio?
Bezüglich der äußeren Übersetzungsgeschichte verbindet die beiden Neuübersetzungen Hirano Kyōkos (2011) und Asai Shōkos (2018) eine Reihe von Gemeinsamkeiten, denn beide haben sich als erste weibliche Übersetzerinnen, als erste Berufsübersetzerinnen, die für ihre Arbeit beide mit renommierten Übersetzungspreisen ausgezeichnet worden sind, sowie als zwar akademisch ausgebildete, aber keine akademische Karriere i. e. S. durchlaufende Akteurinnen von der bisherigen japanischen Übersetzungstradition abgegrenzt. Dass Asai Shōko darüber hinaus fast 30 Jahre jünger als ihre Kollegin Hirano ist, ließe in ihrem Falle eigentlich einen umso radikaleren Bruch mit bisherigen Konsensübersetzungen erwarten. Dass dieser Bruch allerdings, wie die quantitativ-qualitative Analyse gezeigt hat, wenn überhaupt, dann eher in der Vorgängerübersetzung Hiranos stattgefunden hat, lässt sich bereits anhand des jeweiligen Veröffentlichungsrahmens, also anhand von Faktoren der äußeren Übersetzungsgeschichte erklären: Während Hiranos Retranslation bei Kawade Shobō als einem japanischem Literaturverlag mit breit gefächertem Angebot erschienen war, veröffentlichte Asai Shōko ihre Neuübersetzung beim ebenfalls auf Literatur spezialisierten Kōbunsha-Verlag in der Reihe Kōbunsha koten shin’yaku bunko, die sich explizit die Neuannäherung an literarische Klassiker des kyōyōshugi-Bildungskanons auf die Fahnen geschrieben hat, aber entsprechende Absichten zumindest teilweise durch den ausdrücklichen Hinweis auf den (vermarktbaren) Klassikerstatus der übersetzten Werke unterminiert.
Vor diesem Hintergrund haben auch die unterschiedlichen Analyseschritte gezeigt, dass Asais Tonio Kröger-Neuübersetzung den Bildungsklassiker Tonio Kröger nicht etwa durch eine vollständige Abgrenzung von der Übersetzungstradition, sondern vielmehr durch deren domestizierende Aufbereitung einem zeitgenössischen japanischen Publikum nahebringen will. Obwohl die Basisklassifikation dabei eine Zuordnung der Asai-Retranslation (2018) zu einer in erster Linie mit Hirano (2011) und Mukasa (1928) geteilten Übersetzungsperipherie vorsah, ergab die relationale Analyse für Asais Neuübersetzung eine besonders ausgeprägte Streuung der die jeweiligen Anteilswerte von Konsensübersetzungen und Countertranslation abbildenden Datenpunkte und damit den in Hinblick auf die Orientierung am bisherigen Übersetzungskonsens stärksten Variationsgrad unter allen betrachteten Texten: Einige Textabsätze hat Asai Shōko dementsprechend mit einem Anteil an Konsensübersetzungen von knapp 77 Prozent übersetzt, während sie in anderen wiederum ein Niveau an Countertranslations realisiert, das dem der Vorgängerübersetzung Hiranos vergleichbar ist.
Während Letzteres eine Zuordnung der Asai-Retranslation zur Übersetzungsperipherie grundsätzlich rechtfertigt, belegt auch das relationale Close Reading, dass Asai (2018) durchaus den Anschluss an die bisherige Übersetzungstradition sucht. Dementsprechend hat sie selbst explizit geäußert, sie habe sich an Saneyoshis Erstübersetzung (1927) sowie an den Retranslations Takahashis (erstmals 1949) sowie Hiranos (2011) orientiert. Erkennbar werden mit dieser Aussage übereinstimmende genetische Einflussbeziehungen im relationalen Close Reading anhand des Tokens „der nichts ist“ (GKFA 266), bezüglich dessen Asai (2018) die wörtliche Übersetzungsvariante nanimono de mo nai ebenso von Takahashi (1967 [1949]) übernommen zu haben scheint wie auch in Bezug auf das Token „Ich bin am Ziel“ (GKFA 278), das zwar bereits von Takeyama (1941) in der Variante ketsuron („Fazit“) realisiert worden, in dieser Form aber auch von Takahashi übernommen worden ist. Parallelen zu Hirano (2011) konnten dagegen sowohl in Bezug auf die Neutralisierung der freien indirekten Rede durch das Personalpronomen der ersten Person Singular, boku, als auch in Bezug auf die syntaktische Domestizierung des Ausgangstexts festgestellt werden. Beide Phänomene sind jeweils nicht erst in der Neuübersetzung Hiranos (2011), sondern jeweils bereits in deutlich älteren Texten belegt, aber dennoch ist es möglich, dass Asai hinsichtlich dieser sehr grundsätzlichen Übersetzungsentscheidungen primär ihre unmittelbare Vorgängerin zu Rate gezogen haben könnte. Anders verhält es sich dagegen mit dem Token „ganz aufgelöst in heißen Thränen [sic]“ (GKFA 290), da dieses einerseits in der deutlich älteren Fukuda-Retranslation (1965) als mi mo yo mo naku […] kakikurete („ohne an sich selbst oder die Außenwirkung denkend bitterlich weinend“) und andererseits einzig in Asais Neuübersetzung in der auffällig ähnlichen Variante mi mo yo mo naku atsui namida o nagashinagara realisiert ist. Hieran lässt sich zeigen, dass Asai Shōko neben den prominenten Vorgängern Saneyoshi (1927) und Takahashi (1967 [1949]) sowie ihrer unmittelbaren Vorgängerin Hirano (2011) mit Fukuda (1965) auch einen vergleichsweise obskuren Text konsultiert zu haben scheint, ohne diesen als Inspirationsquelle zu benennen. Demzufolge zielen die Verweise auf Saneyoshi, Takahashi und Hirano nicht primär auf die Offenlegung von Asais Übersetzungsprozess ab, sondern sind als Respektsbekundung sowie als Versuch einer Assoziation mit diesen besonders prominenten Texten einzustufen.
Von Asai Shōkos ausgeprägtem Bewusstsein hinsichtlich der bisherigen Übersetzungstradition zeugt indessen auch die Tatsache, dass sie selbst in den zahlreichen Fällen, in denen sie sich von ihren Vorgängern abgrenzt, ältere Übersetzungsvarianten vielfach nicht durch eine gänzlich andere Interpretation ersetzt, sondern erweitert und weiterentwickelt. Als ein Beispiel hierfür konnte im relationalen Close Reading das Token der „unberührbaren Sprödigkeit“ (GKFA 310–311) identifiziert werden, welches Hirano (2011) in der Variante tsumetaku chikayorigatai, Asai (2018) hieran anknüpfend als fureru koto no kanawanai chikayorigatasa realisiert hat. Beiden Retranslations ist das Attribut chikayorigatai („unnahbar“) in unterschiedlicher Ausprägung gemeinsam; während Hirano (2011) es aber mit dem lose an der Erstübersetzung orientierten Adjektiv tsumetai („kühl“) kombiniert, setzt Asai stattdessen auf fureru koto no kanawanai als einer weiteren Spielart der bereits durch chikayorigatai nahegelegten „Unnahbarkeit“. Ebenso veranschaulicht ferner das Token „unter schweren Kämpfen“ (GKFA 290), dass Asai trotz evidenter Abgrenzungbestrebungen die bisherige Übersetzungstradition auf keinen Fall außer Acht lässt, denn während ihre Übersetzungsvariante shi to no tatakai wa kibishiku hageshii („der Kampf mit dem Tode war hart und extrem“) im Vergleich zu vorherigen Übersetzungsvarianten beträchtlich spezifizierend wirkt, hat Jahrzehnte vor ihr bereits Morikawa (1966.5) mit der Formulierung byō to hageshiku tatakainagara („heftig mit der Krankheit kämpfend“) in vergleichbarer Weise die „Kämpfe“ der Ausgangstextformulierung quasi-wörtlich übernommen. Demzufolge ist auch an dieser Stelle eine von Morikawa (1966.5) ausgehende genetische Einflussbeziehung anzunehmen, auf die Asai Shōko erneut nicht explizit hingewiesen hat. Abgesehen von diesen Anleihen bei vorherigen Texten zeugt zudem das Token „verwachsen“ (GKFA 312) von Asais verständnissichernden Übersetzungsprioritäten, denn insbesondere im Unterschied zur an dieser Stelle lapidar einen „Buckel“ (semushi) vermutenden Erstübersetzung lautet ihre Übersetzung hier hatsuikujōtai ga warui und verweist damit auf eine „gestörte (körperliche) Entwicklung“, die die Semantik des Wortbildungsproduktes „verwachsen“ als solche möglichst formaläquivalent abbilden soll. Zugleich ist den genannten Beispielen trotz der für die inzwischen 13. Übersetzung ein- und desselben Textes kaum mehr vermeidbaren (impliziten) Bezugnahmen auf die bisherige Übersetzungstradition auch ein deutlicher Abgrenzungswille anzumerken, den bspw. auch Asais (2018) Countertranslation des Übersetzungstokens des „schlimmen Lebens“ (GKFA 266) erkennen lässt: Semantisch ähnelt ihre diesbezügliche Variante ashiki jinsei zwar durchaus vorherigen Übersetzungsvarianten, zeigt aber ein regelrechtes Bemühen, für die Neuübersetzung doch noch eine alternative Formulierung ausfindig zu machen.
Trotzdem haben Asai Shōkos Spezifizierungen und Erweiterungen zweifelsohne die Funktion, einem jüngeren japanischen Gegenwartspublikum nicht nur die aus einem gänzlich anderen historischen Kontext stammende Erzählung Tonio Kröger, sondern die nach Auffassung der Übersetzerin „richtigen“ Interpretationsschlüsse nahezubringen, wodurch die Deutungsoffenheit des Ausgangstextes in dieser Neuübersetzung zwangsläufig gemindert wird. Ähnlich wie auch im Falle Hiranos entspricht dieses Vorgehen Asais über den Versuch einer Abgrenzung von der Übersetzungstradition hinausgehend auch zeitgenössisch gewandelten Erwartungen an eine inzwischen in zahlreichen Aspekten als Dienstleistung aufgefasste und dementsprechend an den Bedürfnissen und Gewohnheiten des Zielpublikums ausgerichtete literarische Übersetzung. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass auch in Asai Shōkos Retranslation ein gewichtendes Abwägen zwischen Übersetzungskonsens bzw. -tradition einerseits und Abgrenzung andererseits erkennbar ist. Dieses hängt jedoch nicht mehr primär mit akademischen, sondern mit übersetzerischen Profilierungsbestrebungen zusammen und läuft daher zunehmend auf ein Aushandeln zwischen dem zuvor im kyōyōshugi-Kontext unhinterfragten Klassikerstatus von Tonio Kröger einerseits und den Gestaltungs- und Interpretationsspielräumen einer Neuübersetzung andererseits hinaus.
6.3 Zwischenfazit zum sechsten Kapitel
Obwohl die Ergebnisse dieses Kapitels im Schlusskapitel noch einmal umfassend aufbereitet, eingeordnet und rekapituliert werden, folgen vorab dennoch einige kurze Schlussbetrachtungen zur Zusammenführung von äußerer und innerer Übersetzungsgeschichte.
Konstatieren lässt sich diesbezüglich, dass die jeweiligen Erkenntnisse zur äußeren und zur inneren Übersetzungsgeschichte insgesamt ein schlüssiges Bild ergeben. Die Zuordnung der Übersetzungstexte zur Kerngruppe bzw. zur Übersetzungsperipherie konnte sowohl anhand der relationalen Analyse als auch anhand der durch relationales Close Reading erschlossenen Interpretationsbeispiele nachvollzogen und mit der äußeren Übersetzungsgeschichte zusammengeführt werden. Für weitere Analyseiterationen von besonderem Interesse wären jedoch Einzelfälle wie Kataoka (1973) oder Maruko (1990), hinsichtlich derer das Zusammenspiel der unterschiedlichen Analyseschritte und -verfahren teils Widersprüche – wie die anfängliche Zuordnung Marukos zur Übersetzungsperipherie trotz insgesamt konservativer Übersetzungscharakteristik – ergeben hat, die innerhalb dieser Zusammenführung eingehend diskutiert worden sind. Ebenfalls von weiteren Analyseiterationen erheblich profitieren könnten die insbesondere für die lange Nachkriegsphase in großer Zahl festgestellten Fälle, in denen eine auf „irgendwo zwischen Tradition und Abgrenzung“ hinauslaufende relationale Übersetzungscharakteristik bisher nur teilweise und v. a. im Rückgriff auf die äußere Übersetzungsgeschichte präzisiert werden konnte. Ideal wäre dabei die Systematisierung unterschiedlicher Teilgruppen, für die die hier verfügbare Datengrundlage noch nicht ausgereicht hat. Ferner ließ sich auch die zunächst auf Grundlage der quantitativ fundierten Basisklassifikation vermutete übersetzungsgeschichtliche Bindegliedsfunktion von Takeyama (1941) und Toyonaga (1940) in den darauffolgenden Analyseschritten, also der relationalen Analyse und den relationalen Close Readings, zwar grundsätzlich nachvollziehen; dass die Anzahl entsprechender Belege aber tendenziell hinter der durch die Basisklassifikation suggerierten übersetzungsgeschichtlichen Bedeutung dieser beiden Texte zurückgeblieben ist, legt einen formalstilistischen Schwerpunkt der übersetzungsgeschichtlichen Bindegliedsfunktion nahe, sodass sich auch hier Raum für weitere Untersuchungen bietet. Als nichtsdestoweniger aufschlussreich haben sich die Überlegungen zur Kerngruppe als einem Zentrum der inneren Übersetzungsgeschichte sowie zum inneren Kreis als einem Zentrum der äußeren Übersetzungsgeschichte insofern erwiesen, als die jeweilige institutionelle Anbindung der Übersetzenden für die Einordnung der relationalen Textcharakteristiken eine zentrale Rolle gespielt hat; dies wird im Schlusskapitel ausführlicher dargelegt.
Darüber hinaus hat die Zusammenführung von äußerer und innerer Übersetzungsgeschichte gezeigt, dass die insbesondere in der Nachkriegszeit bzw. im Kontext einer kyōyōshugi-Popularisierung beliebten Sammelausgaben zur Weltliteratur (Sekai Bungaku Zenshū) zwar zahlreichen, auch zum damaligen Zeitpunkt noch eher unbekannten Übersetzenden eine Plattform zur Veröffentlichung ihrer Tonio Kröger-Retranslations boten und damit ursächlich zur Entstehung der Tonio Kröger-Übersetzungsvielfalt als solcher beigetragen haben, in ihren Nachwirkungen auf die innere und äußere Übersetzungsgeschichte aber begrenzt geblieben sind. Zudem konnte nachgewiesen werden, in welcher Breite die zuvor publizierten Übersetzungstexte von späteren Übersetzenden wie jüngst Asai Shōko konsultiert worden sind, ohne dass diese Auseinandersetzung mit der Übersetzungstradition explizit thematisiert worden wäre – stattdessen erwecken die vereinzelten Verweise auf vorherige Übersetzungstexte, sofern vorhanden, eher den Eindruck einer Respekts- oder Höflichkeitsbekundung gegenüber bestimmten akademischen Autoritäten und weniger den eines Zitationsbezuges.
Gezeigt hat die Auswertung der Einfluss- und Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen den Übersetzungstexten außerdem, dass insbesondere während der Nachkriegsjahrzehnte die Neukombination vorhandener Übersetzungsvarianten zwar keinen durchschlagenden Erfolg garantierte, aber als Übersetzungsleistung anerkannt war. Dies führte zur bemerkenswerten Beobachtung, dass ältere Texte nicht nur wie erwähnt äußerst umfassend, sondern zudem auch insofern gezielt als Inspirationsquelle genutzt worden sind, als sich Übersetzende wie insbesondere Satō Kōichi oder Kataoka Keiji schwerpunktmäßig an Übersetzungsvarianten aus solchen Vorgängertexten von eher unbekannten Übersetzenden bedienten. Hier darf die Absicht unterstellt werden, die fremde Übersetzungsinnovation als eigene Errungenschaft zu präsentieren, was sich v. a. für den im Vergleich zu seiner Inspirationsquelle Asai Masao weitaus prominenteren Thomas Mann-Spezialisten Satō Kōichi ausgezahlt zu haben scheint.
Abschließend sei noch einmal auf eine Tatsache hingewiesen, die allen hier thematisierten Übersetzenden bewusst gewesen sein dürfte: Obwohl der japanische Verlagspluralismus sowie die Einbindung der Übersetzungsaktivitäten in akademische Qualifikationsmechanismen eine Vielfalt der japanischen Tonio Kröger-Retranslation hervorgebracht hat, ändert dies nichts daran, dass die überwältigende Mehrheit der Leser*innen nur eine Übersetzungsausgabe erwirbt. Das Vergleichen unterschiedlicher Übersetzungsfassungen erfordert demgegenüber nicht nur ein besonderes Interesse am Ausgangstext oder am Übersetzen an sich, sondern gefährdet zugleich die jegliche Übersetzung konstituierende Illusion eines äquivalenten zielsprachlichen Ersatzes. Bedingt durch diese Logik war die Popularität der Erstübersetzung sowie der Takahashi-Retranslation, zumal insbesondere Saneyoshis Tonio Kröger-Stilistik explizit mit derjenigen Thomas Manns gleichgesetzt wurde (Yamamuro 2018: 226–227), zeitnah zum Selbstläufer geworden. Hierdurch wurde es immer unwahrscheinlicher, dass eine Neuübersetzung diesen zwischenzeitlich kanonisierten Übersetzungstexten noch den Rang ablaufen könnte. Stattdessen galt es für die übrigen Übersetzenden, bezüglich ihrer jeweiligen Interessenlagen und Ambitionen das Beste aus diesem Dasein im Schatten prominenter Vorgänger herauszuholen – und da es wie erwähnt unwahrscheinlich war, dass das Publikum mehrere, insbesondere auch von eher unbekannten Übersetzenden stammende Retranslations miteinander vergleichen würde, drängte sich so die Möglichkeit, durch Aneignung interessanter Übersetzungsvarianten der potenziell in Vergessenheit geratenen Vorgänger das eigene Profil zu schärfen, geradezu auf.
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Mueller, N.M. (2024). Innere und äußere Übersetzungsgeschichte im Dialog. In: Japanische Thomas Mann-Übersetzung zwischen Kulturheteronomie und Emanzipation. Digitale Literaturwissenschaft. J.B. Metzler, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-69569-2_6
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