4.1 Die Rolle der Verlage

Während im vorherigen Kapitel die äußere Übersetzungsgeschichte in Hinblick auf abstraktere Kontexte zweiter Ordnung nachvollzogen wurde, wird sie im Folgenden in Bezug auf Kontexte erster Ordnung skizziert, d. h. konkrete Einflussfaktoren, die die Entstehung der Übersetzungstexte unmittelbar geprägt haben (Jones 2011: 155–156; Milroy 1987: 46–47). Neben individualbiografischen Faktoren, die in der zweiten Hälfte dieses Kapitels ebenso ausführlicher thematisiert werden wie auch Zeugnisse zur öffentlichen Wahrnehmung der Übersetzungstexte, gehören hierzu insbesondere die den jeweiligen Publikationsrahmen als „Übersetzungsdrehscheibe“ (Frank 1988b: 203) konstituierenden Verlagshäuser: Dass auch von derselben Person verfasste Retranslations desselben Ausgangstextes z. T. parallel oder in geringem zeitlichem Abstand bei unterschiedlichen Verlagshäusern erschienen sind, bedingt ein komplexes Assoziationsgeflecht zwischen Übersetzenden und Verlagen. Dieses hat die Vielfalt der japanischen Tonio Kröger-Retranslation insbesondere im Unterschied zu den monopolartigen Ansprüchen des Alfred A. Knopf-Verlags auf die englischsprachige Übersetzung entscheidend geprägt.

4.1.1 Saneyoshi Hayao und Iwanami Shoten

Die erste, von Saneyoshi Hayao verfasste japanischsprachige Tonio Kröger-Übersetzung erschien 1927 im Iwanami-Verlag, der sich zu diesem Zeitpunkt neben dem konkurrierenden Verlagshaus Shinchōsha (s. u.) als führende Vermittlungsinstanz der japanischen Europarezeption etablierte (Yamaguchi 2018: 207). Nachdem Saneyoshis Erstübersetzung zunächst innerhalb eines Sammelbandes (Tōmasu Man Tanpenshū) publiziert worden war, erschien 1930 außerdem eine ebenfalls Tonio Kröger beinhaltende Erzählsammlung in der populären Iwanami Bunko-Taschenbuchreihe (Potempa 1997: 1121; Yamamuro 2018: 225). Diese orientierte sich neben der englischsprachigen Everyman’s Library insbesondere an der deutschen Reclam Universal-Bibliothek (Keene 1987: 8; Mathias 1990: 361) und umfasste folglich v. a. als hochliterarisch geltende Klassiker im Kleinformat und zu erschwinglichen Preisen. Ein zentraler Bestandteil des Publikationsprogramms waren dabei, wie im Iwanami Bunko-Manifest explizit proklamiert, Übersetzungen literarischer Klassiker, denen man „mit Ehrfurcht“ begegnete (keiken no taido o kakazari shika) (Saneyoshi 2015, o. p.). Infolgedessen galt Iwanami als Sprachrohr einer kyōyōshugi-affinen, bürgerlich-liberalen und idealistischen „Iwanami-Kultur“ (Iwanami bunka) (Mathias 1990: 367; Maeda 2010: 154–155). Hierbei ist die Konzentration auf Übersetzungstexte insofern bis in die Gegenwart erhalten geblieben, als Iwanami laut dem Index Translationum der UNESCO unter allen japanischen Verlagshäusern die drittgrößte Anzahl an Übersetzungstexten publiziert hat (Index Translationum 2023). Dass Saneyoshis Tonio Kröger-Erstübersetzung 1927 in einem derart renommierten, kyōyōshugi-nahen Format erschien, veranschaulicht den zu diesem Zeitpunkt bereits ausgeprägten Kanonisierungsgrad des Ausgangstextes. Wiederum aufgrund dieses prestigeträchtigen Publikationsrahmens war Saneyoshis Übersetzung mit anderen hochgradig kanonisierten Werken des westlichen Auslands assoziiert, was nochmals erheblich zur Kanonisierung der Erstübersetzung im Zielkontext beigetragen haben dürfte. Dementsprechend erschien dieser Text, nachdem er 1952 in einer separaten Ausgabe publiziert wurde, 1995 in der 59. Auflage (Potempa 1997: 1133) und auch, nachdem er 2003 bei Iwanami neu verlegt worden war, 2015 bereits wieder in der zehnten Auflage (Iwanami Bunko Henshūbu 2007: 116, 234, 366; Saneyoshi 2015). Daher ist Saneyoshi (1927) bereits auf Grundlage des äußeren Publikationsrahmens und gerade auch im Vergleich zu anderen Übersetzungstexten, die nie eine zweite Auflage erreichten, neben der inhärenten Autorität der Erstübersetzung auch durch das langfristig mit kyōyōshugi assoziierte Publikationsformat sowie in diesem Zusammenhang durch anhaltende Textverfügbarkeit und -verbreitung eine besondere Resonanz beschieden gewesen.

4.1.2 Mukasa Takeo, Nanzandō und Kaizōsha

Gänzlich anders gestaltete sich der Publikationsrahmen der Tonio Kröger-Retranslation Mukasa Takeos, die 1928 im Nanzandō-Verlag erschien. Während Nanzandō bereits 1901 gegründet und folglich älter als Iwanami war, konzentrierte sich dieses Verlagsunternehmen auf medizinische Fachliteratur (Nanzandō 2023). Eine Assoziation mit dem schulischen Kontext ist insofern anzunehmen, als Nanzandō im Publikationsjahr der Mukasa-Retranslation in der Reihe Nanzandōs Sammlung deutscher Schulausgaben auch eine einsprachig-deutsche Fassung des Tonio Kröger-Ausgangstextes veröffentlichte (Mann 1928). Dass Mukasas Retranslation im Format einer wadoku taiyaku (和独対訳) angelegt war, also pro Doppelseite auf der linken Textseite den Ausgangstext und auf der rechten Textseite Mukasas Übersetzung enthielt, legt den oberschulischen Deutschunterricht im vorkriegszeitlichen Bildungssystem als Verwendungszusammenhang dieser Retranslation nahe. Obwohl sich Mukasa (1928) folglich ebenso wie die Erstübersetzung an ein akademisches Publikum richtete, zeigen bspw. inkonsistente, den „e“-Laut teils durch das Katakana-Zeichen für „e“ und teils durch das Zeichen für „ye“ realisierende Schreibweisen des Namens „Lisaweta“, dass das Lektorat bei Nanzandō nicht besonders gründlich erfolgte, was sich u. U. negativ auf die Wahrnehmung dieses Textes ausgewirkt haben könnte.

Bemerkenswert ist außerdem, dass eine weitere Fassung von Mukasas Tonio Kröger-Retranslation 1930 bei Kaizōsha (改造社) verlegt wurde (Mukasa 1930). Dieser 1919 vom bedeutenden Linksintellektuellen Yamamoto Sanehiko gegründete Verlag (Keaveney 2013: 33) machte sich v. a. durch die für einen Yen, also etwa zur Hälfte des vorherigen Preisniveaus zu erwerbenden und enorm populären enpon (円本) bzw. „Yen-Bücher“ einen Namen (Okuyama 1980: 122). Dabei ist aber zu beachten, dass die Kaizōsha-Fassung der Mukasa-Retranslation erst 1930 erschien, als der Konkurrent Iwanami die im Vergleich zu den enpon noch prestigeträchtigere und diese dementsprechend zeitnah ablösende Iwanami Bunko-Reihe und damit das bunkobon-Format (文庫本) einführte (Okuyama 1980: 122–123; Kawamori 2005: 45). Infolgedessen erschien weder die für den Deutschunterricht konzipierte Nanzandō-Ausgabe (1927) noch die Kaizōsha-Ausgabe (1930) der Mukasa-Retranslation innerhalb eines Veröffentlichungsrahmens, der mit dem der Erstübersetzung hätte mithalten können.

Verstärkt haben dürfte sich dieser Effekt durch die mit derjenigen des Verlagsgründers Yamamoto Sanehiko übereinstimmende linke politische Ausrichtung des Kaizōsha-Verlags: Neben dem einflussreichen Magazin Kaizō brachte dieser bspw. zwischen 1928 und 1935 die japanische Gesamtausgabe der Werke von Karl Marx und Friedrich Engels heraus und wurde 1944 auf politischen Druck hin gänzlich aufgelöst (Ōmura 2010: 4). Folglich hatte Mukasa Takeo mit seiner erstmals 1928 publizierten Tonio Kröger-Retranslation allein schon in Anbetracht des im Kontext der japanischen Sozialistenverfolgung mit Repressalien einhergehenden Kaizōsha-Publikationsrahmens keine Chance, sich langfristig gegen die im Vorjahr erschienene Erstübersetzung durchzusetzen; entsprechend wurden weder die Nanzandō-Fassung noch die Kaizōsha-Fassung seiner Retranslation jemals neu aufgelegt.

4.1.3 Toyonaga Yoshiyuki und Mikasa Shobō

Mit dem Verweis auf die Popularität der enpon und bunkobon wurde bereits vorweggenommen, dass das japanische Verlagswesen während der frühen Shōwa- bzw. Vorkriegszeit zunächst eine generelle Blüte erlebte, auf die erst allmählich eine politisch motivierte Schwerpunktverlagerung folgte, welche ab 1940 in die politische Zensur mündete (Okuyama 1980: 123–124). Die Verlagsaktivitäten der Kriegsjahre wurden dementsprechend durch die „Gesellschaft für japanische Verlagskultur“ (Nihon shuppanbunka kyōkai) kontrolliert, sodass erst nach Kriegsende wieder ohne Einschränkungen publiziert werden konnte (Shimizu 1990: 95). Bereits 1935 war außerdem ein umfassender Rechtsstreit um Übersetzungsrechte ausgetragen worden, in dem die Urheberrechtsorganisation Wilhelm Plages, eines Deutschlehrers an der Ersten Oberschule in Tōkyō, eine zentrale Rolle gespielt hatte (Shimizu 1990: 71–73). Dass Plage im japanischen Verlagswesen auf genug Urheberrechtsverletzungen traf, um großangelegte juristische Gegenmaßnahmen zu veranlassen, lässt vermuten, dass der Umgang mit übersetzungsrechtlichen Fragen vor 1935 relativ unbekümmert, danach jedoch deutlich bewusster erfolgte.

Vor diesem überaus bewegten Hintergrund erschien 1940 bei Mikasa Shobō die Tonio Kröger-Retranslation Toyonaga Yoshiyukis unter dem etwas eigenwilligen Titel Ai no kodoku bzw. „Die Einsamkeit der Liebe“ innerhalb eines gleichnamigen Sammelbandes, der zugleich als erster Band einer ersten, auf insgesamt 18 Bände und einen forschungsbezogenen Sonderband angelegten japanischen Thomas Mann-Gesamtausgabe konzipiert war. Obwohl der Mikasa-Verlag nur wenige Jahre zuvor, d. h. 1933, vom Übersetzer Takeuchi Michinosuke gegründet worden war, waren dort bereits eine vollständige Dostojewski-Gesamtausgabe sowie Teile einer Hesse-Gesamtausgabe erschienen (Yamaguchi 2018: 403; Kobayashi 1976: 28). Toyonagas Tonio Kröger-Übersetzung bildete damit als erster Band der Thomas Mann-Gesamtausgabe die Speerspitze eines weiteren ehrgeizigen Projekts dieses jungen, auf Übersetzungen westlicher Literaturklassiker spezialisierten Verlagshauses. Bereits im Februar 1936 war bei Mikasa der erste Band der ersten vollständigen japanischsprachigen Übersetzung des Thomas Mann-Romans Der Zauberberg erschienen; der zweite Band folgte im April 1939 (Yamaguchi 2018: 243–244). Die danach erschienenen Bände der Gesamtausgabe umfassten neben den von Toyonaga übersetzten frühen Erzählungen einen weiteren, spätere Erzählwerke beinhaltenden Band, eine zweibändige Übersetzungsausgabe des Romans Königliche Hoheit sowie einen ersten Teilband zum Josephsroman Die Geschichten Jaakobs (ebd.: 404). Dass es hierbei z. T. auch um die Abgrenzung von zuvor publizierten und kanonisierten Thomas Mann-Übersetzungen gegangen sein dürfte, könnte auch die auffällige Titelgebung Ai no kodoku für Toyonagas Tonio Kröger-Retranslation erklären. Daneben war dieser Übersetzer im Kontext der Mikasa-Gesamtausgabe bereits für eine zweibändige Übersetzung des erst im Dezember 1939 erstveröffentlichten Romans Lotte in Weimar verpflichtet worden (Yamaguchi 2018: 403, Blödorn/Marx 2015: 408). Diese wurde allerdings nie umgesetzt, da die Mikasa-Gesamtausgabe 1941 aufgrund der kulturpolitischen Annäherung an Nazideutschland abgebrochen werden musste (Keppler-Tasaki 2020: 116; Oguro 2004: 145; Murata 1991: 175; Yamaguchi 2018: 403–404). Dementsprechend war Toyonagas Tonio Kröger-Retranslation zunächst Teil des ehrgeizigen Publikationsvorhabens eines aufstrebenden Verlages, der einiges Vertrauen in diesen Übersetzer setzte, aber letztlich an der gewandelten politischen Großwetterlage scheiterte.

4.1.4 Takeyama Michio und Shinchōsha

Anders verhält es sich mit der im Folgejahr publizierten Tonio Kröger-Retranslation Takeyama Michios, die 1941 bei Shinchōsha, also einem Hauptkonkurrenten des oben thematisierten Iwanami-Verlags erschien. Diese Konkurrenz lag nicht zuletzt auch darin begründet, dass sich die bereits 1914 gegründete Shinchō Bunko-Taschenbuchreihe ebenso wie die erst 1927 begründete Iwanami Bunko-Reihe explizit am Publikationskonzept des deutschen Reclam-Verlages orientierte (Kawamori 2005: 45). Auch darüber hinaus definierte sich Shinchōsha als Vermittlungsinstanz anspruchsvoller westlicher Literatur, sodass hier schon 1917 die populäre, hochliterarische Liebesromane des westlichen Kanons umfassende Werther-Serie (Weruteru Sōsho) sowie in den 1920er-Jahren die Reihen Sekai Bungei Zenshū („Sammlung der Weltliteratur“) und Kindai Meicho Bunko („Meisterwerke der modernen Literatur“) erschienen waren; hinzu kamen Gesamtausgaben zu Tolstoi, Nietzsche, Turgenjew, Dostojewski und Balzac (Kawamori 2005: 43–44, 46–47). Durch den nachkriegszeitlichen Weltliteratur-Boom verfestigte sich Shinchōshas Profil als renommierter Übersetzungsverlag zusätzlich (Okuyama 1980: 124–125). Eine 1961 bei Shinchōsha verlegte, von den Tonio Kröger-Übersetzern Takahashi, Morikawa und Maruko gemeinsam verfasste Übersetzung des Romans Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull erwähnt zudem explizit ein verlagsrechtliches Arrangement mit Thomas Manns Neffen Hans Erik Pringsheim, der seit 1951 die Interessen des berühmten Onkels in Japan vertrat (Takahashi/Morikawa/Maruko 1961: 331; Keppler-Tasaki 2020: 226). Diese offizielle Legitimation der Shinchōsha-Übersetzungen dürfte sich ebenso wie die ab 1972 bei Shinchōsha verlegte Thomas Mann-Gesamtausgabe (Potempa 1997: 1118–1121; Oguro 2004: 146) auf die spätere Rezeption der Takeyama-Retranslation positiv ausgewirkt haben. Dass Takeyamas Tonio Kröger dennoch im Unterschied zur Erstübersetzung auf eine einzige Auflage beschränkt geblieben ist, lässt jedoch vermuten, dass dieser Text zumindest vom breiteren Publikum kaum rezipiert wurde. Hierzu dürfte ebenso wie bei Toyonaga (1940) der historisch denkbar ungünstige Publikationszeitpunkt, d. h. die politische Zensur der japanischen Militärdiktatur, maßgeblich beigetragen haben.

4.1.5 Takahashi Yoshitaka, Kon’nichisha, Kadokawa Shoten und Shinchōsha

Takeyama (1941) war unterdessen nicht die einzige bei Shinchōsha verlegte Tonio Kröger-Übersetzung: Obwohl Takahashi Yoshitaka bereits 1949 eine entsprechende Retranslation bei Kon’nichisha sowie 1953 eine weitere bei Kadokawa Shoten publiziert hatte, erschien sein Tonio Kröger 1953 auch im Thomas Mann-Band der Reihe Shinchōsha Gendai Sekai Bungaku Zenshū („Shinchōsha-Sammlung zur gegenwärtigen Weltliteratur“), der erstmalig in der Verlagsgeschichte mit einer großformatigen Anzeige in der Tageszeitung Asahi Shinbun beworben wurde (Kawamori 2005: 139–140). Die Weichen für eine über das akademische Umfeld hinausgehende Rezeption waren damit früh gestellt. Als Einzelband in der Shinchō Bunko-Taschenbuchreihe erschien Takahashis Retranslation 1956 (Potempa 1997: 1133), woraufhin sie 1967 neu aufgelegt wurde und 2014 in die 61. Auflage ging (Takahashi 2014). Auf diese besonders populäre Textfassung von 1967 bezieht sich die vorliegende Analyse; parallel erschien jedoch auch die Kadokawa-Ausgabe 1959 bereits in der 7. Auflage und wurde 1969 nochmals neu aufgelegt (Potempa 1997: 1124, 1133). Daraus geht hervor, dass Takeyamas Retranslation (1941) hinsichtlich ihrer Reichweite zweifelsohne von derjenigen Takahashis (1967) überstrahlt wurde, da Letztere zeitweise sogar zeitgleich von Kadokawa Shoten und Shinchōsha verlegt wurde und, wie die Auflagenzahlen veranschaulichen, insbesondere vom Renommee des Shinchōsha-Verlages profitierte.

4.1.6 Asai Masao und Hakusuisha

Asai Masaos Tonio Kröger-Übersetzung erschien 1955 bei Hakusuisha, also einem auf Übersetzungen spezialisierten, eher kleineren Verlagshaus, das sich nach seiner Gründung im Jahr 1915 zunächst auf französische Literatur konzentriert hatte (Shimizu 1990: 51). Dieser Fokus auf Übersetzungsliteratur ist insofern bis in die Gegenwart ausgeprägt geblieben, als Hakusuisha laut dem Index Translationum der UNESCO auf der Liste der Verlage mit den meisten japanischen Übersetzungspublikationen den achten Platz hinter den deutlich größeren Unternehmen Iwanami Shoten auf Platz 3 und Kōdansha auf Platz 7 einnimmt (Index Translationum 2023). Hier wurde Asai Masaos Tonio Kröger-Retranslation 1955 als Teil der Sammelausgabe „Hakusuisha-Auswahl von berühmten Werken der Weltliteratur“ (Hakusuisha Sekai Meisakusen) (Asai 1955) veröffentlicht, wobei auf die Erstauflage zumindest bei Hakusuisha keine weiteren Auflagen folgten. 1968 wurde jedoch im Wissenschafts- und Literaturverlag Chikuma Shobō innerhalb einer der zahlreichen zeitgenössischen Sammlungen der Weltliteratur (Sekai Bungaku Zenshū) eine Tonio Kröger-Retranslation Asai Masaos im selben Band wie eine Zauberberg-Übersetzung Satō Kōichis publiziert (Potempa 1997: 1124).

4.1.7 Fukuda Hirotoshi und Chūōkōronsha

Obwohl sich hochwertig ausgestattete Sammelausgaben zur Weltliteratur in der Nachkriegszeit gut verkauften, blieb das Interesse an preiswerteren Taschenbuchformaten ungebrochen. Vor diesem Hintergrund führte Iwanami 1954 mit Shinshoban (新書判) ein weiteres Taschenbuchformat ein, das im Vergleich zu den bunkobon als weniger hochliterarisch-anspruchsvoll galt und von den Verlagen Kōbunsha (光文社), Kōdansha sowie Chūōkōronsha übernommen wurde (Okuyama 1980: 125). Infolgedessen konnte sich Chūōkōronsha bereits Mitte der 1950er-Jahre auf dem japanischen Taschenbuchmarkt profilieren, während der Verlag ansonsten insbesondere für das im kyōyōshugi-Umfeld populäre (Takeuchi 2007: 13) literarische Monatsmagazin Chūōkōron bekannt war (Chūōkōronsha 1955). Dass Fukuda Hirotoshis Tonio Kröger-Retranslation 1965 bei Chūōkōronsha in einer Sammelausgabe zur Weltliteratur (Sekai no Bungaku bzw. A Treasury of World Literature) veröffentlicht wurde, zeugt demzufolge von einem der Publikation zugrundeliegenden Bildungsanspruch, der allerdings zunehmend auch auf ein breiteres Publikum hin ausgerichtet war. Dem entspricht es, dass Fukudas Retranslation als erste japanische Tonio Kröger-Übersetzungsausgabe überhaupt Illustrationen enthielt. Wenngleich sie noch 1994 erneut in einer von Chūōkōronsha verlegten Sammelausgabe zur Weltliteratur erschien (Fukuda 1994), ist die Reichweite dieses Texts doch gerade auch im Verhältnis zur allgemeinen Reichweite des publizierenden Verlags begrenzt geblieben.

4.1.8 Satō Kōichi, Maruko Shūhei und u. a. Shūeisha

Die im Rahmen dieser Analyse berücksichtigte Textfassung der Satō-Retranslation erschien im Juli 1966 im Band 20 einer vom Shūeisha-Verlag herausgegebenen „Gesamtausgabe zur Weltliteratur des 20. Jahrhunderts“ (20 Seiki no Bungaku. Sekai Bungaku Zenshū), der zudem weitere Werke Thomas Manns, Hermann Hesses und Hans Carossas enthielt. Bereits 1963 war eine Tonio Kröger-Retranslation Satōs außerdem – ebenfalls als Bestandteil einer „Sammlung der Weltliteratur“ (Sekai Bungaku Zenshū) – beim Verlag Kawade Shobō Shinsha veröffentlicht worden (Potempa 1997: 1123). 1971 wurde Satōs Retranslation nochmals beim Verlag Shufu no Tomosha (主婦の友社) im sechsten Band einer Sammlung zur Nobelpreisliteratur (Nōberushō Bungaku Zenshū) publiziert, bevor sie 1973 erneut bei Shūeisha innerhalb einer weiteren Weltliteratur-Gesamtausgabe (Sekai Bungaku Zenshū) auf den Markt kam (Potempa 1997: 1132–1133). Dass diese Retranslation demzufolge innerhalb eines Jahrzehnts von drei unterschiedlichen Verlagen in vier verschiedenen Sammelausgaben zur Welt- bzw. Nobelpreisliteratur herausgebracht wurde, veranschaulicht den generellen Weltliteraturboom der Epoche. Eine solche Publikationsvielfalt legt außerdem eine beachtliche Reichweite nahe, zu der insbesondere Shūeisha als einflussreiches, 1925 gegründetes und ansonsten eher auf Magazine und Manga spezialisiertes Verlagsunternehmen beigetragen haben dürfte (Shūeisha 2023). Allerdings zeichnete es sich durch keinen mit Iwanami oder Shinchōsha vergleichbaren prestigeträchtigen Literaturfokus aus.

Bemerkenswert ist ferner, dass 1990, als Shūeisha unter dem Titel „Shūeisha-Galerie der Weltliteratur“ (Shūeisha Gyararī Sekai no Bungaku) eine weitere Weltliteratursammlung herausbrachte, nicht erneut auf Satōs Retranslation, sondern stattdessen auf einen von Maruko Shūhei neu angefertigten Tonio Kröger-Übersetzungstext zurückgegriffen wurde (Maruko 1990). Ob dem die Absicht zugrunde lag, in eine aktualisierte Sammelausgabe eine gleichermaßen aktualisierte Übersetzung aufzunehmen, wird im weiteren Analyseverlauf überprüft.

4.1.9 Morikawa Toshio und Sanshūsha

Morikawa Toshios Tonio Kröger-Retranslation erschien 1966 bei Sanshūsha als einem bereits 1938 gegründeten und bis heute auf Deutschlehrmaterialien und Wörterbücher spezialisierten Fachverlag (Sanshūsha 2023) und wurde bereits auf dem Cover des innerhalb der Reihe Doitsu Bungaku bzw. „Deutsche Literatur“ publizierten Thomas Mann-Bandes einer „jungen Elite“ explizit als „Neuübersetzung“ angepriesen. Sanshūsha definierte sich hierbei stolz als auf deutschsprachige Publikationen spezialisierter Fachverlag: doitsugo shoseki senmon-shuppansha ga jishin o motte wakaki erīto no anata ni okuru!! [sic] (Morikawa 1966). Das eher kleine Verlagsunternehmen wandte sich also gezielt an einen spezifischen, akademisch-elitären Adressatenkreis, von dem man sich insbesondere im Kontext des zeitgenössischen „Massen-kyōyōshugi“ (taishū kyōyōshugi, 大衆教養主義) Resonanz erhoffte (Takeuchi 2007: 202–203). 1969 erschien Morikawas Tonio Kröger-Übersetzung erneut bei Sanshūsha innerhalb der Taschenbuchreihe „Berühmte deutsche Werke“ (Doitsu no Meisaku) (Potempa 1997: 1124). Obwohl diese Retranslation aufgrund der eher begrenzten Reichweite des Sanshūsha-Verlages kein Massenpublikum erreichte, fand sie also immerhin bei der jungen akademischen Elite genügend Anklang, dass sich eine Taschenbuchausgabe lohnte.

4.1.10 Nojima Masanari und Kōdansha

Nojima Masanaris Tonio Kröger-Übersetzung erschien 1968 in einer englischsprachig als Classics of All Ages betitelten Weltliteratursammlung des 1909 gegründeten Kōdansha-Verlages, dessen Publikationsschwerpunkte nach Kriegsende wöchentliche Magazine (shūkan) und Manga bildeten; gemäß dem Verlagsmotto omoshirokute tame ni naru war das Programm also auf Unterhaltung und Massentauglichkeit ausgelegt (Noma 1990: 2, 5). In Reaktion auf das zeitgenössische Publikumsinteresse an hochliterarischen Bildungsklassikern, das dem japanischen Buchhandel laut der 80-jährigen Geschichte des Kōdansha-Verlages in den späten 1960er-Jahren eine Umsatzsteigerung von satten 26,6 Prozent einbrachte (ebd.: 359), veröffentlichte indessen auch Kōdansha insbesondere während der 1960er- und frühen 1970er-Jahre zahlreiche repräsentative Weltliteratur-Sammelausgaben. Dementsprechend belegt dieser Verlag laut dem Index Translationum der UNESCO im Ranking der zehn japanischen Verlage mit den meisten Übersetzungspublikationen hinter Iwanami (Platz 3) und unmittelbar vor Hakusuisha (Platz 8) den siebten Platz (Index Translationum 2023). Vor diesem Hintergrund wurde Nojima Masanaris Tonio Kröger-Retranslation bereits 1971 erneut und in zwei unterschiedlichen Ausgaben bei Kōdansha veröffentlicht, zu denen neben einer auch die Erzählung Der Tod in Venedig umfassenden Ausgabe nochmals ein Band innerhalb der Reihe Sekai Bungaku Raiburarī, also einer weiteren Sammlung bzw. „Bibliothek“ der Weltliteratur gehörte (Potempa 1997: 1124). Schon 1974 wurde Nojimas Retranslation im 64. Band einer gleichfalls von Kōdansha verlegten „Sammlung der Weltliteratur“ (Sekai Bungaku Zenshū) ein weiteres Mal publiziert (ebd.: 1124–1125). Nojimas Übersetzungstext dürfte damit für Kōdansha den Zweck einer „verlagseigenen“, in kurzem zeitlichem Abstand mehrfach lukrativ verwertbaren Tonio Kröger-Übersetzung erfüllt haben. Dem auf Unterhaltung und Massentauglichkeit ausgerichteten Verlagsprogramm entspricht es außerdem, dass auch die 1968 erschienene Fassung der Nojima-Retranslation Illustrationen enthält.

4.1.11 Ueda Toshirō, Kataoka Keiji und die Lehrbuchverlage

Auf ein allmähliches Abflauen der gesamtjapanischen Begeisterung für literarische Klassiker kann dagegen der jeweilige Publikationsrahmen der Tonio Kröger-Retranslations Ueda Toshirōs (1970) und Kataoka Keijis (1973) zurückgeführt werden: Uedas Retranslation erschien 1970 beim 1931 gegründeten, auf Englischlehrmaterialien, Wörterbücher sowie auf Vorbereitungsmaterialien für Universitätsaufnahmeprüfungen spezialisierten Ōbunsha-Verlag (Ōbunsha 2023); diejenige Kataokas drei Jahre später bei Rippū Shobō, einer 1966 aus dem ebenfalls v. a. Lehr- und Unterrichtsmaterialien publizierenden Verlag Gakushū Kenkyūsha hervorgegangenen Tochterfirma (Kotobank 2023). Ebenso wie Morikawa (1966.5) wurden damit auch Ueda (1970) und Kataoka (1973) im akademischen Kontext veröffentlicht, orientierten sich dabei aber weniger an der universitären Bildungselite, sondern in erster Linie an den pragmatischen Erfordernissen des Schulunterrichts. Dem entspricht es, dass Kataokas Übersetzungstext zwar innerhalb einer Weltliteratursammlung erschien; diese war jedoch in Entsprechung zum japanischen Titel Sekai Seishun Bungakukan auch in englischer Sprache als A Museum of Literature for the World’s Youth betitelt und sollte folglich ein junges, nicht zwangsläufig elitäres Publikum an literarische Klassiker heranführen.

4.1.12 Hirano Kyōko und Kawade Shobō

Auch jenseits der Thomas Mann-Übersetzung schwand insbesondere in den 1970er-Jahren das Interesse am einstigen Bildungsgut Weltliteratur, sodass bis Maruko (1990) zunächst keine weiteren Tonio Kröger-Übersetzungen erschienen. Bis Hirano Kyōkos Tonio Kröger-Neuübersetzung 2011 veröffentlicht wurde, vergingen weitere 21 Jahre. Publiziert wurde sie bei Kawade Shobō (innerhalb der Taschenbuchreihe Kawade Bunko), also beim selben Verlag, der bereits 1963 im Zusammenhang des Weltliteratur-Booms erstmals die Satō-Retranslation veröffentlicht hatte (Kawamori 2005: 139). Bereits seit seiner Gründung im Jahr 1886 war das Verlagshaus Kawade Shobō auf Kunst und Literatur spezialisiert, weswegen es auch 1944 die einflussreiche Literaturzeitschrift Bungei vom damals aufgelösten Kaizōsha-Verlag übernommen hatte (Kawade 2023). Aus Bungei war in den 1990er-Jahren unter dem Schlagwort J-Bungaku bzw. „J-Literatur“ eine neue Generation japanischer Literaturschaffender hervorgegangen, zu denen u. a. Murakami Haruki, Murakami Ryū und Yoshimoto Banana gehörten (Fukushima 2003). Entsprechend gilt Kawade Shobō als ausgesprochener Literaturverlag, der sich aber im Unterschied bspw. zu Iwanami in erster Linie über japanische Gegenwartsliteratur definiert. Damit erschien Hiranos Neuübersetzung in einem dezidiert literarischen Publikationsumfeld, das sich allerdings nicht durch dieselben exklusiven Bildungsansprüche wie Iwanami auszeichnete, sodass in ihrer Neuübersetzung auch Werbeanzeigen für eine ebenfalls bei Kawade Bunko erschienene Übersetzung des Romans Per Anhalter durch die Galaxis von Douglas Adams abgedruckt sind. Erleichtert wurde der Textzugang zudem dadurch, dass Hiranos Neuübersetzung als eine von insgesamt nur drei japanischen Tonio Kröger-Ausgaben Illustrationen enthält.

4.1.13 Asai Shōko und Kōbunsha

Zeichnete sich bei Hirano schon eine implizite Abgrenzung von elitären kyōyōshugi-geprägten Bildungsansprüchen ab, wurde diese im Falle der 2018 beim Verlagshaus Kōbunsha erschienenen Tonio Kröger-Übersetzung Asai Shōkos explizit. Während der 1945 gegründete Kōbunsha-Verlag neben literarischen Publikationen insbesondere auf Modezeitschriften spezialisiert ist (Kōbunsha 2023), erschien Asais Neuübersetzung in der Taschenbuchreihe Kōbunsha koten shin’yaku bunko, d. h. „Kōbunshas Neuübersetzungen literarischer Klassiker“. Diese umfasst neben Tonio Kröger auch Übersetzungen des Thomas Mann-Romans Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull sowie der Erzählungen Der Tod in Venedig, Die Betrogene und Die vertauschten Köpfe; Letztere stammen jedoch allesamt vom Germanistikprofessor Kishi Yoshiharu. Darüber hinaus sind in derselben Reihe auch Neuübersetzungen zu Goethe, Hesse, Brecht, Kafka, Schopenhauer, Nietzsche, Balzac und Dostojewski erschienen, also eine Art Best-of des kyōyōshugi-Bildungspantheon.

Diesbezüglich führt das Herausgebernachwort von Kōbunsha koten shin’yaku bunko jedoch die allgemeine Abkehr von der Klassikerlektüre explizit auf einen „veralteten“ kyōyōshugi zurück – […] koten o, naze watashitachi wa kore hodo made utonjite kita no deshō ka. Hitotsu ni wa furukusai kyōyōshugi kara no tōsō datta ka mo shiremasen –, welcher das Gegenwartspublikum durch seine Ansprüche auf Bildungsautorität (ken’ika) abschrecke (Asai 2018: 194). Daher sei es das erklärte Ziel der Reihe, veraltete Literaturklassiker durch eine lebendige bzw. „atmende“ Gegenwartssprache „wiederauferstehen zu lassen“ (Ima, iki o shite iru kotoba de, koten o gendai ni yomigaeraseru koto o ito shite sōkan saremashita; Asai 2018: 194). Übereinstimmend schildert auch Asai Shōko im Nachwort ihrer Tonio Kröger-Neuübersetzung, sie sei durch Kōbunsha ausdrücklich zu „abenteuerlichen“ Übersetzungen (mayottara bōken suru hō o erande hoshii) mit zielsprachlichem Fokus (yakusha no Nihongo no kankaku o taisetsu ni shite hoshii) angehalten worden (Asai 2018: 190). Ziel der Neuübersetzung sei es also gewesen, Tonio Kröger in Orientierung am japanischen Zielpublikum als unterhaltsamen, dezidiert japanischsprachigen Roman (omoshiroi shōsetsu, nihongo no shōsetsu) zu konzipieren (ebd.: 189–190).

Dass man allerdings trotzdem am bereits durch den Reihentitel Kōbunsha koten shin’yaku bunko signalisierten Klassikerstatus festhielt, wird bspw. schon anhand einer der Tonio Kröger-Neuübersetzung beigefügten Herausgebernotiz zur Übersetzung der ausgangstextlichen Verunglimpfung „Zigeuner“ durch jipushī ersichtlich, die deren diskriminierende Implikationen zwar erstmalig problematisiert, die wortgetreue Orientierung am 1903 erschienenen Ausgangstext aber beibehält (ebd.: 192). Außer Frage steht hierbei, dass sich ein solches Festhalten am Wortlaut des Ausgangstextes auch aus der Vermarktungsperspektive empfahl.

4.1.14 Zusammenführung: Die Rolle der Verlage

In Hinblick auf die Rolle, die die Verlage für den japanischen Tonio Kröger-Übersetzungspluralismus gespielt haben, zeichnet sich eine Kluft ab zwischen den tatsächlich vielfach gelesenen (oder zumindest vielfach gekauften) Tonio Kröger-Taschenbuchausgaben wie Saneyoshi (1930) und Takahashi (1967) und eher repräsentativ ausgerichteten Sammelausgaben wie Satō (1966.7). Auch die Neuübersetzungen Hiranos (2011) und Asais (2018) sind im niederschwellig zugänglichen Taschenbuchformat erschienen, während Marukos Retranslation (1990) noch Teil einer Weltliteratur-Sammelausgabe war. Zugleich versprachen angesehenere und einflussreichere Verlage durchweg höhere Chancen auf Resonanz beim Publikum, wie sich insbesondere angesichts der im kyōyōshugi-Hausverlag publizierten Erstübersetzung und der im einflussreichen Shinchōsha-Verlag erschienenen Takahashi-Retranslation veranschaulichen lässt. Dass Beispiel der ebenfalls bei Shinchōsha verlegten Takeyama-Retranslation (1941) zeigt aber, dass hohe Absatzzahlen trotzdem keineswegs garantiert waren, sofern keine Taschenbuchausgabe erschien.

Bemerkenswert ist außerdem, dass mehrere Übersetzende ihre Tonio Kröger-Texte entweder parallel oder in sehr kurzen zeitlichen Abständen bei unterschiedlichen Verlagshäusern veröffentlichen konnten. Auf Seite der Übersetzenden dürften sich so die Aussichten darauf verbessert haben, ein möglichst breites Publikum zu erreichen. Abgesehen hiervon erlaubt dieses Phänomen jedoch Rückschlüsse auf die enorme Nachfrage nach Übersetzungstexten, sodass es v. a. in der durch den Weltliteratur-Boom (Okuyama 1980: 124–125; Kawamori 2005: 139–140; Noma 1990: 359) charakterisierten Nachkriegszeit offenbar mehr veröffentlichungswillige Verlage als Übersetzende gab. Infolgedessen erschienen Retranslations Takahashis (1953), Asais (1955), Fukudas (1965, 1994), Satōs (1963, 1966.7, 1971), Nojimas (1968, 1971, 1974), Kataokas (1973) und Marukos (1990) alle in Reihen bzw. Sammelbänden zur Weltliteratur; ebenso war Morikawa (1966.5) Teil einer zwölfbändigen Reihe zur deutschen Literatur und auch Asais Neuübersetzung (2018) wurde innerhalb einer Serie von Neuübersetzungen westlicher Literaturklassiker publiziert. Die Mehrzahl der japanischen Tonio Kröger-Übersetzungstexte ist demzufolge Bestandteil entsprechender Sammelausgaben und Publikationsreihen, die das jeweilige Verlagsinteresse an einer neuartigen, idealerweise hauseigenen Tonio Kröger-Textfassung entscheidend bedingt haben dürften. Generell offenbart auch dies den Pluralismus, durch den sich die japanischen Übersetzungsaktivitäten von denen des englischen Sprachraums unterscheiden. Während der Alfred A. Knopf-Verlag in den USA lange als Thomas Manns englischsprachiger „Hausverlag“ galt (Kinkel 2011: 89), erhob in Japan eine zweistellige Anzahl von Verlagshäusern Anspruch auf diesen Repräsentanten der Weltliteratur.

Dass die beiden Übersetzungstexte Saneyoshis (1927) und Takahashis (1967 [1949]) die übrigen Textfassungen bezüglich der jeweiligen Auflagenzahlen bei Weitem überflügelt haben, ist unterdessen darauf zurückzuführen, dass i. d. R. nicht mehr als eine Übersetzungsausgabe gekauft und infolgedessen als Ersatz für den Ausgangstext rezipiert wird, wogegen ein Konsultieren unterschiedlicher Übersetzungen die Übersetzungsillusion eines äquivalenten Ersatzes gefährden würde. In Entsprechung hierzu verteilen sich auch die japanischen Rezeptionsaktivitäten nicht etwa gleichmäßig auf 15 verschiedene Tonio Kröger-Fassungen, sondern konzentrierten sich auf Saneyoshi (1927) und Takahashi (1967 [1949]).

4.2 Wahrnehmung der prominentesten Übersetzungstexte

In Hinblick auf diesen Sonderstatus Saneyoshis (1927) und Takahashis (1967 [1949]) werden im Folgenden zuerst Fremdzeugnisse zur Wahrnehmung der besonders prominenten Übersetzungstexte zusammengetragen, bevor individuelle biografische Kontextfaktoren nachskizziert werden. Insbesondere zu Saneyoshis 1927 erschienener Erstübersetzung existiert eine Fülle entsprechender Äußerungen, wobei die Schriftsteller Kita Morio und Tsuji den Ton angaben. Sie attestierten der Tonio Kröger-Erstübersetzung sogar dahingehend einen Sonderstatus (bekkaku-atsukai), dass der Name Saneyoshi Hayao in Japan synonym mit demjenigen Thomas Manns zu verwenden sei (Yamamuro 2018: 226–227); Tsuji bekundete in diesem Zusammenhang, dass er Manns Werke ausschließlich in der Saneyoshi-Übersetzung lesen könne (boku wa, Saneyoshi-yaku de nai to Man no mono wa hotondo yomenai kurai datta; Kita/Tsuji 1980: 63). Diese Präferenz begründete Kita u. a. durch den bspw. aufgrund eines verstärkten Kanji-Gebrauchs „wie geschnitzt wirkenden“, steifen Stil der Erstübersetzung, der eine besondere Nähe zum Ausgangstext herstelle (are dake kanji ga tsukatte aru node, Man no, horitsuketa yō na katai chōkokuteki na buntai to, itchi surunda; ebd.). Ebenso äußerten sich beide Schriftsteller lobend zu Saneyoshis Orientierung an der Wortfolge des deutschsprachigen Ausgangstextes (ebd.: 66). Abgesehen von diesen Übersetzungscharakteristika dürfte Kitas und Tsujis Vorliebe für die Erstübersetzung jedoch v. a. auf deren Publikationszeitpunkt zurückzuführen sein, da beide Autoren während ihrer gemeinsamen Oberschulzeit in den 1940er-Jahren erstmalig mit Manns Werken und v. a. mit Saneyoshis Übersetzung in Kontakt gekommen waren (Sekikawa 2009: 18). Die der Erstübersetzung entgegengebrachte Wertschätzung dürfte hier also auch durch eine nostalgische Verklärung der Oberschulzeit bedingt gewesen sein.

Ein besonders geschätztes Charakteristikum der Erstübersetzung bestand darüber hinaus auch in der Schreibung des titelgebenden Protagonistennamens „Tonio Kröger“, bezüglich derer Saneyoshi nicht die der deutschen Aussprache lautlich weitgehend entsprechende Umschrift Kurēgā, sondern die Alternative Kurēgeru wählte, welche eher dem deutschen Lautbild von „Krehgel“ entspricht (Yamamuro 2018: 227; Hamakawa 2003: 138). Nicht zuletzt Hirano Kyōko beschwört im Nachwort ihrer 2011 publizierten Tonio Kröger-Neuübersetzung emphatisch die Lyrizität der Erstübersetzung (jijō afureru utsukushii yakubun) sowie die nostalgischen Assoziationen, die insbesondere die Schreibung Kurēgeru hervorrufe (Hirano 2011: 246). Trotz dieser Aussage hat sich Hirano allerdings nicht an Letzterer orientiert. Übernommen wurde die Schreibung Kurēgeru stattdessen von Mukasa (1928), Toyonaga (1940), Takahashi (1967 [1949]), Fukuda (1965) und Kataoka (1973), also von knapp der Hälfte der Übersetzenden. Die sich verstärkt nach deutschen Ausspracheregularitäten richtende Schreibung kurēgā wurde dagegen erstmalig durch Takeyama (1941) etabliert und in der Folge von Asai (1955), Morikawa (1966.5), Satō (1966.7), Nojima (1968), Ueda (1970), Maruko (1990), Hirano (2011) sowie von Asai (2018), also der Mehrzahl der Übersetzenden übernommen.

Von Interesse ist in diesem Zusammenhang außerdem, dass sich Kita Morio neben der Erstübersetzung v. a. zur Takeyama-Retranslation (1941) positiv äußerte. Diese sei für ihn gleichfalls „unvergesslich“ (wasuregatai); im Unterschied zur Erstübersetzung betonte er hier aber nicht die formale Orientierung am Ausgangstext, sondern Takeyamas Ausdrucksvermögen und Rhythmusgefühl innerhalb der japanischen Zielsprache (Kita/Tsuji 1980: 66–67). Obwohl sich nicht rekonstruieren lässt, zu welchem Zeitpunkt Kita die Takeyama-Retranslation erstmals gelesen hat, ist es dennoch aufschlussreich, dass er im 1980 publizierten Dialog mit Tsuji Kunio, also zu einem Zeitpunkt, als bereits die Mehrzahl der hier analysierten Tonio Kröger-Übersetzungstexte auf dem japanischen Buchmarkt verfügbar war, neben der kanonisierten Erstübersetzung sowie den Texten der beiden prominenten Germanisten Takahashi Yoshitaka und Satō Kōichi (s. u.) nur noch auf Takeyamas wie oben erwähnt kommerziell wenig erfolgreichen Übersetzungstext Bezug nahm. Dies spricht für die Bedeutung, die der Takeyama-Retranslation (1941) zwar nicht vom breiteren Publikum, aber von der literarisch interessierten Fachgemeinde beigemessen wurde.

Einen im Vergleich zu Takeyama (1941) weitaus größeren kommerziellen Erfolg bescherte dem Shinchōsha-Verlag allerdings die Tonio Kröger-Übersetzung Takahashi Yoshitakas, die zu den hundert wichtigsten im 20. Jahrhundert innerhalb der Shinchō Bunko-Taschenbuchreihe erschienenen Werken gehört (Sekikawa 2009: 18–19). Trotzdem existieren zu dieser Retranslation vergleichsweise wenige explizite Äußerungen, die sich im Falle des Schriftstellers Kita Morio darauf beschränkten, dass Takahashi durch seine essayistische Publizistik bzw. durch das hierdurch diversifizierte Ausdrucksvermögen im Vergleich zum Zeitgenossen Satō Kōichi interessantere Übersetzungstexte hervorgebracht habe (Kita/Tsuji 1980: 66). Die einzige explizite Bevorzugung einer von Takahashi angefertigten Übersetzung von Der Tod in Venedig gegenüber einer älteren Übersetzungsfassung Saneyoshis findet sich hingegen in der Romantheorie des japanischen Literaturnobelpreisträgers Ōe Kenzaburō (Ōe 1993: 101). Dabei ist jedoch zu beachten, dass Ōe – anders als Kita Morio und Tsuji Kunio – als literarischer Repräsentant der neuen, nachkriegszeitlichen Oberschulbildung wahrgenommen wird (Takeuchi 2007: 28; 34). Ōes Abgrenzung vom kyōyōshugi-affinen Bildungssystem der Vorkriegszeit könnte demzufolge so weit gegangen sein, dass er mit Takahashi Yoshitaka einen zumindest im direkten Vergleich zu Saneyoshi Hayao weniger unmittelbar mit kyōyōshugi assoziierten Thomas Mann-Übersetzer bevorzugte.

Dagegen bezog sich der 1930 geborene Kritiker und Historiker Watanabe Kyōji (渡辺京二), bezüglich dessen eine intensive Auseinandersetzung mit Tonio Kröger zur Oberschulzeit explizit dokumentiert ist (Watanabe 2012: 19), in seiner 2012 publizierten Einführung zur Weltliteratur im Eintrag zu Tonio Kröger nicht nur auf die beiden prominenten Übersetzungstexte Saneyoshis (1927) und Takahashis (1967), sondern darüber hinaus auch auf die Retranslations Nojima Masanaris (1968) und Hirano Kyōkos (2011). Während Watanabes Verweis auf Hiranos Neuübersetzung durch deren Aktualität erklärlich wird, ist die explizite Bezugnahme auf Nojima (1968) nicht durch Auflagenzahlen, sondern vermutlich durch eine persönliche Vorliebe Watanabes für diesen Text oder seinen Verfasser zu begründen.

Dementsprechend verdeutlichen auch die hier zusammengetragenen Fremdzeugnisse die herausragende Bedeutung der 1927 erschienenen Tonio Kröger-Erstübersetzung, die, wie am Beispiel Kita Morios und Tsuji Kunios gezeigt werden konnte, unmittelbar mit einer nostalgischen Verklärung der Oberschulzeit in Verbindung gebracht wurde. Vereinzelt erwähnt wurden außerdem die Übersetzungstexte Takeyama Michios (1941), Takahashi Yoshitakas (erstmals 1949), Satō Kōichis (erstmals 1963), Nojima Masanaris (1968) und Hirano Kyōkos (2011). Insbesondere zu Letzterer äußerte sich der Thomas Mann-Spezialist Oguro Yasumasa jüngst allerdings eher lapidar, Hirano habe die beiden Erzählungen Tonio Kröger sowie Mario und der Zauberer „relativ frei in japanischer Sprache wiedergegeben“ (Oguro 2016: 10).

4.3 Die Übersetzenden

Anknüpfend an die Ergebnisse zur Verlagsgeschichte und zur Fremdwahrnehmung werden im folgenden Teilkapitel die individuellen Lebensläufe und Werdegänge der Übersetzenden hinsichtlich ihrer möglichen Auswirkungen auf die Retranslations thematisiert.

4.3.1 Saneyoshi Hayao: Begründer einer Übersetzungstradition

Der Verfasser der ältesten und prominentesten japanischen Tonio Kröger-Übersetzung, Saneyoshi Hayao (実吉捷郎), wurde 1895 in Tōkyō geboren; er war damit deutlich älter als die übrigen Übersetzenden (Saneyoshi 1949: 181). Seinen Abschluss erwarb er am germanistischen Institut der damaligen Kaiserlichen Universität in Tōkyō; bereits 1922 hatte er sich außerdem in Deutschland aufgehalten und in Berlin gemeinsam mit dem späteren Buddenbrooks-Übersetzer Naruse Mukyoku eine von Thomas Mann persönlich gehaltene Lesung aus dem Roman Der Zauberberg besucht (Hamakawa 2003: 141–142). Anschließend lehrte Saneyoshi von 1925 bis 1930 an der in Tōkyō gelegenen Seikei-Oberschule und wechselte danach an die dortige Furitsu-Oberschule (Hamakawa 2003: 133, Amano 2013a: 252). Nach 1949 hatte er Professuren an der Tōkyō Metropolitan University, der Tōhō Gakuen School of Music sowie der Risshō University inne (Saneyoshi 1949: 181), bis er 1962 verstarb (Saneyoshi 1971: 187). Bemerkenswert ist dieser akademische Werdegang insofern, als Saneyoshi bis in die Nachkriegszeit ausschließlich als Oberschullehrer tätig war, sich also erst 1949, im Alter von 54 Jahren, für eine Professur qualifizierte. Erheblich zu diesem späten Karriereschub beigetragen haben dürften neben den generell gewandelten institutionellen Rahmenbedingungen der Nachkriegszeit auch Saneyoshis Übersetzungsaktivitäten, da er allein in der renommierten Iwanami Bunko-Taschenbuchreihe mehr als 30 unterschiedliche Übersetzungstexte publizierte (Hamakawa 2003: 137). Diesbezüglich fällt allerdings auf, dass die Mehrzahl von Saneyoshis Thomas Mann-Übersetzungen deutlich vor 1949 erschien und neben den etwas umfangreicheren Werken Tonio Kröger (erstmals 1927) und Der Tod in Venedig (erstmals 1939) zunächst nur sehr kurze Erzählungen, nicht aber Manns große Romanwerke umfasste (Potempa 1997: 1121–1134). Dies änderte sich erst 1954 mit der Publikation einer Buddenbrooks-Retranslation, deren zweiter Band im Folgejahr 1955 erschien. Laut Einschätzung des Saneyoshi-Verehrers Kita Morio sei diese Übersetzung Saneyoshis vorherigen Übersetzungen der Erzählwerke aber aufgrund krampfhafter Abgrenzungsversuche gegenüber dem Buddenbrooks-Erstübersetzer Naruse Mukyoku klar unterlegen gewesen (Kita/Tsuji 1970: 63). Nahe liegt daher, dass der durchschlagende Erfolg der Tonio Kröger-Übersetzung, an welchen Saneyoshi später nicht mehr in vergleichbarer Form anknüpfen konnte, durch den Sonderstatus der Erstübersetzung bedingt war. Dementsprechend war es Saneyoshi gelungen, sich anhand einer sehr begrenzten Anzahl von Thomas Mann-Übersetzungstexten im Umfeld der Tonio Kröger-Rezeption nachhaltig zu profilieren. Grundsätzlich dürften seine Übersetzungsaktivitäten insbesondere durch das kyōyōshugi-affine Umfeld des vorkriegszeitlichen japanischen Bildungssystems bzw. der alten Oberschulen (kyūsei-kōkō) geprägt gewesen sein, an denen dieser Übersetzer von 1925 bis 1949 lehrte. Hierfür spricht bereits Saneyoshis auch für die Übersetzung von Der Tod in Venedig zu beobachtende Assoziiertheit mit dem als kyōyōshugi-Sprachrohr geltenden Iwanami-Verlag; inwiefern sich dies auf seine Übersetzungstexte als solche ausgewirkt hat, wird im weiteren Verlauf der Analyse untersucht.

4.3.2 Mukasa Takeo: Zur falschen Zeit am falschen Ort?

Im Vergleich zu Saneyoshi Hayao ist die biografische Informationsdichte für die Verfasser der beiden darauffolgenden Retranslations, Mukasa Takeo und Toyonaga Yoshiyuki, sehr viel dünner. Dies legt bereits im Vorfeld der weiteren Analyse nahe, dass es sich um eher obskure Übersetzungen handelte. So ist von Mukasa Takeo (六笠武生) als dem Verfasser einer 1928 bei Nanzandō erschienenen Tonio Kröger-Übersetzung lediglich bekannt, dass er denselben Text 1930 nochmals beim politisch linken Verlagsunternehmen Kaizōsha veröffentlichte. Im Vorwort dieser Ausgabe äußerte sich Mukasa dahingehend, es sei „nicht zu ändern“ (shikata ga nai), dass Thomas Mann gemeinhin als Repräsentant preußischer Gesinnung gelte (Mukasa 1930: 3). Obwohl hieraus nur eine implizite Preußen-Antipathie spricht, ist die Tatsache, dass Mukasa innerhalb der wenigen Zeilen seines Übersetzervorwortes ausgerechnet auf derartige Charakterisierungen Manns Bezug nahm, dennoch aufschlussreich. Berücksichtigt man ferner, dass Mukasa bereits 1931 ebenfalls bei Kaizōsha unter dem Titel Sengo eine japanische Übersetzung von Ludwig Renns im Vorjahr erstveröffentlichtem kommunistischen Essaywerk Nach dem Krieg publizierte (Mukasa 1931), lässt sich so nicht nur der publizierende Verlag, sondern auch der Übersetzer Mukasa selbst auf dem linken politischen Spektrum verorten. Dass sich Mukasa als einziger unter den betrachteten Übersetzenden offen an der Gleichsetzung Thomas Manns mit Preußen störte, passt ebenfalls in dieses Bild. Vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Sozialistenverfolgung (Mathias 2012: 340; 347) und der Zensur marxistischer und sozialistischer Werke während der Kriegsjahre (Mathias 1990: 383) dürfte sich eine solche politische Positionierung Mukasas alles andere als positiv auf dessen akademische Karriere ausgewirkt haben. Dass bspw. die an der Kaiserlichen Universität Kyōto aktiven Germanisten Ōyama Teiichi und Wada Yōichi in den 1930er-Jahren auf Grundlage des „Gesetzes zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit“ (chian-iji-hō) festgenommen worden waren und sich auch die von der Kyōtoer Germanistik herausgegebene Fachzeitschrift Kastanien durch eine politisch linke Gesinnung auszeichnete, könnte dementsprechend darauf hindeuten, dass auch Mukasa Takeo dort studiert hatte, sich im Unterschied z. B. zu Ōyama Teiichi aber nicht politisch rehabilitieren konnte oder wollte. In jedem Falle sind nach 1930 weder weitere Übersetzungspublikationen noch der darauffolgende akademische Werdegang Mukasas dokumentiert.

4.3.3 Toyonaga Yoshiyuki: Zur falschen Zeit am falschen Ort, Part 2?

Noch unklarer stellt sich die Situation in Hinblick auf Toyonaga Yoshiyuki (豊永善之) dar, dessen Tonio Kröger-Übersetzung 1940 unter dem Titel Ai no kodoku bzw. „Einsamkeit der Liebe“ im ersten Band der bei Mikasa Shobō verlegten und kurz darauf abgebrochenen Thomas Mann-Gesamtausgabe erschien. Generell publizierte Toyonaga lediglich im Zeitraum zwischen 1939 und 1943; danach verliert sich die Spur. Bemerkenswert ist jedoch, dass er bereits 1940, also nur ein Jahr, nachdem er mit einer Stefan Zweig-Übersetzung erstmalig in Erscheinung getreten war (Toyonaga 1939), im Kontext der Mikasa-Gesamtausgabe nicht nur als Übersetzer der frühen Thomas Mann-Erzählungen, sondern zugleich auch für eine zweibändige Übersetzung des Romans Lotte in Weimar verpflichtet wurde (Yamaguchi 2018: 403). Darüber hinaus war er – zusammen mit dem späteren Thomas Mann-Spezialisten Satō Kōichi – 1940 auch an der ebenfalls bei Mikasa erschienenen japanischen Hesse-Gesamtausgabe beteiligt (Toyonaga 1940a). Diese Einbindung Toyonagas in die japanischsprachigen Gesamtausgaben zweier namhafter deutscher Schriftsteller lässt vermuten, dass zumindest der Mikasa-Verlag dem zum damaligen Zeitpunkt mutmaßlich jungen Übersetzer beträchtliches Vertrauen entgegenbrachte. Wahrscheinlich ist daher – auch vor dem Hintergrund einer weiteren, ebenfalls 1940 bei Mikasa erschienenen Jakob Wassermann-Übersetzung Toyonagas (Toyonaga 1940b) – ein beträchtlicher Profilierungsehrgeiz des im Mikasa-Umfeld besonders aktiven Übersetzers Toyonaga Yoshiyuki. Umso überraschender ist es folglich, dass Toyonaga trotz dieser vielversprechenden Anfänge seine letzte Übersetzung 1943 publizierte und anschließend spurlos aus dem akademischen Betrieb verschwand. Dass seine Publikationsaktivitäten auch nach Kriegsende nicht wieder aufgenommen wurden, legt nahe, dass dieser Übersetzer entweder zu Japans Kriegstoten gehörte oder anderweitig von weiteren Veröffentlichungen abgehalten wurde.

4.3.4 Takeyama Michio: Das literarische Deutschgenie

Eine beachtliche Informationsfülle findet sich hingegen in Bezug auf Takeyama Michio (竹山道雄), dessen Tonio Kröger-Retranslation 1941 bei Shinchōsha erschien und der sich als einziger unter den betrachteten Übersetzenden sowohl akademisch als auch literarisch profilieren konnte. Zunächst durchlief der 1903 in Ōsaka geborene Schriftsteller jedoch insofern eine kyōyōshugi-typische Schul- und Bildungslaufbahn, als er die Erste Oberschule in Tōkyō (Dai-ichi kōtōgakkō) besuchte und im Anschluss an sein Studium am germanistischen Institut der Kaiserlichen Universität Tōkyō ab 1926 an der Ersten Oberschule als Deutschlehrer tätig war (Kan’no 1970: 141; Hirakawa 2013: 13, 15). Nach einem dreijährigen, von 1927 bis 1930 währenden Europaaufenthalt lebte Takeyama auch in Tōkyō zum Zweck des Sprachstudiums mit einer dort ansässigen deutschen Familie zusammen und pflegte darüber hinaus mit muttersprachlichen Deutschlehrern an der Ersten Oberschule regen Austausch, was ihm in seinem Umfeld den Ruf eines Sprachgenies einbrachte (Hirakawa 2013: 15, 139). An der Ersten Oberschule unterrichtete er, bis diese 1951 vollständig in der Bildungsfakultät (kyōyō gakubu) der Universität Tōkyō aufging; bereits ab 1949 führte er im Zusammenhang dieser institutionellen Überführung ins nachkriegszeitliche japanische Bildungssystem einen Professorentitel der Universität Tōkyō (Tōdai kyōju) (Hirakawa 2013: 16; Kan’no 1970: 141). Ab 1951 war er an Letzterer als Dozent (kōshi) tätig; hinzu kamen ab 1952 Lehrtätigkeiten an den Tōkyōter Universitäten Gakushūin Daigaku und der Sophia Universität (Kan’no 1970: 141–142). 1955, 1960 und 1969 unternahm Takeyama erneut längere Europareisen (ebd.: 142); bis zu seinem Tod im Jahr 1984 war er außerdem als Kritiker tätig und veröffentlichte zahlreiche Beiträge in Literaturzeitschriften (Hirakawa 2013: 13–14).

Kyōyōshugi-typisch war Takeyamas Werdegang also in Hinblick auf den Besuch einschlägiger Bildungsinstitutionen sowie das Oberschullehramt, wobei er sich in den ausgehenden 1930er- und frühen 1940er-Jahren auch als Übersetzer der Werke Albert Schweitzers, Nietzsches und Goethes in der japanischen Fachgermanistik profilieren konnte (Hirakawa 2013: 183, 444; Kan’no 1970: 141). Auf Tonio Kröger folgte hierbei 1955 mit Mario und der Zauberer noch eine weitere Thomas Mann-Übersetzung Takeyamas, die 1989 neu aufgelegt wurde (Potempa 1997: 1123). Erst 1947, also sechs Jahre nach Tonio Kröger, gelang Takeyama Michio indessen mit dem sich v. a. an Kinder und Jugendliche richtenden Roman Biruma no tategoto bzw. „Die Harfe von Birma“ der literarische Durchbruch, woraufhin er als bedeutender Nachkriegsintellektueller galt (Hirakawa 2013: 14). Inwieweit sich dieser Erfolg zumindest auf die zeitgenössische Wahrnehmung seiner Tonio Kröger-Übersetzung noch positiv auswirken konnte, ist fraglich; stattdessen dürfte Takeyama Michios kompromisslose Ablehnung des NS-Regimes vor dem Hintergrund der kulturpolitischen Gleichschaltung der japanischen Fachgermanistik dazu beigetragen haben, dass seine Retranslation nach 1941 nicht neu aufgelegt wurde: So reizte Takeyama die Grenzen der politischen Zensur im Nachwort seiner 1941 erschienenen Tonio Kröger-Retranslation dadurch aus, dass er den Exilautoren Mann als „Kämpfer für das Geistesleben“ (jinrui yori nao seishin o sukuu beku, kentō shitsutsu aru) und als „wahren Künstler, der sein Leben aufs Spiel setzt“ (tankyū, sōzō no tame ni wa seimei o kake suru shin no geijutsuka) charakterisierte (Takeyama 1941: 345–346). Diese unmissverständliche Positionierung lässt ein auch Takeyamas übersetzerische Arbeit prägendes Selbstbewusstsein erkennen, sodass er sich bspw. bereits hinsichtlich der titelgebenden Namensschreibung von „Tonio Kröger“ (s. Abschnitt 4.2) von den Vorgängern abgrenzte.

4.3.5 Takahashi Yoshitaka: Der erfolgreiche Opportunist

Als gleichermaßen kyōyōshugi-affin ist der Werdegang des 1913 in Tōkyō geborenen Tonio Kröger-Übersetzers Takahashi Yoshitaka (高橋義孝) insofern einzustufen, als dieser von 1929 bis 1932 die Oberschule des alten Bildungssystems besuchte und seinen Abschluss 1937 am germanistischen Institut der Kaiserlichen Universität Tōkyō erwarb (Takahashi 1959: 273; Takahashi 1987; Takahashi 2010: 273–274). Ein frühes Interesse an Thomas Mann ist dabei bereits in Form seiner Abschlussarbeit zu Manns Roman Der Zauberberg dokumentiert (Takahashi 2010: 273); außerdem habe der junge Takahashi Zeitzeugen zufolge eine völlig zerlesene Saneyoshi-Übersetzung von Tonio Kröger mit sich herumgetragen (Hamakawa 2003: 138). Takahashi selbst präzisierte diesbezüglich, er habe sich die Lektüre deutschsprachiger und westlicher Literatur nicht zur Oberschulzeit, sondern erst mit dem Eintritt ins Universitätsstudium erschlossen (Takahashi 2010: 185) und nahm das Standardnarrativ des oberschulzeitlichen Tonio Kröger-Erlebnisses folglich nicht in Anspruch. Der akademischen Elite ist er dennoch zuzurechnen, da er, nachdem er von Juli 1937 bis Februar 1939 einen Studienaufenthalt in Berlin und Köln absolviert hatte, im April 1939 das Oberschullehramt an der Tōkyōter Furitsu-Oberschule (furitsu-kōtōgakkō) antrat, an der zeitgleich auch Saneyoshi Hayao unterrichtete (ebd.: 273–274). Akademische Karriereambitionen führten ferner dazu, dass Takahashi 1941 unter dem Titel „Naziliteratur“ bzw. Nachisu no Bungaku eine an die politische Großwetterlage angepasste Monografie veröffentlichte, in der er den Exilautoren Thomas Mann eher beiläufig als „drittklassigen Literaten und Denker“ (sanryū-bunshi ya sanryū shisōka) abwertete und die Gründe für dessen, wie Takahashi ausdrücklich betont, selbstgewähltes Exil v. a. auf einen „außergewöhnlich kritischen Geist“ (hibon na hihanteki seishin) zurückführte (Takahashi 1941: 20; Yamaguchi 2018: 303, 408). In Hinblick auf NS-konforme Literatur äußerte er sich dagegen ausnahmslos positiv (Ikeda 2006: 225).

Takahashis Karrierekalkül ging in der Folge auf: Nachdem er von 1944 bis 1945 noch als Deutschlehrer an der Armeeschule (rikugun kagaku gakkō) tätig gewesen war, wechselte er 1945 an die (ehemals Erste) Oberschule in Tōkyō (Tōkyō kōtōgakkō), wo er – zeitgleich zu Takeyama Michio – bis 1948 zunächst als Dozent (kōshi), dann als Professor (kyōju) angestellt war (Takahashi 2010: 273–274). Hierauf folgte von 1948 bis 1949 erst eine Hilfsprofessur an der Kaiserlichen Universität Hokkaidō (Hokkaidō teikoku daigaku) sowie 1950 der Wechsel an die Universität Kyūshū, wo er 1954 vom Hilfsprofessor zum Professor aufstieg (ebd.: 273–274). Seine literaturwissenschaftliche Promotion absolvierte Takahashi 1961 an der Universität Tōkyō (Takahashi 1987; Takahashi 2014: 273–274); anschließend war er als Dozent (kōshi) an der Keiō Universität, der Universität Nagoya und der Tōhō Gakuen Daigaku tätig (Takahashi 1989; 1987). Hinzu kamen Engagements bei der öffentlich-rechtlichen Rundfunkgesellschaft NHK (kaisetsu-iin), beim Erziehungskomittee der Stadt Tōkyō (Tōkyō-to kyōiku iin) sowie der Vorsitz der Japan Sumo Association (Yokozuna shingi iinkai iinchō) (Takahashi 1987). So entsteht das Bild eines überaus agilen Akademikers und Übersetzers, der noch im Alter von fast fünfzig Jahren promovierte und sich, wie auch seine umfangreichen Essaypublikationen zeigen, in seinem Wirken zwar auf die Thomas Mann-Forschung und -Übersetzung konzentrierte, aber keineswegs hierauf beschränkte. Dementsprechend wurde Takahashis Übersetzungsduktus vom Schriftsteller Kita Morio dahingehend gelobt, seine „geistreiche und witzige Essayistik“ habe sich positiv auf die Übersetzung ausgewirkt (Kita/Tsuji 1980: 66).

Wie flexibel sich Takahashi dabei an gewandelte politische Rahmenbedingungen anpasste, zeigt sein mit der japanischen Kriegsniederlage einhergehender Sinneswandel (Ikeda 2006: 223), in dessen Folge er eine rege Publikations- und Übersetzungsaktivität rund um Thomas Mann entfaltete. Hierzu gehörte die bereits 1946 gemeinsam mit Satō Kōichi publizierte Essaysammlung jiyū no mondai bzw. „Das Problem der Freiheit“, die neben dem titelgebenden Essay auch Manns NS-kritische Textsammlung „Achtung, Europa!“ in japanischer Übersetzung enthielt (Potempa 1997: 1126). Einen weiteren Publikumserfolg verzeichnete Takahashi mit einer ebenfalls 1946 publizierten Übersetzung des gut zwanzig Jahre zuvor erstveröffentlichten Thomas Mann-Essays Goethe und Tolstoi. Fragmente zum Problem der Humanität, die sowohl 1949 als auch 1951 erneut erschien, 1954 bereits in die vierte Auflage ging und 1962 nochmals an anderer Stelle publiziert wurde (ebd.: 1136). Zusammen mit den ebenfalls zeitnah nach Kriegsende erschienenen Übersetzungen der Erzählungen Tonio Kröger (erstmals 1949), Mario und der Zauberer (1951) und Die Betrogene (1954) sowie einer 1947 erschienenen Monografie zu Mann, Hesse und Carossa als den „wichtigsten deutschen Nachkriegsdichtern [sic]“ (Takahashi 1947a: 199) markierten diese Aktivitäten Takahashis Territorium innerhalb der japanischen Fachgermanistik.

Darüber hinaus gehörte Takahashi neben Morikawa Toshio (s. u.) zu den wenigen japanischen Übersetzenden, die gezielt den persönlichen Kontakt zum alternden Thomas Mann suchten. Innerhalb eines 1949 begonnenen Briefwechsels wies Takahashi Mann zunächst auf einige Druckfehler in einer 1922 erschienenen deutschsprachigen Tonio Kröger-Ausgabe hin und schickte ihm ferner kritische Anmerkungen u. a. zu zwei Essays über Sigmund Freud sowie ein eigenes deutschsprachiges Manuskript zur Durchsicht (Oguro 2018: 136–137; Takahashi 2014: 259; Keppler-Tasaki 2020: 122–123; Takahashi 2010: 263). Die entsprechenden Briefe steuerte er später zur 1960 veröffentlichten Sammlung Thomas Manns Briefe an Japaner als einer „Trophäensammlung des japanischen Bildungsbürgertums“ bei (Keppler-Tasaki 2020: 123).

Durch diese Aktivitäten hatte sich Takahashi Yoshitaka bis zu Manns Todesjahr 1955 so öffentlichkeitswirksam als Thomas Mann-Spezialist positioniert, dass er vom öffentlich-rechtlichen Fernsehsender NHK Tōkyō mit einem deutschsprachigen Kurzvortrag bzw. Quasi-Nachruf zum Thema Die Japaner und Thomas Mann beauftragt wurde (Takahashi 1959: 265). Während er direkt nach Kriegsende ausschließlich Erzählungen und Essays übersetzt hatte, folgten hierauf mit Joseph und seine Brüder (1956), Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull (1961), Der Zauberberg (1963) und Doktor Faustus (1971) in kurzem zeitlichem Abstand mehrere Übersetzungen umfangreicherer Romanwerke (Potempa 1997: 1129–1132), sodass Takahashi Yoshitaka unter den bisher thematisierten Tonio Kröger-Übersetzern mit Abstand die meisten Thomas Mann-Übersetzungen publizierte. Gekrönt wurde dies 1972 in Form der bei Shinchōsha verlegten Thomas Mann-Gesamtausgabe, deren Herausgeberschaft sich Takahashi mit dem bereits verstorbenen Satō Kōichi teilte (ebd.: 1118).

4.3.6 Asai Masao: Der Waseda-Germanist

Asai Masao (浅井眞男) grenzt sich dahingehend von den bisher vorgestellten Übersetzern ab, dass er zwar – fast gleichaltrig wie Takeyama Michio –1905 geboren wurde (Asai 1953: 183), aber im Unterschied zur Mehrzahl der Tonio Kröger-Übersetzenden seinen Abschluss nicht an der (Kaiserlichen) Universität Tōkyō, sondern 1932 am germanistischen Institut der Waseda-Universität erwarb (Asai 1963: 195). Dieser blieb er auch in der Folge verbunden, denn für die Jahre 1953, 1963 und 1971 ist seine dortige Professur sowie für das Jahr 1978 seine Emeritierung verbürgt (Asai 1978: 307; Asai 1971; Asai 1963: 195; Asai 1953: 183). Zusätzlich zu dieser geradlinigen akademischen Karriere verzeichnete Asai Masao auch als Übersetzer Erfolge, sodass z. B. seine Übersetzung des vom Musikwissenschaftler Alfred Einstein verfassten Werkes Die Größe in der Musik nach der Erstveröffentlichung im Jahr 1966 noch 1978 in der siebten Auflage erschien (Asai 1978: 307). Neben seiner Tonio Kröger-Retranslation veröffentlichte er 1955 außerdem eine Übersetzung von Der Tod in Venedig, die 1968 und 1971 nochmals separat publiziert wurde (Asai 1955; Potempa 1997: 1123, 1134); Asais Thomas Mann-Übersetzungen blieben aber auf diese beiden vergleichsweise kurzen Erzählwerke beschränkt. Nahe liegt daher, dass Asai breiter gestreute Übersetzungsinteressen jenseits der Thomas Mann-Forschung verfolgte.

Eine direkte Verbindung zum Tonio Kröger-Erstübersetzer Saneyoshi Hayao ist dabei dergestalt nachweisbar, dass sich Asai bereits im 1940 verfassten Nachwort einer 1941 publizierten Übersetzung des Conrad Ferdinand Meyer-Gedichtzyklus’ Huttens letzte Tage ausdrücklich bei „Saneyoshi Hayao-Sensei“ für die ihm erwiesene Freundlichkeit (go-shinsetsu) bedankte (Asai 1941: 217). Das ehrerbietige, u. a. für Professoren verwendete Namenssuffix -sensei kann in diesem Zusammenhang entweder ein tatsächliches Mentor-Schüler-Verhältnis oder aber generellen Respekt gegenüber der Übersetzungskoryphäe indizieren. Dass sich Asai auch im Nachwort seiner 1955 erschienenen Tonio Kröger-Retranslation explizit auf Saneyoshis Erstübersetzung bezog, legt ein derartiges Mentor-Schüler-Verhältnis nahe (Asai 1955: 226).

4.3.7 Fukuda Hirotoshi: Späte Abkehr von kyōyōshugi

Der 1927 in der Präfektur Kagawa geborene Tonio Kröger-Übersetzer Fukuda Hirotoshi (福田宏年) stand der kyōyōshugi-affinen japanischen Fachgermanistik insofern näher als sein Vorgänger Asai Masao, als er 1952 seinen Abschluss am germanistischen Institut der Universität Tōkyō erwarb (Fukuda 1960: 273). Hierauf folgten nach Tätigkeiten u. a. als wissenschaftlicher Mitarbeiter ab 1960 eine Assistenzprofessur an der Rikkyō-Universität, die 1967 in die Professur mündete (ebd.). Obwohl Fukudas Werdegang demzufolge elitären akademischen Ansprüchen genügte, ist es auffällig, dass er sich in einem 1970 erschienenen Thomas Mann-Artikel, d. h. im Alter von 43 Jahren, ausschließlich als bungei-hyōronka bzw. Literaturkritiker ohne spezifische akademische Affiliation definierte (Fukuda 1970: 149). Ferner betont Fukuda dort, er habe zwar „ein, zwei Werke Manns“ übersetzt, aber sei kein Thomas Mann-Spezialist (Tōmasu Man no sakuhin o hitotsu ka futatsu ka yaku shita koto wa aru ga, toku ni Tōmasu Man senmonka to iu wake de wa nai; Fukuda 1970: 145). Zu diesen „ein, zwei Werken“ gehörte eine bereits 1964, also im Vorjahr der Tonio Kröger-Retranslation, publizierte Übersetzung des Romans Der Zauberberg, die 1967 immerhin in die dritte Auflage ging (Potempa 1997: 1129). Dementsprechend sollte Fukudas bescheidene Selbsteinschätzung wohl v. a. klarstellen, dass er Takahashi Yoshitaka und Satō Kōichi (s. u.) als etablierten Größen der Thomas Mann-Forschung und -Übersetzung keineswegs ihren Rang streitig machen wollte. Für Fukudas Rückzug aus dem kompetitiven akademischen Umfeld spricht darüber hinaus auch eine 1980 von ihm veröffentlichte Sammlung von Reiseberichten aus japanischen Provinzstädten, in der er sich explizit gegen Kultur- bzw. Bildungsreisen und für eine Rückbesinnung auf provinzielle Beschaulichkeit aussprach (Fukuda 1980: 200–201).

4.3.8 Satō Kōichi: Die Nummer Eins?

Als ausgesprochen karriereförderlich erwiesen sich Thomas Mann-Übersetzungen hingegen für Satō Kōichi (佐藤晃一), dessen Tonio Kröger-Retranslation wie oben erwähnt u. a. 1963 bei Kawade Shobō Shinsha sowie im Juli 1966 bei Shūeisha veröffentlicht wurde (Potempa 1997: 1123). Hierbei war der 1914 in der Präfektur Akita geborene Satō insofern in einem kyōyōshugi-affinen Umfeld akademisch sozialisiert, als auch er seinen Abschluss 1936 am germanistischen Institut der Universität Tōkyō erwarb (Satō 1995: 319; Satō 1948: 274). Nach übergangsweisen Tätigkeiten in der Universitätsbibliothek sowie im japanischen Außenministerium unterrichtete er an der Oberschule in Niigata (Niigata kōtōgakkō), der Oberschule in Tōkyō (Tōkyō kōtōgakkō) sowie an der renommierten Ersten Oberschule in Tōkyō (dai-ichi kōtōgakkō) (Satō 1948: 274, Yamaguchi 2018: 398). Zu seinen Kollegen an der Ersten Oberschule gehörten folglich auch die zeitgleich dort lehrenden Tonio Kröger-Übersetzer Takeyama Michio (Hirakawa 2013: 16; Kan’no 1970: 141) und Takahashi Yoshitaka (Satō 1947: 34; Ikeda 2006: 223). Ausgehend hiervon stieg Satō bis zur Professur am germanistischen Institut der Universität Tōkyō auf (Satō 1948: 274, Satō 1968: 287) und hatte diese Stellung bis zu seinem krankheitsbedingt frühen Tod im Juli 1967 inne (Satō 1995: 319). Dabei war es Satō gelungen, sich binnen kurzer Zeit innerhalb der japanischen Germanistik so nachhaltig zu profilieren, dass seine „Geschichte der deutschen Literatur“ (Doitsu no Bungakushi) noch 1995, also 28 Jahre nach seinem Tod, in der 14. Auflage erschien (Satō 1995: 319). Ebenso bezeichnend ist es, dass der von seinem Übersetzerkollegen Matsuura Kensaku als „Nummer Eins in der japanischen Thomas Mann-Forschung“ (wagakuni ni okeru Tōmasu Man kenkyū no daiichininsha de aru Satō-kyōju) gerühmte Satō (Matsuura 1963: 164) noch posthum als Mitherausgeber der Shinchōsha-Gesamtausgabe fungierte, also der japanischen Thomas Mann-Übersetzung in vergleichsweise kurzer Zeit seinen Stempel aufgedrückt hatte.

Entsprechende Anfänge lassen sich bis ins Jahr 1935 zurückverfolgen, als der 21-jährige Satō einen Aufsatz zu Thomas Manns Roman Joseph und seine Brüder in der Januarausgabe der vom germanistischen Institut der Kaiserlichen Universität Tōkyō herausgegebenen Fachzeitschrift Ernte veröffentlichte (Kobayashi 1976: 14). In der Folge passte sich jedoch auch Satō ähnlich wie Takahashi Yoshitaka an die gewandelten äußeren Rahmenbedingungen an, indem er bspw. seine 1940 publizierte Übersetzung von Manns erstmals 1930 veröffentlichter Essaysammlung Forderung des Tages so weit politisch entschärfte, dass die japanische Ausgabe lediglich 13 der ursprünglich knapp 50 Aufsätze umfasste (Yamaguchi 2018: 398). Noch eindeutiger fiel sein „höchstes Lob“ (zessan) für Manabe Ryōichis 1943 unter dem Titel Wagatōsō veröffentlichte Mein Kampf-Übersetzung aus (Ikeda 2006: 223). Dass Satō seine Arbeit zu Thomas Mann im Unterschied zu Takahashi dennoch trotz Zensur fortsetzen wollte, zeigt sich derweil daran, dass er noch 1941 einen entsprechenden Aufsatz innerhalb der bei Mikasa Shobō erscheinenden Fachzeitschrift Bunko publizierte und zusätzlich damit begonnen hatte, für die dort verlegte Thomas Mann-Gesamtausgabe gemeinsam mit Asō Tane’e eine Übersetzung des Romans Die Geschichten Jakobs anzufertigen (Takada 2006: 14; Yamaguchi 2018: 261, 378, 396; Kobayashi 1976: 29; Potempa 1997: 1125). Obwohl Satōs im Nachwort der 1966 publizierten Tonio Kröger-Retranslation enthaltene Selbststilisierung, er habe bereits im Zuge seiner oberschulzeitlichen Mann- und Hesse-Lektüre Hitler zu „verabscheuen“ begonnen (kōkōjidai ni sude ni Tōmasu Man ya Hesse o yomihajimete, Hitorā o nikumu yō ni natte ita) (Satō 1966: 439), vor diesem Hintergrund als fragwürdig einzustufen ist, hielt er im Unterschied zu Takahashi Yoshitaka dennoch so lange, wie es durch die politische Zensur noch geduldet wurde, an Übersetzungs- und Forschungsaktivitäten mit Thomas Mann-Bezug fest.

Diese Zerrissenheit zwischen Ambition und Prinzipientreue hing möglicherweise auch mit Satōs kyōyōshugi-typischer Verehrung der Schriftstellerpersönlichkeit Thomas Mann zusammen: Nicht nur bezeichnete sich Satō, nachdem er 1931 als Oberschüler die Erzählung Beim Propheten gelesen hatte, explizit als „Schüler des Meisters Thomas Mann“ (zit. nach Keppler-Tasaki 2020: 120); auch versuchte er nach eigener Aussage innerhalb seiner 1949 erschienenen Thomas Mann-Monografie, dessen Leitmotivtechnik stilistisch zu imitieren (Satō 1949: 343–344). Ferner berichtet Kita Morio, Satō sei zu einer 1955 anlässlich von Manns Tod in Tōkyō gehaltenen Trauerfeier, mutmaßlich als Zeichen der Ehrerbietung gegenüber dem kürzlich Verstorbenen, förmlich gekleidet im Frack erschienen (Kita/Tsuji 1980: 65–66). Darüber hinaus ergab sich 1960 im Zuge eines Archivaufenthaltes in Zürich kurzfristig die Gelegenheit zu einem persönlichen Besuch bei der Schriftstellerwitwe Katia Mann, der Satō Kōichi als Dank für die „geistige Führung“ (seishinteki-shidō) Thomas Manns diverse kostbare Geschenke überreichte (Satō 1968: 10–12).

Nach der japanischen Kriegsniederlage übte sich Satō dahingehend in expliziter Selbstkritik, er sei vom „Sturm des Faschismus erfasst“ worden (fashizumu no arashi ni fukarenagara) (Satō 1948: 39). 1957 war er zudem neben drei weiteren Professoren sowie sechs oder sieben Hilfskräften des germanistischen Instituts der Universität Tōkyō an einer Massenprügelei in einer Bar im Tōkyōter Stadtteil Shinjuku (Tōdai kyōju Shinjuku dairantō jiken, 東大教授新宿大乱闘事件) beteiligt (Takada 2006: 36). Diese war u. a. dadurch ausgelöst worden, dass Satō den ebenfalls beteiligten Germanisten und Literaturkritiker Haga Mayumi (芳賀檀) wegen dessen NS-Linientreue öffentlich verbal attackiert hatte (Haga 1957: 116–121). Dieser kuriose Vorfall veranschaulicht, dass die NS-Kompromittierung der japanischen Fachgermanistik zwar zunächst nicht umfassend aufgearbeitet wurde, aber dennoch die Gemüter bewegte.

Im Zusammenhang entsprechender Rehabilitationsbestrebungen veröffentlichte Satō nicht nur 1948 die erste japanische Thomas Mann-Monografie überhaupt, nachdem er bereits 1946 gemeinsam mit Takahashi eine Übersetzung von Manns Essaysammlung Das Problem der Freiheit publiziert hatte (Potempa 1997: 1126). Er begann auch deutlich früher als Takahashi damit, Übersetzungen von Manns großen, prestigeträchtigen Romanwerken zu veröffentlichen. Bereits 1948 erschien Satōs Teilübersetzung des Romans Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull, auf die 1951 die vollständige Ausgabe in einem gleichnamigen Sammelband bei Shinchōsha folgte (ebd.: 1122, 1131). Dieser populäre Band erschien 1994 in der zehnten Auflage; auch die 1955 ebenfalls bei Shinchōsha publizierte separate Ausgabe von Satōs Krull-Übersetzung hatte 1964 bereits die neunte Auflage erreicht und ging 1972 in die Thomas Mann-Gesamtausgabe ein (ebd.: 1122, 1132). Neben einer sowohl 1951 als auch 1954 bei diversen Verlagen erschienenen Übersetzung des Romans Lotte in Weimar veröffentlichte Satō Kōichi außerdem bereits 1955 bzw. 1957 eine zweibändige Übersetzung von Der Zauberberg, die 1959, 1961, 1971 und 1978 in jeweils unterschiedlichem Publikationsrahmen erneut erschien (ebd.: 1129–1130). Im Unterschied hierzu publizierte Takahashi Yoshitaka seine erste umfangreichere Übersetzung eines Thomas Mann-Romans, Joseph und seine Brüder, erst 1956, da dieser Übersetzer sich nach Kriegsende zunächst auf Manns Erzählungen und Essays konzentrierte. Diesen unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen entspricht es, dass Takahashis Tonio Kröger bereits 1949 erschien, während sich Satō hiermit bis 1963 Zeit ließ; auch mit seiner 1958 publizierten Übersetzung von Der Tod in Venedig kam Takahashi Satō, dessen Text erst 1973 posthum veröffentlicht wurde, deutlich zuvor (ebd.: 1134).

Dies lässt vermuten, dass es Satō Kōichi in erster Linie um zeitnah nach Kriegsende umgesetzte, groß angelegte Übersetzungsprojekte und damit verstärkt um Quantität ging, während sich Takahashi Yoshitaka insbesondere beim Übersetzen der umfangreichen Romane Thomas Manns mehr Zeit gelassen zu haben scheint. Obwohl diese unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen in beiden Fällen 1972 in der Herausgeberschaft der Shinchōsha-Gesamtausgabe kulminierten (ebd.: 1118), hatten sie zumindest nach Aussage des Schriftstellers Kita Morio insofern Qualitätsunterschiede zur Folge, als man Satōs Übersetzungstexten ein gewisses Unvermögen v. a. in Bezug auf umgangssprachliche Ausdrucksweisen (kudaketa nihongo) anmerke (Kita/Tsuji 1980: 66). Dabei könnte Satōs im frühzeitigen Tod resultierende Erkrankung seinen persönlichen Ehrgeiz insofern teilweise befeuert haben, als der Übersetzer noch zu Lebzeiten so viele Werke Thomas Manns wie möglich übersetzen wollte und im Zuge dessen Zugeständnisse in Hinblick auf die Übersetzungsqualität in Kauf nahm.

4.3.9 Morikawa Toshio: Ritterschlag durch Satō-Sensei

Auch der 1930 geborene Tonio Kröger-Übersetzer Morikawa Toshio (森川俊夫) ist als Altersgenosse Fukuda Hirotoshis noch der maßgeblich durch kyōyōshugi beeinflussten akademischen Elite zuzuordnen: 1953 erwarb er seinen Abschluss am germanistischen Institut der Universität Tōkyō und hatte anschließend nach verschiedenen Zwischenstationen wie einer Hilfsprofessur an der Universität Tōkyō schließlich von 1971 bis 1992 eine Professur an der Hitotsubashi-Universität inne. Hiernach wechselte er an die Tōkyō Kokusai Daigaku bzw. die Tōkyō International University (Morikawa 1991: 207; Hitotsubashi Ronsō 1993: 422–423). Seinen Tod vermeldete Ende Oktober 2018 die digitale Ausgabe der Tageszeitung Asahi Shinbun (Asahi Shinbun 2023). Von 1961 bis 1963 hatte sich Morikawa außerdem als Stipendiat der Alexander von Humboldt-Stiftung an der Universität Tübingen aufgehalten, wo er auch als Japanischlehrer tätig war (Hitotsubashi Ronsō 1993: 422; Fujimoto/Morikawa 1965: 386). Seine Tonio Kröger-Retranslation entstand demzufolge im direkten Anschluss an die Rückkehr aus Deutschland und nur wenige Jahre vor Erlangen der Professur. Zu vermuten ist daher, dass Morikawas Übersetzungsaktivitäten einerseits ein Resultat des Forschungsaufenthaltes in Tübingen waren, andererseits aber auch zu seinem weiteren Karrierefortschritt beitrugen.

Ein besonderes Interesse Morikawas an Thomas Mann ist indessen schon 1950, also zu Studienzeiten nachweisbar, als der Zwanzigjährige per Brief eine vermutlich werkbezogene Frage an Mann richtete und hierauf zu Beginn des Folgejahrs eine Antwort erhielt (Hitotsubashi Ronsō 1993: 105). Erstmalig als Thomas Mann-Übersetzer in Erscheinung trat Morikawa 1961 durch eine gemeinsam mit Takahashi Yoshitaka und Maruko Shūhei verfasste Übersetzung des Romans Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull (Takahashi/Morikawa/Maruko 1961: 329), was einen direkten Kontakt zum wohletablierten Thomas Mann-Spezialisten Takahashi belegt. Von Morikawas exzellenter akademischer Vernetzung zeugt darüber hinaus das Nachwort seiner 1964 publizierten Übersetzung des Rolf Hochhuth-Romans Der Stellvertreter, in dem er sich einerseits bei seinem Kollegen „Fukuda Hirotoshi-shi“, andererseits bei „Satō Kōichi-sensei“ bedankte (Morikawa 1964: 343): Auffällig ist hierbei die Differenzierung der Namenssuffixe, denn während das auf Fukuda bezogene Suffix -shi eine eher allgemeine Höflichkeit (sonkeigo) signalisiert, legt das auf Satō bezogene Suffix -sensei eine Mentor-Schüler-Beziehung zwischen Morikawa, der seinen Abschluss am germanistischen Institut der Universität Tōkyō erworben hatte, und der zeitgleich dort lehrenden Thomas Mann-Koryphäe Satō nahe. Diese Kontakte zahlten sich für Morikawa dahingehend aus, dass ihm im Kontext der 1972 von Takahashi und Satō herausgegebenen Thomas Mann-Gesamtausgabe die Verantwortung für gleich drei von insgesamt dreizehn Bänden übertragen wurde; neben einem Erzählungsband und einem von drei Essaybänden gehörte hierzu auch Morikawas in diesem Rahmen erstmals veröffentlichte Buddenbrooks-Übersetzung (Potempa 1997: 1118–1120). Anschließend wurde es im Kontext der Thomas Mann-Übersetzung für längere Zeit ruhig um Morikawa, bis er 1988 eine Übersetzung von Manns Tagebüchern der Jahre 1935 bis 1936 publizierte und sich an weiteren Tagebuchübersetzungen beteiligte (ebd.: 1139).

Damit gehörte Morikawa Toshio zu einem sich auf das germanistische Institut der Universität Tōkyō konzentrierenden inneren Kreis von japanischen Tonio Kröger-Übersetzern und -Forschern mit kyōyōshugi-geprägtem, akademisch-elitärem Selbstverständnis. Dieser innere Kreis konstituierte sich durch überwiegend werkexterne Faktoren, die weniger mit der Übersetzungsgestaltung an sich und mehr mit akademischer Profilierung zu tun hatten. Im kyōyōshugi-Umfeld wirksame Rekrutierungsmechanismen dürften dabei dergestalt eine Rolle gespielt haben, dass Morikawa aller Wahrscheinlichkeit nach bereits während seines Studiums mit der Thomas Mann-Koryphäe Satō Kōichi in Kontakt kam. Dass er nach 1972 jedoch erst 1988 weitere Thomas Mann-Übersetzungen publizierte, lässt vermuten, dass seine Übersetzungspublikationen der 1960er- und frühen 1970er-Jahre und insbesondere seine 1966 erschienene Tonio Kröger-Retranslation den Weg bis zur 1971 erreichten Professur ebnen sollten.

4.3.10 Nojima Masanari: Übersetzen für die Karriere

Zum Werdegang des 1909 geborenen und 1997 verstorbenen Tonio Kröger-Übersetzers Nojima Masanari (野島正城) ist lediglich bekannt, dass er 1955 als Assistenzprofessor an der Universität Tōkyō, also im Einflussbereich von Satō Kōichi tätig war (Miura/Ebihara/Nojima 1955). Im selben Jahr publizierte Nojima ein Deutschlehrbuch (ebd.); bereits 1952 hatte er außerdem innerhalb eines Lessing-Sammelbandes, der auch Übersetzungstexte Asai Masaos und Takahashi Yoshitakas enthielt, eine japanische Version des Dramas Emilia Galotti veröffentlicht (Nojima 1952: 350). In einer 1959 publizierten Übersetzung von Schillers Über naive und sentimentalische Dichtung bezog sich Nojima ferner explizit auf eine vorherige Übersetzung Takahashi Yoshitakas (Nojima 1959: 4); 1964 steuerte er eine Version des Schiller-Dramas Wilhelm Tell zu einer bei Shinchōsha verlegten Weltliteratur-Sammelausgabe bei, an der u. a. auch Satō und Takahashi mitwirkten (Nojima et al. 1964). Dies lässt darauf schließen, dass Nojima bereits im Vorfeld seiner 1968 publizierten Tonio Kröger-Retranslation innerhalb der einschlägigen fachgermanistischen Kreise als Übersetzer etabliert war.

Seine Aktivitäten im Bereich der Thomas Mann-Retranslation blieben dagegen überschaubar: Bereits 1954 hatte er gemeinsam mit Seki Taisuke und Mochizuki Ichie an einer Übersetzung des Romans Der Zauberberg mitgewirkt; 1971 erschien seine Tonio Kröger-Retranslation außerdem bei Kōdansha innerhalb eines Sammelbandes mit einer ebenfalls von ihm verfassten japanischsprachigen Version der Erzählung Der Tod in Venedig (Potempa 1997: 1124, 1129). Nojima Masanaris Anspruch dürfte also nicht etwa der einer Profilierung als Thomas Mann-Experte gewesen sein – Dass er Retranslations der Werke diverser kanonisierter Autoren sowie ein Sprachlehrbuch veröffentlichte, legt vielmehr nahe, dass er sich durch breit gestreute Übersetzungsaktivitäten innerhalb der japanischen Fachgermanistik einen Namen machen wollte. Dies gelang insofern, als sein Tonio Kröger in mehreren Ausgaben beim eine beträchtliche Reichweite garantierenden Kōdansha-Verlag erschien.

4.3.11 Ueda Toshirō: Deutschdidaktik im Geiste von kyōyōshugi

Wie die meisten seiner Vorgänger durchlief auch Ueda Toshirō (植田敏郎), dessen Tonio Kröger-Retranslation 1970 zusammen mit einer ebenfalls von ihm stammenden Der Tod in Venedig-Retranslation in einem Sammelband beim Lehrbuchverlag Ōbunsha erschien, einen kyōyōshugi-typischen Werdegang: 1908 in Hiroshima geboren und damit zur älteren Tonio Kröger-Übersetzergeneration gehörend, erwarb er 1931 seinen Abschluss am germanistischen Institut der Kaiserlichen Universität Tōkyō (Ueda 1993: 467; Ueda 1970: 257). Anschließend setzte Ueda seine Studien von August 1931 bis März 1936 an den Universitäten Berlin, Bonn und Wien fort und promovierte an der Universität Wien zum Dr. phil. (Ueda 1965: 257; Ueda 1993: 467). Damit hatte er sich ebenso wie der oben thematisierte Takeyama bereits zu einem vergleichsweise frühen Zeitpunkt lange im Ausland aufgehalten und nutzte daraufhin die so erworbenen Sprachkompetenzen, um sich 1937 infolge der Rückkehr nach Japan eine Position als Oberschullehrer in Shizuoka zu sichern; hinzu kamen außerdem Lehrtätigkeiten an den ebenfalls im alten Bildungssystem verwurzelten Schulen Tōkyō Gaikokugo Gakkō (Fachschule für Fremdsprachen in Tōkyō) und der staatlichen Gakushūin-Schule (Ueda 1993: 467). Als das Bildungssystem nach der japanischen Kriegsniederlage reformiert wurde, ermöglichte dies auch Ueda (ebenso wie Saneyoshi, Takahashi und Satō) den Aufstieg zur Professur, welche er ab 1949 zunächst an der Gakushūin Universität sowie anschließend an der sozialwissenschaftlichen Fakultät der Hitotsubashi-Universität innehatte (Ueda 1970: 257). Dort emeritierte er 1972 und war anschließend bis 1981 als Deutschlehrer an der Tōhōku Shika Daigaku, also an der Tōhōku-Universität für Zahnmedizin tätig, bevor er 1992 verstarb (Ueda 1994: 3–4; Ueda 1993: 467; Ueda 1955). Da auch der 22 Jahre jüngere Tonio Kröger-Übersetzer Morikawa Toshio ab 1971 eine Professur an der Hitotsubashi Universität innehatte und dort bereits zuvor als Hilfsprofessor angestellt gewesen war, dürften er und Ueda sich möglicherweise gekannt haben. Dementsprechend ist in der quantitativen und der qualitativen Analyse zu prüfen, ob sich Textspuren finden, die eine eventuelle Zusammenarbeit dieser beiden Übersetzer belegen.

Dass Ueda seine Tonio Kröger-Übersetzung erst im Alter von 62 Jahren publizierte und neben der im selben Band enthaltenen Übersetzung von Der Tod in Venedig keine weiteren Thomas Mann-Übersetzungstexte veröffentlichte, lässt jedoch ebenso wie die Professur im Bereich der Soziologie und seine späte Rückbesinnung auf das Deutschlehramt vermuten, dass er sich, obwohl er als Spezialist für die deutsche Literatur der Moderne (doitsu kindai bungaku) galt (Ueda 1993: 467), im selben Maße zum Sprachunterricht berufen fühlte. Hierfür spricht auch die Tatsache, dass Ueda 1955, als er bereits Professor an der Hitotsubashi Universität war, ein Deutschlehrbuch veröffentlichte (Ueda 1955). Darin bediente er sich zahlreicher hochliterarischer Textbeispiele, zu denen neben den Goethe-Gedichten Wanderers Nachtlied, Heidenröslein und Nähe des Geliebten auch Auszüge aus Faust sowie aus Theodor Storms Novelle Immensee gehören, um grammatikalische Eigenheiten des Deutschen sowohl im Originalwortlaut als auch anhand japanisch- und mitunter englischsprachiger Übersetzungsvarianten zu erläutern. Dieses Vorgehen entsprach nicht nur der im kyōyōshugi-Umfeld praktizierten Grammatik-Übersetzungsmethode, sondern erweist sich ferner auch in Hinblick auf Uedas Tonio Kröger-Retranslation als aufschlussreich: Dass Ueda diese im Lehrbuchverlag Ōbunsha veröffentlichte, rückt diesen Übersetzungstext in die Nähe seiner übersetzungsbasierten Sprachdidaktik. Es ging Ueda also aller Wahrscheinlichkeit nach nicht darum, sich gegen Ende seiner akademischen Laufbahn weiter zu profilieren, sondern darum, mit Tonio Kröger Anschauungsmaterial für den Deutschunterricht zu schaffen. Neben der Wahl des Lehrbuchverlags Ōbunsha sprechen hierfür weitere Übersetzungspublikationen Uedas, zu denen z. B. Erich Kästners Schulroman Das fliegende Klassenzimmer gehörte (Ueda 1994: 383).

4.3.12 Kataoka Keiji: Ein Essayist mit akademischen Ambitionen

Obwohl Kataoka Keijis (片岡啓治) Tonio Kröger-Retranslation 1973 beim gleichfalls auf Lehrmaterialien spezialisierten Verlag Rippū Shobō erschienen ist, verlief der akademische Werdegang des 1928 in Tōkyō geborenen Kataoka (Kataoka 1983: 239) im direkten Vergleich zum 20 Jahre älteren Ueda deutlich weniger geradlinig: Zwar erwarb Kataoka seinen Abschluss 1955 ebenfalls an der Literaturfakultät der Universität Tōkyō; allerdings nicht am notorisch kyōyōshugi-affinen Institut für Germanistik, sondern in der Abteilung für Kunstgeschichte (bijutsushi gakka) (Kataoka 1976: 207). Nach einem auf 1962 datierten Studienaufenthalt in Deutschland bezeichnete er sich innerhalb einer 1963 erschienenen Übersetzung des zeitgenössischen Christine Brückner-Romans Sadako will leben! ausschließlich als Übersetzer und Kritiker; gleiches gilt für eine Publikation des Jahres 1971 (Kataoka 1963: 279; Kataoka 1971: 277). Hierauf folgte 1974 vorerst eine eher wenig prestigeträchtige Lehrtätigkeit an einer Pauk- bzw. Nachhilfeschule der Terakoya-Kette (Terakoya juku) (Kataoka 1974: 203), bevor Kataoka ab 1976 eine Stelle als Dozent (kōshi) an der Seikei-Universität antrat (Kataoka 1976: 207). Aus dieser Position stieg er 1979 zum Assistenzprofessor an der Untergraduiertenfakultät für Fremdsprachen der Dokkyō-Universität auf, wo er ab 1984 schließlich eine Professur innehatte (Kataoka 1984: 283). Demzufolge stand Kataoka während der Arbeit an Tonio Kröger eher am Anfang seiner akademischen Karriere, wobei das Anstellungsverhältnis an der Paukschule zunächst eher trübe Aussichten versprach. Geändert haben mag sich dies einerseits durch die 1973, also drei Jahre vor Kataokas erstem Universitätsposten, erschienene Tonio Kröger-Retranslation, andererseits durch Kataokas intensive Publikationsaktivitäten im Bereich der Essayistik: 1971 wurde bereits eine Sammlung seiner Essays veröffentlicht, auf die 1974 ein Essaywerk zur „Sozialwissenschaft des Eros“ (Erosu no shakaigaku), 1976 ein weiterer kulturtheoretischer und 1979 ein kulturhistorischer Essayband folgten. Anknüpfend an seinen kunstgeschichtlichen Studienabschluss strebte Kataoka folglich keine Profilierung innerhalb der japanischen Fachgermanistik, sondern eine generelle geisteswissenschaftliche Profilierung an. Übersetzungen und Schriften mit Deutschlandbezug, zu denen neben Tonio Kröger und dem Brückner-Roman auch eine 1984 erschienene Übersetzung von Paul Lendvais Sachbuch Der Medienkrieg sowie eine 1983 unter dem Titel Tenka o toru gijutsu – shin Hitorā monogatari, also „Die Welt erobern – eine neue Geschichte Hitlers“ publizierte Neuaufarbeitung von Hitlerdeutschland gehörten (Kataoka 1983: 236), streute Kataoka daher eher ergänzend in seine sonstigen Publikationsprojekte ein. Diese Diversifizierung von Publikationsschwerpunkten führte im weiteren Verlauf dazu, dass Kataoka Keiji keine Germanistikprofessor i. e. S., sondern eine Fremdsprachenprofessur innehatte, und distanzierte ihn so auch von der kyōyōshugi-affinen japanischen Fachgermanistik.

Trotzdem dürfte Kataokas Tonio Kröger-Übersetzung im Unterschied zu Ueda (1970) durchaus der akademischen Profilschärfung gedient haben, indem sie mithilfe des Bildungsklassikers Tonio Kröger einen Hauch traditioneller kyōyōshugi-Bildung in Kataokas breitgefächertes Übersetzungsportfolio einbrachte. Eher unwahrscheinlich ist es dagegen, dass die Veröffentlichung im auf Lehrmaterialien spezialisierten Verlag Rippū Shobō ähnlich wie im Falle Uedas auf ein besonderes sprachdidaktisches Interesse zurückging; vielmehr dürfte dieser erst 1966 gegründete und damit relativ junge Verlag Kataoka schlicht die Möglichkeit geboten haben, im Kontext der allmählich abklingenden Weltliteraturbegeisterung und eines inzwischen gesättigten Tonio Kröger-Übersetzungsmarktes überhaupt noch eine weitere Textfassung zu veröffentlichen. Auf dieser Grundlage darf seiner Retranslation unterstellt werden, dass diese in einem weiter gefassten, nicht zwingend fachgermanistischen Sinne ein akademisches Qualifikationsinstrument war.

4.3.13 Maruko Shūhei: Der Spätling

Hierauf folgte mit dem 1931 in der Präfektur Iwate geborenen Maruko Shūhei (円子修平/圓子修平) der letzte Tonio Kröger-Übersetzer, der gezielt den Anschluss an den inneren Kreis der japanischen Thomas Mann-Forschung suchte, nachdem er sich 1954 zusammen mit seinem Abschluss am germanistischen Institut der Kaiserlichen Universität Tōkyō eine kyōyōshugi-affine akademische Sozialisation angeeignet hatte (Maruko 1972; Maruko/Ōkubo 1976: 337). Eine Anstellung Marukos als Assistenzprofessor (jokyōju) an der Tōkyō toritsu daigaku bzw. Tōkyō Metropolitan University ist unterdessen erst ab den Jahren 1972 bzw. 1976 belegt; der Aufstieg zur dortigen Professur erfolgte 1987 (Maruko 1972: 175). Obwohl die Aufarbeitung von Marukos akademischem Lebenslauf somit lückenhaft bleiben muss, steht fest, dass er innerhalb der einschlägigen fachgermanistischen Kreise wertvolle Kontakte knüpfte: Nicht nur lehrte zum Zeitpunkt, als Maruko seinen Abschluss erwarb, auch Satō Kōichi am germanistischen Institut der Universität Tōkyō; auch Fukuda Hirotoshi und Morikawa Toshio hatten dort 1952 bzw. 1953 ihr Studium abgeschlossen, sodass eine frühzeitige Vernetzung Marukos innerhalb der Tōdai-Fachgermanistik wahrscheinlich ist (Tōdai, 東大ist hierbei die gebräuchliche Kurzform von Tōkyō Daigaku bzw. Universität Tōkyō).

Hierfür spricht insbesondere die oben erwähnte, bereits 1961 aus einer Zusammenarbeit mit Morikawa und Takahashi hervorgegangene Übersetzung des Thomas Mann-Romans Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull, in der sich Maruko ausdrücklich auf die Felix Krull-Übersetzung seines mutmaßlichen Mentors Satō Kōichi bezog (Takahashi/Morikawa/Maruko 1961: 329). Zudem waren Takahashi und Maruko beide 1964 an der bei Shinchōsha verlegten japanischen Erstübersetzung von Robert Musils Roman Mann ohne Eigenschaften beteiligt (Kawamori 2005: 186–187). Dass auch Satō Kōichi einiges Vertrauen in Maruko Shūhei setzte, belegt das Vorwort eines von ihm verantworteten, im Kontext einer Sammelausgabe zur Geschichte der Weltliteratur 1967 erschienenen Bandes über die deutsche Literaturgeschichte: Dort erwähnte Satō explizit, dass er aufgrund seines sich rapide verschlechternden Gesundheitszustandes die schriftlichen Ausführungen zum 20. Jahrhundert u. a. Maruko Shūhei überlassen habe (Satō 1967: 1). Letzterer schien dabei den Erwartungen gerecht geworden zu sein, da er 1971 im Rahmen der von Satō und Takahashi herausgegebenen Thomas Mann-Gesamtausgabe am Band zum Roman Doktor Faustus mitwirken durfte (Potempa 1997: 1119).

Nachdem Maruko folglich an zwei von namhaften Spezialisten publizierten Übersetzungen großer Thomas Mann-Romanwerke mitgewirkt hatte, erschien 1972 eine ausschließlich von ihm verfasste Buddenbrooks-Übersetzung, auf die 1980 eine Übersetzung von Der Zauberberg folgte (ebd.: 1128, 1130). Bis Maruko seine Tonio Kröger-Retranslation publizierte, vergingen jedoch weitere zehn Jahre. Anzunehmen ist daher, dass er sich insbesondere durch die vorherigen Übersetzungen bereits innerhalb der fachgermanistischen Thomas Mann-Forschung profiliert hatte, wogegen die gemeinsam mit einer ebenfalls von ihm verfassten Der Tod in Venedig-Übersetzung erschienene Tonio Kröger-Retranslation erst nach seinem Aufstieg zum Professor erschien.

Demzufolge hat sich Maruko nicht zuletzt aufgrund seiner Kontakte im traditionsreichen fachgermanistischen kyōyōshugi-Umfeld der Universität Tōkyō einen Namen gemacht, wozu seine Tonio Kröger-Retranslation aber nicht mehr maßgeblich beitrug. Wahrscheinlicher ist es daher, dass der Shūeisha-Verlag, der vormals Satōs Tonio Kröger-Übersetzung publiziert hatte, im Zusammenhang einer weiteren, 1990 erschienenen Weltliteratur-Sammelausgabe nicht mehr auf Satōs Retranslation zurückgreifen konnte oder wollte und sich daher an Maruko als einen Schüler Satōs wandte.

4.3.14 Hirano Kyōko: Käpt’n Blaubär, Skincare und Thomas Mann

Ein Paradigmenwechsel in der äußeren Übersetzungsgeschichte der japanischen Tonio Kröger-Retranslation wurde insbesondere dadurch möglich, dass die Neuübersetzungen Hirano Kyōkos (2011) und Asai Shōkos (2018) erstmals von Berufsübersetzerinnen angefertigt wurden und damit im Unterschied zu fast allen bisher diskutierten Übersetzungstexten keine akademische Qualifikationsfunktion i. e. S. erfüllten. Dementsprechend erwarb die 1945 in Kobe geborene Berufsübersetzerin Hirano Kyōko (平野卿子) auch nicht in der Tōdai-Fachgermanistik, sondern an der Ochanomizu-Frauenuniversität ihren Abschluss, woraufhin sie ihre Studien zeitweilig auch an der Universität Tübingen fortsetzte (Hirano 2013: 232). In der Folge sind ihre Übersetzungstexte bei Kawade Shobō Shinsha, Iwanami Shoten, Kōdansha und Shūeisha, also bei durchweg namhaften japanischen Verlagshäusern erschienen (ebd.). Für ihre Übersetzung von Walter Moers’ Roman Die 13½ Leben des Käpt´n Blaubär erhielt sie 2006 den Lessing-Übersetzungspreis der Bundesrepublik Deutschland für deutsch-japanische Übersetzungen; im Zuge dieser Preisverleihung entstand die Idee einer Tonio Kröger-Neuübersetzung (Hirano 2011: 251–252). Obwohl Letztere bereits durch die übersetzungsgeschichtliche Nachbarschaft zu Käpt’n Blaubär von der akademischen Übersetzungstradition abgegrenzt ist, wurde sie jedoch keineswegs unabhängig von dieser Tradition vermarktet, sodass Hirano im Nachwort ihrer Tonio Kröger-Retranslation explizit schreibt, sie habe „allen voran“ die Erstübersetzung Saneyoshis („Saneyoshi-yaku o hajime“) berücksichtigt (ebd.: 251).

Hinzu kommt, dass Hirano Kyōko Thomas Mann vor dem Hintergrund einer rein männlich geprägten akademischen Übersetzungstradition nicht nur als erste Berufsübersetzerin, sondern als erste Übersetzerin überhaupt ins Japanische übersetzt hat. Damit bewegte sie sich weitgehend außerhalb akademischer Traditionen: Ebenso, wie eine durch kanbun-kundoku und damit durch kulturelle Heteromonie gegenüber China geprägte Schriftsprache seit dem japanischen Altertum das Distinktionsmerkmal einer männlichen Gelehrtenelite gewesen ist, hat sich diese Tradition kulturheteronomer männlicher Gelehrsamkeit im durch kollektiven Frauenhass definierten kyōyōshugi-Umfeld (Takada 2006: 24, 73) durch ein sich der westlichen Ausgangssprache unterordnendes, verfremdendes und formaläquivalentes Übersetzen fortgesetzt.

Von einer so verstandenen Übersetzungstradition sind Hirano Kyōko (und Asai Shōko) allein schon durch ihre Geschlechtsidentität klar abgegrenzt, sodass für beide Übersetzerinnen folglich nicht länger die Gefahr bestand, ihre akademischen Förderer oder deren Gleichgesinnte durch eventuelle Übersetzungsexperimente zu brüskieren. Den Kontext ihrer Arbeit bildeten stattdessen um die Jahrtausendwende erschienene Übersetzungsratgeber, die sich speziell an japanische Haus- und Karrierefrauen richteten und diesen die Übersetzungstätigkeit dahingehend anpriesen, dass sich so die Wartezeit bis zur Ehe oder auch bis zur spätabendlichen Heimkehr des auswärts trinkenden Gatten effizient überbrücken ließe (Tokuoka 2002: 11, 19). Dass aus dem, was der Germanist Ōyama Teiichi ein halbes Jahrhundert zuvor emphatisch als „Bluthochzeit“ zwischen Übersetzenden und Übersetzten charakterisiert hatte (Kawamura 1981: 56), zwischenzeitlich eine weibliche Strategie zur Bewältigung des Ehealltages geworden zu sein scheint, entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Dennoch hat sich dieser neuartige Übersetzungsentwurf jenseits von kyōyōshugi insofern durchgesetzt, als es Schätzungen zufolge bereits um die Jahrtausendwende in Japan deutlich mehr Berufsübersetzerinnen als -übersetzer gab (Tokuoka 2002: 31). Von ihnen erwartet man ausdrücklich ein nicht formal, sondern funktional äquivalentes, ein nicht verfremdendes, sondern domestizierendes Übersetzen mit kommunikativer Schwerpunktsetzung (ebd.: 70–71). An die Stelle einer Männern vorbehaltenen akademischen Profilierung und Selbstverwirklichung ist damit ein vorwiegend an den Bedürfnissen des Zielpublikums orientiertes Übersetzen getreten, das globalen Vereinfachungstrends entspricht (Chesterman 2004: 94). Von einer entsprechenden Schwerpunktsetzung zeugt bspw. auch Hiranos Aussage im Nachwort ihrer Tonio Kröger-Retranslation, sie habe das japanische Sprachempfinden priorisiert (nihongo no kankaku o yūsen saseta) (Hirano 2011: 250–251). Perfide ist die entsprechende Vereinfachungstendenzen kontextuell bedingende gesellschaftliche Erwartungshaltung dabei insoweit, als sie sich für eine normative, Abweichungen gegenüber dem Ausgangstext anprangernde Übersetzungskritik instrumentalisieren lässt (Imai 2013); würden Hirano und Asai jedoch stattdessen in Orientierung am formalen Äquivalenzgedanken der älteren Tonio Kröger-Retranslations übersetzen, böte sich vermutlich auch hier Anlass zur Kritik.

Eine dementsprechend am japanischen Gegenwartspublikum orientierte Schwerpunktsetzung lassen auch andere Publikationen Hiranos erkennen, zu denen neben Übersetzungstexten jüngst ein erstmals 2013 unter dem Titel Hadadanjikisukinkea, yamemashita bzw. „Haut-Fasten – nie wieder Skincare“ erneut bei Kawade, also im selben Verlag wie die Tonio Kröger-Neuübersetzung veröffentlichtes Sachbuch gehört, in dem sich Hirano gegen gesellschaftliche Körperpflegedogmen positioniert. Bereits 2017 erschien das als Bestseller beworbene Werk in einer Neuauflage; bemerkenswert ist, dass Hirano auch in diesem Zusammenhang ausdrücklich als Tonio Kröger-Übersetzerin vorgestellt wird (Amazon.jp 2023). Neben ihren Erfahrungsberichten zur Hautpflege ist sie aber auch ihren germanistischen Wurzeln insofern treu geblieben, als sie 2013 den Band Misohitomoji de yomu Gēte, also „Goethe mit japanischen Tanka-Gedichten lesen“ veröffentlichte. Bereits das Vorwort des Werks lässt erahnen, was Hirano auch zu ihrer Thomas Mann-Übersetzung motiviert haben könnte, beklagt sie doch eine männlich dominierte japanischsprachige Goethe-Publikationstradition, die den Dichter als Verkörperung maskuliner Sehnsüchte zelebriere (Hirano 2013: 2–3). Auch die oben erwähnten Vereinfachungs- und Domestizierungstendenzen werden hier augenfällig, da Hirano keine Übersetzungen i. e. S., sondern aphorismenartige, durch Goethe inspirierte Tanka, also Silbendichtungen vorstellt, die sich einem japanischsprachigen Publikum im Vergleich zum Ausgangstext leichter erschließen sollen (ebd.: 4). Dass der Goethe-Band lediglich zwei Jahre nach Hiranos Tonio Kröger-Neuübersetzung erschienen ist, legt nahe, dass sich auch Letztere durch einen vereinfachten Zugang zum Werk bewusst von der vorherigen kyōyōshugi-affinen Rezeption distanziert haben könnte. Hiranos Hautpflege-Bestseller mag vor diesem Hintergrund zunächst wie eine etwas skurrile Eskapade wirken, veranschaulicht aber ebenfalls das gewachsene Selbstbewusstsein dieser Übersetzerin, die sich spätestens 2013 mit den Goethe-Tanka explizit von der akademischen Übersetzungstradition abgegrenzt hat.

4.3.15 Asai Shōko: Zwischen Neuübersetzung und Klassiker

Viele der zuvor in Hinblick auf Hirano angestellten Überlegungen treffen gleichermaßen auch auf Asai Shōko (浅井晶子) zu, deren Tonio Kröger-Neuübersetzung 2018 in der Taschenbuchreihe Kōbunsha koten shin’yaku bunko erschienen ist: Auch sie grenzte sich als Übersetzerin schon durch ihre Geschlechtsidentität von einer männlich dominierten Tradition der kyōyōshugi-affinen Thomas Mann-Übersetzung ab und war als Berufsübersetzerin nicht demselben Anpassungsdruck wie ihre Vorgänger ausgesetzt. Allerdings ist die 1973 in Ōsaka geborene Asai nicht nur fast dreißig Jahre jünger als Hirano, sondern die bisher mit Abstand jüngste Person überhaupt, die Tonio Kröger ins Japanische übersetzt hat (Hakusuisha 2023). Ihr Studium im human- und umweltwissenschaftlichen Doktorandenkurs der Universität Kyōto hat sie mit Anerkennung der entsprechenden Leistungspunkte beendet, aber ohne sich für den Doktorgrad als solchen zu qualifizieren; stattdessen konzentrierte sie sich auf ihre Übersetzungstätigkeit (Asai 2018: 189–190). Für diese wurde sie schon 2003 mit der Max-Dauthendey-Feder, also dem Übersetzerpreis des Auswärtigen Amtes und des Goethe-Instituts Tōkyō ausgezeichnet (Hakusuisha 2023). In der Folge übersetzte sie einerseits zeitgenössische deutsche Bestsellerromane wie z. B. Ilija Trojanovs Der Weltensammler und Pascal Merciers Nachtzug nach Lissabon, andererseits populäre Sachbücher wie Sten Nadolnys Entdeckung der Langsamkeit (Asai 2018: 189–190). Auch diese gegenwartsbezogene Schwerpunktsetzung distanziert Asai Shōko folglich von den klassikerlastigen Übersetzungsportfolios der kyōyōshugi-affinen Fachgermanisten, wobei der Kōbunsha-Verlag von ihrer Tonio Kröger-Retranslation laut Nachwort in erster Linie einen „interessanten bzw. unterhaltsamen Roman“ (omoshiroi shōsetsu) erwartet habe (ebd.).

Hierbei übersetzte Asai in jedem Falle – ebenso wie Hirano – keineswegs gänzlich unabhängig von der männlich dominierten Tradition, sondern auf deren Grundlage; gleichermaßen wurde und wird sie auch vor diesem spezifischen übersetzungsgeschichtlichen Hintergrund wahrgenommen. Dem entspricht es einerseits, dass sie im Zuge der Arbeit an Tonio Kröger nach eigener Aussage neben Saneyoshis Erstübersetzung (1927) auch eine Retranslation Takahashis (erstmals 1949) sowie Hiranos Neuübersetzung (2011) konsultiert habe (ebd.: 189). Andererseits wurde ihre übersetzerische Selbstverortung zwischen „Neuübersetzung“ bzw. shin’yaku und dem Attribut des literarischen „Klassikers“ bzw. koten zuvor bereits in Hinblick auf den Serientitel Kōbunsha koten shin’yaku bunko thematisiert: Eine gänzliche Lossagung von der Übersetzungstradition lag weder in Asais persönlichem Interesse noch in demjenigen des Kōbunsha-Verlages.

4.4 Zwischenfazit zum vierten Kapitel

Im vierten Kapitel dieser Arbeit wurden die zuvor bezüglich der abstrakt-indirekten Kontextfaktoren zweiter Ordnung ermittelten Erkenntnisse zu Kontextfaktoren erster Ordnung, also direkten Einflussgrößen wie den publizierenden Verlagen und den Individualbiografien der Übersetzenden in Beziehung gesetzt. Hierdurch wurde die äußere Übersetzungsgeschichte der Erzählung Tonio Kröger in Japan in Hinblick auf das verbindende Element der kyōyōshugi-Bildungsidee insofern konkretisiert, als Letztere die Übersetzungstexte nicht nur im Sinne einer abstrakten Vorliebe der Übersetzenden und Rezipierenden für bestimmte Thematiken beeinflusst hat: Als zentrale Faktoren für Wahrnehmung und Resonanz der Übersetzungstexte wurden stattdessen die kyōyōshugi-Assoziiertheit und das daraus resultierende Renommee bestimmter Verlagshäuser und Publikationsformate (wie insbesondere der Iwanami Bunko-Reihe) sowie die anhand der jeweiligen institutionellen Affiliation erkennbare kyōyōshugi-Prägung in den akademischen Werdegängen der Übersetzenden identifiziert. In diesem Zusammenhang ließ sich feststellen, dass insbesondere der von der Nachkriegszeit bis in die 1970er-Jahre währende, mit der Popularisierung der kyōyōshugi-Idee einhergehende Boom von Sammelausgaben der Weltliteratur eine anhaltende Nachfrage nach Neuübersetzungen bedingte, wobei sich zugleich eine zunehmende Sättigung des betreffenden Marktes abzeichnete. Dementsprechend war es zwar relativ leicht, zu diesem Zeitpunkt noch die x-te Tonio Kröger-Retranslation zu veröffentlichen; noch interessierte Abnehmer*innen für diese zu finden, gestaltete sich allerdings zunehmend schwierig. Darüber hinaus wurde nachvollzogen, dass sich die Fremdzeugnisse zu den Übersetzungstexten nur auf einige wenige prominente Übersetzende beziehen, deren herausragende Stellung sich überwiegend auf eine erfolgreiche akademische Profilierung gründete. Der hieran unmittelbar anknüpfenden Frage, inwiefern sich diese Zusammenhänge der äußeren Übersetzungsgeschichte auf die Gestaltung der Übersetzungstexte, also auf die innere Übersetzungsgeschichte der Erzählung Tonio Kröger in Japan ausgewirkt haben könnten, wird im folgenden Analyse- und Interpretationskapitel nachgegangen.