3.1 Die machtgeschützte Innerlichkeit der vorkriegszeitlichen Bildungselite

3.1.1 Das kyōyōshugi-Bildungsideal der japanischen Fachgermanistik

Im folgenden Kapitel wird die äußere Übersetzungsgeschichte zu Tonio Kröger und Thomas Mann in Japan unter Bezugnahme auf Kontexte zweiter Ordnung, also abstraktere ideologische Einflüsse nachvollzogen (Jones 2011: 155–156; Milroy 1987: 46–47). Zu diesen Einflüssen gehört insbesondere das kyōyōshugi-Bildungsideal der japanischen Fachgermanistik, das im Folgenden vorgestellt wird.

Dass bis in die 1990er-Jahre mehr als 90 Prozent der Forschungsbeiträge aus der japanischen Fachgermanistik in japanischer Sprache verfasst worden sind (Nakajima 1994: 257; Shitanda 2009: 618), der Wirkungsgrad der japanischen Auseinandersetzung mit Thomas Mann also weitgehend auf diese Sprachgemeinschaft beschränkt geblieben ist, geht nicht nur auf die deutsch-japanische Sprachbarriere zurück. Vielmehr ist diese Einseitigkeit das Resultat des im frühen 20. Jahrhundert, also mit der „Wende von der pragmatisch orientierten Aufklärung der Meiji-Zeit zur idealistisch geprägten Bildung der Taisho-Zeit [sic], von der Zivilisation zur Kultur“ (Maeda 2010: 142–143) entstandenen kyōyōshugi-Bildungsideals. Dieses hat die japanische Fachgermanistik, ihr Verhältnis zur Mutterdisziplin und so auch die japanische Perspektive auf Thomas Mann entscheidend geprägt. Der vom Germanisten Maeda Ryōzō auch als „Bildungshumanismus“ übersetzte Begriff kyōyōshugi (ebd.: 142) bezeichnet dabei zunächst eher eine intellektuelle Prioritätenverschiebung als eine klar definierte philosophische Denkschule; daneben existieren unterschiedliche Definitionsansätze. Matsui versteht unter kyōyōshugi eine insbesondere an den Oberschulen des vorkriegszeitlichen Bildungssystems (kyūsei-kōtogakkō, 旧制高等学校) und den Kaiserlichen Universitäten (teikoku daigaku, 帝國大學) lokalisierte akademische Elite, die durch eine literaturbasierte Kulturrezeption charakterliche Bildung anstrebte (Matsui 2018: 26). Übereinstimmend hiermit fasst auch Takada kyōyōshugi als gedankliches Bindeglied zwischen Japans vorkriegszeitlichem Bildungssystem und einer die deutsche Kultur, Philosophie und Literatur idealisierenden Kulturrezeption auf (Takada 2006: 19). Die Charakterbildung durch Lektüre literarischer, humanistischer, philosophischer und geschichtswissenschaftlicher Texte ist auch Takeuchi zufolge ein Kernelement von kyōyōshugi (Takeuchi 2003: 40). In diesem Zusammenhang bringt die Literaturwissenschaftlerin Maeda Ai kyōyōshugi außerdem explizit mit der Bereitschaft in Verbindung, die eigene Lebensführung an literarischen Vorbildern auszurichten (Maeda 1983: 439). Zurückzuführen sind diese Kernelemente auf bestimmte akademische Akteure, zu denen insbesondere der Philosoph Raphael von Koeber, der Schriftsteller und Anglist Natsume Sōseki (夏目漱石) sowie dessen Schüler gehörten (Takeuchi 2003: 40). Diese prägten das japanische Bildungsverständnis derart nachhaltig, dass kyōyōshugi „als Form der intellektuellen Sozialisation und der Rezeption der westlichen Wissenschaft und Kultur […] im Akademismus quasi institutionalisiert“ worden ist (Maeda 2010: 142).

Außer Frage steht dabei, dass kyōyōshugi ein Phänomen des modernen, sich zu westlichen Kultur- und Bildungsgütern positionierenden Japan ist; ansonsten existieren unterschiedliche Datierungsansätze. Takada differenziert analog zur japanischen Zeitrechnung bzw. zu den Tennō-Regentschaftsperioden zwischen Meiji-kyōyōshugi, Taishō-kyōyōshugi sowie Shōwa-kyōyōshugi (Takada 2006: 112, 117), während sich u. a. Maeda Ryōzō vorwiegend auf den Taishō-zeitlichen kyōyōshugi bezieht (Maeda 2010: 142–143). Takadas Ansatz bringt zwar den Vorteil mit sich, dass er kyōyōshugi als langfristige und nachhaltig wirksame Entwicklung erfasst, ist aber insofern problematisch, als die Periodisierung analog zu Kaiserlichen Regentschaftsperioden im literaturwissenschaftlichen Kontext eher unüblich sind, da sie insbesondere in Hinblick auf die von 1926 bis 1989 währende Shōwa-Periode (昭和) unpräzise ist. Eine ausschließliche Konzentration auf die von 1912 bis 1926 währende Taishō-Zeit (大将) ist dagegen in Anbetracht der intensiven kyōyōshugi-Nachwirkungen der 1960er- und 1970er-Jahre (Yamamuro 2018: 227) ebenfalls nur eingeschränkt sinnvoll, sodass im Folgenden beide Ansätze vorgestellt werden.

Maeda charakterisiert die 1912 endende Meiji-Zeit (明治) als Negativfolie, die durch die erste Generation moderner japanischer Intellektueller und durch die Idee einer Zivilisierung Japans nach westlichem Vorbild charakterisiert war. Hiervon grenzte sich ab 1912 Taishō-kyōyōshugi ab, wobei dem posthumen Nachwirken des 1916 verstorbenen Schriftstellers Natsume Sōseki eine zentrale Bedeutung zukam (Maeda 2010: 142–143, 154). Im Unterschied zu dieser Vorstellung geht Takada von einem bereits um die Jahrhundertwende entstandenen bedingten Meiji-kyōyōshugi aus (Takada 2006: 112), der bereits richtungsweisende Grundzüge des kyōyōshugi-Bildungsideals etablierte. Voraussetzung für diese Entwicklung war der Niedergang des Karrierismusprinzips (risshin-shusse-shugi, 立身出世主義), das den karrierebasierten sozialen Aufstieg versprach und sich insbesondere auf die 1886 gegründete Erste Oberschule in Tōkyō als einem Garanten beruflichen Erfolgs konzentrierte (ebd.: 113). Möglich wurde diese Erfolgsgarantie durch die auf die Meiji-Restauration folgende Neugründung zahlreicher staatlicher Institutionen, wodurch auch die Nachfrage nach Oberschullehrern, Beamten und Angestellten in höheren Positionen beträchtlich stieg. Dass sich vielversprechende Bildungs- und Karriereperspektiven so einem zunehmend weiter gefassten Personenkreis eröffneten, führte aber dazu, dass Karriere als soziales Distinktionsmerkmal bzw. das Karrierismusprinzip als solches an Bedeutung verlor. Hiervon distanzierte sich wiederum kyōyōshugi durch eine intensive Auseinandersetzung mit Literatur und Philosophie, die zumindest dem eigenen Selbstverständnis nach nichts mit niederen Beweggründen wie sozialem Statusdenken zu tun hatte (ebd.), sondern stattdessen tiefgreifende Persönlichkeitsbildung gegenüber oberflächlicher Leistung priorisierte (Maeda 2010: 144). Dass sich kyōyōshugi-Affinität und akademisches Karrierestreben dennoch, wie die weiteren Ausführungen veranschaulichen, durchaus vereinbaren ließen, lag u. a. daran, dass kyōyōshugi insbesondere als eine einstweilige, mit dem Einstieg ins Arbeitsleben endende Weltflucht der akademischen Elite sozial akzeptiert war (Takada 2006: 72).

Günstige historische Vorbedingungen für eine langfristige Etablierung von kyōyōshugi generierte außerdem die traditionelle Populärethik des shūyōshugi (修養主義, Oguro 2004: 144): Das im frühen 19. Jahrhundert entstandene, in der ausgehenden Meiji-Zeit in der japanischen Bevölkerung verbreitete Konzept shūyō stand für shūshi-yōshin, d. h. für die kultivierende Pflege des Körpers bei gleichzeitiger Ausbildung des Geistes (Maeda 2010: 146). Unmittelbar vor der Wende zum 20. Jahrhundert wurde es in einem Atemzug mit kyōyō als mögliche japanische Übersetzung des Begriffs „Bildung“ diskutiert (Yamamuro 2018: 226). Dass die Entscheidung zugunsten von kyōyō ausfiel, lag daran, dass dieser moderner wirkende Begriff von Japans akademischer Oberschicht mit positiv besetzten westlichen Konzepten wie Humanismus, Idealismus und Marxismus (s. u.) in Verbindung gebracht wurde, wogegen shūyō eine eher volkstümliche Aufwertung des Alltags durch Fleiß, Sparsamkeit und Gemeinsinn implizierte (Oguro 2004: 144; Araki 2005: 242; Maeda 2010: 146). Dennoch waren die vielfach aus kleinstädtischen und ländlichen Gemeinschaften stammenden (Maeda 2010: 147) Oberschüler und Studenten der ersten kyōyōshugi-Generation durch shūyōshugi bereits mit dem Konzept einer idealistischen Überformung der gesamten Lebensgestaltung vertraut, sodass die Grenzen zwischen shūyōshugi und kyōyōshugi anfänglich fließend waren (Tsutsui 2009: 99).

Als ebenso wie die vorherige Abkehr vom Karrierismusprinzip durch soziale Distinktionsansprüche charakterisierte kyōyōshugi-Hochphase definieren sowohl Takada als auch Maeda einhellig die von 1912 bis 1926 währende Taishō-Ära: Der elitäre kyōyōshugi-Gedanke konkretisierte sich v. a. vor dem Hintergrund einer Popularisierung der Oberschulbildung (kōtō-kyōiku no taishūka), d. h. infolge der 1919 in Kraft getretenen Zweiten Kaiserlichen Oberschulreform (dai-niji kōtōgakkō-rei, 第二次高等学校令) (Takada 2006: 112). Während zuvor lediglich acht in erster Linie auf ein Universitätsstudium vorbereitende Oberschulen existiert hatten, gründeten sich v. a. in den 1920er-Jahren zahlreiche Oberschulen, die anstelle der gezielten Studienvorbereitung (daigaku-yoka) eine höhere Allgemeinbildung (kōtō-futsū-kyōiku) vermittelten (Amano 2013a: 252; Amano 2013b: 149). Dementsprechend wuchs die Anzahl der japanischen Oberschüler zwischen 1900 und 1920 von 5600 auf 9000 sowie zwischen 1920 und 1930 von 9000 auf über 25000 Schüler (Mathias 1990: 378); der Anteil männlicher Schüler und Studenten an ihrer Alterskohorte stieg zwischen 1915 und 1930 von 1,9 auf 5,3 Prozent (Amano 2013b: 185). Als Angehörige der Bildungselite strebten diese Absolventen i. d. R. berufliche Schlüsselpositionen an und wirkten so als Multiplikatoren ihres Bildungsverständnisses (Mathias 1990: 378). Die Entwicklung des während der Meiji-Zeit noch vielversprechenden Arbeitsmarktes hielt dagegen mit dieser Expansion und Popularisierung (taishūka) der höheren Bildung (Amano 2013b: 185) keineswegs Schritt, sodass sich eine stark gewachsene Absolventenanzahl schließlich auch vor dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise gegen härtere Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt behaupten musste (ebd.). So entstand mit den Oberschulen ein kyōyōshugi-„Nährboden“ (baiyōki, Takeuchi 2007: 47–49) mit beträchtlicher gesellschaftlicher Reichweite, wobei die Desillusionierung gegenüber dem Karrierismusprinzip weiter voranschritt.

In diesem Zusammenhang kam es zu Wechselwirkungen insbesondere zwischen kyōyōshugi und dem in den 1920er-Jahren an den japanischen Universitäten und Oberschulen ebenfalls populären Marxismus (Maeda 2010: 224; Amano 2013b: 185; Takada 2006: 113; Araki 2005: 242; Maeda 1983: 440), die sich auch auf die literarische Übersetzung auswirkten (Kondo/Wakabayashi 2011: 474). Die kyōyōshugi-typische, apolitische Affinität für westliche Literatur mündete hierbei paradoxerweise direkt in eine Affinität für den ebenfalls als westlich aufgefassten Marxismus (Tsutsui 2009: 114; Maeda 2010: 145), sodass sich bereits im November 1919 an der Ersten Oberschule in Tōkyō ein marxistisch ausgerichtetes gesellschaftsphilosophisches Seminar (dai-ichi kōtōgakkō shakai-shisō-kenkyūkai) formierte (Takada 2006: 114). Die apolitische Ausrichtung von kyōyōshugi und die politische Ausrichtung des Marxismus werden im Zuge dessen insofern als komplementär (sōhoteki na kankei) aufgefasst (Tsutsui 2009: 114), als der Marxismus die gesellschaftspolitische Apathie von kyōyōshugi wenigstens teilweise kompensiert habe (Takada 2006: 114) bzw. als selbstkritisches Moment in kyōyōshugi eingegliedert worden sei (Marukusushugi ga dokushojinteki kyōyōshugiteki de aru kagiri, kyōyōshugi-kūkannaibu de no hanmoku-tōsō de aru; Takeuchi 2007: 55). Diese marxistisch inspirierte Selbstreflexion blieb allerdings weitgehend ohne greifbare Konsequenzen, denn linke Gruppierungen waren spätestens seit dem Hochverratsprozess im Jahre 1911 bzw. der darauffolgenden Hinrichtung des Sozialisten Kōtoku Shūsui und elf weiterer Angeklagter sowie durch das im Frühjahr 1925 in Kraft getretene Gesetz zur „Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit“ (chian-iji-hō, 治安維持法) staatlicher Repression ausgesetzt (Mathias 2012: 347, 340).

Dementsprechend verlor der Marxismus mit Beginn der Shōwa-Zeit, d. h. ab 1926, im kyōyōshugi-Umfeld zunehmend an Bedeutung, was zunächst auch angesichts des zunehmend erstarkenden japanischen Militärfaschismus‘ einer intellektuellen Weltflucht den Weg bereitete (Takada 2006: 117). Bereits Mitte der 1930er-Jahre erlebte die universitäre Fachgermanistik jedoch eine durch die intensivierten japanischen Kulturbeziehungen zu NS-Deutschland geprägte Blütezeit (Murata 1991: 174, Takada 2006: 13), mit der erst ab Anfang der 1940er-Jahre ideologische Repressalien wie die Zensur nicht-linientreuer Autoren einhergingen (Oguro 2004: 145). Die ab Ende der 1930er-Jahre zunehmend NS-affirmative Haltung innerhalb der kyōyōshugi-affinen Fachgermanistik ist vor diesem Hintergrund unter karriereopportunistischen Aspekten nachvollziehbar (Takada 2006: 26), sodass bspw. der als kyōyōshugi-Vertreter geltende Germanist Takahashi Kenji (高橋健二) Anfang der 1940er-Jahre zum Kulturbeauftragten (bunkabuchō) der nach dem Muster der NSDAP organisierten Einheitspartei Taisei Yokusankai (大政翼賛会, Vereinigung zur Unterstützung der Kaiserherrschaft) aufstieg (Takada 2006: 14, 87; Klein 2010: 406). Auch Kimura Kinji (木村謹治), der ab 1924 als zweiter japanischer Germanistik-Professor an der Kaiserlichen Universität Tōkyō lehrte und für die „Gleichschaltung mit der NS-Germanistik“ 1938 mit einem Verdienstorden der NS-Regierung ausgezeichnet wurde, sorgte z. B. dafür, dass dort während des Zweiten Weltkriegs keinerlei Arbeiten zum NS-Gegner Thomas Mann eingereicht werden durften (Maeda 2010: 191). Neben opportunistischen Beweggründen führte hierbei auch die mit dem kyōyōshugi-Innerlichkeitsideal einhergehende Trennung von Kultur und Politik ebenso wie in Deutschland nicht in die Demokratie, sondern in die Diktatur (Assmann 1993: 106): Während Kultur nach kyōyōshugi-Verständnis als ein auf die „innerlich individualistische Vervollkommnung durch Bildung“ ausgerichtetes „Reich der Gedanken und Gefühle“ aufgefasst wurde, galt Politik als klar hiervon abgegrenzter Raum der nach außen gerichteten Taten (ebd.). Die damit paradoxerweise einhergehende Verschiebung von passiver kyōyōshugi-Weltflucht zu aktivem politischem Mitläufertum wirkte sich auch auf den gebildeten Nachwuchs aus, wie eine 1947 unter dem Titel Kike wadatsumi no koe (Hört die Stimme des Meeresgottes) erschienene Sammlung der Briefe junger japanischer Kriegsgefallener zeigt (Takada 2006: 118–119): Diese erwähnen vielfach eine erstmals 1938 von Takahashi Kenji publizierte Übersetzung der Briefe junger deutscher Kriegsgefallener, die Takahashi in seiner Übersetzung zur Goethe- und Nietzsche-Lektüre „im Schützengraben“ (Takahashi 1948: 2–3) bzw. zum Kampf-kyōyōshugi (tatakau kyōyōshugi) stilisierte (Takada 2006: 118–119).

Im Unterschied zu den im fünften Kapitel ausführlich thematisierten Tonio Kröger-Übersetzern Takahashi Yoshitaka und Satō Kōichi konnten sich weder Takahashi Kenji noch Kimura Kinji nach Kriegsende in den Augen der (Fach-)Öffentlichkeit rehabilitieren (Seki 2007). Hierbei war es zweckdienlich, dass die NS-Kompromittierung der kyōyōshugi-affinen Fachgermanistik auf scheinbare Charakterdefizite solcher Einzelakteure und nicht etwa auf eine institutionell strukturierte Problematik zurückgeführt wurde (Maeda 2010: 185), sodass sich über Einzelpersonalien hinausgehende Konsequenzen erübrigten. Folglich blieben trotz der grundlegenden Reorganisation des japanischen Bildungssystems auch nach Kriegsende die meisten der an Universitäten und Oberschulen angestellten Germanisten langfristig im Amt (ebd.: 300). Diese Kontinuitäten perpetuierten das kyōyōshugi-Bildungsideal, das sich so auch im neuen nachkriegszeitlichen Bildungssystem u. a. an den universitären Bildungsfakultäten (kyōyōbu, 教養部, s. Abschnitt 3.1.2) etablierte (Tsutsui 2009: 88). Vor diesem Hintergrund identifiziert Maeda die durch die Expansion des Kulturmarktes sowie durch erneut beträchtlich gestiegene Schüler- und Studentenanzahlen bedingte Popularisierung der westlich orientierten Bildung analog zur Bildungspopularisierung der Zwischenkriegszeit als äußeren Rahmen der latent kyōyōshugi-affinen japanischen Fachgermanistik (Maeda 2010: 302). Auch Takeuchi spricht hinsichtlich der 1960er- und 1970er-Jahre von einem Massen-kyōyōshugi (taishū-kyōyōshugi), der bspw. im Zusammenhang des Sammelausgaben-Booms (s. Abschnitt 4.1.14) eine breitere Öffentlichkeit erreichte (Takeuchi 2007: 202–203). Auch Yamamuro charakterisiert diesen Zeitraum als kyōyōshugi-Hochphase (zenseiki) (Yamamuro 2018: 227).

Spätestens mit Anbruch der 1980er-Jahre wird jedoch ebenso einhellig vom Bedeutungsverlust der einstigen Elitenideologie ausgegangen (Takada 2006: 26–27; Oguro 2004: 144), der sich Takeuchi zufolge bereits seit den 1960er-Jahren abgezeichnet hatte (Takeuchi 2007: 203–204). Eine wesentliche Rolle spielte dabei eine trotz aller Kontinuitäten im neuen Bildungssystem weitverbreitete Aversion gegen die synonym mit Taishō-kyōyōshugi aufgefassten Bildungsinstitutionen der Vorkriegsjahre (Maeda 1983: 440). Insbesondere die Studentenunruhen der ausgehenden 1960er-Jahre und die hierdurch initiierte Kritik am akademischen Establishment bildeten den Kontext für eine insbesondere auf die einstige NS-Kompromittierung bezogene Kritik an der kyōyōshugi-typischen „Weltfremdheit und politischen Ignoranz“ (kyōyōshugi wa, seken shirazu, seijionchi o imi suru mono toshite, shibashiba chōshō no mato to sarete kita; Araki 2005: 230, 243). Infolgedessen zeichnet sich das Attribut kyōyōshugiteki auch im gegenwärtigen Sprachgebrauch durch eine überwiegend pejorative Semantik aus (Takada 2006: 26–27).

Dass die 1960er- und 1970er-Jahre hierbei je nach Sichtweise entweder als Blütezeit oder aber als Niedergangsphase von kyōyōshugi charakterisiert werden, hängt mit abweichenden Positionierungen zum Vermassungsaspekt zusammen: Für Araki ist ein popularisierter kyōyōshugi kein kyōyōshugi mehr (Araki 2005: 243), wobei sich diese Einschätzung interessanterweise auch mit dem ab den 1970er-Jahren bzw. infolge der Flutung des japanischen Buchmarktes mit entsprechenden Weltliteratur-Sammelausgaben allmählich nachlassenden Thomas Mann-Interesse deckt. Ansonsten wird die gesellschaftliche Öffnung des einst der akademischen Elite vorbehaltenen kyōyōshugi-Bildungsideals hin zur zeitgenössischen Entertainment- und Popkultur allerdings weniger kritisch wahrgenommen. Dies veranschaulicht, dass kyōyōshugi als idealistischer Bildungsbegriff gerade aufgrund seiner Deutungsoffenheit immer wieder flexibel an unterschiedliche gesellschaftliche und ideologische Kontexte angepasst werden und so bis ins ausgehende 20. Jahrhundert überdauern konnte.

3.1.2 Institutionsgeschichtliche Einordnung: kyōyōshugi im Bildungssystem

Neben inhaltlich-programmatischen Aspekten kann kyōyōshugi über einschlägige Institutionen definiert werden, wobei die bereits erwähnten Oberschulen des alten staatlichen Bildungssystems (kyūsei-kōkō) eine zentrale Rolle spielten. Angefangen mit der 1886 gegründeten Ersten Oberschule in Tōkyō (dai-ichi kōtōgakkō, 第一高等学校) existierten um die Jahrhundertwende bereits fünf, bis 1908 acht japanische Oberschulen; diese sogenannten Number Schools (nanbā-sukūru, ナンバースクール), die zunächst nach der jeweiligen Nummer des Schuldistrikts, ab der Sechsten Oberschule hingegen nach ihrer Position in der Gründungsreihenfolge benannt wurden, galten als besonders renommiert (Mathias 1990: 374; Hamakawa 2003: 135; Maeda 2010: 109–110). Infolge der Zweiten Kaiserlichen Oberschulreform (dai-niji kōtōgakkō-rei) wurden ab 1919 auch in der Provinz zahlreiche weitere Oberschulen gegründet; bis zum Ende der Taishō-Zeit entstanden 18 zusätzliche, nach dem jeweiligen Standort benannte staatliche Oberschulen bzw. Name Schools (chimeikō) (Hamakawa 2003: 135–136; Amano 2013a: 251–252). Hinzu kamen nach 1919 neben staatlichen auch öffentliche (d. h. auf Präfekturebene finanzierte) sowie private Oberschulen, deren Gesamtanzahl bis 1929 auf 32 stieg (Amano 2013a: 252). Weil man sich für den Oberschulbesuch durch eine den gegenwärtigen japanischen Universitätsaufnahmeprüfungen vergleichbare, anspruchsvolle Aufnahmeprüfung qualifizierte, verstanden sich sämtliche Oberschulen als Ort der Elitenausbildung (Hamakawa 2003: 135). Obwohl der Zugang prinzipiell unabhängig der sozialen Herkunft möglich war, besuchte in den Jahrgängen zwischen 1895 und 1915 tatsächlich nur ein Prozent der japanischen Jugendlichen die Oberschule, wobei diejenigen, die sich dort akademisch profilieren konnten, i. d. R. den oberen Gesellschaftsschichten entstammten (Maeda 2010: 110, 117–118).

Da die Aufnahmekapazitäten der Oberschulen und Universitäten aufeinander abgestimmt waren, durften die meisten Oberschulabsolventen auf einen Studienplatz an einer der Kaiserlichen Universitäten hoffen (Hamakawa 2003: 135, Maeda 2010: 110). Insbesondere für Absolventen der Kaiserlichen Universität Tōkyō bestanden zugleich gute Aussichten auf eine sozial und finanziell attraktive Anstellung als Oberschullehrer, was der universitären Fachgermanistik den Ruf einer entsprechenden Ausbildungsinstitution einbrachte (Takada 2006: 17–18; Maeda 2010: 108, 111). Eine Voraussetzung für diesen akademischen Karrierekreislauf zwischen Oberschulen und Universitäten war der Fokus des Oberschulunterrichts auf den Erwerb westlicher Fremdsprachen, der eine gestiegene Nachfrage nach qualifiziertem Lehrpersonal bedingte (Takada 2006: 16). Entsprechend umfasste der oberschulische Fremdsprachenunterricht im Schuljahr 1917 im humanistischen Zug (bunka) 37,9 Prozent sowie im naturwissenschaftlichen Zug (rika) immerhin 33,4 Prozent aller Unterrichtsstunden, während für den die chinesischsprachige Lektüre (kanbun) umfassenden Muttersprachunterricht nur 16,3 bzw. 6,3 Prozent der Unterrichtsstunden vorgesehen waren (Amano 2013b: 209, Iwasaki 1994: 7). Neben der ersten Fremdsprache Englisch war hierbei an sämtlichen Oberschultypen auch das Erlernen einer zweiten Fremdsprache obligatorisch, wobei i. d. R. Deutsch oder in Ausnahmefällen auch Französisch angeboten wurde (Amano 2013b: 210–211). Ziel dieses Sprachunterrichts war es insbesondere, die Oberschulabsolventen in Hinblick auf ein künftiges Studium an einer der Kaiserlichen Universitäten dazu zu befähigen, den überwiegend englischsprachigen Vorträgen ausländischer Gastdozenten zu folgen (Maeda 2010: 112). Dieser auch an den Universitäten zu beobachtende Fremdsprachenfokus ging auf die im ausgehenden 19. Jahrhundert entstandenen, letzten Endes verworfenen Erwägungen zurück, angesichts eines eurozentrischen zeitgenössischen Wissenschaftsverständnisses das Japanische im wissenschaftlichen Kontext vollständig durch das Englische zu ersetzen (Kamei 1994: 26; Chen 2010: 146). Abgesehen von der englischen galt insbesondere auch die deutsche Sprache als Voraussetzung des Meiji-zeitlichen Zivilisationsideals, da das Deutsche Reich im ausgehenden 19. Jahrhundert zu den führenden Wissenschaftsnationen im Bereich der Naturwissenschaften gehörte (Herwig 2004: 7), ein hoher Prozentsatz der um 1900 verliehenen Nobelpreise an deutsche Wissenschaftler ging (Jarausch 1991: 314) und auch deutsche Universitäten und Hochschulen „höchste Geltung in der Welt“ beanspruchen konnten (Nipperdey 2013: 568).

Zudem interessierte sich Meiji-Japan für ein nach preußischem Vorbild organisiertes Militär und richtete auch die 1889 in Kraft getretene japanische Verfassung an derjenigen Preußens aus (Martin/Wetzler 1990: 77). Von vorherigen Versuchen einer Ausrichtung des japanischen Schulsystems zunächst am französischen sowie anschließend am amerikanischen Schulsystem sah man dementsprechend ab und orientierte sich stattdessen an der preußischen Pädagogik Johann Friedrich Herbarts (ebd.: 83–84). Diese vermittelte insbesondere der von 1887 bis 1890 als sogenannter Vertragsausländer (o-yatoi gaikokujin, お雇い外国人) an die Kaiserliche Universität Tōkyō (Tōkyō teikoku daigaku, 東京帝國大學) berufene deutsche Philologe Emil Hausknecht angehenden japanischen Mittelschullehrern (Takenaka 1989: 1, 10). Die überwältigende Mehrheit der zwischen 1873 und 1902 im höheren Bildungswesen tätigen Vertragsausländer (in erster Linie Universitätsprofessoren) kam aus Deutschland, dem die Meiji-Regierung eine besondere „erzieherische Funktion“ zusprach (Naka 1994: 242). Dies resultierte in einer systematischen, politisch motivierten Förderung der Deutschstudien: Während man mit dem Französischen und dem Englischen ein unerwünschtes Liberalisierungspotenzial assoziierte (Ueda 1989: 17; Naka 1994: 243), sicherte der semifeudale Konstitutionalismus des Deutschen Reiches Japans regierender Elite ihre Vormachtstellung (Schwentker 1993: 173; Ammon 1994: 9). In der Folge ist auch das japanische Bildungssystem durch eine latente Deutschaffinität geprägt geblieben, wie nicht zuletzt die vom Bildungsminister Mori Arinori 1886 offiziell erlassene Orientierung am preußischen Bildungssystem sowie die Gründung der Gesellschaft für die Verbreitung deutscher Wissenschaft Anfang 1882 in Tōkyō veranschaulichen (Martin/Wetzler 1990: 77–79, 84).

Auch als sich das Japanische am Anfang des 20. Jahrhunderts als Wissenschaftssprache durchsetzte, wurde die Gewichtung des Oberschullehrplanes zugunsten des Deutschunterrichts beibehalten. Obwohl die Unterrichtssprache in zahlreichen Studienfächern wie Medizin, Jura und den Naturwissenschaften neben dem dominierenden Englischen nach wie vor Deutsch war (Mathias 1990: 374; Ueda 1989: 17), war der oberschulische Deutschunterricht der Anforderung, die künftigen Studenten zu einer aktiven und praxisnahen wissenschaftlichen Kommunikation zu befähigen, trotzdem weitgehend enthoben. Sein Schwerpunkt verlagerte sich gänzlich auf einen Kultur- und Bildungsaspekt (Amano 2013b: 211), der „von der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Realität Deutschlands oft völlig abgehoben“ war (Mathias 1990: 384). Dabei folgte auf einen i. d. R. nur sechs bis acht Wochen dauernden Intensivkurs in deutscher Grammatik bereits die Klassikerlektüre im deutschsprachigen Original (ebd.: 374). Möglich wurde dies durch die Grammatik-Übersetzungs-Methode, wobei die Lehrkraft die deutschsprachigen Texte im Frontalunterricht übersetzte und grammatische Erläuterungen einstreute (Maeda 2010: 113). Der oben erwähnte Fachgermanist Takahashi Kenji erinnert sich diesbezüglich, der oberschulische Deutschunterricht habe im Wesentlichen daraus bestanden, dass der Lehrer mit „eigenartiger“ Aussprache aus Reclam-Büchern vorlas und anschließend „mit sehr altertümlichen Worten“ übersetzte (zit. nach Mathias 1990: 375). Gänzlich neu war eine solche Herangehensweise nicht; vielmehr weist sie Parallelen auf zur Methode des kanbun kundoku (漢文訓読), also der japanischen Lesung chinesischer Texte mit vorrangig semantischem Fokus (Ueda 1989: 18; Maeda 2010: 114), auf die im weiteren Verlauf dieses Kapitels ausführlicher eingegangen wird. Ein solcher die „kommunikative Sprachkompetenz vollkommen außer Acht“ lassende oberschulische Deutschunterricht wurde an den japanischen Universitäten ebenfalls noch bis in die 1970er-Jahre praktiziert (Maeda 2010: 114), wobei insbesondere in vorkriegszeitlichen Studentenkreisen deutsche Lehnwörter wie metchen (Mädchen), rībe (Liebe), shan (schön) und furai (frei) den sozialen Umgang der jungen Akademiker prägten (Hirataka 1994: 197–198).

Im oberschulischen und universitären Kontext spielte folglich die deutsch- und englischsprachige Literatur zunächst eine zentralere Rolle als die französisch- oder russischsprachige (Takada 2006: 148–149). Da Französisch bzw. Romanistik im Unterschied zur Germanistik nur an den Kaiserlichen Universitäten in Tōkyō und Kyōto studiert werden konnte, waren das diesbezügliche oberschulische Lehrangebot und so auch der Bedarf an Lehrkräften gering (Maeda 2010: 115). Infolgedessen verdingte sich die Mehrheit der auf französische oder russische Literatur Spezialisierten als Berufsschriftsteller (sanmon-bunshi) und war somit finanziell kaum abgesichert (Yamashita 1969: 72). Da französische und russische Literatur die deutsche Literatur jenseits des japanischen Wissenschaftsbetriebes ab den 1920er-Jahren jedoch zu verdrängen begann (Yamaguchi 2018: 89), bildete sich hier ein Professionalitätsbewusstsein heraus, woraufhin sich die tonangebenden Akteure des japanischen Literaturbetriebs statt auf deutsche auf französisch- oder russischsprachige Literatur konzentrierten (Yamashita 1969: 72). So entstand eine Kluft zwischen der als i. e. S. literarisch wahrgenommenen französischen und russischen Literatur einerseits und der eher fachwissenschaftlich rezipierten deutschen Literatur andererseits, durch die die kyōyōshugi-affinen Fachgermanisten zunehmend zu Außenseitern im Literaturbetrieb wurden (bundan-shakai no puro toshite ikinaide, itsumo sono soto ni bōkei toshite ikitsuzukete iku) (ebd.: 72). Dabei stellte die enge Verflechtung zwischen kyōyōshugi und dem staatlichen Bildungssystem bereits die Weichen für eine spätere NS-Kompromittierung, von der sich die japanischen Spezialisten für französische Literatur distanzierten (Takada 2006: 154). In der Folge leistete die literarische Marginalisierung der kyōyōshugi-affinen Fachgermanistik Minderwertigkeitskomplexen Vorschub, weswegen die Übersetzungsaktivitäten der Oberschullehrer (Ueda 2001: 134; Takada 2006: 18) ebenso wie eine „oft ostentativ aufgebauschte Sympathie für das Literarische“ als Kompensationsakte gedeutet werden können (Maeda 2010: 275). Typisch war hierbei die übersetzerische Spezialisierung auf einen Einzelautor, wobei nach Kriegsende diejenigen Oberschullehrer, die sich durch ihre Übersetzungsaktivitäten profiliert hatten, oft als „Vertreter der literarisierten Germanistik in die universitäre Fachgermanistik zurückgeholt“ wurden (ebd.: 277–278).

Obwohl nach der japanisch-deutschen Kriegsniederlage die Anzahl der Deutschstunden reduziert wurde, blieb die Verankerung eines kyōyōshugi-geprägten Deutschunterrichts auch im reformierten Bildungssystem u. a. aufgrund personeller Kontinuitäten vorerst erhalten (Ueda 1989: 20–22). Auf institutioneller Ebene trugen hierzu die nach 1945 neu geschaffenen „Bildungsfakultäten“ (kyōyōbu) maßgeblich bei, da diese bis zu ihrer Abschaffung im Jahr 1991 alle Studienanfänger*innen zu einem den Erwerb einer zweiten Fremdsprache neben dem Englischen beinhaltenden Studium Generale verpflichteten, also ähnlich ausgerichtet waren wie die Oberschulen des alten Systems (Hirataka 1994: 196; Ammon 1994: 10).

3.1.3 Inhaltlich-programmatische Einordnung I: Personenkult

Von kurz nach dem Ersten Weltkrieg bis in die 1990er-Jahre war kyōyōshugi also innerhalb des japanischen Bildungssystems institutionalisiert. Vorangetrieben wurde diese Entwicklung durch einen akademischen Kult um spezifische Lehrer-Meister-Figuren, dessen primärer Gegenstand westliche Schriftstellerpersönlichkeiten waren. Zu diesen gehörten insbesondere deutsche Autoren wie Thomas Mann, Hermann Hesse, Rainer Maria Rilke, Hans Carossa sowie den George-Kreis (Takada 2006: 19), denen man sich einerseits unterordnete, sich so aber andererseits auch von den japanischen Zeitgenossen elitär abgrenzte. Dass räumliche und kulturelle Distanz ein zentraler Faktor einer solchen Idealisierung des Westens war, zeigen Studienaufenthalte im westlichen Ausland, die nach jahrelanger Vorbereitung entweder als desillusionierend empfunden (Keene 1987: 310; Takada 2006: 10) oder aufgrund mangelnder Kommunikationskompetenz lediglich für ausgedehnte häusliche Lektüre sowie für Museums-, Konzert- und Theaterbesuche genutzt wurden (Maeda 2010: 147–148).

Als greifbarer wurden dagegen die insbesondere im Umfeld der Kaiserlichen Universität Tōkyō aktiven Lehrer-Meister-Instanzen des kyōyōshugi wahrgenommen. In diesem Zusammenhang formierte sich einerseits um den Schriftsteller Natsume Sōseki, andererseits um dessen Mentor, den in Heidelberg promovierten und von 1893 bis 1914 an der Kaiserlichen Universität Tōkyō tätigen Philosophen Dr. Raphael von Koeber ein exklusiver Personenkult, der die japanische Bildungsidee im frühen 20. Jahrhundert entscheidend prägte (Keppler-Tasaki 2020: 39; Miki 1966: 387). Im Falle Natsumes, der spätestens ab 1905 mit der seriellen Veröffentlichung des Romans Wagahai wa Neko de aru zu schriftstellerischer Prominenz gelangte, war die Verehrung im kyōyōshugi-Kontext zunächst dadurch bedingt, dass er 1893 als zweiter Absolvent überhaupt einen Abschluss in englischer Literatur an der Kaiserlichen Universität Tōkyō erworben hatte und, nachdem er einige Jahre als Mittel- und Oberschullehrer tätig gewesen war, ab 1900 als Stipendiat des japanischen Bildungsministeriums (Monbushō) für gut zwei Jahre nach London geschickt wurde (Keene 1987: 307–310). U. a. wegen finanzieller Engpässe und psychischer Anpassungsschwierigkeiten verlief dieser Studienaufenthalt traumatisch, sodass sich zu Natsumes Minderwertigkeitskomplexen gegenüber dem westlichen Ausland grundlegende Zweifel an der vermeintlichen zivilisatorischen Überlegenheit des Westens sowie an der überstürzten japanischen Aneignung entsprechender Kulturgüter mischten (ebd.: 310). Nach seiner Rückkehr aus London lehrte Natsume als Anglistikdozent an der Kaiserlichen Universität Tōkyō sowie der dortigen Ersten Oberschule und erfreute sich im Kreis seiner Schüler und Studenten einer enormen Popularität (ebd.: 311). So entstand im Herbst 1906 die sogenannte Donnerstagsgesellschaft (Mokuyōkai), die Natsumes wöchentlichen Besucherverkehr im Stil eines Salons der bürgerlichen Elitenkultur bündelte (Shiina 2019: 204; Haratake/Ebii/Ishida 2014: 292; Maeda 2010: 154). Dass Natsume trotz dieser beträchtlichen Resonanz seine attraktive Position an der Kaiserlichen Universität Tōkyō im Jahr 1907 freiwillig aufgab, um sich gänzlich seiner schriftstellerischen Tätigkeit zu widmen (Shiina 2019: 204), verstärkte den auch nach seinem Tod im Jahr 1916 um ihn betriebenen Personenkult, da dieser Schritt als kyōyōshugi-kompatible idealistische Abgrenzung vom Karrierismusprinzip gedeutet wurde (Maeda 2010: 149, 154).

Auf Verlagsebene intensivierte sich die Assoziation von Natsume Sōseki und kyōyōshugi außerdem dadurch, dass Natsume 1914 durch Vermittlung eines gemeinsamen Schulfreundes dem damals noch völlig unbekannten Iwanami Shigeo (岩波茂雄), der erst kurz zuvor den gleichnamigen Iwanami-Verlag gegründet hatte, die Publikation seines Romans Kokoro sowie aller weiteren Romane überließ (Mathias 1990: 368). Infolgedessen avancierte Iwanami Shoten zum zentralen Publikationsorgan des auch als „Iwanami-Kultur“ (Iwanami bunka) bezeichneten kyōyōshugi (Maeda 2010: 154–155; Mathias 1990: 367) und spielte so, wie die weiteren Ausführungen zeigen werden, auch für die japanische Tonio Kröger-Übersetzung eine entscheidende Rolle.

Natsume Sōseki selbst leistete der Popularität seines ehemaligen Professors an der Kaiserlichen Universität Tōkyō, Dr. Raphael von Koeber, wiederum entscheidend Vorschub. Nachdem Koeber über zehn Jahre als weitgehend unbekannter freiberuflicher Philosoph tätig gewesen war (Maeda 2010: 151), wurde er 1893 als sogenannter Vertragsausländer (o-yatoi gaikokujin) von der japanischen Regierung angeworben (Abe 1937: 407). Daraufhin lehrte er bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1914 an der Kaiserlichen Universität Tōkyō Philosophie, Alte Sprachen und Deutsch und blieb, nachdem die eigentlich geplante Rückkehr nach Deutschland durch Ausbruch des Ersten Weltkrieges verhindert wurde, bis zu seinem Tod im Jahr 1923 in Japan (Maeda 2010: 151). Obwohl Koeber als Ursprung (gensen) und Zentralakteur (tateyakusha) des Taishō-kyōyōshugi gilt (Matsui 2018: 25), hat er auf seinem Fachgebiet kaum Herausragendes geleistet (Maeda 2010: 152). Stattdessen vermittelte er seinen Studenten einen in erster Linie metaphysisch-weltanschaulich motivierten Lektüremodus, der inhaltlich und methodisch nicht zwischen Literatur, Theologie und Philosophie differenzierte und vielfach ins unsystematische Verschlingen westlicher Literaturklassiker mündete (seiyō-koten no randoku) (Matsui 2018: 32). Deutschland fasste der 1848 in Russland geborene Philosoph als seine geistige Wahlheimat auf, deren Sprache und Kultur sich als einzige mit dem Altgriechischen messen könne (ebd.: 28, 32), und brachte so z. B. auch die literarischen Werke Goethes seinen Studenten durch Herstellung buddhistischer Bezüge nahe (Keppler-Tasaki: 39, 77–78). Koebers Wirken blieb hierbei zunächst ausschließlich auf sein unmittelbares Umfeld an der Kaiserlichen Universität Tōkyō beschränkt (Matsui 2018: 27) und wurde erst durch die stilisierende Vermittlungsleistung seiner Schüler einer breiteren akademischen Öffentlichkeit zugänglich. Zu Letzteren zählte neben Natsume Sōseki eine ganze Generation einflussreicher japanischer Philosophen wie Nishida Kitarō, Abe Jirō, Kuki Shūzō und Watsuji Tetsurō, die später allesamt Universitätsprofessuren innehatten (Takeuchi 2007: 40; Keppler-Tasaki 2020: 40). Auch an den Oberschulen des alten Bildungssystems wurde Koeber als Verkörperung der westlichen Bildung (kyōyō no hito) verehrt (Matsui 2018: 26), nachdem 1920 ein auf seinen Essays basierendes Deutschlehrbuch bei Iwanami erschienen war (Kubo 1920).

Gegenstand dieser Verehrung war in erster Linie Koebers persönliches Charisma bzw. seine Entrücktheit aus seinem japanischen Lebensumfeld (Matsui 2018: 26). So charakterisierte ihn Natsume Sōseki im 1911 publizierten Essay Kēberu-sensei (Professor Koeber) dahingehend, dass sich Koebers Ortskenntnisse auf den privaten Wohnsitz und den Arbeitsweg zur Kaiserlichen Universität beschränkt hätten, während ihm das täglich Wahrgenommene nicht mehr als indifferente Erscheinungen in einer anderen, fremden Welt gewesen seien (higoto ganzen ni mokugeki shinagara, sore o bessekai ni okoru fūbakyū no genshō no gotoku yoso ni mite) (Natsume 1974). In einem weiteren, 1914 unter dem Titel Abschied von Koeber-Sensei (Kēberu-sensei no kokubetsu) publizierten Essay führte Natsume ferner aus, es sei keinerlei Grund dafür denkbar, dass der Mentor ein Interesse an Japan hegen sollte (Sensei ga Nihon to iu kuni ni tsuite wa nani mo shirō hazu ga nai. Mata shirō to suru kōkishin o motte iru riyū mo nai) (Natsume 1994). Das einsiedlerische Dasein des o-yatoi gaikokujin wurde also keineswegs kritisch wahrgenommen, sondern bot eine Projektionsfläche für Stilisierungen zur Verkörperung eines gegenüber Japan indifferenten europäischen Bildungsideals schlechthin, wie sie in Natsumes o. g. Essay von 1911 zu finden sind: „Das Leben des Meisters könnte man vergleichen mit einer Skulptur aus der griechischen Antike, die im Rauch und Geräusch der modernen Großstadt unbemerkt geblieben war. […] So geht der Meister wie ein Mensch auf der [griechischen] Halbinsel vor Christi, mit weichen Ledersandalen an der Seite der Tram langsam“ (Natsume 1974; Übers. Maeda 2010: 153). Aus japanischer Perspektive wurde Raphael von Koeber dementsprechend als ein Monument der Weltfremdheit und Innerlichkeit wahrgenommen, das die zeitgenössische japanische Gegenwart transzendierte. So übertrug sich der kyōyōshugi-Modus einer Verehrung von westlichen Schriftstellerpersönlichkeiten auf die universitäre Lehre, wo er im Falle des Schriftstellers Natsume Sōsekis durch Kritik am Meiji-zeitlichen Zivilisationsideal sowie im Falle Raphael von Koebers durch Deutschlandverehrung und Weltfremdheit konkretisiert wurde.

3.1.4 Inhaltlich-programmatische Einordnung II: Das Bildungsbürgertum

Trotz dieser Beeinflussung durch Koebers Einsiedlerdasein wirkte sich die kyōyōshugi auszeichnende Orientierung am Westen gesamtgesellschaftlich aus. Vor diesem Hintergrund sind die kyōyōshugi-affinen japanischen Geisteswissenschaftler als „japanische Ausgabe“ der (deutschen) Bildungsbürger (nihon-ban kyōyōshimin, 日本版教養市民) charakterisiert worden (Takada 2006: 22); derartige Vereinfachungen sind angesichts der sehr verschiedenen historischen Kontexte Deutschlands und Japans allerdings nur eingeschränkt haltbar. Definiert man „Bürger“ zunächst als nichtadelige Stadtbewohner (Max 2016: 14, Lamnek 1992: 71), erscheint die japanische Standardübersetzung shimin zwar auf den ersten Blick angemessen, entbehrt aber einer vergleichbaren Konnotation materiellen Wohlstandes. Hinzu kommt, dass der Begriff shimin erstmals 1875 belegt ist (Mori 1994: 69), als sich das in Hinblick auf Deutschland auch als bürgerliches Zeitalter bezeichnete 19. Jahrhundert bereits seinem Ende zuneigte (Schäfer 2009: 10). Im Sinne einer weiteren Entsprechung potenziell in Betracht kommen außerdem die chōnin (町人), nichtadlige Stadtbewohner, die sich durch materiellen Wohlstand auszeichneten und eine spezifisch städtische Massenkultur prägten (Pauer 1994: 11, 18). Im Unterschied zu den Bürgern blieb ihnen jedoch jegliche politische Partizipation verwehrt; zugleich bildeten sie sich als soziale Schicht bereits im 17. Jahrhundert, also deutlich früher als das Bürgertum heraus (Distelrath 2012: 228–229), sodass auch hier entsprechende Vergleiche zwangsläufig hinken.

Obwohl sich die Konzepte Bildungsbürgertum und kyōyōshugi demzufolge nicht von einem soziohistorischen Funktionszusammenhang auf den anderen übertragen lassen, kann kyōyōshugi anhand der Bezüge zum Bildungsbürgertum trotzdem noch etwas klarer definiert werden. Letzteres ist als Übergangs- und Entwicklungsphänomen historisch zwischen der altständischen Sozialverfassung des 18. und der konstitutionell-egalitären Sozialverfassung des 20. Jahrhunderts, also zwischen einer statisch-traditionsgeleiteten Feudal- und einer modernen Industriegesellschaft angesiedelt (Engelhardt 1986: 212–213; Hillmann 2007: 115). Bedingt war dieser Übergang durch ein neuartiges Bildungsideal mit literarisch-philosophischer Schwerpunktsetzung, das sich von einer vormals durch die Geistlichkeit kontrollierten, transzendental ausgerichteten Bildungsidee ebenso wie vom staats- und verwaltungspolitischen Herrschaftswissen sowie vom ökonomisch-technischen Leistungswissen abgrenzte (Engelhardt 1986: 28, Schäfer 2009: 104). Eine solche Emanzipation von geistlichen und weltlichen Herrschaftsansprüchen lässt sich in Hinblick auf kyōyōshugi aufgrund der jeweils unterschiedlichen historischen Funktionszusammenhänge in keiner vergleichbaren Form feststellen. Gemeinsamkeiten zwischen Bildungsbürgertum und kyōyōshugi bestehen dagegen in Hinblick auf die Isolierung des Bildungs- vom Herrschafts- und Leistungswissen, da sich kyōyōshugi ebenfalls vom mit den Meiji-zeitlichen Zivilisationsbestrebungen und dem Karrierismusprinzip assoziierten Herrschafts- und Leistungswissen distanzierte. Möglich wurde dies auch hier durch eine literarisch-philosophische Schwerpunktsetzung, die eine deutsche Kulturphilosophie als Reflexionsrahmen eines teilweise vom Bildungsbürgertum übernommenen Literaturkanons mit der in Japan v. a. durch Tolstois Zivilisationskritik vermittelten humanitären Idee zusammenführte (Maeda 2010: 144). Diese Parallelen können teils auf frühe Vermittlerinstanzen wie bspw. den „Vertragsausländer“ (o-yatoi gaikokujin) Raphael von Koeber zurückgeführt werden, die im japanischen Bildungswesen der Jahrhundertwende ein aus dem Bildungsbürgertum des 19. Jahrhunderts stammendes Bildungsideal vermittelten, das bis weit ins 20. Jahrhundert einflussreich blieb. Bemerkenswert ist hierbei, dass sowohl das Attribut des Bildungsbürgerlichen als auch dasjenige des kyōyōshugi (kyōyōshugiteki) seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunehmend negativ besetzt ist (Engelhardt 1986: 215–219; Takada 2006: 26–27).

Diese grundsätzlichen Parallelen lassen sich mithilfe der sieben Typisierungsmerkmale des deutschen Bildungsbürgertums nach Vondung weiter präzisieren: Als erstes (und bedeutsamstes) Typisierungsmerkmal nennt Vondung die akademische Ausbildung sowie die darauf basierende Berufsausübung (Vondung 1976: 25); auch Nipperdey subsummiert unter dem Bildungsbürgertum die akademisch Gebildeten, die höheren Beamten sowie die Vertreter der freien Berufe, denen ein i. d. R. auskömmliches Einkommen sowie eine nicht-körperliche, zeitlich begrenzte und folglich Kapazität für individuelle Bildung lassenden Arbeitstätigkeit gemeinsam war (Nipperdey 2013: 382). Im Vergleich zu einer dergestalt abgesicherten bürgerlichen Berufsausübung waren die vielfach mit der Bohème assoziierten freien Künstler und Schriftsteller allenfalls in der Peripherie des Bildungsbürgertums verortet, obwohl sie vielfach dem Bürgertum entstammten (Engelhardt 1986: 27–28; Vondung 1976: 28; Max 2016: 25).

Den Grundstein des akademischen Bildungsbürgertums legten die zu Beginn des 19. Jahrhunderts v. a. durch Wilhelm von Humboldt entwickelten Reformen des höheren Schul- und Hochschulwesens in Preußen (Schäfer 2009: 93). Insbesondere das spätere wilhelminische Bildungssystem erfüllte in diesem Zusammenhang eine politische Indoktrinationsfunktion, sodass v. a. das Gymnasium zur bürokratisch zentralisierten und kontrollierten, untrennbar mit „dem Nationalismus von Kaiser und Reich“ verbundenen „Staatsschule“ wurde (Nipperdey 2013: 547, 559) und so einen „ziviltheologischen Zusammenhang von Bildung und Gehorsam“ verfestigte (Naumann 2006: 26): Zumindest spätere Generationen des deutschen Bildungsbürgertums wurden bereits im Rahmen der Schulbildung kaisertreu und nationalkonservativ indoktriniert. Vor diesem Hintergrund investierte der deutsche Staat insbesondere in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beträchtliche finanzielle Mittel auch in das Hochschulwachstum, wodurch sich der Anteil der Studenten an der Gesamtbevölkerung zwischen 1869 und 1914 verdoppelte – allerdings nur von 0,04 auf weiterhin überschaubare 0,08 Prozent (Nipperdey 2013: 570, 578). Sowohl in Deutschland als auch in Japan blieb die höhere Bildung damit weitgehend ein Privileg der oberen Gesellschaftsschichten (Martin/Wetzler 1990: 84), sodass in Japan bspw. zwischen 1895 und 1915 nur einem Prozent der Jugendlichen der Oberschulbesuch möglich war (Maeda 2010: 110).

Das faktische Privileg der akademischen Ausbildung wurde in Deutschland zur formalen Voraussetzung (Schäfer 2009: 93) eines höheren Beamtentums, welches vorrangig Universitätsprofessoren, Oberlehrer, Richter und höhere Verwaltungsbeamte umfasste (Vondung 1976: 25). Auch diese das Bildungsbürgertum konstituierenden Berufe zeichneten sich durch eine geringe soziale Mobilität aus, sodass z. B. im Jahr 1864 unter den Professoren 67 Prozent der oberen sowie 28 Prozent der unteren Mittelschicht, aber lediglich 2 Prozent der Unterschicht entstammten (Nipperdey 2013: 576). Bis 1910 änderte sich hieran insofern wenig, als 63 Prozent aus der oberen, 30 Prozent aus der unteren Mittelschicht und nur ein Prozent der Professoren aus der Unterschicht kam (ebd.). Ebenso wie der Zugang zur höheren Bildung war also auch die bildungsbürgerliche Berufsausübung i. d. R. an die soziale Schichtzugehörigkeit gebunden. Dass ein hoher Anteil der bildungsbürgerlichen Akademiker im gesellschaftlich besonders angesehenen staatlichen Beamtendienst stand (Schäfer 2009: 97), ist derweil ein besonderes Charakteristikum des deutschen Bildungsbürgertums (Nipperdey 2013: 385). Außerdem zum Bildungsbürgertum gehörten die sich zunehmend professionalisierenden akademischen freien Berufe, d. h. Ärzte, Rechtsanwälte, Ingenieure oder Architekten sowie akademisch ausgebildete Journalisten, Redakteure, Schriftsteller oder Künstler (Vondung 1976: 25, Schäfer 2009: 92). Fließend waren die Grenzen zwischen Beamtentum und diesen freien Berufen insbesondere im Falle der Gymnasiallehrer und Universitätsprofessoren, da diese zwar ihrem rechtlichen und gesellschaftlichen Status nach Beamte, aber im Vergleich zu herkömmlichen Verwaltungsbeamten staatsferner verortet waren (Nipperdey 2013: 385).

Eine wesentliche Parallele zwischen Bildungsbürgertum und kyōyōshugi ist in Hinblick auf das Typisierungsmerkmal der akademischen Ausbildung folglich dahingehend festzustellen, dass auch Letzterer schwerpunktmäßig an den Oberschulen des vorkriegszeitlichen Bildungssystems sowie den Universitäten lokalisiert war. Während das deutsche Bildungsbürgertum jedoch durch Beamtentum und die politische Indoktrination des wilhelminischen Zeitalters direkt „staatlich konturiert“ gewesen ist (Schäfer 2009: 94), entstand kyōyōshugi zunächst als Gegenreaktion auf die Zivilisationsbestrebungen der Meiji-Regierung. Trotz dieses abweichenden Selbstverständnisses war aber auch kyōyōshugi mit den Institutionen des staatlichen Bildungssystems verknüpft und profitierte infolgedessen – ebenso wie das deutsche Bürgertum (Kocka 1988: 47–48) – von staatlichen Bildungsreformen (Matsui 2018: 25). Anders als das deutsche Bildungsbürgertum war kyōyōshugi damit zwar nicht unmittelbar „staatlich konturiert“, doch nichtsdestotrotz durch staatliche Bildungs- und Kulturpolitik bedingt.

Ein Unterschied zwischen dem Bildungsbürgertum und kyōyōshugi besteht darin, dass sich die Bildungsbürger deutlich expliziter über ihre Berufstätigkeit definierten, während sich kyōyōshugi zumindest der eigenen Auffassung nach von „Brotstudien“ und Karrierismusprinzip distanzierte (Maeda 2010: 155, 157). Dass akademische Karrieren dennoch, wie die im Folgenden thematisierten Werdegänge der Tonio Kröger-Übersetzenden veranschaulichen, im kyōyōshugi-Umfeld aktiv vorangetrieben wurden, erzeugte einen inneren Widerspruch zwischen idealisiertem programmatischem Selbstverständnis und privilegierter beruflicher Lebenswirklichkeit, der sich im Falle des mehrheitlich verbeamteten deutschen Bildungsbürgertums in keiner vergleichbaren Ausprägung manifestierte.

Außerdem weichen Bildungsbürgertum und kyōyōshugi in Hinblick auf das jeweils abgedeckte Berufsspektrum voneinander ab. Dieses Spektrum war beim als Ensemble unterschiedlicher Funktionseliten definierten Bildungsbürgertum (Wehler 1989: 215) deutlich breiter, während sich der apolitische kyōyōshugi auf den akademischen Bereich sowie auf die hiermit assoziierte journalistische Publizistik konzentrierte (Takada 2006: 27, Matsui 2018: 32–33). Hinzu kam, dass kyōyōshugi sowohl in Bezug auf die von Maeda als „Anstalt des Moratoriums“ charakterisierte Oberschule als auch teils noch im universitären Kontext als ein „vom Leistungsdruck der Zukunft“ befreites individualbiografisches Übergangsphänomen galt (Maeda 2010: 119; Mathias 1990: 376–377). Kyōyōshugi markierte damit im Unterschied zum Bildungsbürgertum keine lebenslange soziale Schichtzugehörigkeit (s. u.), sondern in erster Linie eine Selbstfindungsphase, der mit dem Übergang in die Berufstätigkeit oft ein natürliches Ende gesetzt war.

Diese im Vergleich zum Bildungsbürgertum stärker ausgeprägte Kompartmentalisierung hängt ihrerseits unmittelbar mit dem zweiten und dritten Typisierungsmerkmal des deutschen Bildungsbürgertums nach Vondung zusammen. Als zweites Merkmal nennt Vondung die Selbstrekrutierung im familiären Umfeld (Vondung 1976: 25–26); auch Engelhardt schreibt, dass angehende Bildungsbürger nicht zuletzt durch ihre Familien in ein homogenisierendes, dem professionellen Leistungswissen übergeordnetes Bildungswissen hineinsozialisiert wurden (Engelhardt 1986: 212–213). Die Weichen der bildungsbürgerlichen Sozialisation wurden also noch vor Eintritt in die staatlichen Bildungsinstitutionen gestellt, was geringe soziale Mobilität bedingte (Engelhardt 1986: 212; Schäfer 2009: 104). Dagegen rekrutierte sich kyōyōshugi schwerpunktmäßig innerhalb der Institutionen des staatlichen Bildungssystems: Insbesondere die frühen kyōyōshugi-Generationen wurden nicht in die Strömung hineingeboren, sondern arbeiteten sich allmählich in die entsprechenden akademischen Gefilde vor und ließen hierbei ihre familiären Herkunftsumstände teilweise hinter sich (Maeda 2010: 118–119). Während die akademische Rekrutierungspraxis des kyōyōshugi demzufolge eine Beschränkung auf bestimmte Ausbildungsabschnitte und -institutionen ermöglichte, war im Deutschland des 19. Jahrhunderts eine vergleichbare „bildungsbürgerliche Phase“ weder praktikabel noch notwendig.

Diese Unterschiede zwischen familiärer und akademischer Rekrutierungspraxis bedingen ihrerseits Vondungs drittes Typisierungsmerkmal des deutschen Bildungsbürgertums, welches in einer gleichartigen sozialen Herkunft, einer vergleichbaren akademischen Ausbildung bzw. Institutionszugehörigkeit sowie einer daraus resultierenden Gruppenidentität besteht (Vondung 1976: 26). Diese Gruppenidentität konstituiert sich v. a. durch einen angehenden deutschen Bildungsbürgern ab dem Kindesalter anerzogenen Kommunikationscode (Engelhardt 1986: 213) und durch „einen gemeinsamen Stil der beruflich geprägten Verkehrs-, Geselligkeits- und Heiratskreise“ (Nipperdey 2013: 383). Im Unterschied zu diesem weltanschaulich und gesellschaftlich homogenen Umfeld des Bildungsbürgertums war der sich akademisch rekrutierende kyōyōshugi tendenziell sozial heterogener, da der Zugang zum höheren Bildungs- und Wissenschaftssystem zumindest „prinzipiell für alle sozialen Schichten geöffnet“ war (Maeda 2010: 117). Im Unterschied zu Deutschlands bildungsbürgerlichen Gymnasiasten stellte sich ein Gemeinschaftsgefühl unter den japanischen Oberschülern nicht herkunftsabhängig ein, sondern vielmehr erst durch den mit Eintritt in die kyōyōshugi-affinen staatlichen Bildungsinstitutionen gemeinsam erlebten Bruch zum häuslichen Umfeld, sodass die Oberschulzeit in den Anfangsjahrzehnten des 20. Jahrhunderts als eine Art kollektiver Kulturschock erlebt wurde (Maeda 2010: 118). Dies illustrieren bspw. auch die 1969 publizierten Erinnerungen eines ehemaligen japanischen Oberschülers, der es durchaus genoss, sich den „langweiligen Verwandten und Eltern“ zu entziehen und sich stattdessen „in einer freien und schönen kosmopolitischen Welt mit dem Studium“ zu beschäftigen (zit. nach Maeda 2010: 119).

Dennoch blieb die höhere Bildung auch in Japan überwiegend den Privilegierten vorbehalten (Martin/Wetzler 1990: 84), da die Finanzierung einer langjährigen akademischen Ausbildung für die Mehrzahl der zeitgenössischen japanischen Haushalte nicht zu bewältigen war (Maeda 2010: 117). Dementsprechend entstammten z. B. fast 90 Prozent der Schüler der Ersten Oberschule in Tōkyō der oberen Mittel- und Oberschicht (Takeuchi 1999: 176–183). Auch im bildungsbürgerlichen Deutschland regulierten die mit dem höheren Bildungsweg einhergehenden und durch Stipendien nur unzureichend abgefederten finanziellen Belastungen, zu denen neben wegfallenden Verdienstmöglichkeiten auch hohes Schulgeld und Studiengebühren gehörten, den Zugang zu höheren Bildungsinstitutionen (Nipperdey 2013: 548, 579), sodass der „Aufstieg aus ländlichen und städtischen Unterschichten ins Bildungsbürgertum […] auf wenige Einzelfälle beschränkt“ blieb (Schäfer 2009: 95). Auch im kyōyōshugi-Umfeld wirkten so die durch höhere Bildung verursachten Mehrkosten zumindest teilweise sozial homogenisierend: Wer Anfang des 20. Jahrhunderts zur jungen japanischen Bildungselite gehören wollte, musste zwar keine spezifische Sozialisation vorweisen, aber finanzielle Ressourcen mobilisieren können, die i. d. R. privilegierten Gesellschaftsschichten vorbehalten blieben.

Derweil bezieht sich das Typisierungsmerkmal der Homogenität nicht nur auf die Bildungssozialisation im familiären Umfeld, sondern gleichermaßen auf akademische Institutionszugehörigkeit (Vondung 1976: 26). In Deutschland gab es zwischen unterschiedlichen Institutionen und Standorten jedoch kaum Prestigeunterschiede, was ein bildungsbürgerliches Zusammengehörigkeitsgefühl sämtlicher Akademiker bedingte (Schäfer 2009: 94). In Japan waren die Prestigeunterschiede zwischen den unterschiedlichen staatlichen, öffentlichen und privaten Institutionen des Bildungssystems hingegen deutlich ausgeprägter, sodass sich bspw. die Number Schools ebenso wie auch die Kaiserliche Universität Tōkyō durch einen besonders exklusiven Ruf auszeichneten (Maeda 2010: 109–110, 303). Konkret resultierten diese Prestigeunterschiede ab den 1920er-Jahren z. B. in je nach Institution unterschiedlichen Einstiegsgehältern (Amano 2013b: 316–318); auch in der Forschungspraxis grenzten sich bspw. die Germanisten der Kaiserlichen Universität Kyōto (京都帝國大學) klar von denjenigen der Kaiserlichen Universität Tōkyō ab (Yamashita 1969: 78; Maeda 2010: 191; Takada 2006: 178). In der Folge war es anders als im bildungsbürgerlichen Deutschland nicht etwa die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Akademiker überhaupt, die im kyōyōshugi-Umfeld ein institutionelles Zusammengehörigkeitsgefühl entstehen ließ, sondern insbesondere die Zugehörigkeit zur Literaturfakultät der Kaiserlichen Universität Tōkyō.

Hiermit zusammen hängt auch die Priorisierung von gesellschaftlichem Prestige gegenüber wirtschaftlicher Prosperität als viertes Typisierungsmerkmal des deutschen Bildungsbürgertums (Vondung 1976: 26). Entsprechend bezogen die das Bildungsbürgertum mehrheitlich konstituierenden staatlichen Beamten i. d. R. ein gesichertes und komfortables, aber dennoch im Vergleich zum Wirtschaftsbürgertum eher bescheidenes Einkommen, obgleich sie als Repräsentanten der staatlichen, kulturellen und insbesondere auch moralischen Ordnung ein höheres gesellschaftliches Ansehen genossen (Schäfer 2009: 97). Auch im Umfeld des kyōyōshugi galten gesellschaftliches Ansehen und entsprechende Kontakte mehr als Vermögen, wie z. B. auch Natsume Sōsekis Donnerstagsgesellschaft (Mokuyōkai) veranschaulicht (Maeda 2010: 154). Ebenso stellte die das kyōyōshugi-Selbstverständnis prägende und ebenfalls von Natsume beispielhaft verkörperte Kritik am Karrierismusprinzip individuelle Bildung über lukrative Verdienstmöglichkeiten (Keene 1987: 320, Shiina 2020: 204, 328; Maeda 2010: 149). Dass im vorkriegszeitlichen Japan das Oberschullehramt nicht nur gesellschaftliches Ansehen, sondern zugleich eine unter finanziellem Aspekt „komfortabel praktizierbare Gelehrsamkeit“ (Yamashita 1969: 73) ermöglichte, zeigt indessen auch hier, dass Sozialprestige sowohl in Deutschland als auch in Japan keineswegs gänzlich unabhängig von materieller Absicherung zu erlangen war.

Als fünftes Typisierungsmerkmal des deutschen Bildungsbürgertums nennt Vondung ferner die überwiegend protestantische Konfessionszugehörigkeit (Vondung 1976: 26), da Sozialisierung und Weltanschauung spezifischer Gesellschaftsschichten trotz einer Teilemanzipierung von der kirchlichen Doktrin konfessionell geprägt blieben (Nipperdey 2013: 384). Entsprechende Bezüge zwischen kyōyōshugi und Religiosität müssen dabei aufgrund unterschiedlicher religionsgeschichtlicher Funktionszusammenhänge gänzlich anders bewertet werden, denn während der Protestantismus im bildungsbürgerlichen Deutschland seit Jahrhunderten etabliert war, lag die japanische Verfolgung katholischer Christen zur kyōyōshugi-Entstehungszeit erst wenige Jahrzehnte zurück (Ballhatchet 2003: 36). Obwohl insbesondere ein protestantisches Christentum Anfang des 20. Jahrhunderts konfessionsunabhängig mit westlichen Zivilisationsidealen assoziiert wurde (ebd.), blieb das Christentum in Japan eine „verschwindend kleine Minderheit“ (Schamoni 2003: 128). Eine weitaus bedeutsamere Rolle spielten im kyōyōshugi-Kontext dagegen buddhistische Strömungen, die in der Auseinandersetzung mit der (westlichen) Moderne im Sinne einer traditionellen Form von Innerlichkeit wiederentdeckt wurden (Maeda 2010: 188; Ōmi 2014: 367), sodass auch Raphael von Koeber seinen Studenten an der Kaiserlichen Universität Tōkyō Goethe anhand buddhistischer Konzepte nahebrachte (Keppler-Tasaki: 77–78).

Trifft das fünfte Typisierungsmerkmal des deutschen Bildungsbürgertums demzufolge in Anbetracht dieser buddhistischen Prägung umso weniger auf kyōyōshugi zu, sind hinsichtlich des sechsten Typisierungsmerkmals erneut Parallelen festzustellen. Vondung zufolge zeichnete sich das Bildungsbürgertum dadurch aus, dass es als kulturelle Elite die öffentliche Meinung entscheidend beeinflusste (Vondung 1976: 26), also eine „gesamtgesellschaftlich verbindende wie verbindliche Sinnstiftungs- und Normsetzungskompetenz“ innehatte (Engelhardt 1986: 212–213). Diese Normsetzungskompetenz war maßgeblich durch das unter dem Bildungsbürgertum subsummierte, „in der Nähe der kulturellen, sozialen, ja auch politischen Macht“ angesiedelte Berufsspektrum bedingt und wurde bspw. im Bereich der Rechtsprechung konkret ausgeübt (Nipperdey 2013: 382). Dagegen konzentrierten sich die kyōyōshugi konstituierenden Berufe v. a. auf den akademischen Bereich und waren dabei ebenso wie die deutschen Gymnasiallehrer und Universitätsprofessoren (ebd.: 385) eher staatsfern. Deshalb blieb die Normsetzungskompetenz insbesondere des vorkriegszeitlichen japanischen kyōyōshugi auf bestimmte Gesellschaftsbereiche beschränkt, deren Bildungsverständnis der Entrücktheit des einsiedlerischen Professors Raphael von Koeber nachempfunden war. Insbesondere die auch im Literaturbetrieb marginalisierte kyōyōshugi-affine Fachgermanistik (Yamashita 1969: 73) beschränkte sich in ihrem Einfluss- und Wirkungsbereich so zunächst hauptsächlich auf Oberschulen und Universitäten.

Dies änderte sich allerdings im Zusammenhang der kyōyōshugi-Verstrickung in die NS-affirmative japanische Kulturpolitik, da das Konzept eines nach deutschem Vorbild „im Schützengraben“ (Takahashi 1948: 2–3) praktizierten „Kampf-kyōyōshugi“ (tatakau kyōyōshugi) (Takada 2006: 118–119) weite Teile der zeitgenössischen Bevölkerung erreichte. Ferner wurde das kyōyōshugi-Bildungsideal in den 1960er- und 1970er-Jahren im Zusammenhang einer weiteren Bildungsexpansion sowie eines expandierenden Kulturmarktes auch in außerakademischen Kreisen verstärkt zum Statussymbol, sodass diesbezüglich von einer gesamtgesellschaftlichen Sinnstiftungskompetenz die Rede sein kann (Takeuchi 2007: 202–204; Maeda 2010: 302). Das sechste Typisierungsmerkmal des deutschen Bildungsbürgertums trifft auf kyōyōshugi also je nach Epoche entweder nur für den akademischen Bereich (Vorkriegszeit) oder doch gesamtgesellschaftlich (Zweiter Weltkrieg und Nachkriegszeit) zu.

Dass kyōyōshugi dennoch in erster Linie als akademische Elite definiert ist, erweist sich zudem als anschlussfähig in Bezug auf Vondungs siebtes und letztes Typisierungsmerkmal des deutschen Bildungsbürgertums, welches in der Besetzung von den Bildungsgedanken weitervermittelnden Berufen wie dem akademischen Lehramt, der Geistlichkeit sowie der Publizistik besteht (Vondung 1976: 26). Dabei erfüllen die kyōyōshugi konstituierenden akademischen Lehrberufe das Kriterium einer weltanschaulichen Weitervermittlung vollauf, weswegen hier trotz grundverschiedener historischer Rahmenbedingungen beträchtliche Parallelen zum deutschen Bildungsbürgertum festzustellen sind.

Hinsichtlich der Typisierungsmerkmale des deutschen Bildungsbürgertums konnten dementsprechend sowohl Überschneidungen als auch Unterschiede zu kyōyōshugi herausgearbeitet werden. Gemeinsamkeiten bestehen in der Abgrenzung des Bildungswissens vom Herrschafts- und Leistungswissen sowie im sich beiderseits im Laufe des 20. Jahrhunderts einstellenden Prestigeverlust. Während das Bildungsbürgertum aber ein breit gefächertes, akademisch fundiertes Berufsspektrum umfasste, konzentrierte sich kyōyōshugi auf die akademische Forschung und Lehre, wobei eine im Unterschied zum Bildungsbürgertum weitgehend herkunftsunabhängige akademische Rekrutierungspraxis eine Kompartmentalisierung als Entwicklungsphase ermöglichte. Die kyōyōshugi-Gruppenidentität basierte somit weniger auf einer gleichartigen sozialen Herkunft oder einem institutionsübergreifenden Zusammengehörigkeitsgefühl sämtlicher Akademiker, sondern war an die spezifische institutionelle Anbindung geknüpft. Eine wesentliche Rolle spielte sowohl im Umfeld des Bildungsbürgertums als auch im kyōyōshugi-Kontext gesellschaftliches Prestige; entsprechend wurde in beiden Fällen eine wirtschaftliche Absicherung implizit vorausgesetzt. Unterschiede bestanden dagegen in Hinblick auf die jeweilige Sinnstiftungs- und Normsetzungskompetenz, die im Falle des Bildungsbürgertums gesamtgesellschaftlich galt, im Falle von kyōyōshugi hingegen verstärkt im akademischen Bereich wurzelte; beide Strömungen besetzten jedoch v. a. Berufe, die das jeweilige Bildungsideal an die Folgegenerationen weitervermittelten.

Eine Charakterisierung von kyōyōshugi als nihon-ban kyōyōshimin (Takada 2006: 22) ist in Anbetracht dieser beträchtlichen Schnittmenge durchaus zu rechtfertigen. Zu berücksichtigen ist allerdings, dass das ursprünglich durch deutsche Vorbilder inspirierte kyōyōshugi-Bildungsideal in beträchtlichem Maße an Japans intellektuelle, gesellschaftliche, bildungspolitische und akademisch-institutionelle Kontexte angepasst worden ist. Vor diesem Hintergrund ist die Bezeichnung nihon-ban kyōyōshimin nur haltbar, sofern man sich die Tragweite des Attributs nihon-ban vollauf vergegenwärtigt.

3.1.5 Inhaltlich-programmatische Einordnung III: Die Jugendbewegung

Getragen wurde kyōyōshugi dabei im Wesentlichen von einem sich Anfang des 20. Jahrhunderts formierenden geisteswissenschaftlichen Teilbereich des akademischen Establishments. Dies steht im Widerspruch zur ursprünglich im kyōyōshugi-Umfeld formulierten Karrierekritik, welcher darauf zurückzuführen ist, dass kyōyōshugi keineswegs ausschließlich durch das deutsche Bildungsbürgertum beeinflusst war. Unmittelbare Impulse erhielt er auch durch die Bildungskritik der Jugendbewegung (ebd.: 24), die im Unterschied zum zu Beginn des 20. Jahrhunderts bereits im Niedergang begriffenen Bildungsbürgertum zeitgenössisch zu kyōyōshugi war. Außerdem richtete sie sich – ähnlich wie der als Gegenentwurf zum Meiji-zeitlichen Zivilisationsideal konzipierte kyōyōshugi – gegen „die materialistisch-fortschrittlichen bürgerlichen Lebensformen der sich rasant ausbreitenden Industriegesellschaft“ (Hillmann 2007: 407) sowie gegen „bestimmte Formen der Zivilisation“ (Reinhold 1992: 289). Mit Letzterem waren auch die akademischen Institutionen gemeint, an deren Stelle ein neues, die Fesseln traditioneller Kulturauffassungen sprengendes Menschentum treten sollte (Nipperdey 2013: 564). Insbesondere von der Karikatur des Bildungsphilisters, welcher sich als Produkt des expandierenden staatlichen Bildungssystems in erster Linie über Leistungswissen definierte, grenzte man sich in der Folge ebenso ab (Berg/Herrmann 1991: 16–17) wie vom sogenannten Berechtigungswesen, das Bildung als Mittel des Sozialerfolgs instrumentalisierte (Nipperdey 2013: 558). Dementsprechend zeichnete sich die Bildungskritik der deutschen Jugendbewegung durch eine zur Karrierismus- und Zivilisationskritik im kyōyōshugi-Kontext vergleichbare Schwerpunktsetzung aus.

Während die gesellschaftlichen Umwälzungen im Japan der Jahrhundertwende allerdings nach wie vor durch die inzwischen Jahrzehnte zurückliegende Öffnung zum Westen bedingt waren, existierten in Deutschland keine vergleichbaren kulturellen Hegemonialverhältnisse. Folglich grenzte sich die deutsche Jugendbewegung in erster Linie auf nationaler Ebene vom durch „Schule, Kirche und Staat“ vermittelten Bildungsideal der Vorgenerationen ab (Hillmann 2007: 407). Der autoritären wilhelminischen Bildungsrealität wurde dabei eine reformpädagogisch inspirierte Kritik entgegengesetzt, die auch das schriftstellerische Schaffen der Brüder Mann, Hermann Hesses (Mix 1995: 194, 202) sowie Theodor Fontanes (Nipperdey 2013: 558) beeinflusste. Insbesondere in Gruppen und Bünden schuf die Jugendbewegung darüber hinaus „eine Art Schutzraum“, in dem die „Rückwendung»kranker« Zivilisiertheit zu »gesunder« Natur und natürlicher Lebensführung“ (Hillmann 2007: 407) mit einer konservativen Kulturkritik völkischen bzw. volkstümelnden Anstriches vermengt wurde (Berg/Herrmann 1991: 24). Dagegen bestand im Japan der Jahrhundertwende weiterhin die Notwendigkeit, sich gegenüber dem westlichen Ausland und seiner Kultur zu positionieren, sodass kyōyōshugi dem zivilisatorischen Streben der Vorgenerationen ein unverändert am Westen orientiertes Kulturideal entgegensetzte.

In beiden Fällen resultierte hieraus eine Verachtung weltlicher Interessen, eine intensive, im Falle der Jugendbewegung um Naturbetrachtung erweiterte Auseinandersetzung mit Literatur und Philosophie sowie der Zusammenschluss zu sich über kollektiven Frauenhass definierenden Männerbünden (Takada 2006: 24, 73): Sowohl die deutsche Jugendbewegung als auch der japanische kyōyōshugi wurden insbesondere von männlichen Oberschülern getragen, wobei sich die deutschen Gymnasien der Jahrhundertwende und die kyōyōshugi-geprägten japanischen Oberschulen durch ein vergleichbares gedankliches Klima auszeichneten. Von dessen Spätfolgen zeugt bspw. auch ein unter dem Titel Über Frauen und Wissenschaft (Josei to gakumon ni tsuite) publizierter Essay des Tonio Kröger-Übersetzers und einstigen Oberschullehrers Takahashi Yoshitaka, dem zufolge Universitäten auf Grundlage der „männlichen“ Tugenden Konflikt, Rationalität und Logik geschaffen seien, während das traditionell „Weibliche“ auf die Bereicherung des Gefühlslebens ausgerichtet und dementsprechend in der Wissenschaft fehl am Platze sei (Takahashi 2010: 115–118).

Eine weitere Gemeinsamkeit, die sowohl die Jugendbewegung als auch kyōyōshugi neben Bildungs- bzw. Zivilisationskritik, Literaturfokus und Frauenfeindlichkeit charakterisierte, besteht in der Differenzierung zwischen Kunst und Wissenschaft bzw. zwischen Künstlern und Professoren. Die im Umfeld der Jugendbewegung formulierte Bildungskritik priorisierte hierbei Kunst (Künstler) gegenüber Wissenschaft (Professoren) und knüpfte damit auch an die im ausgehenden 19. Jahrhundert als Begleiterscheinung des Bildungsbürgertums entstandene „Philister-Schelte“ Friedrich Nietzsches an (Assmann 1993: 66–68). Vergleichbares ist auch im kyōyōshugi-Umfeld insbesondere in Hinblick auf die Literaturforschung Ernst Bertrams und Friedrich Gundolfs zu beobachten, denen die besondere Faszination der jungen japanischen Bildungselite galt (Takada 2006: 70): Sowohl Bertram als auch der polemisierend als „Wissenschaftskünstler“ charakterisierte Gundolf waren einerseits als Mitglieder des Dichterkreises um Stefan George literarisch aktiv und hatten andererseits Professuren in Köln bzw. Heidelberg inne; sie publizierten also gleichermaßen wissenschaftliche Fachaufsätze von quasi-literarischer sprachlicher Qualität und literarische Texte i. e. S. (Groppe 2016: 290, 298; Yamaguchi 2018: 274; Takada 2006: 70). Die von Bertram und Gundolf auf diese Weise gelebte Synthese aus Kunst und Wissenschaft stellte aus Perspektive der kyōyōshugi-affinen japanischen Fachgermanisten nichts Geringeres dar als die ideale Auflösung ihres grundlegenden Identitätskonfliktes zwischen Karrierismuskritik und akademischer Quasi-Institutionalisierung. Vor diesem Hintergrund kann auch das Übersetzen als Kompensationsakt interpretiert werden (Ueda 2001: 133), dessen Notwendigkeit durch die Marginalisierung der kyōyōshugi-affinen Fachgermanisten im Literaturbetrieb zusätzlich verstärkt wurde (Maeda 2010: 111). Literarische Übersetzungstexte überbrückten im kyōyōshugi-Umfeld also einen paradoxen Identitätskonflikt zwischen Wissenschaft und Kunst, zwischen akademischem Karriereopportunismus und Karrierismuskritik, der auf die zeitgleiche Rezeption von tendenziell anachronistischen bildungsbürgerlichen Einflüssen und der hierauf bezogenen zeitgenössischen Bildungskritik der Jugendbewegung zurückzuführen ist.

3.1.6 Die „machtgeschützte Innerlichkeit“ und Thomas Mann

Obwohl Thomas Mann als typischer Repräsentant des deutschen Bildungsbürgertums gilt (Herwig 2004; Lehnert 1990: 140; Lörke 2015: 264), ist er im Vergleich zur japanischen kyōyōshugi-Bildungselite kaum weniger paradox zwischen Bildungsbürgertum und Bildungskritik verortet. Den gesellschaftlichen Rahmen der Jugendzeit Thomas Manns bildete Bismarck-Deutschland, „in dem das Bildungsbürgertum sich als kulturelle und kulturgläubige Oberklasse etabliert hatte, während die politische und soziale Autorität, zumindest äußerlich, von den monarchisch-feudalen Resten der Sozialordnung repräsentiert wurde“ (Lehnert 1990: 139). In dieser „machtgeschützten Innerlichkeit“ (Mann 1974b: 418–419) entfaltete Mann seine schriftstellerische Aktivität, wobei die soziale Verfasstheit des bürgerlichen Zeitalters dem späteren Literaturnobelpreisträger vorerst eine gesellschaftlich und politisch einflussreiche Leserschicht bot (Lehnert 1990: 139).

Während das deutsche Bildungsbürgertum hierbei auch in Bezug auf politische Partizipation „machtgeschützt“ war, war die Macht, die die japanische kyōyōshugi-Innerlichkeit schützte, nicht politisch, sondern gesellschaftlich und ideologisch wirksam. Mächtig war die japanische Bildungselite aufgrund der privilegierten Herkunft ihrer überwiegend aus wohlhabenden Familien stammenden Mitglieder, aufgrund der ihnen in kulturellen Angelegenheiten zugeschriebenen Deutungshoheit und nicht zuletzt auch aufgrund der Tatsache, dass sie als reiner Männerbund gesamtgesellschaftliche Diskriminierungsmechanismen zur Machtkonsolidierung nutzte. Ebenso wie im Falle des Bildungsbürgertums war die daraus resultierende „machtgeschützte Innerlichkeit“ insofern paradox, als sie das auf die überwiegend private Persönlichkeitsbildung ausgerichtete Innerlichkeitsideal durch gesellschaftlich wirksame Machtstrukturen abgesichert und reproduziert hat.

Thomas Mann beschwor besagte Innerlichkeit als „Versenkung; ein individualistisches Kulturgewissen; der auf Pflege, Formung, Vertiefung und Vollendung des eigenen Ich oder, religiös gesprochen, auf Rettung und Rechtfertigung des eigenen Lebens gerichtete Sinn; ein Subjektivismus des Geistes, eine Sphäre […] persönlicher Kultur, in der die Welt des Objektiven, die politische Welt, als profan empfunden und gleichgültig abgelehnt wird“ (Mann 1974d: 854–855, Hervorh. Original). Dass sich Manns weitschweifige Innerlichkeitsdefinition zugleich wie eine Art kyōyōshugi-Steckbrief liest, ist darauf zurückzuführen, dass bildungsbürgerliche Einflüsse Japans kyōyōshugi-Elite bspw. durch die Vermittlungsleistung des 1848 geborenen und selbst bildungsbürgerlich sozialisierten Raphael von Koeber erreicht hatten (Maeda 2010: 152). Infolgedessen bot auch Manns durch ein vergleichbares Innerlichkeitsideal charakterisiertes Frühwerk ideale Voraussetzungen für die Rezeption im kyōyōshugi-Kontext.

Trotzdem erfüllte der Literaturnobelpreisträger aufgrund seiner nur rudimentären akademischen Ausbildung ein zentrales, auch kyōyōshugi charakterisierendes Typisierungsmerkmal des deutschen Bildungsbürgertums nur eingeschränkt (Vondung 1976: 25). Dabei wuchs der junge Thomas Mann, obwohl er keiner Akademikerfamilie i. e. S., sondern einer väterlichen Linie von Kaufmännern, Handwerkern und Farmern entstammte (Flügge 2006: 22), zunächst weder literatur- noch bildungsfern auf: Der Vater las französische Romane (Mann 1974d: 536) und unternahm ausgedehnte Kulturreisen (de Mendelssohn 1997: 150–153), die eine bildungsbürgerliche Frühsozialisation im familiären Umfeld nahelegen. Vorgesehen war hierbei nicht die von beiden Söhnen später eingeschlagene Schriftstellerlaufbahn, sondern das Jurastudium mit anschließender politischer Karriere für Heinrich und die Fortführung der väterlichen Kaufmannsfirma für Thomas, sodass der Vater noch im Testament verfügte, dass den „Neigungen […] zu einer so genannten literarischen Tätigkeit“ um jeden Preis entgegengewirkt werden sollte (Flügge 2006: 20–21). Der jüngere Sohn Thomas jedoch „verabscheute die Schule und tat ihren Anforderungen bis zum Ende nicht Genüge“, überzeugt davon, „dass die Lehrer meine Erzieher nicht waren, sondern mittlere Beamte“ (Mann 1997: 101, 170). Infolgedessen besuchte er zwar das renommierte Lübecker Katharineum als eine der besten Schulen im damaligen Norddeutschland, war aber nach eigener Einschätzung ein „verkommener Gymnasiast“ und, da er insgesamt drei Klassenstufen wiederholen musste, „schon in Sekunda so alt wie der Westerwald“, sodass er das Katharineum im März 1894 noch vor dem Abitur verließ (Mann 1997: 165; Markus 2015: 75; de Mendelssohn 1997: 163, 165; Markus 2015: 66). Zu relativieren ist diese desaströs wirkende Schullaufbahn insofern, als aufgrund der defizitären Verfasstheit des mittleren Schulsystems vor 1914 nur ein Viertel bis ein Drittel der Sextaner, d. h. der Schüler der untersten gymnasialen Klassenstufe, überhaupt bis zum Abitur kam (Nipperdey 2013: 548). Nach Erwerb des Berechtigungsscheins zum verkürzten, ein- statt zweijährigen freiwilligen Militärdienst (Markus 2015: 66) war Mann zeitweilig bei einer von einem Freund des Vaters geleiteten Feuerversicherungsgesellschaft tätig und schrieb sich anschließend am Polytechnikum München ein, wo er in der Absicht, Journalist zu werden, Veranstaltungen der Fachbereiche Ökonomie, Geschichte, Ästhetik, Mythologie sowie Literatur besuchte und in den Kreisen der Schwabinger Bohème „als eine Art Student“ lebte (Mann 1997: 57, 103–104; Banuls 1990: 8). Dem vagen Selbstzeugnis entsprechend erwarb er keinen Studienabschluss und nahm „vom amtlichen Unterricht fast nichts an als das Elementarste“ (Mann 1997: 95), sodass seine Schriftstellertätigkeit definitiv nicht auf dem Erwerb akademischer Bildungspatente basierte (Engelhardt 1986: 212).

Diese nicht i. e. S. bildungsbürgerlich fundierte Berufstätigkeit kompensierte der spätere Literaturnobelpreisträger jedoch durch eine ins Legendenhafte stilisierte Regelmäßigkeit und Gewissenhaftigkeit (Reichwein 2023; Lindner 2021) als bürgerlicher Umdeutung des Künstlertums (Ermitsch 2015: 88). Diese übertrug „die ethischen Charakteristika der bürgerlichen Lebensform: Ordnung, Folge, Ruhe, ›Fleiß‹ – nicht im Sinne der Emsigkeit, sondern im Sinne der Handwerkstreue – auf die Kunstübung“ (Mann 1974c: 104). Neben strikten Arbeitsroutinen umfasste die Verbürgerlichung des Schriftstellerberufs auch ein korrektes äußeres Erscheinungsbild (Kurzke 2015: 1) sowie die in Manns Tagebüchern minutiös abgelegte Rechenschaft zur täglichen Produktivität (Dittmann 2015: 117–118). Hinzu kamen im Zeitraum zwischen 1919 und 1955 mindestens neun Ehrendoktorwürden u. a. der Universitäten Princeton, Oxford und Cambridge (Blödorn/Marx 2015: 406–409) und zahlreiche Verdienstorden (Herwig 2004: 1), sodass der damals 32-jährige Jungautor bereits 1907 zufrieden feststellte: „Sähen die Wächter meiner Jugend mich in meiner Pracht, sie müßten [sic] irre werden an allem, woran sie geglaubt“ (Mann 1997: 167).

Öffentliche Anerkennung sowie sein persönliches Fleiß- und Arbeitsethos kompensierten also Thomas Manns unter bildungsbürgerlichem Aspekt defizitäre akademische Laufbahn. Alle übrigen Typisierungsmerkmale des deutschen Bildungsbürgertums nach Vondung trafen derweil auf ihn zu: Er entstammte einem homogenen, sich aus sich selbst rekrutierenden sozialen Milieu, in dem Wohlstand so selbstverständlich war, dass er gegenüber dem gesellschaftlichen Ansehen eine untergeordnete Rolle spielte. Ebenso war er durch „das Kulturchristentum der Senatorenfamilie“ (Frizen 1990: 308) „angestammt protestantisch“ (Detering 2015: 269), nahm als Angehöriger einer bürgerlichen Elite zu gesamtgesellschaftlichen Fragen öffentlich Stellung (Kurzke 2015: 2) und vermittelte seine Weltanschauung sowohl literarisch als auch essayistisch. Verstärkt wurde diese Verankerung im Bildungsbürgertum außerdem durch Manns Einheirat in die i. e. S. bildungsbürgerliche Familie der Pringsheims (Kurzke 2015: 3; Yamamuro 2018: 231): Nicht nur studierte die künftige Katia Mann zum Zeitpunkt der Eheanbahnung Mathematik; auch war ihr Vater Mathematikprofessor und Kunstsammler (Kurzke 2015: 3) sowie ihre Großmutter die Schriftstellerin und Frauenrechtlerin Hedwig Dohm (Roloff 2020: 115). Die prestigeträchtige Ehe mit dieser „Prinzessin von einer Frau, wenn man mir glauben will, deren Vater Universitätsprofessor ist und die ihrerseits das Abiturientenexamen gemacht hat, ohne deshalb auf mich herabzusehen“ (Mann 1997: 167) verfestigte dabei nicht nur Manns bildungsbürgerlichen Sozialstatus, sondern unterband zugleich zumindest dem Anschein halber seine schwerlich mit zeitgenössischen Vorstellungen eines bürgerlichen Privatlebens zu vereinbarenden gleichgeschlechtlichen Neigungen (Kurzke 2015: 1).

Doch trotz dieses gediegenen bildungsbürgerlichen Lebensrahmens war es gerade das teilweise akademische Scheitern, das den Nobelpreisträger zur schriftstellerischen Reflexion des tradierten Bildungsideals im Sinne der Bildungskritik der Jugendbewegung befähigte (Yamamuro 2018: 233). Letztere prägte Manns literarisches und essayistisches Schrifttum auch über die als komprimierter „Bildungsroman eines Schriftstellers in der Epoche des Wilhelminismus“ charakterisierte (Vaget 2005: 565) Erzählung Tonio Kröger hinaus: Tonio reiht sich ein in eine ganze Litanei solcher das Frühwerk kennzeichnender Einzelgänger und Schulversager, zu denen insbesondere auch der früh verstorbene Hanno Buddenbrook gehört (Elsaghe 2018: 19). Dessen Besuch des wilhelminischen Gymnasiums wird ebenfalls bildungskritisch dargestellt (Mix 1995: 28): Habe dort „ehemals die klassische Bildung als ein heiterer Selbstzweck gegolten“, den man geradezu kyōyōshugi-typisch „mit Ruhe, Muße und fröhlichem Idealismus verfolgte, […] waren nun die Begriffe Autorität, Pflicht, Macht, Dienst, Carrière [sic] zu höchster Würde gelangt“ (Mann 1974a: 722). Beklagt wird so eine Schwerpunktverlagerung des enthumanisierten und „verpreußten“ neudeutschen Gymnasiums (Mann 1974e: 239) hin zu einer Verwertbarkeit, die hier militärisch und karrieristisch, im kyōyōshugi-Umfeld dagegen v. a. karrieristisch geprägt war. Dem entgegengesetzt wird in beiden Fällen ein idealisierter, Persönlichkeitsbildung gegenüber lebensweltlichen Erfordernissen priorisierender Bildungsbegriff (Mix 1995: 187).

Diese mit bestimmten kyōyōshugi-Aspekten korrespondierende Bildungskritik blieb nicht auf das Frühwerk beschränkt, sodass auch der 1924 erschienene Roman Der Zauberberg Mann zufolge „auf wunderliche, ironische und fast parodistische Weise den alten deutschen Wilhelm Meisterlichen Bildungsroman, dieses Produkt unserer großen bürgerlichen Epoche, zu erneuern unternimmt“ (Mann 1974d: 393). Das ironisch-parodistische Element besteht bspw. darin, dass „Krankheit, Tod, groteske Figuren“ als wesentliche Bildungsfaktoren schlussendlich ins Nichts, in die mutmaßliche Verheizung auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs führen (Reed 1990: 115). Demzufolge waren sowohl Thomas Manns Werdegang als auch seine literarische Produktion durch den Bruch zwischen einem noch bürgerlich geprägten Bildungsidealismus und einer aus dem Bildungsbürgertum selbst hervorgegangenen Kritik insbesondere am wilhelminischen Schulsystem geprägt (Nipperdey 2013: 383). Dass eine solche paradoxe Synthese durch die zeitgleiche Rezeption unterschiedlicher Ideologieversatzstücke auch das kyōyōshugi-Bildungsverständnis charakterisierte, bedingte eine besonders ausgeprägte Passung zum Erzählwerk Thomas Manns, auf die auch der in diesem Umfeld um den Nobelpreisträger betriebene Personenkult (s. Abschnitt 3.3.4) teilweise zurückzuführen sein dürfte.

3.1.7 Tonio Kröger und kyōyōshugi: Kontext und Rezeptionspotenziale

Insbesondere Manns frühe Erzählung Tonio Kröger übte auf das kyōyōshugi-affine japanische Publikum eine besondere Faszination aus, die als kollektives „Tonio Kröger-Erlebnis“ zu Oberschulzeiten beschrieben wurde (Fukai 1975: 79; Yamamuro 2018: 225–226). Neben den unmittelbaren Bezügen, die sich auch im Japan der Vorkriegszeit zwischen Tonios Jugenderlebnissen und der eigenen oberschulischen Lebenswirklichkeit herstellen ließen (Watanabe 2012: 23–24), galt diese Faszination insbesondere den im weiteren Verlauf dieses Abschnittes ausführlicher thematisierten bildungskritischen Elementen der Erzählung. Hierfür spricht bspw. die Tatsache, dass auch Hermann Hesses ebenfalls als Schlüsselwerk des kyōyōshugi geltende Erzählung Unterm Rad die Geschichte eines Verlierers im Bildungssystem ist (Takada 2006: 20–21, 26). Im Unterschied zur erst 1938 ins Japanische übersetzten Erzählung Unterm Rad erschien die erste japanischsprachige Tonio Kröger-Übersetzung allerdings bereits 1927, also 11 Jahre früher (Takada 2006: 21; Potempa 1997: 1121), was dem an den japanischen Oberschulen der 1930er-Jahre grassierenden Thomas Mann-Kult (Maeda 2010: 278) Vorschub leistete. Dabei wurde die Tonio Kröger-Lektüre im kyōyōshugi-Umfeld insbesondere auch dadurch begünstigt, dass die in der Erzählung enthaltenen Zitatformeln und Aphorismen als Verdichtung eines westlichen Bildungsideals wahrgenommen wurden (Yamamuro 2018: 228). Als rezeptionsförderlich dürfte sich ferner Manns spätere Aussage, die Erzählung stehe „vielleicht von allem, was ich schrieb, meinem Herzen am nächsten“ (Mann 1997: 116), ausgewirkt haben, sodass sich japanische Oberschüler von diesem eher kurzen Werk einen aussagekräftigen Einblick in das Schreiben des Literaturnobelpreisträgers erhoffen konnten.

Dass die 1903 erstveröffentlichte (Reed 2004: 131) Erzählung Tonio Kröger konzeptionell durch die Bildungskritik der Jugendbewegung beeinflusst ist, liegt indessen nicht nur unter chronologischen Gesichtspunkten nahe, sodass entsprechende Implikationen im Folgenden anhand der ersten beiden Kapitel der Erzählung nachvollzogen werden. Dort kontrastiert die Erzählung nicht etwa künstlerische Bildung mit bürgerlicher Unbildung, sondern unterschiedliche Bildungsideale mit jeweils unterschiedlichen gesellschaftlichen Implikationen. Auch die häufig diskutierte Binäropposition von Kunst und Leben (Vaget 1984: 115) ist in diesem Zusammenhang insofern produktiv, als sich der in Tonio Kröger etablierte Lebensbegriff als anschlussfähig zur von der Jugendbewegung geforderten „Rückwendung »kranker« Zivilisiertheit zu »gesunder« Natur und natürlicher Lebensführung“ (Hillmann 2007: 407), erweist.

In Anlehnung an Manns eigene Jugenderlebnisse skizziert die Erzählung Tonio Kröger dabei den im Deutschland der Jahrhundertwende angesiedelten Lebensweg des titelgebenden Protagonisten von der Kindheit bis ins mittlere Lebensalter. Bereits der junge Tonio wird aufgrund seiner literarischen Ambitionen den mit dem wilhelminischen Schulsystem und seiner privilegierten sozialen Stellung einhergehenden Erwartungen nicht gerecht. Infolgedessen fühlt sich auch der erwachsene Tonio sowohl der bürgerlichen Gesellschaftsordnung als auch der künstlerischen Bohème des fin de siècle entfremdet. Der daraus resultierende Identitätskonflikt manifestiert sich insofern als ein die Narration strukturierendes Sehnsuchtsprinzip (Reed 2004: 140), als die „verstohlene und zehrende Sehnsucht“ (GKFA 278) des kunstaffinen Tonio zunächst dem 14-jährigen Klassenkameraden Hans Hansen sowie später der 16-jährigen Ingeborg Holm gilt, in denen er eine Idealverkörperung der „Wonnen der Gewöhnlichkeit“ (ebd.), also einer gesellschaftskonformen und gesunden Lebensführung sieht. Diese Darstellung Tonios als missverstandenem literarischem Genie fiel im sich nach westlichen Vorbildern modernisierenden Japan des frühen 20. Jahrhunderts auf fruchtbaren Boden, sodass junge kyōyōshugi-Intellektuelle in Tonio eine Projektionsfläche für eigene Identitätsentwürfe sahen.

Im ersten, expositorischen Kapitel der Erzählung werden vor diesem Hintergrund die jeweiligen Kunst- bzw. Bildungsideale des 14-jährigen Tonio Kröger und seines Schulkameraden Hans Hansen bezüglich ihrer Verwertbarkeit im wilhelminischen Bildungsbetrieb kontrastiert, wobei sich Hans durch schulisches Leistungswissen, Tonio dagegen durch privat-verinnerlichendes Bildungswissen auszeichnet. Obwohl beide keine Söhne des Bildungsbürgertums i. e. S. sind, wird bspw. anhand der „guten und warmen“ Kleidung (GKFA 244) dennoch ein privilegierter Sozialstatus nahegelegt (Yamamuro 2018: 233). Hans ist im schulischen Kontext „Primus“ (GKFA 248); sein aus dem Gespräch mit Tonio und dem zeitweilig dazustoßenden Erwin Jimmerthal hervorgehendes Bildungsverständnis beschränkt sich neben dem nicht näher bestimmten Schulstoff allerdings auf Pferdebücher und den quasi-militärischen Drill der Reitstunde (Yamamuro 2018: 233–234). Das im zeitgenössischen Bildungssystem Anerkannte stellt sich folglich in der narrativ vermittelten Wahrnehmung Tonios eher eindimensional dar. Die Schule wird bereits in den ersten Textzeilen der Erzählung dahingehend problematisiert, dass die der wilhelminischen Bildungsanstalt entströmenden „Scharen der Befreiten“ (GKFA 243) implizit unfrei sind. Entsprechend unfreiwillig werden Tonio die schulischen Bildungsinhalte in „gothischen[sic] Klassengewölben“, die ein rigides Bildungsverständnis architektonisch versinnbildlichen, „aufgenötigt“ (GKFA 246). Folglich vertut Tonio im Unterschied zum schulischen Überflieger Hans „daheim seine Zeit“, ist „beim Unterricht langsamen und abgewandten Geistes“, steht „bei den Lehrern schlecht angeschrieben“ und bringt „beständig die erbärmlichsten Zensuren nach Hause“ (GKFA 247). Dass sich insbesondere der Vater daraufhin „sehr erzürnt und bekümmert“ zeigt (ebd.), nimmt dabei die auch im späteren Verlauf der Erzählung präsente „Allgegenwärtigkeit von Vaterfiguren“ im wilhelminischen Obrigkeitsstaat vorweg (Mix 1995: 234). Tonios eigene dichterische Produktion sowie seine Lektüre des Schillerdramas Don Carlos werden im schulischen Bildungsbetrieb derweil nicht anerkannt. Insbesondere Letztere hält sich nicht an den schulischen Interpretationskonsens (Yamamuro 2018: 234–235), da Tonios Mitgefühl weniger den eigentlichen Helden des Dramas als dem sich diesen in den Weg stellenden „schrecklich starren und strengen König“ Philipp II. gilt (GKFA 250). Dass Tonio so „Schillers Hoffnung, das Drama solle durch die Figur des einsamen Königs schmelzen“ (Beyer 1993: 351) erfüllt, legitimiert seine außerschulisch-private, d. h. literarische, künstlerische und innerliche Bildung, während sich diejenige seines Schulkameraden Hans im außerschulischen Rahmen auf körperliche Aktivitäten beschränkt (Yamamuro 2018: 234). Bereits im Auftaktkapitel der Erzählung wird so der lyrisch-individuellen, gesellschaftlich verkannten Bildung Tonios das durch Hans exemplifizierte Leistungs- und Ertüchtigungswissen gegenübergestellt. Während sich Tonios kindliches Bildungsideal dementsprechend als anschlussfähig an kyōyōshugi erweist, ist Hans‘ Begeisterung für die „Augenblicksfotografien“ in seinen Pferdebüchern, mithilfe derer man „die Gäule im Trab und im Galopp und im Sprunge, in allen Stellungen, die man in Wirklichkeit gar nicht zu sehen bekommt“ bestaunen kann (GKFA 250), eher mit Japans Meiji-zeitlichen Zivilisations- und Fortschrittsideal assoziiert. Ambivalent ist der so angelegte Kontrast zwischen Tonio Krögers Bildungs- und Hans Hansens Leistungswissen insofern, als sich Tonio zwar überlegen fühlt (GKFA 249), Hans aber als Verkörperung all dessen, was er selbst nicht ist, trotzdem liebt (GKFA 245).

Diese ambivalente Kontrastierung wird im zweiten Kapitel der Erzählung durch Tonios Schilderung des Tanzunterrichts weiterentwickelt, wobei dem privaten Bildungswissen ein der bürgerlichen Oberschicht vorbehaltenes, zur sozialen Initiation und Distinktion genutztes Herrschaftswissen gegenübergestellt wird: Die Anstands- und Tanzunterweisungen fungieren in noch höherem Maße als die im ersten Kapitel thematisierte Reitstunde als bürgerlicher Initiationsritus (Dittmann 2015: 127), der den seines künstlerischen Ausdruckspotenzials enthobenen Tanz als sozialen Code des gehobenen Bildungsbürgertums normiert (Yamamuro 2018: 235). Während Ingeborg Holm, der nunmehr die zarten Gefühle des 16-jährigen Tonio gelten, diesen Code souverän beherrscht, tanzen sowohl Tonio als auch die ihm zumindest durch ihre künstlerische Veranlagung nahestehende Magdalena Vermehren sprichwörtlich aus der Reihe: Sie fällt „oft hin beim Tanzen“; er ist so auf Inge fokussiert, dass er als „Fräulein Kröger“ versehentlich in die den jungen Frauen vorbehaltene Tanzformation hineingerät (GKFA 258–259). Dies entspricht der in der zeitgenössischen Literatur verbreiteten Auffassung des Tanzes als einem Schauplatz der „Konflikte zwischen individuellen psychischen Bewegungen und sozialen Zwängen“ bzw. der Suche nach potenziellen Ehepartnern, sodass Tonios Fehltritt gesellschaftliches und sexuelles Scheitern impliziert (Dittmann 2015: 129–130).

Doch obwohl der soziale Code des Tanzes als erstrebenswert dargestellt wird, tritt mit dem Tanzlehrer François Knaak erneut ein bildungskritisches Element in Erscheinung. Knaak stellt seine Befähigung zu Anstand und Tanz derart übersteigert zur Schau, dass der eigentlich zwecks sozialer Distinktion normierte Tanz zur dilettantisch missverstandenen Kunstform karikiert wird: So schnellt Knaak bspw. „plötzlich und ohne zwingenden Grund vom Boden empor, indem er seine Beine mit verwirrender Schnelligkeit in der Luft umeinander wirbelte, gleichsam mit denselben trillerte, worauf er mit einem gedämpften, aber alles in seinen Festen erschütternden Plumps zu dieser Erde zurückkehrte“ (GKFA 257). Diese gescheiterte Vermischung der Sphären von Kunst und Bürgerlichkeit macht Knaak in Tonios Wahrnehmung zum Dilettanten bzw. zum „unbegreiflichen Affen“ (Yamamuro 2018: 235). Bezeichnend ist dies insofern, als Knaak als komisch-ironische „Parallel- und Gegenfigur“ Tonios angelegt ist (Ohl 1989: 104): Ähnlich wie auch der „antithetische Name“ Tonio Krögers (Pieciul 2000: 217), „dieser aus Süd und Nord zusammengesetzte Klang, dieser exotisch angehauchte Bürgersname“ (GKFA 265) indiziert auch derjenige von François Knaak eine problematische Vermischung: Ebenso, wie Tonio implizit als Künstler charakterisiert ist, der sich wenigstens zeitweilig an einer bürgerlichen Lebensführung versucht, dilettiert der bürgerliche Knaak durch seine künstlerischen Tanzeskapaden, doch dieser Parallelen ist sich der jugendliche Tonio nicht bewusst.

Nachdem Tonios Bildungsideal so vom bürgerlichen Herrschaftswissen der Tanz- und Anstandsregeln abgegrenzt worden ist, wird die bereits im ersten Kapitel etablierte poetische Innerlichkeit durch die doppelte literarische Referenz auf Theodor Storms Gedicht Hyazinthen sowie den Roman Immensee (GKFA 259–260) aktualisiert (Yamamuro 2018: 236; Dittmann 2015: 130). Im ersten Kapitel waren die literarischen Bezugnahmen auf Schiller allerdings noch Gegenstand eines Gesprächs mit Hans Hansen (GKFA 249–251), wogegen Tonio zu Inge Holm keinerlei Kontakt initiiert (Yamamuro 2018: 236). Seine Auseinandersetzung mit Storm erfolgt dementsprechend nicht nur außerschulisch, sondern so innerlich-privat, dass kein bereicherndes Gespräch hierzu mehr möglich ist (GKFA 258); anders als das bürgerliche Tanz- und Anstandsritual ist Tonios Bildungswissen also gesellschaftlich dysfunktional.

Demzufolge wird Tonio Krögers Bildungsideal bereits in den ersten beiden Kapiteln der Erzählung mit Hans Hansens schulisch institutionalisiertem Leistungswissen und Ingeborg Holms sozial-distinguierendem Herrschaftswissen kontrastiert. Vor diesem Hintergrund wird im Verlauf der Erzählung – analog zu Tonios Verlust der kindlichen Unschuld – ein weiteres, Bohème-affines Bildungs- bzw. Kunstideal eingeführt und anschließend destabilisiert, was in einem neu definierten Bildungsideal resultiert. Dabei zeichnet sich die v. a. in den beiden vorgestellten Kindheitskapiteln dargestellte literarisch-verinnerlichende Bildung Tonios gerade durch das aus, was sie nicht ist, nämlich akademisch anerkannt oder sozial distinktiv, und entspricht damit einem Ideal, durch das sich auch kyōyōshugi zumindest dem eigenen ambivalenten Selbstverständnis nach auszeichnet.

3.2 Japanische Übersetzungskultur im Kontext von kyōyōshugi

3.2.1 Kerncharakteristiken

Die vorherigen Ausführungen illustrieren, dass das kyōyōshugi-Bildungsideal im Kontext der japanischen Fachgermanistik die Thomas Mann-Rezeption beträchtlich geprägt hat. Eine zentrale Rolle spielten hierbei Übersetzungen, die überwiegend von Angehörigen des universitären oder oberschulischen Forschungs- und Lehrbetriebs angefertigt wurden. So entstand eine spezifische Ausprägung japanischer Übersetzungskultur, welche im Folgenden mit besonderem Augenmerk auf den Zusammenhang zwischen kyōyōshugi und dem Übersetzungsdenken historisch nachvollzogen wird.

Seit dem japanischen Altertum wirkten Übersetzungstexte v. a. in den Bereichen der Rechtsprechung, der Wissenschaft und der Kunst als Innovationsträger, wobei Übersetzende als Vermittlungsinstanzen einer als überlegen wahrgenommenen Fremdkultur galten (Yanabu 2010: 32). Einen Sonderstatus auch der literarischen Übersetzung impliziert vor diesem Hintergrund der Begriff einer „Dritten Literatur“ (daisan no bungaku), der Übersetzungsliteratur als ein „drittes“ Genre neben Massen- bzw. Trivialliteratur (taishūbungaku, 大衆文学) und Höhenkammliteratur (junbungaku, 純文学) verortet (Hijiya-Kirschnereit 2008: 27–29). Dies indiziert eine grundsätzliche sprachliche Verschiedenheit zum Standardjapanischen, die sich auch im linguistischen Sonderstatus eines sogenannten „Übersetzungsjapanisch“ (hon’yaku no nihongo) ausdrückt (Kawamura 1981: 14–15). Eine solche spezifische Übersetzungsstilistik ist Wienold zufolge durch die im internationalen Vergleich besonders ausgeprägte Bereitschaft japanischer Übersetzender zum wörtlichen, die zielsprachlichen Normen verfremdenden Übersetzen bedingt (Wienold 2004: 420). Zurückzuführen sei dies nach Kondo und Wakabayashi auf den Gedanken einer Bereicherung und Weiterentwicklung der japanischen Zielsprache durch ausgangssprachliche Elemente (Kondo/Wakabayashi 2011: 475). Als mögliche Ursache für diese Bereitschaft zum formal äquivalenten, verfremdenden Übersetzen kommen die im Folgenden thematisierten kulturellen Hegemonialverhältnisse zu China sowie zum westlichen Ausland in Betracht.

3.2.2 Japanisches Übersetzen im Schatten Chinas

Den Ursprung der japanischen Übersetzung bildete der Kulturkontakt zu China. Beginnend mit der Einführung des chinesischen Schriftsystems war ab 607 auch kanbun-kundoku als traditionelle Annotationsmethode belegt, mithilfe derer chinesischsprachige Texte durch eine veränderte Wortfolge und japanisierende Lesung der Zeichen auch für japanische Leser*innen nachvollziehbar wurden (Yanabu 2010: 2). In der Folge entstand ein spezifisches, auf chinesischen Kanji basierendes Stilregister der japanischen Schriftsprache (kanbun-kundoku-tai) als eine bereits im Sinne der „Dritten Literatur“ (daisan no bungaku) vom sonstigen Sprachgebrauch abgegrenzte Übersetzungsstilistik (ebd.: 3). Obwohl diese eher unnatürlich und mitunter schwer verständlich war, wurde sie gerade aufgrund ihrer hieraus abgeleiteten Nähe zum Ausgangstext geschätzt (Keene 1987: 56). Dementsprechend ist die Bereitschaft, japanische Lesegewohnheiten an die Ausgangssprache der Übersetzung anzupassen und dabei auch die Grenzen der zielsprachlichen Akzeptabilität auszureizen, wie eingangs erwähnt bis in die Gegenwart ausgeprägt geblieben (Wienold 2004: 420; Kondo/Wakabayashi 2011: 469). Sie entspricht dem übersetzungswissenschaftlichen Konzept der formalen Äquivalenz (Koller 2011: 194) im Sinne einer wörtlichen Reproduktion der Ausgangstextstruktur. Hervorgegangen sind diese Übersetzungspräferenzen auch insofern aus einem kulturellen Kräfteungleichgewicht, als auf japanischer Seite Kenntnisse der chinesischen Sprache und Literatur vom Altertum bis ins 20. Jahrhundert als unverzichtbare Voraussetzung für literarische Karrieren galten, japanische Einflüsse in China hingegen erst im ausgehenden 19. Jahrhundert relevant wurden (Keene 1987: 57).

Auch moderne japanische Übersetzungen aus westlichen Sprachen setzten diese Tradition eines formal äquivalenten, die japanischen Sprachnormen verfremdenden Übersetzens fort. Bereits während der Edo-Zeit galten Chinesischkenntnisse als Voraussetzung für das Erlernen westlicher Fremdsprachen (Nakamura 1982: 211), sodass man ab dem 17. Jahrhundert die Annotationsmethode kanbun-kundoku auf die japanische Lektüre und Übersetzung niederländischer Texte übertrug (Yanabu 2010: 5). Infolgedessen wurde z. B. im 1788 publizierten Lehrbuch Rangaku Kaitei (Stufenleiter zum Holländischen) ein zweistufiger Übersetzungsprozess vorgestellt, bei dem niederländischer Text in einer ersten Übersetzungsstufe Wort für Wort in chinesische Kanji übertragen und das daraus resultierende, noch nach niederländischen Syntaxregeln organisierte chinesische Schriftbild in einer zweiten Übersetzungsstufe zur japanischen Wortfolge umgestellt wurde (ebd.: 6, 11). Durch diese auf kanbun-kundoku basierende japanische Übersetzungsmethode ist auch die Neologismenbildung durch Kanji-Komposita (nihonsei kanji niji zōgo, 日本製漢字二字造語) geprägt: Sofern keine wörtliche Übersetzung bisher unbekannter abstrakter Begrifflichkeiten aus westlichen Sprachen möglich war – dies betraf bspw. Konzepte wie „Bildung“ oder „Kultur“ –, wurden diese durch Kombination zweier Kanji-Logogramme repräsentiert, wobei die individuelle Semantik der Kompositabestandteile gänzlich in derjenigen des Kompositums aufging (ebd.: 12). Kanji bzw. Kanji-Komposita bildeten also die Grundlage sowohl der traditionellen japanischen Quasi-Übersetzung aus dem Chinesischen als auch der modernen Übersetzung aus westlichen Sprachen.

Dabei konnte sich die Tradition des kanbun-kundoku auch deswegen derart nachhaltig etablieren, weil das entsprechende, chinesisch beeinflusste Stilregister (im Unterschied zur weiblich konnotierten, auf der japanischen kana-Silbenschrift basierenden Schriftsprache wabun) die Sprache einer männlichen Elite als hauptsächlichem Träger der kulturellen, akademischen und politischen Innovation aus dem Ausland war (ebd.: 4, 31). Dass das Übersetzen damit traditionell als männliche, gelehrte Praxis galt, die sich dennoch einem als kulturell überlegen wahrgenommenen Ausland tendenziell unterordnete, wirkte sich auf die moderne japanische Übersetzung aus westlichen Sprachen und damit auch auf die Tonio Kröger-Übersetzung aus.

3.2.3 Japanisches Übersetzen im Schatten des Westens

Infolge der erzwungenen Landesöffnung Japans und der drohenden Kolonialisierung durch eine westliche Übermacht war das 1868 per Regierungsdekret festgeschriebene Zivilisationsideal der Meiji-Zeit zweifelsohne defensiv motiviert (Keene 1987: 1; Martin/Wetzler 1990: 77; Kamei 1994: 9). Die kulturelle Ebenbürtigkeit mit dem Westen und v. a. das Übersetzen aus westlichen Sprachen wurden so zum „nationalen Projekt“ (kokkateki jigyō), für das eine nach westlichem Vorbild ausgebildete Elite verantwortlich war (Inoue 2012a: 3; Yanabu 2010: 8).

Ein systematisches Übersetzen literarischer Texte aus westlichen Sprachen ins Japanische setzte Ende der 1870er-Jahre ein (Kamei 1994: 30; Keene 1987: 62), war aber v. a. durch politische und erzieherische Interessen geleitet (Kondo/Wakabayashi 2011: 471; Keene 1987: 64). Die Wende von der auf ihren Informationsgehalt reduzierten Übersetzungsliteratur zum literarischen Übersetzen brachten Berufsschriftsteller wie Futabatei Shimei (二葉亭四迷, 1864–1909) und Mori Ōgai (森鷗外, 1862–1922), in deren Kompetenzbereich sich das Übersetzen kurz nach der Jahrhundertwende verlagerte (Murata 1991: 166; Murata 1982: 240; Kamei 1994: 30). Dagegen gab es in Japan bis zur Nachkriegszeit kaum Berufsübersetzer*innen; moderne Übersetzungen wurden stattdessen von Schriftstellern, Wissenschaftlern und Journalisten angefertigt (Inoue 2012b: 113).

Während Mori Ōgai als ein solcher Schriftsteller-Übersetzer in seinen Übersetzungen das zielsprachliche Ausdrucksvermögen, also funktionale Äquivalenz priorisierte (Kondo/Wakabayashi 2011: 475), übersetzte Futabatei Shimei formal äquivalent, sodass z. B. seine Turgenjew-Übersetzung dem russischsprachigen Ausgangstext in Hinblick auf die Anzahl der Worte, ihre syntaktische Abfolge und sogar die Anzahl der Interpunktionszeichen entsprach (Inoue 2012b: 99; Kamei 1994: 30–31; Kondo/Wakabayashi 2011: 472). Gerade diese gewöhnungsbedürftige Verfremdung der japanischen Sprachstilistik, die Futabatei durch seine Turgenjew-Übersetzung leistete, trug zur Entstehung des modernen japanischen Romans bei (Nakamura 1982: 209). Formale und funktionale Äquivalenz durchdrangen sich im Zuge dessen insofern gegenseitig, als das anfänglich formal äquivalent bzw. verfremdend Übersetzte die zielsprachliche Norm nicht selten so nachhaltig veränderte, dass es letztlich auch funktionalen Äquivalenzansprüchen genügte. Diese Prozesse sind historisch im Kontext der Meiji- und Taishō-zeitlichen Bewegung zur Vereinheitlichung von japanischer Umgangs- und Schriftsprache (genbun-itchi undō, 言文一致運動) verortet (Inoue 2012a: 4): Die Übersetzung westlicher literarischer Texte ging mit der innerjapanischen Eingliederung umgangssprachlicher Ausdrucksformen in den bis dahin rigiden schriftsprachlichen Stil, also mit einer Phase grundlegenden Sprachwandels einher (Kamei 1994: 33).

Dementsprechend ist die japanische Gegenwartssprache nicht nur auf der Ebene des Vokabulars, sondern ebenso auf derjenigen der Grammatik und Syntax durch die formal äquivalente Strukturfokusübersetzung aus westlichen Sprachen geprägt. Infolgedessen gehen die Personalpronomina kare und kanojo (Yanabu 2010: 25; Keene 1987: 68), eine neutrale, sich vom japanischen „Leidenspassiv“ unterscheidende Passivverwendung, die Prädikativbildung mit dem Kopulaverb de aru (Wienold 2004: 420), die Konventionalisierung der ru-Form als Verbalpräsens und der ta-Form als Verbalpräteritum sowie die überwiegend subjektbasierte, durch die Themenpartikel wa eingeleitete Syntax (Yanabu 2010: 22–24, 28–29) allesamt auf übersetzungsbedingte Beeinflussung durch westliche Sprachen zurück.

Die Bereitschaft, eigene Sprachnormen an diejenigen des Westens anzupassen, lässt sich hierbei mit derselben heteronomen japanischen Selbstverortung gegenüber dem westlichen Ausland in Verbindung bringen, die auch das kyōyōshugi-Bildungsideal charakterisierte. Das kulturelle Heteronomieverhältnis zum Westen wurde so durch eine formal äquivalente, die japanische Zielsprache verfremdende Übersetzungsstilistik weiter verfestigt (Venuti 2008: 15). Die Frage, ob Übersetzungen bestehende zielsprachliche Normen des Japanischen aktiv verändern oder doch wahren sollten, wurde infolgedessen zum Kernproblem, an dem sich unterschiedliche japanische Übersetzungsauffassungen bis heute scheiden (Kondo/Wakabayashi 2011: 475). Von einem entsprechenden Problembewusstsein zeugt bspw. auch der Essay Gedanken zur Populärsprache (Ryūkōgo-kō) des im weiteren Argumentationsverlauf ausführlich thematisierten Tonio Kröger-Übersetzers Takahashi Yoshitaka. Dieser brachte die exzessive Übernahme ausländischer Begrifflichkeiten explizit mit einer Kolonialisierung durch den Westen in Verbindung: Moshi Nihon ga gaikoku no shokuminchi naishi zokkoku naraba, sono gaikoku no kokugo o yatara ni kakitateru ni mo shikata arumai (Takahashi 2010: 152–153).

Vor diesem Hintergrund entwickelten sich bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts zwei diametrale Auffassungen zum Wesen der literarischen Übersetzung, die insbesondere der im Jahr 1944 publizierte Schriftwechsel Rakuchū Shomon (洛中書門, Kyōto-er Briefe, Übers. nach Ueda 2001: 141) zwischen dem Germanisten Ōyama Teiichi (大山定一) und dem Sinologen Yoshikawa Kōjirō (吉川幸次郎) repräsentiert (Kawamura 1981: 48–49). Darin forderte der Germanist Ōyama eine literarische Übersetzung, die als „Bluthochzeit“ zwischen Originalautor und Übersetzer (hon’yaku wa sakka to yakusha no chi to chi no „kekkon“) eine „innere Existenz“ (naiteki seimei) des Ausgangstextes erfassen (ebd.: 56) und das, was eigentlich geschrieben werden müsse, aber gegenwärtig (noch) nicht geschrieben werden könne, in die japanische Literaturlandschaft einbringen sollte (Inoue 2012b: 89, 100). Im Unterschied zu diesem zielsprachlich-ästhetisch ausgerichteten, funktional äquivalenten Übersetzungsschwerpunkt betrachtete der Sinologe Yoshikawa Kōjirō Übersetzungstexte als reines Hilfsmittel (hōben) der Literaturforschung, sodass diese Hilfsübersetzungen so wörtlich wie möglich verfasst sein sollten (Kawamura 1981: 52, 65; Inoue 2012b: 97). Obwohl diese Auffassung der Übersetzung als Hilfsmittel (hon’yaku hōbenron, 翻訳方便論) dem traditionellen Anspruch formaler Äquivalenz entsprach, war sie insofern neuartig, als Yoshikawa die de facto längst praktizierte Verbindung von Literaturwissenschaft und Übersetzung erstmalig explizit herstellte (Ueda 2001: 143).

3.2.4 Japanisches Übersetzen im Schatten von kyōyōshugi

Dass die moderne japanische Übersetzung insbesondere aus dem Deutschen mehrheitlich im von Yoshikawa Kōjirō beschriebenen Sinne wissenschaftlich geprägt ist, ist auf das elitäre kyōyōshugi-Bildungsideal und den in diesem Kontext praktizierten Fremdsprachenunterricht zurückzuführen. Da dieser in der Vorkriegszeit in erster Linie von japanischen Muttersprachlern gehalten wurde, basierte er auf der in Abschnitt 3.1.2 bereits vorgestellten Grammatik-Übersetzungs-Methode, d. h. auf einem nach wie vor an der kanbun-kundoku-Annotation orientierten, im Frontalunterricht vorgetragenen Lesen und Übersetzen (yakudoku) (Yanabu 2010: 10). Das Übersetzen literarischer Texte diente damit nicht nur der wissenschaftlichen Profilierung, sondern war zugleich fester Bestandteil der Sprachdidaktik, sodass aufgrund dieser Quasi-Institutionalisierung des literarischen Übersetzens bis ins ausgehende 20. Jahrhundert „die gesellschaftliche Stellung eines japanischen Germanisten nicht von seiner Tätigkeit als Übersetzer getrennt denkbar“ war (Ueda 2001: 129).

Im Zentrum der kyōyōshugi-Ideologie stand dabei eine Verehrung deutscher Meisterautoren zunächst des 19. Jahrhunderts (Maeda 2010: 115, 142, 155), die sich Anfang der 1930er-Jahre auf zeitgenössische Autoren wie Thomas Mann, Hermann Hesse, Rainer Maria Rilke, Hans Carossa und die Autoren des George-Kreises verlagerte (Takada 2006: 19). Hieraus resultierte der Wunsch nach einer Lektüre der Originaltexte, doch da die Deutschkenntnisse der Oberschüler dafür meist nicht ausreichten, behalf man sich – im Sinne von Yoshikawa Kōjirōs hon’yaku hōbenron – mit wissenschaftlichen Hilfsübersetzungen (Ueda 2001: 137). Diese orientierten sich folglich weniger an japanischen Lesegewohnheiten und mehr an den kritischen Blicken der akademischen Kollegen (ebd.: 138) sowie an der Erwartung einer bildungsorientierten Lektüre nach kyōyōshugi-Auffassung (Yoshida 1988: 5). Diese Erwartungshaltung war allein schon deshalb schwerlich mit einer Domestizierung des Ausgangstextes und mit funktionaler Äquivalenz zu vereinbaren, weil Letztere als nicht kyōyōshugi-gemäße Vereinfachung betrachtet wurde. In diesem Zusammenhang äußerte sich der Buddenbrooks-Übersetzer Kawamura Jirō dahingehend, dass es, um Kinderzähne zu stärken, keiner Flüssignahrung (ryūdōshoku), sondern „harter Kost“ bzw. „ganzer Früchte“ (katai marugoto no kajitsu) bedürfe (Kawamura 1981: 6). Eine die zielsprachlichen Normen des Japanischen ausreizende und dementsprechend potenziell irritierende Lektüre wurde damit auch jenseits wissenschaftlicher Präzisionsansprüche als Bildungsaufgabe wahrgenommen, an der die junge Elite langfristig wachsen sollte. Zugleich bedingte die westlichen Schriftstellerpersönlichkeiten wie Thomas Mann entgegengebrachte Verehrung, dass ein allzu freies, funktional äquivalentes Übersetzen als persönliche Anmaßung gegenüber diesen Lehrer-Meister-Instanzen wahrgenommen worden wäre.

Diese Verehrung westlicher Literaturgrößen übertrug sich ferner nicht nur im in Abschnitt 3.1.3 beschriebenen Falle Raphael von Koebers und Natsume Sōsekis auf akademische Mentoren. Auch die japanischen Tonio Kröger-Übersetzenden waren, wie insbesondere das vierte Kapitel zeigen wird, mehrheitlich in akademische Strukturen eingebunden und ihren dortigen Mentoren verpflichtet. Dies perpetuierte einen formal äquivalenten Übersetzungsschwerpunkt, den jüngere Retranslations aus diplomatischen Beweggründen von den älteren Übersetzungstexten der akademisch distinguierten Thomas Mann-Spezialisten übernahmen. Veranschaulichen lässt sich dies erneut anhand eines Essays des Tonio Kröger-Übersetzers Takahashi Yoshitaka, der den provokativen Titel Hon’yaku wa hitsuzen no aku? (Ist Übersetzen ein notwendiges Übel?) trägt: In Hinblick auf Retranslations neige er dazu, sich auf Gemeinsamkeiten zwischen den unterschiedlichen Übersetzungsvarianten, d. h. auf einen Übersetzungskonsens zu konzentrieren, da Übersetzungen ohnehin v. a. ein praktisches Mittel zum Zweck (hon’yaku wa dono michi bengi ni ideta isshudan) und auch Fehlübersetzungen in diesem Zusammenhang „unvermeidlich wie Zugluft“ (goyaku wa sukimakaze, daitai fusegiyō ga nai) seien (Takahashi 2010: 182). Im selben Essay führt Takahashi außerdem aus, dass die einer Übersetzung vom japanischen Publikum zugeschriebene Glaubwürdigkeit insbesondere vom z. B. auch durch Übersetzungspreise gesteigerten Renommee der Übersetzenden bzw. vom Attribut der meiyaku bzw. „Meisterübersetzung“ abhänge (ebd.: 179; auch Tokuoka 2002: 37), was einen Zusammenhang zwischen einem als verbindlich aufgefassten Übersetzungskonsens und akademischen Macht- und Einflussstrukturen nahelegt.

3.2.5 Paradigmenwechsel der Nachkriegszeit

Erst ab den 1950er-Jahren wurde diese akademische Quasi-Institutionalisierung insbesondere der japanisch-deutschen Übersetzung allmählich hinterfragt (Ueda 2001: 145). Die Kompetenzbereiche wurden hierbei nach Kriegsende insofern aufgeteilt, als auf Höhenkammliteratur (junbungaku) basierende Übersetzungstexte weiterhin im akademischen Kontext, Übersetzungen von Massenliteratur (taishūbungaku) dagegen zunehmend von Berufsübersetzer*innen angefertigt wurden (Inoue 2012b: 113). Dies wirkte sich, wie die weiteren Ausführungen zeigen werden, auch auf das wissenschaftlich-fachgermanistische Übersetzen aus.

Parallel begann das kyōyōshugi-Bildungsideal v. a. ab den 1960er-Jahren an Glanz einzubüßen, da die Verstrickung in eine NS-affirmative japanische Kulturpolitik vor 1945 zunehmend kritisch wahrgenommen wurde (Takada 2006: 19, 26–27; Araki 2005: 230, 243) und das einstige Elitennarrativ auch durch die Entstehung eines Massen-kyōyōshugi (taishū-kyōyōshugi) erodierte (Takeuchi 2007: 202–204). Zunächst resultierte die Popularisierung des akademischen Bildungsideals jedoch in einer enorm gestiegenen Nachfrage nach Publikationsreihen zur Weltliteratur (sekai-bungaku-zenshū) und damit in weiteren Retranslations von kanonisierten Klassikern (Ueda 2001: 140), die auf dem tantiemenbasierten (inzei-sei) japanischen Übersetzungsmarkt zudem beträchtliche finanzielle Anreize für die Übersetzenden boten (Tokuoka 2002: 12). Auch konkurrierende Verlagshäuser erhoben jeweils Anspruch auf eigene, „neue“ (Morikawa 1966) Retranslations und machten damit ihrer Funktion als „Übersetzungsdrehscheibe“ alle Ehre (Frank 1988b: 203). Dieser Verlagspluralismus ging mit der Verwurzelung der literarischen Übersetzung im akademisch-universitären kyōyōshugi-Umfeld bzw. in dessen Qualifikationsmechanismen eine produktive Verbindung ein. Da der kommerzielle Erfolg der Übersetzungstexte trotzdem weiterhin vom (akademischen) Renommee der Verfasser abhing (Tokuoka 2002: 37), eröffnete sich so für die im kyōyōshugi-Umfeld etablierten Fachgermanisten ein lukratives Beschäftigungsfeld.

Die graduelle Schwerpunktverlagerung hin zum außerakademischen Publikum blieb unterdessen nicht gänzlich ohne Auswirkungen auf die Übersetzungstexte an sich, da ein formal äquivalentes Übersetzen von einer Allgemeinheit, die zugleich Zugang zu von Berufsübersetzer*innen verfassten Übersetzungen westlicher Massenliteratur hatte, in geringerem Maße toleriert wurde als von einem rein wissenschaftlichen Publikum. An die Stelle der wissenschaftlichen Hilfsübersetzungen, an denen man sich sprichwörtlich die Zähne ausbeißen sollte, trat damit wenigstens teilweise der an funktionaler Äquivalenz orientierte Aspekt der (zielsprachlichen) Wirkung bzw. kanmei (Kawamura 1981: 14). Dabei waren vor dem Hintergrund einer wissenschaftlich geprägten, in akademische Einflussstrukturen integrierten Übersetzungstradition bzw. -kultur jedoch nach wie vor keine kreativen Alleingänge gefragt, sondern ein dynamisches Vermitteln zwischen den formalen Äquivalenzansprüchen der akademischen Fachgemeinde und den funktionalen Äquivalenzansprüchen des mit mehr Kaufkraft assoziierten Massenpublikums (ebd.: 65).

3.3 Chronologie der japanischen Thomas Mann-Rezeption

3.3.1 Die internationale Thomas Mann-Rezeption und -Übersetzung

Obwohl die japanische Thomas Mann-Rezeption eine nicht zu bestreitende Spezifik aufweist (Oguro 2004: 143), auf die im weiteren Verlauf ausführlich eingegangen wird, ist sie zugleich durch den internationalen Rezeptionsverlauf beeinflusst, der deshalb im Folgenden skizziert wird. Ähnlich wie bei Goethe schwankte auch Thomas Manns Verhältnis zu seiner deutschen Heimat in der öffentlichen Wahrnehmung „zwischen nationalem Einheitsstifter und Bindeglied Deutschlands zur Welt“ (Keppler-Tasaki 2020: 16): Manns schriftstellerisches Wirken war nahezu von Beginn an durch ein Repräsentativitätsbedürfnis charakterisiert (Boes 2019: 20); zugleich haderte er allerdings mit der Rolle eines spezifisch deutschen (und nicht etwa europäisch-humanistischen) Dichterfürsten: „Er ringt mit dem, was deutsch an ihm ist, auf Leben und Tod; will das Deutsche in sich zugleich ein wenig am Leben erhalten und ein wenig zu Tode verletzen“ (Márai 2009: 68).

Seine Werke jedoch verstand er spätestens mit dem Eintritt ins US-amerikanische Exil (s. u.) als „sehr deutsche Produkte allesamt“, die in der Übersetzung „ein entwurzeltes und notwendig ungenaues Weltleben führen“ (Mann 1974d: 572). Die literarische Übersetzung war für Thomas Mann in erster Linie ein Kompromiss, sodass sich der Autor 1926 im Zusammenhang der Lowe-Porter-Übersetzung von Der Zauberberg „für eine so wörtliche und genaue Wiedergabe, als es die fremde Sprache nur irgend gestattet“ aussprach, also für eine Reproduktion des Ausgangstextes „mit den entsprechenden englischen Wörtern und Redensarten“ (Brief an Lowe-Porter vom 09.08.1926, zit. nach Kinkel 2001: 97). Dies impliziert einen formalen Äquivalenzgedanken, wogegen eine „allzu freie Übertragung“ oder „irgendwelche Übertragung und Umarbeitung“ ihm „nicht sympathisch“ gewesen sei (ebd.).

Vor 1920, als Mann die erste englischsprachige Übersetzung seines Romans Königliche Hoheit in einem Brief an den Schriftstellerkollegen Ernst Bertram enthusiastisch mit den Worten „Wahrhaftig, dies Sprachkleid sitzt wie angegossen“ lobte, deutete derweil noch nichts auf ein besonderes Interesse an internationaler Vermarktung hin (Boes 2015: 141). Ebenso wenig konnte damals von einer nationalen oder internationalen Thomas Mann-Forschung die Rede sein (Koopmann 2005: 943). Erst in Folge der deutschen Kriegsniederlage des Jahres 1918 begann Mann aktiv, den Grundstein für eine internationale, v. a. US-amerikanische Imagearbeit zu legen. Zwischen 1922 und 1928 verfasste er für die New Yorker Zeitschrift The Dial ein bis zwei Mal jährlich die sogenannten German Letters zum kulturellen Geschehen in Deutschland und profilierte sich so – ebenso wie durch häufige Vortragsreisen – frühzeitig als Kommentator des politischen Zeitgeschehens (Yamaguchi 2018: 144; Boes 2015: 142–143; Stach 1991: 86). Auch in die englischsprachigen Übersetzungen seiner Werke war Mann involviert, seit Helen Tracy Lowe-Porters 1925 erschienene Buddenbrooks-Übersetzung den Durchbruch beim englischsprachigen Publikum gebracht hatte (Kinkel 2001: 84). Infolgedessen war es v. a. der Wunsch von Manns amerikanischem Verleger Alfred A. Knopf, Lowe-Porter in den inoffiziellen Rang der Mannschen Hausübersetzerin zu erheben, mit der Mann via Briefkorrespondenz intensiv zusammenarbeitete (Kinkel 2001: 84–85, 97; Horton 2013: 24). Knopf selbst etablierte sich frühzeitig als Hausverlag Thomas Manns im englischen Sprachraum (Kinkel 2001: 89–90), der Manns Erzählprosa als Manifestation eines spezifischen Zivilisationsideals vermarktete (Boes 2014: 435). Hierdurch setzte sich Manns enge Bindung an einen spezifischen Verlag fort, die sich in Deutschland der S. Fischer-Verlag ebenfalls frühzeitig gesichert hatte, wie ein auf das Jahr 1897 datierter Brief Samuel Fischers an den damals gerade einmal 22-jährigen Thomas Mann illustriert: „Ich will für Ihre Production [sic] gerne wirken, natürlich unter der Voraussetzung, daß [sic] Sie mir alle Ihre Produkte zum Verlag übergeben“ (zit. nach Stach 1991: 40). Diese Beispiele veranschaulichen die enorme Bedeutung der „Übersetzungsdrehscheibe Verlag“ (Frank 1988b: 203) für die nationale und internationale Thomas Mann-Rezeption. Dass in Japan hingegen keine solche Exklusivbindung Manns an ein spezifisches Verlagshaus gegeben war, bedingte folglich den Tonio Kröger-Übersetzungspluralismus in entscheidendem Maße.

Ein Schlüsselereignis für die internationale Thomas Mann-Rezeption war die Verleihung des Literaturnobelpreises im Jahr 1929, die sich in erster Linie auf den fast drei Jahrzehnte zuvor publizierten Roman Buddenbrooks bezog (Mann 1997: 142). Ferner galt Der Zauberberg zu diesem Zeitpunkt neben Kafkas Das Schloss bereits als bedeutendster deutschsprachiger Roman und wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt (Stach 1991: 89). Darüber hinaus war Mann am 11. Juni 1934 als erster nicht englischsprachiger Autor überhaupt auf dem Cover des Time Magazine abgebildet (Boes 2014: 429, 443). Parallel zum internationalen Renommee konkretisierte sich jedoch auch Thomas Manns Gegnerschaft gegenüber dem Nationalsozialismus. Nachdem er sich 1936 ins Exil gezwungen sah und im Herbst 1938 in die USA emigrierte, entfaltete er eine so rege und weitreichende politische Publizistik wie kein anderer deutscher Exilschriftsteller (Kurzke 2013: 445). Die kulturpolitische Zensur Nazideutschlands unterband hierauf neben der Veröffentlichung von Manns Werken auch die sich an deutschen Universitäten entfaltenden Forschungsaktivitäten (Kurzke 1997: 301; Stunz 2011: 27).

Das Zentrum der literarischen Rezeption verlagerte sich folglich in Manns US-amerikanische Exilheimat, in der auch die eigentliche Thomas Mann-Forschung ihren Anfang nahm. Dementsprechend wurde die erste bedeutsame Thomas Mann-Monografie überhaupt, Herman J. Weigands Thomas Mann’s Novel ‚Der Zauberberg‘, 1933 in englischer Sprache in New York veröffentlicht (Koopmann 2005: 946). Die übersetzerische Zusammenarbeit mit Lowe-Porter intensivierte sich in der Folge weiter, sodass Thomas Mann Teile noch unvollendeter Werkmanuskripte bereits an Lowe-Porter weitergab, wodurch Ausgangstext und Übersetzung fast zeitgleich publiziert werden konnten (Kinkel 2001: 97). In diesem Zusammenhang nahm Mann Lowe-Porters teils beträchtlich vereinfachende englischsprachige Übersetzungen nicht nur in Kauf (Boes 2014: 439), sondern stellte seiner Hausübersetzerin sogar höchstpersönlich eine mit Blick auf den Verständnishorizont des US-amerikanischen Publikums gekürzte Fassung des Romans Doktor Faustus zur Verfügung (Kinkel 2001: 113). Bedingt waren diese Anpassungsanstrengungen insbesondere auch dadurch, dass sich Manns Werke zwischen 1933 und 1945 in seinem deutschen Herkunftsland kaum mehr verkaufen ließen (Boes 2014: 429), woraufhin die USA bzw. die „höhere[…] Öffentlichkeit Amerikas“ (Mann 1974d: 572) zum Hauptabsatzmarkt wurden (Kinkel 2001: 97). Im Zuge dessen ermöglichte es der Verlag Alfred A. Knopf dem Exilautoren, sein dortiges Image ähnlich dem eines Hollywood-Schauspielers professionell aufzubauen (Kinkel 2001: 101) und stellte bspw. sicher, dass potenziell irritierende Werke wie die einen deutschen Triumph im Ersten Weltkrieg prophezeienden Betrachtungen eines Unpolitischen zu Lebzeiten des Autors gar nicht erst ins Englische übersetzt wurden (Boes 2019: 20). Lowe-Porters Übersetzungen trugen insofern zu dieser Imagepflege bei, als sie die homoerotische Sinnebene insbesondere des Spätwerks in Orientierung an der zeitgenössischen Sexualmoral aktiv zensierten (Lubich 1994: 122). Erst ungefähr drei Jahrzehnte nach Lowe-Porters letzter Thomas Mann-Übersetzung, d. h. in den 1980er-Jahren, entstand eine Reihe von Neuübersetzungen ins Englische (Kinkel 2001: 86), die sich von Lowe-Porter distanzierten (Boes 2014: 430; Venuti 2013: 97–98, 107).

In Deutschland gelang der Anschluss an die internationale Thomas Mann-Forschung erst in den 1950er-Jahren, während sich in den USA bis zu Manns 1975 weltweit durch Gedenkveranstaltungen, Vorträge, Lesungen und wissenschaftliche Tagungen feierlich begangenem 100. Geburtstag (Fukai 1975: 71) vorläufig eine Übersetzungs- und Rezeptionspause einstellte (Kinkel 2001: 86–87). Dass die deutsche Thomas Mann-Forschung unmittelbar nach dem Tod des Schriftstellers im Jahr 1955 einen durch die Gründung des Züricher Thomas Mann-Archives im Jahr 1956 eingeleiteten Aufschwung erlebte, entspricht der „deutschen akademischen Tradition, lebende Autoren nicht wissenschaftlich zu behandeln“ (Koopmann 2005: 905). Während der 1960er-Jahre bemühten sich sowohl die BRD, die dem Schriftsteller Vorträge und Ausstellungen im internationalen Rahmen widmete, als auch die DDR, welche ihr in Rom ansässiges Kulturinstitut Centro Thomas Mann taufte, um eine kultur- und außenpolitische Instrumentalisierung Manns (Stunz 2011: 30). Daneben mehrten sich insbesondere im Kontext der 68er-Bewegung auch kritische Stimmen gegenüber Mann als einem Vertreter des Establishments (Lehnert 2005: 161), der dem Schriftsteller Alfred Döblin zufolge „die Bügelfalte zum Kunstprinzip“ erhoben habe (Döblin 1970: 208). Bertolt Brecht hatte für Mann bereits 1943 nur die Verunglimpfungen „stehkragen [sic]“ und „reptil [sic]“ übrig (zit. nach Albert/Karge 1997: 576). Als prominenter Kritiker Manns trat außerdem der Schriftsteller Martin Walser in Erscheinung, der Manns Selbstinszenierung zur Galionsfigur der Demokratie dahingehend bemängelte, der Bildungsbürger habe „seine Legitimationsleistung als Repräsentant und Märtyrer zur angenehm[sic!] und nützlichen zehntausendfachen Wiederholbarkeit präpariert“ sowie „in dieser geschichtsfeindlichen Praxis nichts als die Bedürfnisse seiner Klasse gefeiert“ (Walser 1975).

Trotz oder vielleicht auch wegen dieser Kritik wurde die akademische Diskussion lebhaft weitergeführt, wobei im Jubiläumsjahr 1975 eine neue, bis heute prominente Generation von Thomas Mann-Forschern in Erscheinung trat, unter denen mit Hans-Rudolf Vaget und Herbert H. Lehnert gleich zwei an US-amerikanischen Universitäten lehrten. Wichtige Impulse erhielt die Thomas Mann-Forschung der 1980er- und 1990er-Jahre außerdem durch die Herausgabe der Tagebücher, Notizen und Briefe Manns (Koopmann 2005: 977), wobei die dem Papier anvertrauten „Intimitäten“ (Stunz 2011: 38), die sich „von Tag zu Tag […] in ihrer Peinlichkeit und abgründigen Tiefe, obgleich an der Oberfläche fast nichts geschieht“ (Kurzke 2015: 6) nachvollziehen ließen, neue Sichtweisen auf Autor und Werk ermöglichten. Diese Vorstöße ins Privateste bedingten ein gesteigertes öffentliches Interesse an der historischen Persönlichkeit Thomas Mann, das sich u. a. 1993 in der Eröffnung des Lübecker Buddenbrookhauses und 2001 anhand eines im deutschen Fernsehen ausgestrahlten Dokudramas äußerte. Hierauf folgten neben weiteren, 2008 sowie zuletzt 2021 erschienenen Romanverfilmungen zunehmend unüberschaubare Veranstaltungsangebote wie bspw. geführte Thomas Mann-Reisen, die Stunz polemisierend als „Thomas-Mann-Betrieb“ charakterisiert hat (Stunz 2011: 42). Parallel hierzu sind nach wie vor rege Forschungsaktivitäten zu verzeichnen, deren Grundlage insbesondere die seit 2002 im S. Fischer-Verlag erscheinende und auf 38 Bände angelegte Große Kommentierte Frankfurter Ausgabe bildet. Darüber hinaus betreibt die Universität Kyūshū bereits seit 1983 eine frei zugängliche, durchsuchbare Onlinedatendank zum Gesamtwerk Thomas Manns; auch das Leibniz-Institut für Deutsche Sprache in Mannheim hat im Zusammenhang des korpuslinguistischen Großprojekts COSMAS II ein Thomas Mann-Korpus entwickelt, das allerdings nicht öffentlich zugänglich ist.

3.3.2 Vorbemerkungen zur Chronologie der japanischen Thomas Mann-Rezeption

Vor dem Hintergrund der internationalen Rezeption werden im Folgenden die näheren Umstände der japanischen Tonio Kröger-Übersetzung in einer Rezeptionschronologie skizziert. Dabei lassen sich sechs Rezeptionsphasen ansetzen, die vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis in die Gegenwart reichen. Ein vergleichbarer Ansatz Murata Tsunekazus sieht dagegen insgesamt drei Rezeptionsphasen von unmittelbar nach der Jahrhundertwende bis in die spätere Nachkriegszeit vor (Murata 1991: 173–175). Übereinstimmend mit der vorliegenden Betrachtung verortet auch Murata wesentliche Rezeptionsumbrüche am Ende der Taishō-Zeit (d. h. Mitte der 1920er-Jahre) und zum Ende des Zweiten Weltkriegs (ebd.: 175); im Unterschied zum hier vorgestellten Entwurf sieht er allerdings davon ab, für die massive politische Beeinflussung der Rezeptions- und Übersetzungsaktivitäten der ausgehenden 1930er- bzw. der beginnenden 1940er-Jahre eine eigene Rezeptionsphase anzusetzen.

Für die vorliegende Analyse von besonderem Interesse ist derweil Muratas Abgleich zwischen der jährlich erschienenen Anzahl japanischsprachiger Thomas Mann-Übersetzungsausgaben und den historischen Rahmenbedingungen (ebd.: 174). Dabei treten im von Murata betrachteten Zeitraum auch unabhängig offensichtlicher Kontextfaktoren wie der Nobelpreisverleihung oder der NS-Zensur erhebliche Schwankungen auf, sodass teils ohne unmittelbar erkennbaren Grund auf Jahrgänge mit reicher Übersetzungsaktivität (1927, 1930, 1935, 1946, 1953) Jahrgänge (fast) ohne entsprechende Veröffentlichungen folgen (1928, 1931, 1952, 1957) (ebd.: 173–174). Dies veranschaulicht, dass Übersetzungsaktivitäten keinem zentralen historischen Narrativ folgen, sondern oft auch durch eher banale Rahmenfaktoren des akademischen, verlagstechnischen oder privaten Bereichs bedingt sind.

Die in den folgenden Abschnitten entworfene Rezeptionschronologie setzt 1904 mit der erstmaligen Thematisierung Thomas Manns in einer japanischen Fachzeitschrift ein. Wichtige Rezeptionsvoraussetzungen wurden bereits zuvor geschaffen, sodass die in Abschnitt 3.2.3 vorgestellten Übersetzungsaktivitäten der Meiji-Ära auch von Murata als shinwa-ki, d. h. als quasi-mythische Vorstufe der späteren Thomas Mann-Übersetzung charakterisiert worden sind (ebd.: 175): So war Heinrich Heine bereits vor 1868 in Japan rezipiert worden; auch Goethe und Schiller waren schon zu Beginn der Meiji-Zeit in Japan bekannt (ebd.: 166). Damit fiel die fachgermanistische Auseinandersetzung mit Thomas Mann in Japan auf eine fruchtbare Grundlage.

3.3.3 1904 bis Mitte der 1920er-Jahre

Die erste Phase der japanischen Thomas Mann-Rezeption ist von 1904 bis Mitte der 1920er-Jahre anzusetzen. Erstmals in japanischer Sprache schriftlich erwähnt wurde Mann in Teikoku Bungaku (帝國文學, Kaiserliche Literatur), also der seit 1895 monatlich erscheinenden Fachzeitschrift für Kunst und Wissenschaft der Kaiserlichen Universität Tōkyō. Herausgegeben wurde sie von der dortigen Kaiserlichen Forschungsgemeinschaft für Literatur (Teikoku Bungaku-Gakkai,帝國文學學會), der literarische Prominenz wie der oben erwähnte Schriftsteller Mori Ōgai angehörte (Murata 1991: 166; Murata 1982: 240). In der 1904 erschienenen Dezemberausgabe dieser mithin sowohl akademisch als auch literarisch renommierten Publikation veröffentlichte der Anglist und Literaturkritiker Kuriyagawa Hakuson unter dem Titel Die neuzeitlichen dramatischen Novellen in Deutschland (Doitsu Saikin no Gikyoku Shōsetsu) einen Artikel, in dem u. a. auch der damals 29-jährige Thomas Mann dem japanischen Fachpublikum vorgestellt wurde (Murata 1960: 48; Murata 1991: 166; Oguro 2004: 145). Kuriyagawa konzentrierte sich auf Manns jüngst erschienene Novellensammlung Tristan sowie insbesondere auf die darin enthaltene Erzählung Tonio Kröger (Murata 1991: 166–167; Murata 1982: 240), mit der Thomas Mann erst im Vorjahr 1903 an die deutschsprachige literarische Öffentlichkeit getreten war (Reed 2004: 131; Vaget 2005: 556). Tonio Kröger war dem japanischen Fachpublikum demzufolge bereits mehr als zwanzig Jahre vor Erscheinen der Erstübersetzung bekannt (Murata 1991: 166–167). Zu dieser frühen Vermittlungsleistung dürfte neben inhaltlichen Charakteristiken wie bspw. den zuvor thematisierten bildungskritischen Elementen der Erzählung auch die „spontane, allgemein freudige, nicht selten enthusiastische Zustimmung“ (Vaget 1984: 116) beigetragen haben, welche die deutsche Literaturkritik Tonio Kröger unmittelbar nach der Erstveröffentlichung entgegenbrachte. Von der zeitnahen Thematisierung derart relevanter deutscher Gegenwartsliteratur versprach sich Japans universitäre Fachgermanistik eine Nähe zur Mutterdisziplin, die die eigene Forschungsarbeit legitimierte.

Dementsprechend wurde frühzeitig damit begonnen, kurze Erzählungen Thomas Manns ins Japanische zu übersetzen. Als erste japanische Thomas Mann-Übersetzung überhaupt erschien 1910 in der Septemberausgabe von Teikoku Bungaku eine vom Germanisten Hayashi Hisao verfasste Übersetzung der Erzählung Der Kleiderschrank (Murata 1991: 167; Murata 1982: 241). Hierauf folgte 1911 in der Juliausgabe von Teikoku Bungaku eine Übersetzung der Erzählung Enttäuschung, die der Germanist Koike Shunsō angefertigt hatte (Murata 1991: 167; Murata 1960: 48–49). Während diese beiden Erzählungen zur noch im ausgehenden 19. Jahrhunderten anzusiedelnden frühesten Schaffensperiode Manns gehörten, erschien z. B. die erste Übersetzung des 1901 erstveröffentlichten Romans Buddenbrooks erst Anfang der 1930er-Jahre. Selbst im fachwissenschaftlichen Kontext wurde eine Übersetzung der umfangreichen Romanwerke dementsprechend zunächst noch nicht als zwingend notwendig erachtet, sodass man sich vorerst auf die Übersetzung der teils nur wenige Textseiten umfassenden frühesten Erzählungen beschränkte.

Auch die ersten wissenschaftlichen Aufsätze zu Thomas Mann erschienen in Teikoku Bungaku. Nach einer ersten Erwähnung Manns durch Kuriyagawa Hakuson dauerte es allerdings bis 1910 bzw. 1911, bis der Germanist Yukiyama Gyōson ebenfalls in Teikoku Bungaku zwei Artikel publizierte (Murata 1991: 167), in denen er sich bemerkenswerterweise entschieden gegen die in der muttersprachlichen Forschungsdiskussion von Adolf Bartels geäußerte Kritik am „jüdisch-dekadenten Charakter“ der Werke Thomas und Heinrich Manns positionierte (Kamimura 2019: 4). Der zu diesem Zeitpunkt noch überschaubaren Liste japanischsprachiger Thomas Mann-Übersetzungen fügte Yukiyama 1911 eine Übersetzung der Erzählung Der Weg zum Friedhof hinzu, die erstmalig nicht in Teikoku Bungaku, sondern in der Maiausgabe der auf Haiku-Lyrik spezialisierten Literaturzeitschrift Sōun (Hochnebel) erschien (Murata 1991: 167). Dafür, dass die Publikation in Sōun Yukiyamas Übersetzung einen im Vergleich zum fachgermanistischen Format Teikoku Bungaku weniger wissenschaftlichen als künstlerisch-literarischen Anstrich verlieh, spricht auch seine relativ freie Übersetzung des Titels, für den er statt der später üblich gewordenen wortgetreuen Formel Bochi e yuku michi den durch eine besondere Schreibung mit buddhistischer Semantik aufgeladenen Ausdruck Machihazure (wörtlich: Stadtrand) wählte (Kamimura 2019: 5).

Daneben erschien auch in Teikoku Bungaku bereits im Juli 1913 eine erneut zeitnah angefertigte Rezension des am germanistischen Institut der Kaiserlichen Universität Tōkyō ausgebildeten Journalisten und Medienhistorikers Ono Hideo zur im Vorjahr erstveröffentlichten Thomas Mann-Erzählung Der Tod in Venedig (Uchikawa 1971: 134–135; Horikawa 1978: 109). Fujishiro Teisuke, der 1908 als erster Germanistikprofessor an die Kaiserliche Universität Kyōto berufen worden war, nachdem er zuvor an der Ersten Oberschule in Tōkyō unterrichtet hatte, bezeichnete Thomas Mann in seiner 1914 veröffentlichten Monografie Gendai no Doitsu Bungaku (Deutsche Gegenwartsliteratur) bereits als Koryphäe (Dai-ichi-ninsha) des deutschen Romans (Yamaguchi 2018: 86, 91, 93). Auch Naruse Mukyoku (成瀬無極), der sich später durch seine Buddenbrooks-Übersetzung profilieren sollte und in Kyōto an der Dritten Oberschule sowie an der dortigen Kaiserlichen Universität lehrte, thematisierte Manns frühe Erzählungen ausführlich in seiner 1917 erschienenen Monografie Bungaku ni arawaretaru warai no kenkyū (Forschung zum Lachen in der Literatur) (ebd.: 98, 168). Ab 1910 wurden somit schwerpunktmäßig im Dunstkreis der germanistischen Institute (dokubunka) der Kaiserlichen Universitäten Tōkyō und Kyōto vereinzelte wissenschaftliche Aufsätze sowie kurze, auf Manns frühen Erzählungen basierende Übersetzungstexte veröffentlicht; auch in zeitgenössischen Monografien zur deutschen Gegenwartsliteratur fand Thomas Mann Erwähnung. Damit war die Rezeption von Beginn an in einem prestigeträchtigen akademischen Umfeld verortet, das sich durch eine besondere Nähe zum Bildungsverständnis des kyōyōshugi auszeichnete.

Während bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs eine generelle deutsch-japanische Grundsympathie einen günstigen Rezeptionsrahmen geschaffen hatte (Friese 1990: 343), kamen die Kontakte mit Kriegsbeginn zunächst weitgehend zum Erliegen (Maeda 2010: 147), sodass deutsche Buchimporte erst einige Jahre nach Kriegsende wieder zuverlässig nach Japan gelangten (Chen 2010: 162). Darüber hinaus bedeutete der Erste Weltkrieg auch insofern eine Zäsur der japanischen Thomas Mann-Rezeption, als Manns hiernach entstandene Prosa und insbesondere Essayistik im Vergleich zum Frühwerk zunächst deutlich geringere Resonanz beim japanischen Publikum erzielte (Yamaguchi 2018: 256). Damit ist die erste der hier genannten Rezeptionsphasen die einzige, in der die japanische Auseinandersetzung mit Manns literarischem Werk nicht überwiegend retrospektiv-anachronistisch stattfand.

Angesichts dieser wechselvollen historischen Umstände überrascht es nicht, dass japanische Fachgermanisten in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts lediglich erste Erkundungen im Bereich der Thomas Mann-Forschung und -Übersetzung unternahmen, woraufhin sich die Rezeption im Laufe der 1920er-Jahre parallel zu den äußeren Rahmenbedingungen stabilisierte. Dass Thomas Mann schwerpunktmäßig im Umfeld der universitären Fachgermanistik rezipiert wurde, ist dabei v. a. deshalb bemerkenswert, weil, nachdem das literarische Übersetzen um die Jahrhundertwende eigentlich zunehmend zur Sache von Berufsschriftstellern geworden war, japanische Übersetzungstexte zu anderen deutschsprachigen Autoren wie Arthur Schnitzler, Gerhart Hauptmann und Hugo von Hofmannsthal mehrheitlich in Literaturzeitschriften erschienen (Murata 1991: 166, 168; Murata 1982: 240–242). Entsprechend hierzu ist auch im 18 Bände sowie Zweitübersetzungen aus zahlreichen europäischen Sprachen umfassenden Übersetzungswerk Mori Ōgais keine einzige Thomas Mann-Übersetzung zu finden, obwohl dieser prominente japanische Schriftsteller bereits um 1910 einen (erst 1925 veröffentlichten) Aufsatz zu Manns Drama Fiorenza verfasst hatte (Murata 1991: 168). Auch in der u. a. von Mori Ōgai herausgegebenen Literaturzeitschrift Subaru erschienen zwischen 1910 und 1911 ganze sieben Artikel zu Thomas Mann (ebd.: 169), die ein auch in japanischen Schriftstellerkreisen vorhandenes Interesse belegen. Dass diese Schriftsteller entgegen zeitgenössischer Gepflogenheiten auf das Verfassen von Thomas Mann-Übersetzungen verzichteten, dürfte auf klar abgegrenzte Zuständigkeitsbereiche des einerseits fachwissenschaftlichen, andererseits literarischen Übersetzens zurückzuführen sein.

Dass die kyōyōshugi-affine Fachgermanistik Quasi-Exklusivansprüche auf Manns Werk erhob, war vermutlich auch durch die in Abschnitt 3.1.6 skizzierte thematische Passung in Hinblick auf Bildungsthematik und -problematik bedingt. Als weiteren möglichen Faktor dieser Abgrenzung der Thomas Mann-Übersetzung vom Übersetzen durch Schriftsteller erwägt Murata Tsunekazu (1991: 169) die Tatsache, dass sich Mann nach eigener Aussage keiner der das damalige Literaturgeschehen bestimmenden „naturalistischen, […] neu-romantischen, neuklassischen, symbolistischen, expressionistischen, oder wie sie nun hießen“ Strömungen zugehörig gefühlt habe (Mann 1974d: 311). Mit Beginn der 1920er-Jahre zeichneten sich auch in der japanischen Forschungsdiskussion jedoch unterschiedliche Stilisierungen dieser Schriftstellerpersönlichkeit zum Psychologisten (shinrishugi sakka), Naturalisten oder Verfasser von Ich-Romanen bzw. Geständnisliteratur (watakushi-shōsetsu sakka) ab (Murata 1991: 180). Manns schriftstellerische Neutralität, sofern sie denn eine Rezeption in japanischen Literaturkreisen tatsächlich beeinträchtigt haben könnte, hätte sich also durch entsprechende Zuschreibungen problemlos beheben lassen – Dass es zeitgenössischen japanischen Schriftstellern nicht möglich gewesen sein soll, Thomas Mann bspw. naturalistisch oder symbolistisch zu rezipieren, Fachwissenschaftlern hingegen schon, ist wenig plausibel. Umso näher liegt daher die Schlussfolgerung, dass das anfänglich vergleichsweise geringe Interesse der japanischen Kunst- und Literaturszene am späteren Nobelpreisträger auf dieselben inhaltlich-thematischen Ursachen zurückging wie der Enthusiasmus der jungen kyōyōshugi-Bildungselite: Werke wie Tonio Kröger wirkten aufgrund der darin problematisierten Bildungsthematik an sich kyōyōshugi-nah und insbesondere die kyōyōshugi-affine Fachgermanistik war literarisch marginalisiert, sodass sich diese Marginalisierung auf die akademisch quasi-institutionalisierte Thomas Mann-Übersetzung übertrug. Zumindest in fachgermanistischen Kreisen wurde Thomas Mann daher spätestens zu Beginn der 1920er-Jahre der Status eines Großschriftstellers (dai-shōsetsuka) attestiert (ebd.: 170). Eine breitere Bevölkerungsschichten tangierende Rezeption setzte dagegen frühestens im ab Mitte der 1920er-Jahre anzusetzenden zweiten Rezeptionsabschnitt ein (Murata 1960: 50).

Thomas Mann selbst wiederum gelangte nach eigener Aussage die „in den schmuckhaften Schriftzeichen des Orients“ vollzogene japanische Rezeption seiner Werke bereits in der ersten Rezeptionsphase, nämlich „irgendwann zwischen den beiden Weltkriegen, und zwar nicht lange nach dem ersten“ in Form „japanische[r] Druckschriften, Zeitungsartikel, ja Bücher […], die sich mit meiner Arbeit kritisch beschäftigten oder Übersetzungen daraus darstellten“ zu Bewusstsein (Mann 2009: 350). Plausibel ist dies insofern, als die deutsche Ostasien-Begeisterung zwischen 1890 und 1925 eine Blütezeit erlebte (Schuster 1977: 5), sodass auch Mann hierdurch von der japanischen Rezeption seiner Werke erfahren haben könnte. Darüber hinaus liegen auch sehr frühe direkte Kontakte zur japanischen Fachgermanistik immerhin im Bereich des Möglichen, denn bereits 1922 besuchten fünf japanische Germanisten, zu denen Saneyoshi Hayao als Verfasser der ersten japanischsprachigen Tonio Kröger-Übersetzung gehörte, in Berlin eine von Mann persönlich gehaltene Lesung eines Kapitels aus dem erst 1924 veröffentlichten Roman Der Zauberberg (Hamakawa 2003: 141–142). Inwiefern es hierbei tatsächlich zu einem Austausch kam, lässt sich nicht rekonstruieren. Nichtsdestoweniger repräsentieren Manns oben zitierte „offizielle“ Selbstzeugnisse mit Japanbezug ein vom Autor mit Augenmerk auf das japanische Publikum etabliertes, also interessengeleitetes Narrativ, das, wie die weiteren Ausführungen zeigen, seine Wirkung nicht verfehlen sollte. Das tatsächliche Japanbild des anfänglich nationalistisch-kulturkonservativen Norddeutschen geht aus diesen repräsentativen Verlautbarungen allerdings nur eingeschränkt hervor. Besonders eindrucksvoll veranschaulicht dies Manns im Oktober 1914 bezüglich des Einsatzes von Kolonialtruppen an den Kriegsfronten geäußerte rassistische Empörung (Kurzke 2015: 4): Dass man glaube, „ein Recht zu haben, auf Deutschland Kirgisen, Japaner, Gurkas und Hottentotten loszulassen“ sei „eine Beleidigung, beispiellos, ungeheuerlich, und einzig nur möglich geworden kraft jener im stärksten Sinne des Wortes unerlaubten Unwissenheit über Deutschland“ (Mann 1974 f: 544).

3.3.4 Mitte der 1920er- bis Mitte der 1930er-Jahre

Da wie oben erwähnt ab Mitte der 1920er-Jahre erstmals eine über fachwissenschaftliche Kreise hinausgehende japanische Auseinandersetzung mit Thomas Mann dokumentiert ist, wird in der darauffolgenden, bis Mitte der 1930er-Jahre währenden Dekade die zweite Phase der Rezeptionschronologie angesetzt. In dieser wich die Auseinandersetzung mit dem Gegenwartsschriftsteller zunehmend einem retrospektiven Zugang, wogegen der politische Thomas Mann vorerst kaum rezipiert wurde. So kam es zum anachronistischen Bruch zwischen Manns zeitgenössischer, sich gegen den Aufstieg des NS-Regimes richtender politischer Publizistik und einer japanischen Fixierung auf das eher mit einem kyōyōshugi-geprägten Innerlichkeitsideal zu vereinbarende Frühwerk (Yamaguchi 2018: 8–9, 147, 256).

Der Rezeption durch breitere Gesellschaftsschichten leisteten besonders die erstmals außerhalb von Fachzeitschriften erscheinenden Übersetzungstexte Vorschub. Den diesbezüglichen Anfang markierte Kitamura Kitachis 1925 in der Reihe Sammlung von Erzählungen der Weltliteratur, Deutschland-Ausgabe (Sekai Tanpen-shōsetsu Taikei Doitsu-hen) bei Kindaisha verlegte Übersetzung der frühen Thomas Mann-Erzählung Der Wille zum Glück (Kōfuku e no ishi), auf die 1927 Hino Hayaos (der sich in der Folge zu Saneyoshi Hayao umbenannte) im damals bereits einschlägigen kyōyōshugi-Verlag Iwanami Shoten publizierter Band Novellen von Thomas Mann (Tōmasu Man Tanpenshū) folgte, der die erste japanischsprachige Tonio Kröger-Übersetzung enthielt (Murata 1960: 50; Murata 1991: 170; Yamamuro 2018: 225). Der Einschätzung Kobayashis zufolge wurden Manns Werke bereits hierdurch einem breiteren Publikum zugänglich (Kobayashi 1976: 6), wogegen Horiuchi die 1932 erschienene Buddenbrooks-Übersetzung Naruse Mukyokus als diesbezügliche Initialzündung bezeichnet, da diese Mann auch in Japan nicht nur als Verfasser von Erzählungen, sondern als großen Romanschriftsteller in der Tradition des 19. Jahrhunderts bekannt gemacht habe (Horiuchi 1994: 11).

In Bezug auf Saneyoshis Novellenband war von Seiten des Iwanami-Verlages ursprünglich geplant, die darin enthaltenen Thomas Mann-Erzählungen bereits 1926 im Rahmen der Sammlung Doitsu Bungaku Sōsho (Bibliothek deutscher Literatur) zu veröffentlichen. Lediglich aufgrund von Verzögerungen entschied man sich für das separate Publikationsformat (Yamaguchi 2018: 87–89), das die besondere Resonanz von Saneyoshis Tonio Kröger-Erstübersetzung beim japanischen Publikum mitbedingt haben könnte. Als Einzelausgabe erschien der Text erst 1952 (Iwanami Bunko Henshūbu 2007: 116; Yamamuro 2018: 225); bereits 1930 wurde er jedoch innerhalb einer weiteren, dreibändigen Erzählsammlung veröffentlicht (Kobayashi 1976: 7). Diese Sammlung erschien in der populären, sich bewusst u. a. an Reclams Universalbibliothek orientierenden Iwanami Bunko-Taschenbuchreihe (Yamamuro 2018: 225; Potempa 1997: 1121; Keene 1987: 8), die zur damaligen Zeit bereits Auflagen zwischen 20000 und 50000 Exemplaren pro Band erreichte (Mathias 1990: 380). Nicht zuletzt aufgrund dieses insbesondere im kyōyōshugi-Umfeld prestigeträchtigen Publikationsrahmens fand Saneyoshi Hayaos Tonio Kröger-Erstübersetzung regen Anklang beim zeitgenössischen Publikum (Yamaguchi 2018: 208, 226; Kobayashi 1976: 7).

Japans außerakademischer Öffentlichkeit war Thomas Mann 1927 trotzdem noch weitgehend unbekannt (Yamamuro 2018: 225), sodass sich sein Bekanntheitsgrad erst durch Saneyoshis Tonio Kröger-Erstübersetzung sowie zwei Jahre später, d. h. 1929, durch die Verleihung des Literaturnobelpreises erhöhte (Murata 1991: 169, 174). In der Folge drang die Auseinandersetzung mit Thomas Mann zwar verstärkt in journalistische Publikationsformate wie Japans zahlreiche Literaturzeitschriften vor (Yamaguchi 2018: 373); die akademisch-fachgermanistische Quasi-Institutionalisierung der Übersetzungsaktivitäten blieb aber erhalten. Saneyoshis Tonio Kröger-Erstübersetzung etablierte sich vor diesem Hintergrund als in Jugenderinnerungen oftmals romantisch verklärter Erstkontakt zu Thomas Mann und prägte so bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges einen einseitig-anachronistischen Interessenschwerpunkt (ebd.: 147).

In diesem Zusammenhang entstand insbesondere an den japanischen Oberschulen des alten Bildungssystems, die Manns 1925 verfassten Essay Goethe und Tolstoi. Fragmente zum Problem der Humanität bereits 1928 in den Lehrplan aufnahmen (Keppler-Tasaki 2020: 101), ein regelrechter „Thomas Mann-Kult“ (Maeda 2010: 278). Auch Saneyoshis Tonio Kröger-Erstübersetzung beeindruckte diese junge Bildungselite derart tiefgreifend, dass der Schriftsteller Kita Morio (北杜夫) hinsichtlich seiner Oberschulzeit von einem kollektiven „Tonio Kröger-Erlebnis“ (Tonio Kurēgeru taiken, トニオ・クレーゲル体験) spricht (Fukai 1975: 79; Yamamuro 2018: 225–226). Ebenso habe für seinen ehemaligen Schulkameraden und Schriftstellerkollegen Tsuji Kunio (辻邦夫) die landschaftliche Kulisse der alten Matsumoto-Oberschule (kyūsei Matsumoto kōkō) die „passende Atmosphäre“ für die Lektüre des „sinnenden Schriftstellers aus Norddeutschland“ (ikanimo kitadoitsu shusshin no meisōteki na sakka o yomu no ni fusawashii fun’iki) geboten (Sekikawa 2009: 18).

Dabei war diese kyōyōshugi-affine Thomas Mann-Rezeption der jungen japanischen Intellektuellen in erster Linie durch Verehrung der Autorpersönlichkeit charakterisiert, sodass sich bspw. auch der spätere Tonio Kröger-Übersetzer Satō Kōichi bereits 1931, also während seiner Oberschulzeit, als „Schüler des Meisters Thomas Mann“ definierte (zit. nach Keppler-Tasaki 2020: 120). Dem leistete die Erzählung Tonio Kröger dahingehend Vorschub, dass Mann selbst ein Verwischen der Grenzen zwischen Protagonist und Verfasser, zwischen literarischer Fiktion und biografischer Realität nahelegte, indem er z. B. wenige Tage nach der Erstveröffentlichung einen Brief an die Brüder Ehrenberg mit „Euer Tonio Kröger“ unterzeichnete (Mann 1968: 442). Dass eine derartige Überlagerung von Schöpfer und Geschöpf im kyōyōshugi-Umfeld auf fruchtbaren Boden fiel, belegt auch der 1966 bei Sanshūsha erschienene Band Doitsu Bungaku 3: Tōmasu Man (Deutsche Literatur 3: Thomas Mann), der Morikawa Toshios Tonio Kröger-Übersetzung enthält. Dem Inhalt vorangestellt ist eine Schwarz-Weiß-Fotografie, die den gealterten, nachdenklich in die Ferne blickenden und Zigarre rauchenden Thomas Mann zeigt. Darunter ist die Sentenz Watashi wa, ningenteki na mono ni kakawari o motazu ni ningenteki na mono o hyōgen suru koto ni, shinu hodo tsukareru koto ga yoku arimasu abgedruckt, also eine Übersetzung des von Tonio Kröger im vierten Kapitel der Erzählung an die Künstlerfreundin Lisaweta Iwanowna gerichteten Stoßseufzers, „daß ich es oft sterbensmüde bin, das Menschliche darzustellen, ohne am Menschlichen teilzuhaben“ (GKFA 271). Dem ist der in Klammern gefasste Titel Tōnio Kurēgā beigefügt; eine konkretere Zitation fehlt jedoch. So suggeriert das Zitat eine Charakterisierung des abfotografierten Schriftstellers selbst, der in der Tat so „sterbensmüde“ und melancholisch dreinblickt, wie es sich für jemanden, der Menschliches darstellt, ohne daran teilzuhaben, zu gehören scheint.

Diese nicht erst in den 1960er-Jahren zu beobachtende Verwischung der Grenzen zwischen dem Schriftsteller und seinem Werk fügte die quasi-autobiografisch rezipierte Erzählung Tonio Kröger nahtlos in Japans Literaturszene der ausgehenden 1920er- und frühen 1930er-Jahre ein, da sie Bezüge zum Watakushi Shōsetsu (私小説), d. h. zum japanischen Pendant des Ich-Romans nahelegte (Oguro 2004: 151; Murata 1991: 180; Fukuda 1970: 146). Die Gründe hierfür bestanden u. a. darin, dass die Erzählung Tonio Kröger bereits in ihrer deutschen Heimat als „die sehr persönliche Bekenntnisschrift verstanden und begrüßt [wurde], die sie offenkundig auch war“ (Reed 2004: 132). Dies erzeugt eine typologische Nähe zum streng autobiografischen, nonfiktionalen Watakushi Shōsetsu (Keene 1987: 507). Die Kriterien „autobiografisch“ und „nonfiktional“ hielten Zeitgenossen wie den Tonio Kröger-Übersetzer Fukuda Hirotoshi keineswegs davon ab, Tonio Kröger als Watakushi Shōsetsu zu charakterisieren und hierin sogar den Hauptgrund für die Popularität der Erzählung in Japan zu vermuten (zit. nach Murata 1991: 180). Letzterer haftete in Hinblick sowohl auf Manns persönliches Kunstverständnis als auch bezüglich des Umganges mit gleichgeschlechtlichen Neigungen ein diskret „maskierter“ (Mann im Brief an Otto Grautoff vom 06.04.1897, zit. nach Kurzke 2013: 85), intimer Geständnischarakter an, der auch den Watakushi Shōsetsu definierte (Keene 1987: 506). Eine weitere bemerkenswerte Parallele zwischen Tonio Kröger und dem Watakushi Shōsetsu bestand darin, dass Letzterer oftmals die psychologische Dimension vermeintlich trivialer Gesten und Aussprüche erörtert (ebd.: 507). Auch diese Tendenz setzt Tonio Kröger insofern leitmotivisch um, als nervöse Gesten wie Tonios zusammengezogene Brauen und zum Pfeifen gerundete Lippen (GKFA: 245, 259, 274) oder der je nach Lebensführung der Charaktere entweder „elastisch und taktfest“ einherschreitende oder sich „nachlässig und ungleichmäßig“ schleppende Gang (GKFA: 244–245, 262) auf innere Befindlichkeiten und einen universellen Symbolgehalt verweisen. Während die in Tonio Kröger entfaltete Bildungsproblematik eine inhaltlich-programmatische Passung zu kyōyōshugi und damit zur akademischen Fachgermanistik garantierte, dürften somit auch die Anknüpfungspunkte zum zeitgenössischen literarischen Genre des Watakushi Shōsetsu die Popularität der Erzählung bedingt haben.

Neben den Oberschulen des alten Bildungssystems etablierten sich in der Folge auch die beiden Kaiserlichen Universitäten in Tōkyō und Kyōto als Zentren der akademisch quasi-institutionalisierten japanischen Thomas Mann-Rezeption. Während Professoren wie Naruse Mukyoku bereits zuvor entsprechende Aufsätze publiziert hatten, reichte der Germanist Wada Yōichi (和田洋一) nach eigener Aussage im März 1930 an der Kaiserlichen Universität Kyōto die erste ausschließlich Mann thematisierende Abschlussarbeit ein (Yamaguchi 2018: 250). Ebenso wurden am germanistischen Institut (dokubunka) der Kaiserlichen Universität Tōkyō 1934 u. a. vom späteren Tonio Kröger-Übersetzer Takahashi Yoshitaka drei Abschlussarbeiten zu Thomas Mann vorgelegt (Yamaguchi 2018: 390–91; Takahashi 2010: 273). Ferner kündigte sich die spätere politische Ausrichtung der Fachgermanistik an der Kaiserlichen Universität Tōkyō bereits zu diesem Zeitpunkt dahingehend an, dass in den Abschlussarbeiten keine linken oder jüdischen Autoren thematisiert wurden (Yamaguchi 2018: 390). Schon 1932 war ebenfalls am germanistischen Institut der Kaiserlichen Universität Tōkyō außerdem mit der Februarausgabe der institutseigenen Fachzeitschrift Ernte (エルンテ) das erste Thomas Mann-Sonderheft einer japanischen Fachzeitschrift überhaupt erschienen, nachdem die vorherige Ausgabe bereits Heinrich Mann gewidmet worden war (Saitō 1932; Yamaguchi 2018: 225; Keppler-Tasaki 2020: 102; Kobayashi 1976: 7). Hinsichtlich des Publikationszeitpunktes des Thomas Mann-Sonderheftes unterstellt Yamaguchi, dieser sei in bewusster Konkurrenz zur im August desselben Jahres vom Kyōto-Germanisten Naruse Mukyoku publizierten Buddenbrooks-Übersetzung gewählt worden (Yamaguchi 2018: 176–177); ein Zusammenhang zu den Feierlichkeiten angesichts von Goethes 100. Todesjahr liegt jedoch ebenfalls nahe. Mit der Thomas Mann-Forschung war die Ernte auch über das Sonderheft hinaus insofern unmittelbar assoziiert, als der spätere Tonio Kröger-Übersetzer Satō Kōichi hier bereits im Januar 1935 und sein Kollege Takahashi Yoshitaka im November 1936 Aufsätze zu Thomas Mann veröffentlichten – dass Takahashi im Zuge dessen darauf verzichtete, auf Manns NS-Opposition Bezug zu nehmen, grenzte ihn ebenso wie die Tōkyōter Germanistik i. A. vom konkurrierenden germanistischen Institut der Kaiserlichen Universität Kyōto ab, wo sich Wada Yōichi (s. u.) bereits im Mai 1936 positiv zu Manns politischen Aktivitäten geäußert hatte (ebd.: 388–391).

In Kyōto hatte sich 1933 mit der Fachzeitschrift Kastanien (カスタニエン) ein der Ernte vergleichbares Publikationsformat gegründet, für das neben weiteren Nachwuchsgermanisten auch der in Abschnitt 3.2.3 bereits erwähnte Germanist Ōyama Teiichi verantwortlich war (ebd.: 176). Thomas Mann wurde dort erstmals in der im Mai 1933 erschienenen zweiten Ausgabe u. a. vom frisch graduierten Nachwuchsgermanisten Yoshida Jirō (吉田次郎) thematisiert, der sich explizit gegen den durch Tonio Kröger geprägten apolitischen Forschungsschwerpunkt aussprach, aus der einschlägigen Literaturzeitschrift Linkskurve zitierte und sich im Folgejahr offen zur Proletarierliteratur bekannte (ebd.: 238–241). Dies entsprach der sich grundsätzlich von der Tōkyōter Ernte unterscheidenden Ausrichtung der Kastanien als solcher, da dort insbesondere linke Autor*innen wie Bertolt Brecht, Anna Seghers und Erwin Piscator thematisiert wurden (ebd.: 251). Auch Thomas Manns zunächst noch etwas unentschieden wirkende Positionierung gegenüber der NS-Diktatur wurde durch Wada Yōichi im Oktober 1935 in Kastanien kritisiert, seine explizite NS-Opposition dagegen ebendort und erneut von Wada im Mai 1936 freudig begrüßt (ebd.: 263). Dass derart klare politische Stellungnahmen im Zusammenhang der zeitgenössischen Verfolgung linker Gruppierungen (Mathias 2012: 347) hochriskant waren, zeigt das Beispiel Ōyama Teiichis, der dem Nachwort der 1934 erschienenen Juniausgabe der Kastanien zufolge wegen eines Verstoßes gegen das „Gesetz zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit“ (chian-iji-hō) festgenommen worden war und seine Dozentenstelle an der Kaiserlichen Universität Kyōto verloren hatte (Yamaguchi 2018: 243). Diesbezüglich vermutet Yamaguchi sogar, Ōyamas vorübergehende Hinwendung zu Thomas Mann und Goethe sei in erster Linie durch die notgedrungene politisch-literarische Konversion (tenkō), d. h. die durch die äußeren Umstände motivierte zeitweilige Abkehr von linker Literatur bedingt gewesen (ebd.: 245–247, 256). Nichtsdestoweniger war auch Thomas Mann, dem die Kastanien bereits im Oktober 1934 ebenfalls ein Sonderheft gewidmet hatten, schließlich einer der am häufigsten in dieser Fachzeitschrift thematisierten Autoren überhaupt, wobei sowohl in der Ernte als auch in den Kastanien diverse Übersetzungstexte erschienen (Murata 1991: 174; Yamaguchi 2018: 233, 243, 249). Die Bedeutung, die Mann damit von beiden Fachzeitschriften beigemessen wurde, veranschaulicht erneut die feste Verankerung der Rezeption und Übersetzung im wissenschaftlichen Bereich, wobei v. a. die beiden Sonderhefte diese Entwicklung konkretisieren (Yamaguchi 2018: 96). Ergänzt und erweitert wurden diese Publikationsaktivitäten des akademischen Nachwuchses 1934 durch die Novemberausgabe der im April desselben Jahres gegründeten Monatszeitschrift Rōman-koten (Klassiker der Romantik), die als (quasi-bibliografische) Sonderausgabe zur japanischen Thomas Mann-Forschung erschien (Yamaguchi 2018: 217; Horiuchi 1994: 11; Kobayashi 1976: 13). Hinzu kamen im nichtwissenschaftlichen Bereich einige Essays zu Thomas Mann sowie eine von Ōyama Teiichi angefertigte Teilübersetzung des Romans Der Zauberberg, die sämtlich in der Literaturzeitschrift Cogito publiziert wurden (Yamaguchi 2018: 235, 246–247). Aufgrund dieser zunehmenden Vermischung zwischen einer durch Ōyama verkörperten fachgermanistischen Sphäre und dem zeitgenössischen Literaturbetrieb war für junge japanische Thomas Mann-Forscher zu Beginn der 1930er-Jahre auch die Bezeichnungen bungaku seinen bzw. „Jungliteraten“ üblich (ebd.: 391); der Schwerpunkt der Übersetzungsaktivitäten blieb aber akademisch.

Demzufolge waren insbesondere das kyōyōshugi-affine germanistische Institut der Kaiserlichen Universität Tōkyō sowie das der Kaiserlichen Universität Kyōto bedeutende Zentren der japanischen Thomas Mann-Rezeption, wobei auch die zeitgenössische Literaturszene Interesse am Schaffen des Literaturnobelpreisträgers zeigte. Neben dem oben erwähnten, deutlich älteren Mori Ōgai lässt sich dies auch am Beispiel des prominenten Schriftstellers Akutagawa Ryūnosuke (芥川龍之介) veranschaulichen, der einem Ende September 1927 anlässlich seines Suizids veröffentlichten Bericht der Tagezeitung Tōkyō Asahi Shinbun (朝日新聞) zufolge mit Manns nur wenige Jahre zuvor erschienenen, zum Lektürekanon der zeitgenössischen Oberschulen gehörenden Essay Goethe und Tolstoi vertraut gewesen sei (Kobayashi 1976: 6). Auch der Schriftsteller Kanbayashi Akatsuki (上林暁), der in den 1920er-Jahre am anglistischen Institut der Kaiserlichen Universität in Tōkyō studiert hatte, erinnerte sich in einem 1955 anlässlich von Manns Tod in der Nihon-Dokusho-Shinbun erschienenen Zeitungsartikel, er habe sich vor dem Zweiten Weltkrieg keine noch so unbedeutende Übersetzungs- und Fachpublikation zu Thomas Mann entgehen lassen, wobei seine Faszination ausschließlich dem Frühwerk gegolten habe (zit. nach Murata 1991: 179).

Dieser mithin vom fachgermanistisch-akademischen auf den literarischen Bereich übergehenden, durch die Anschlussfähigkeit an das kyōyōshugi-Bildungsideal und den Watakushi Shōsetsu inspirierten Verehrung seiner Person leistete der frisch bekränzte Nobelpreisträger Thomas Mann aktiv Vorschub, indem er als erster namhafter deutscher Schriftsteller überhaupt sein japanisches Publikum direkt adressierte (Keppler-Tasaki 2020: 106; Friese 1990: 349). Anlässlich des 1932 auch in Japan feierlich begangenen 100. Todestages Goethes hatte das Japanisch-Deutsche Kultur-Institut in Tōkyō (Nichi-Doku Bunka Kyōkai) Thomas Mann mit einem Vortragsessay zum Thema An die japanische Jugend. Eine Goethe-Studie beauftragt (Keppler-Tasaki 2020: 101; Friese 1990: 349). Dabei war es kein Zufall, dass sich Mann mit dem Essay ausgerechnet an den „18- bis 21-jährigen Elitennachwuchs im staatlichen Schulsystem“ wenden sollte (Keppler-Tasaki 2020: 102), sondern ist auf den Einfluss des Japanisch-Deutschen Kultur-Institutes zurückzuführen, das den oberschulischen und universitären Thomas Mann-Kult bewusst förderte. Mann kam diesem Auftrag bereitwillig nach, indem er Goethe in ähnlicher Form japanisierend, d. h. als Synthese von „(buddhistischer) Gelassenheit, (konfuzianischem) Pflichtbewusstsein und (schintoistischem) Pantheismus“ darstellte, wie es vor ihm bereits die kyōyōshugi-Lichtgestalt Raphael von Koeber getan hatte (ebd.: 105). Derartige „Festreden jeder Art“ gehörten zum Alltagsrepertoire des Schriftstellers von Weltrang, denn „entzogen hat sich Thomas Mann nie“ (Banuls 1990: 15). Spätestens nach dem 12. September 1938 befand sich außerdem eine japanische Tonio Kröger-Ausgabe in Manns Besitz, die ihm, wie ein entsprechender Tagebucheintrag vermerkt, während eines festlichen Empfanges in Zürich von einem „Direktor Schweizer“ nebst einem den Eindruck einer kostbaren Kuriosität verstärkenden „Elfenbeinschreibzeug aus dem 17. Jahrhundert für Feder, Tinte und Streusand“ überreicht worden war (Mann 1980: 284–285). Jenseits dieser professionellen Repräsentationsroutinen schien Manns Japanverständnis zumindest in den 1920er-Jahren noch vage, sodass er seinen Protagonisten Hans Castorp im 1924 publizierten Roman Der Zauberberg einer Kinovorführung beiwohnen ließ, bei der es „das Leben und Treiben in einem Eingeborenendorf von Neumecklenburg, einen Hahnenkampf auf Borneo, nackte Wilde, die auf Nasenflöten bliesen, das Einfangen wilder Elefanten“ ebenso zu bestaunen gab wie „eine Bordellstraße in Japan, wo Geishas hinter hölzernen Käfiggittern saßen“ (Mann 2008: 437–438).

3.3.5 Mitte der 1930er-Jahre bis 1945

Im Kontrast zur im Zeichen des Literaturnobelpreises stehenden zweite Phase wurde die japanische Thomas Mann-Rezeption ab den ausgehenden 1930er-Jahren bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges zum Politikum. Trotz Manns politisch brisanter zeitgenössischer Publizistik war diese dritte Rezeptionsphase jedoch weiterhin durch eine Konzentration auf das Frühwerk geprägt. In seiner deutschen Heimat mündete Thomas Manns offene Kritik am NS-Regime ab 1933 zumindest faktisch in Zensur, denn an sich war der nationalsozialistische Literaturmarkt weiterhin privatwirtschaftlich organisiert, sodass v. a. durch die nicht-öffentliche Ausübung politischen Drucks zensiert wurde (Adam 2013: 17, 23). Hierauf reagierte der Fischer-Verlag 1936 durch eine Verlagsaufspaltung, infolge derer die Rechte an Manns Werk vorerst nach Wien ausgelagert wurden (Stach 1991: 126–127). Aufgrund beschlagnahmter Bestände und ausbleibender Nachdrucke war die Thomas Mann-Gesamtausgabe ab 1938 endgültig nicht mehr im deutschen Handel verfügbar; eine daraufhin in Stockholm verlegte Neuausgabe wurde durch massive logistische Probleme beeinträchtigt (ebd.: 135–136).

Ganz anders stellte sich die Situation zunächst noch in Japan dar: Nach einem seit dem Ersten Weltkrieg eher eingeschränkten deutsch-japanischen Austausch kam es Mitte der 1930er-Jahre zur Klärung des Stellenwerts des japanischen Volkes innerhalb der nationalsozialistischen Rassenideologie und damit zur staatlich bzw. parteilich orchestrierten Wiederannäherung (Yamaguchi 2018: 224; Martin 1990: 203; Friese 1990: 348). Hiervon profitierten sowohl die japanische Fachgermanistik als auch die Thomas Mann-Rezeption, sodass Murata bezüglich der Jahre 1934 und 1935 eine allgemeine Blüte der japanischen Fachgermanistik (Murata 1991: 174) diagnostiziert und Takada in diesem Zusammenhang sogar von einer „ultimativen geistigen Steigerung“ (kūzenzetsugo no seishinteki kōyō) spricht (Takada 2006: 13). Eine Annäherung der japanischen Germanistik an die Erfordernisse einer NS-konformen Kulturpolitik zeichnete sich schon 1934 dahingehend ab, dass Aufsätze zum „neuen Deutschland“ und zur nationalsozialistischen Bewegung publiziert wurden (Friese 1990: 349). Diese Tendenzen intensivierten sich infolge der durch den 1936 eingegangenen Antikominternpakt nochmals verstärkten diplomatischen Beziehungen zwischen Japan und dem Deutschen Reich sowie durch das deutsch-japanische Kulturabkommen (Nichidoku bunka kyōtei, 日独文化協定) vom 25. November 1938 (Bieber 2014: 612). Doch obwohl Thomas Mann zu diesem Zeitpunkt bzw. seit dem 2. Dezember 1936 bereits die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt worden war (Blödorn/Marx 2015: 407), konnten japanische Übersetzungen der Erzählwerke und Essays vorerst noch in hoher Frequenz publiziert werden (Potempa 1997). Bedingt war diese einstweilige Kulanz durch die anachronistischen Interessenschwerpunkte der sich auf politisch Unverfängliches wie Buddenbrooks und Tonio Kröger konzentrierenden japanischen Thomas Mann-Rezeption (Yamaguchi 2018: 171). Auch in Hinblick auf weitere Werke Manns ermöglichten diese Anachronismen trotz zunehmender Unvereinbarkeit mit einer NS-konformen japanischen Fachgermanistik vorerst noch Deutungsspielraum: Bei Romanen wie Der Zauberberg oder auch den ab 1933 publizierten Josephsromanen wurde das in der Vergangenheit angesiedelte Setting besonders betont (ebd.: 216) und auch Thomas Mann selbst nicht als Gegenwartsschriftsteller, sondern als Repräsentant einer längst vergangenen Epoche dargestellt (Kobayashi 1976: 34).

Dementsprechend konzentrierten sich zeitgenössische Germanisten wie der an der Kaiserlichen Universität Tōkyō graduierte Shirahata Shin (白旗信) in seinem 1933 in der Reihe Iwanami Kōza Sekai Bungaku (Iwanami-Kurs zur Weltliteratur) erschienenen Aufsatz Man auf das um die Jahrhundertwende entstandene literarische Frühwerk (Yamaguchi 2018: 210–211). Entsprechend skizzierte Shirahata das idyllische Bild Thomas Manns als auf dem Höhepunkt seiner künstlerischen Reife befindlicher Dichter (enjuku-ki ni aru shijin), der sich in München „als Oberhaupt einer gesegneten Familie geruhsam dem Wege der Kunst widmete“ (megumareta kazoku no chichi toshite shizuka ni geijutsu no michi o shōshin shite iru; zit. nach Yamaguchi 2018: 212). Absurd war diese Darstellung deshalb, weil Manns Deutsche Ansprache und damit das offene Bekenntnis gegen die NS-Ideologie zu diesem Zeitpunkt bereits drei Jahre zurücklag, sodass dem Autor infolge einer 1933 angetretenen Vortrags- und Urlaubsreise die Rückkehr in die deutsche Heimat aufgrund der drohenden politischen Verhaftung verwehrt war (Blödorn/Marx 2015: 407). In diesem Zusammenhang schlug der NS-Autor und spätere Präsident der Reichsschrifttumskammer Hanns Johst seinem Duzfreund Heinrich Himmler in einem auf Oktober 1933 datierten Brief vor, man solle „Thomas Mann, München, für seinen Sohn ein wenig inhaftieren“, um so Druck auf den bereits exilierten und publizistisch aktiven Klaus Mann auszuüben, denn Thomas Manns „geistige Produktion würde ja durch eine Herbstfrische in Dachau nicht leiden“ (zit. nach Adam 2013: 284). Neben dieser drohenden „Dachauer Herbstfrische“ lässt auch die Tatsache, dass Shirahata im Nachwort seines Aufsatzes den zwischenzeitlichen Austritt der Gebrüder Mann aus der Preußischen Akademie der Künste zwar ergänzend erwähnte, als Grund hierfür aber eine eventuelle jüdische Abstammung (wörtlich: „jüdischen Geruch“) (genzai no Tōmasu Man ni dono teido no yudaya no kaori ga aru ka, wareware wa gimon ni sezaru o enai) des Schriftstellers erwog (Yamaguchi 2018: 212–213), das zuvor entworfene Familienidyll deplatziert wirken. Um Manns tatsächliche Aktivitäten sowie um die politische Essayistik bildete sich folglich in der zeitgenössischen japanischen Fachgermanistik der Vorkriegs- und Kriegsjahre ein „blinder Fleck“ (mōten), der in den Rezeptionsaktivitäten von Beginn an angelegt gewesen war (ebd.: 182, 209). Dagegen waren in Japans zeitgenössischer journalistischer Publizistik noch bis Ende der 1930er-Jahre direkte Bezugnahmen auf Manns kritische Haltung gegenüber dem NS-Regime möglich (Kobayashi 1976: 34).

Dass es in diesem Zusammenhang auch in Japan (ähnlich wie im englischsprachigen Raum) bis Ende der 1960er-Jahre dauern sollte, bis die erste vollständige Übersetzung der Betrachtungen eines Unpolitischen erschien (Potempa 1997: 1135), zeigt hierbei, dass nicht allein Manns Bruch mit dem nationalsozialistischen Regime, sondern der gesamte Wandel seines politischen Denkens von den 1918 publizierten patriotisch-kulturkonservativen Betrachtungen über das Bekenntnis zur Weimarer Republik (1922) hin zur offenen NS-Opposition der Deutschen Ansprache (1930) ignoriert wurde. Die Gründe hierfür dürften darin bestanden haben, dass sich der politische Thomas Mann mit dem von der zeitgenössischen japanischen Germanistik gepflegten Ideal des das politische Tagesgeschehen transzendierenden Autorgenies kaum in Einklang bringen ließ (Yamaguchi 2018: 216, 224); man bezog sich dementsprechend nur auf diejenigen Bereiche des Mannschen Schaffens, die einer kyōyōshugi-Stilisierung zum einsiedlerischen Gelehrten nach dem Vorbild Raphael von Koebers zuträglich waren. Diese Fiktion wurde so lange aufrechterhalten, wie es die kulturpolitischen Rahmenbedingungen zuließen. Sie erzeugte eine ungefähr dreißigjährige Kluft zwischen Manns Lebenswirklichkeit und der am Umbruch vom 19. zum 20. Jahrhundert verharrenden japanischen Rezeption. Deren Langzeitfolgen waren als zunehmende kontextuelle Unterhöhlung der Rezeptionsaktivitäten insofern gravierend, als für die Rezeption späterer Kolossalwerke wie Der Zauberberg ein unzureichendes Fundament zur Verfügung stand (ebd.: 217, 225). Die japanische Präferenz für Manns literarisches Frühwerk war daher nicht nur durch die politischen Rahmenbedingungen beeinflusst, sondern perpetuierte sich durch eine beeinträchtigte Rezeption des Spätwerks.

Den Umbruch zwischen einer Mann vorläufig entgegengebrachten Kulanz und der auch in Japan greifenden politischen Zensur markierte die auf insgesamt 18 Bände und einen Sonderband angelegte, ab 1936 erscheinende Gesamtausgabe des Mikasa-Verlages (Yamaguchi 2018: 403; Kobayashi 1976: 28), auf die im vierten Kapitel dieser Arbeit vertiefend eingegangen wird. Obwohl insbesondere in Hinblick auf einen geplanten Essayistik-Band politische Themen gemieden und stattdessen schwerpunktmäßig Manns philosophisch-ästhetische Aufsätze berücksichtigt wurden, musste die Ausgabe 1941 auf politischen Druck hin abgebrochen werden (Oguro 2004: 145; Murata 1991: 175; Yamaguchi 2018: 403–404; Kobayashi 1976: 29; Keppler-Tasaki 2020: 116). Neben den beiden Tonio Kröger-Übersetzern Satō Kōichi und Toyonaga Yoshiyuki, die ebenfalls im vierten Kapitel ausführlich vorgestellt werden, war hieran mit dem Oberschullehrer Asō Tane’e (麻生種衛) auch der erste japanische Übersetzer beteiligt, der nachgewiesenermaßen Briefkontakt zu Thomas Mann pflegte bzw. im Februar 1937 eine persönliche Antwort von diesem erhalten hatte, die jedoch nur in einer von Asō selbst verfassten japanischsprachigen Übersetzung erhalten ist (Yamaguchi 2018: 379, 382). Dies deckt sich mit einem Tagebucheintrag Manns vom 21. Februar 1937, der in der Tat das Diktat eines an „einen japanischen Professor“ gerichteten Briefs „geistigen Charakters“ verzeichnete (Mann 1980: 30–31). Dieser „geistige Charakter“ dürfte darin bestanden haben, dass sich Asōs Schreiben im Unterschied zur Mehrzahl der Thomas Mann in diesen Tagen erreichenden Briefe nicht auf den unmittelbar zurückliegenden Verlust der deutschen Staatsbürgerschaft im Dezember 1936 bezog, sondern sich stattdessen in typisch weltfremd-apolitischer kyōyōshugi-Manier nach Ironie als einem Grundprinzip des Mannschen Schreibens erkundigte (Yamaguchi 2018: 380–382; Kurzke 2015: 5; Holzheimer 2015: 165). Die Beispiele Shirahatas und Asōs veranschaulichen so, dass ein im kyōyōshugi-Umfeld entpolitisierter Thomas Mann von der NS-konformen japanischen Kulturpolitik zunächst noch geduldet wurde. Besondere Kreativität im Umgang mit staatlicher Zensur demonstrierte indessen Hirano Imaos noch im Juli 1941 (also ungefähr zeitgleich zur Einstellung der Mikasa-Gesamtausgabe) bei Shinchōsha publizierte Übersetzung des zwei Jahre zuvor erstveröffentlichten Thomas Mann-Romans Lotte in Weimar, die sich durch einen biografischen Abriss und paratextuelle Erläuterungen den Anschein gab, mehr mit Goethe als mit Mann zu tun zu haben (Yamaguchi 2018: 404–405).

Während der Kriegsjahre wurden dagegen schätzungsweise 2120 westliche Publikationen in Buch- und Zeitschriftenform verboten (Kondo/Wakabayashi 2011: 474); auch der kyōyōshugi-affine Iwanami-Verlag entfernte marxistische und sozialistische Werke aus dem Programm der Iwanami Bunko-Reihe (Mathias 1990: 383). Infolgedessen durften Kobayashi zufolge ab 1941 keine Thomas Mann-Übersetzungen (Kobayashi 1976: 29), Oguro zufolge zwischen 1942 bis 1945 weder Thomas Mann-Übersetzungen noch entsprechende wissenschaftliche Aufsätze veröffentlicht werden (Oguro 2004: 145). Zu ausdrücklichen Verboten kam es in diesem Zusammenhang kaum; stattdessen wurden Übersetzungsaktivitäten durch politischen Druck im Keim erstickt, was dem nationalsozialistischen Zensurmodus der „Schere im Kopf“ entsprach (Adam 2013: 23). Wie das im vierten Kapitel eingehend untersuchte Beispiel der beiden Tonio Kröger-Übersetzer Takahashi Yoshitaka und Satō Kōichi zeigt, betraf dies insbesondere die vom NS-sympathisierenden Goethe-Spezialisten Kimura Kinji geleitete Fachgermanistik der Kaiserlichen Universität Tōkyō, sodass dort ab 1942 keine Abschlussarbeiten zu Mann oder Hesse mehr eingereicht werden durften (Takada 2006: 52, 178, Maeda 2010: 191); als Angehöriger des Abschlussjahrganges 1942 spricht Yamashita in diesem Zusammenhang explizit von einem „Tabu“ (gohatto) (Yamashita 1969: 78).

Eine entscheidende Rolle spielte hierbei die ab Mai 1937 von der dortigen Studiengemeinschaft für deutsche Literatur (Tōkyō Teikoku Daigaku doitsu bungaku-kai) publizierte Fachzeitschrift Doitsu Bungaku (Deutsche Literatur, 独逸文學), die als neu ausgerichtetes Nachfolgeformat von Teikoku Bungaku und Ernte NS-linientreue literarische Werke sowie entsprechende Literaturauffassungen propagierte (Seki 2007: 8–9; Takada 2006: 13). Erkennbar wurde dies bereits in der Erstausgabe, in der die Aberkennung der deutschen Staatsbürgerschaft Thomas Manns dahingehend kommentiert wurde, dass dieser erwiesenermaßen „seine völkisch-nationale Loyalitätspflicht vernachlässigt und staatliche Interessen gefährdet habe“ (kokka oyobi kokumin e no chūsei no gimu o namakeri, kokka no rieki o gaisuru to mitomerare, kokuseki o hakudatsu sareta) (Yamaguchi 2018: 383). Dementsprechend war auch die im weiteren Argumentationsverlauf ausführlicher thematisierte NS-Kompromittierung der beiden Tonio Kröger-Übersetzer Takahashi und Satō zumindest teilweise ihrem akademischen Umfeld geschuldet.

Dass die weltanschauliche Gleichschaltung der japanischen Fachgermanistik mit der NS-affirmativen japanischen Kulturpolitik keineswegs unumgänglich war, zeigt derweil das Beispiel des germanistischen Instituts der Kaiserlichen Universität in Kyōto, an dem Thomas Mann-bezogene Forschungsaktivitäten weiterhin möglich waren (Yamashita 1969: 78; Maeda 2010: 191; Takada 2006: 178) und Werke des Exilautoren nach wie vor in Graduiertenseminaren gelesen wurden (Yamaguchi 2018: 262). Während jedoch Kyōtoer Absolventen wie Wada Yōichi oder Ōyama Teiichi (s. o.) durch eine politisch linke Gesinnung auffielen, pflegte ihr Professor Naruse Mukyoku insbesondere mit Manns Frühwerk eher ein liebgewonnenes literarisches Erbe, als aus politischen Beweggründen die offene Opposition zur NS-konformen Kulturpolitik zu riskieren (ebd.: 270); er monierte allenfalls einen „stiefmütterlichen“ Umgang (reigū) Nazideutschlands mit Thomas und Heinrich Mann (ebd.: 165–166). Entsprechend hierzu hielten auch die Kastanien als am germanistischen Institut der Kaiserlichen Universität Kyōto erscheinende Fachzeitschrift vorerst an ihrer linken politischen Ausrichtung fest, sodass selbst dann noch, als die Zeitschrift infolge politischer Druckausübung zeitweilig eingestellt und neu gegründet werden musste, in Nazideutschland zensierte und verfolgte Autoren thematisiert wurden (Maeda 2010: 259; Yamaguchi 2018: 232, 260, 269). Nachdem der zuvor erwähnte Wada Yōichi im September 1937 hier eine Übersetzung von Thomas Manns im April desselben Jahres gehaltener Rede Bekenntnis zum Kampf für die Freiheit publiziert hatte (Yamaguchi 2018: 268), wurde er ebenso wie zuvor Ōyama Teiichi im Juni 1938 wegen Verstoßes gegen das Gesetz zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit (chian-iji-hō) festgenommen (Mathias 2012: 347), was zur endgültigen Einstellung der Kastanien führte (Yamaguchi 2018: 269).

Obwohl ab Mitte 1944 keinerlei auf Thomas Mann bezogene Informationen mehr nach Japan gelangten (ebd.: 418) und entsprechende Forschungsliteratur laut dem Tonio Kröger-Übersetzer Satō Kōichi noch 1949 nur eingeschränkt verfügbar war (Satō 1949: 344), ist die dritte im Rahmen der vorliegenden Untersuchung angesetzte Rezeptionsphase keineswegs als reine Nullphase zu betrachten. Charakterisiert ist sie vielmehr durch die massive politische Beeinflussung der japanischen Thomas Mann-Forschung und -Übersetzung, welche zunächst einen Aufschwung, dann entpolitisierende Kompromisslösungen und schließlich die zeitweilige Einstellung der Rezeptionsaktivitäten zur Folge hatte.

3.3.6 Nachkriegszeit

Nachdem die japanische Germanistik infolge einer weitgehend apolitisch-weltfremden Vorkriegszeit gegen Ende der 1930er-Jahre durch eine NS-affirmative japanische Kulturpolitik kompromittiert worden war, folgte hierauf in der vierten Rezeptionsphase bzw. in der unmittelbaren Nachkriegszeit als japanischem Zeitalter des Humanismus (Hyūmanizumu no jidai; Murata 1991: 177) eine explizite Kurskorrektur. Da aus der NS-Verstrickung der japanischen Fachgermanistik nach Kriegsende nur in Einzelfällen personelle Konsequenzen gezogen wurden (Maeda 2010: 185, 300), lässt sich die diese Ära als politisches Kollektivvergessen in Wissenschaft und Verlagswesen beschreiben (Yamaguchi 2018: 341). Allgemein zeichnete sich die japanische Nachkriegszeit durch ein wiedererstarktes Interesse an europäischer Literatur aus, sodass bspw. die Tagebücher der Anne Frank sowie George Orwells Roman Animal Farm zu Übersetzungsbestsellern wurden (Kondo/Wakabayashi 2011: 474; Keene 1987: 9). Von diesem Klima profitierte die Thomas Mann-Übersetzung insofern, als die während der Kriegsjahre fast gänzlich eingestellten Rezeptionsaktivitäten einen erheblichen Aufholbedarf bedingten (Yamashita 1969: 81). Folglich wurden die im Original zwischen 1933 und 1943 veröffentlichten Josephsromane sowie der 1947 erstveröffentlichte Roman Doktor Faustus zeitnah nach Kriegsende ins Japanische übersetzt (Murata 1991: 175; Potempa 1997: 1131); insbesondere Doktor Faustus wurde darüber hinaus auch vermehrt in sich an die außerakademische Öffentlichkeit richtenden Artikeln thematisiert (Murata 1991: 177). Zugleich verlagerten sich die Übersetzungsaktivitäten zunehmend auf den nicht i. e. S. literarischen Bereich der Essays und Aufsätze (Murata 1991: 175), sodass auch die beiden Tonio Kröger-Übersetzer Takahashi Yoshitaka und Satō Kōichi direkt nach Kriegsende entsprechende Übersetzungen publizierten (Kobayashi 1976: 32–33), auf die im vierten Kapitel ausführlicher eingegangen wird.

Diese Aufholbestrebungen ermöglichten es, die seit Jahrzehnten aufrechterhaltene Fixierung auf das Frühwerk wenigstens teilweise zu überwinden (Yamaguchi 2018: 147), wobei Thomas Mann ab Ende der 1940er-Jahre als „japanische[s] Nachkriegsgewissen“ instrumentalisiert wurde (Keppler-Tasaki 2020: 119). Dem Zeitgeist entsprach dies auch insofern, als die 1947 erschienene Gründungsausgabe der von der im selben Jahr entstandenen japanischen Gesellschaft für Germanistik (Nihon Dokubun Gakkai) herausgegebenen Zeitschrift Doitsu Bungaku (ドイツ文学, nicht zu verwechseln mit der gleichnamigen, ab 1937 erschienenen Fachzeitschrift des germanistischen Institutes an der Kaiserlichen Universität Tōkyō) als „Humanismus-Sonderausgabe“ (Hyūmanizumu Tokushū) konzipiert war (Horiuchi 1994: 13). Der Band enthielt zwei Aufsätze der späteren Tonio Kröger-Übersetzer Takahashi Yoshitaka und Satō Kōichi, denen so, wie im vierten Kapitel eingehender thematisiert wird, die Abgrenzung von der vormals NS-kompromittierten Tōkyōter Fachgermanistik gelang (Satō 1947; Takahashi 1947b).

In diesem gedanklichen Klima wurden seit Ende der 1930er-Jahren kursierende Stilisierungen Thomas Manns zum „Ritter des Humanismus“ (hyūmanizumu no senshi) erneut und mit deutlich mehr Resonanz bemüht (Murata 1977: 441; Murata 1991: 175; Yamaguchi 2018: 384). Hinzu kam eine Vielzahl blumiger Charakterisierungen u. a. als „Fähnrich des Humanismus“ (hyūmanizumu no kishu) und „Lehrer der Demokratie“ (minshūshugi no kyōshi) (Kobayashi 1976: 35) sowie als „Bewahrer der geistigen Freiheit“ (seishin no jiyū no hoshōnin), „Prophet von Fortschritt und Zivilisation“ (shinpo no miryoku, bunmei no ōkasha) und „höchste Zivilisationsgerichtsbarkeit“ (bunmei no saikō-hōtei) (Takahashi 2010: 263). Ein Nachhall hiervon fand sich noch im am 14. August 1955 vom zeitweilig unter dem Pseudonym Takahashi Gikō publizierenden Tonio Kröger-Übersetzer Takahashi Yoshitaka in der Morgenausgabe der Asahi Shinbun veröffentlichten Nachruf insofern, als dieser zunächst den Titel Thomas Mann. Das Gewissen der Welt (Chikyū no ryōshin Tōmasu Man) trug und erst später unter dem Titel Tōmasu Man to Nihonjin (Thomas Mann und die Japaner) als Essay erschien (Takahashi 2010: 263–265; Keppler-Tasaki 2020: 121). Entsprechende Zuschreibungen einer politischen Mentorfunktion Manns blieben bis Ende der 1960er-Jahre gebräuchlich (Yamashita 1969: 78); sie erwiesen sich als anschlussfähig an die nachkriegszeitliche Auffassung Manns als eines „Meisters des Lebens“ (jinsei no shi), die ihrerseits durch im kyōyōshugi-Umfeld typische konfuzianische Auffassungen der Meister-Schüler-Beziehung geprägt war (Murata 1991: 180; Yamamuro 2018: 228), sodass sich der vorkriegszeitliche kyōyōshugi-Personenkult in der japanischen Nachkriegsgesellschaft fortsetzen konnte. Das intensivierte Interesse eines inzwischen die elitären Sphären der universitären Fachgermanistik weit überschreitenden japanischen Publikums galt hierbei insbesondere Manns politischer Publizistik (Murata 1991: 175). Dem Tonio Kröger-Übersetzer Takahashi Yoshitaka zufolge sei Thomas Mann in den unmittelbar auf die Kriegsniederlage folgenden zwei bis drei Jahren häufiger in den japanischen Tageszeitungen erwähnt worden als zu jeder anderen Zeit, was für Nachkriegsjapan Trost (nagusamete kuremashita) und das „Sprungbrett“ in ein neues Leben (atarashii seikatsu e dai-ippo o fumidasu tame no supuringubōdo) bedeutet habe (Takahashi 2010: 263). Dies rührte auch daher, dass man sich infolge des durch die Kriegsniederlage bedingten Schocks verstärkt an westlichen Vor- und Leitbildern sowie an Intellektuellen i. A. orientierte, um mit den globalen Entwicklungen Schritt zu halten (Murata 1960: 56; Araki 2005: 243–244). Die daraus resultierende Fokussierung auf Manns Verdienste um Freiheit und Demokratie habe Takahashi zufolge dazu geführt, dass man die literarisch-philosophischen Verdienste des Literaturnobelpreisträgers zeitweilig aus den Augen verloren hätte (Takahashi 2010: 264).

Thomas Mann selbst trug maßgeblich zu dieser japanischen Wahrnehmung seiner Person bei, wobei er insbesondere während seines letzten Lebensjahrzehnts hinsichtlich der ihm im fernen Japan beigemessenen Bedeutung überaus gut informiert war. Dazu trug im Wesentlichen sein Schwager Klaus Pringsheim Senior bei, der mit zwei kürzeren Unterbrechungen von 1931 bis zu seinem Tod im Jahr 1972 in Tōkyō lebte (Hayasaki 1994: iii). Ein Tagebucheintrag Manns vom 19. Februar 1937 vermerkte in diesem Zusammenhang die Beschäftigung mit einem vom Schwager verfassten Manuskript „über japanische Oper“ (Mann 1980: 30), sodass ein diesbezüglicher Austausch erwiesen ist. Auch Kontakte zwischen der Familie Pringsheim und der japanischen Fachgermanistik sind insofern dokumentiert, als Naruse Mukyoku im auf das Jahr 1948 datierten Nachwort seiner Buddenbrooks-Übersetzung Puringusuhaimu-Shi, also dem „verehrten Herrn Pringsheim“, für die Unterstützung beim Erstellen der überarbeiteten Ausgabe dankte (Naruse 1949: 312). Statt Klaus Pringsheim Senior dürfte hier jedoch dessen älterer Sohn Hans Erik gemeint gewesen sein, denn neben Pringsheim Senior hielten sich auch Thomas Manns Neffen, Hans Erik und der jüngere Adoptivsohn Klaus Pringsheim Junior, längere Zeit in Japan auf. Klaus Pringsheim Junior erlernte die japanische Sprache (Mann 1989: 60) und wurde später Professor für japanische und chinesische Politik (Armbrust/Heine 2008: 228–230), verließ Japan allerdings 1946 aus finanziellen Beweggründen, um bis 1952 im US-amerikanischen Exilhaushalt des berühmten Onkels Zuflucht zu suchen (Weidle 1993). Dagegen heiratete der ältere Neffe Hans Erik eine Japanerin und blieb auch nach Kriegsende in Tōkyō, sodass ihm Thomas Mann 1951 „ein fuer [sic] allemal die Vertretung meiner Interessen in Japan“ übergab (zit. nach Keppler-Tasaki 2020: 126). Dies belegt ein auf den 12. April 1951 datierter Brief Manns an den Tonio Kröger-Übersetzer Takahashi Yoshitaka, welcher Mann bezüglich einer Senkung der Übersetzertantiemen durch den Shinchōsha-Verlag um Unterstützung ersucht hatte, von Mann allerdings explizit an den für Urheberrechtsfragen zuständigen Neffen verwiesen wurde (Oguro 2018: 136). Bereits zuvor hatte Hans Erik sogar selbst Schriften des berühmten Onkels ins Japanische übersetzt (Pringsheim 1947: 142–151); zudem berichtet Mann in einem weiteren, auf den 9. Februar 1949 datierten Brief an Takahashi, dass ihm Hans Erik über die japanische Rezeption seiner Werke berichtet habe (zit. nach Oguro 2018: 134). Spätestens für das Jahr 1961 ist außerdem ein urheberrechtliches Arrangement zwischen Hans Erik Pringsheim und dem Shinchōsha-Verlag erwiesen (Takahashi/Morikawa/Maruko 1961: 331).

Während sein Schwager und der jüngere Neffe bzw. die von Mann selbst so bezeichneten „Tokyo-Verwandten“ (Mann 1989: 84) 1947 in dessen kalifornischen Exilresidenz zu Gast waren, vermittelte der Schweizer Korrespondent der japanischen Tageszeitung Asahi Shinbun außerdem den Kontakt zum Chefredakteur Takano Shin sowie zu dessen kalifornischem Vertreter Asano Shichinosuke, die sich in der Folge intensiv um die Gunst des Literaturnobelpreisträgers bemühten (Mann 2009: 348; Keppler-Tasaki 2020: 118). In der Folge veröffentlichte Mann in den Jahren 1948, 1949 sowie 1951 in der Asahi Shinbun, 1951 in der Yomiuri Shinbun (読売新聞) und 1954 in der Sangyō Keizai Shinbun (産業経済新聞) insgesamt fünf Zeitungsartikel, mit denen er sich direkt an Japans Nachkriegsöffentlichkeit wandte (Potempa 1997: 1137–1138). In der Literaturzeitschrift Kindai Bungaku (Moderne Literatur) erschien 1949 außerdem unter dem Titel Sengo Nihon no Chishikijin e (An die Intellektuellen von Nachkriegsjapan) die vom Germanisten Hirata Jisaburō angefertigte japanischsprachige Übersetzung eines Briefes, den Mann Ende 1948 an diesen gerichtet hatte (Hirata 1949: 11–17; Murata 1991: 175). Dabei handelte es sich um die verspätete Reaktion auf einen Brief Hiratas an Mann, der in japanischer Sprache bereits in der vorjährigen Aprilausgabe von Kindai Bungaku abgedruckt worden war und Fragen zu Japans kultureller Selbstverortung nach der Kriegsniederlage aufwarf (Oguro 2018: 127–128).

Insbesondere Manns 1948 in der Asahi Shinbun publiziertem Neujahrsartikel ist dabei ein Hang zur altväterlich wirkenden Selbststilisierung anzumerken, die sich auf das durch kyōyōshugi geprägte Bild der verklärten Lehrer-Meister-Figur stützte. So gab sich der einstige Exilautor als politischer Erzieher Japans: Ermahnungen wie derjenigen, dass der „Verrat am Frieden“ als „Verrat der Menschheit an sich selbst“ (Mann 2009: 353) fortan nicht mehr verziehen werde, stellte er lobende Ermunterungen zur Seite, denn anders als in Deutschland sei „in Japan viel klare Einsicht in die Fehler der Vergangenheit erkennbar, viel guter und energischer Wille, sich von der Erfahrung belehren zu lassen und aus dem Zusammenbruch neue Wege zu neuem Leben zu finden“ (ebd.: 352). Diesen Aufruf zur Demokratisierung schmückte Mann mit sympathiewerbenden Anekdoten wie derjenigen des frisch aus der Internierung entlassenen japanischen Ehepaares Shimidzu [sic], das von Oktober 1945 bis November 1947 im US-amerikanischen Exilhaushalt der Manns angestellt war, um „sich wirtschaftlich wiederherzustellen“ (ebd.: 351). Das Verhältnis scheint insofern harmonisch gewesen zu sein, als sich Mann lobend äußert, nie habe er „angenehmere, reinlichere, höflichere, kultiviertere Helfer gehabt“ (ebd.), sodass die Shimidzus auch nach Ende des Arbeitsverhältnisses noch wiederholt im Mannschen Haushalt aushalfen (Keppler-Tasaki 2020: 107). Nicht zuletzt die Gönnerhaftigkeit der Sympathiebekundungen legt derweil nahe, dass die deutsch-japanische Begegnung keineswegs auf Augenhöhe stattfand. So konnte sich der ansonsten sprachgewaltige Dienstherr die Namen der über zwei Jahre im selben Haus wohnhaften Angestellten nicht merken und nannte sie daher in seinen Tagebuchaufzeichnungen mehrfach „die Gelben“ (Mann 1989: 16; 118; 130). Auch in einem privaten Brief an Ida Herz beschrieb er sie wohlwollend als „die besten Dienstboten, die wir je hatten, civilisiert [sic], artig, fleißig, reinlich. Und sie verbeugen sich so hübsch“ (Mann 1963: 492).

Daneben erschienen sowohl in Zeitschriften als auch in großen Tageszeitungen wie Asahi Shinbun japanische Übersetzungen verschiedener Essays zum Zeitgeschehen, sodass bspw. die vom Iwanami-Verlag publizierte kulturpolitische Zeitschrift Sekai (Welt) sowie die bei Kōdansha (講談社) verlegte Literaturzeitschrift Gunzō (Gruppenbild) 1950 bzw. 1951 je eine japanische Teilübersetzung der Essaysammlung Meine Zeit abdruckten und die Asahi Shinbun 1954 eine Übersetzung von Manns kurzem Radio-Essay Lob der Vergänglichkeit veröffentlichte (Murata 1991: 175). Dass die ebenfalls bei Iwanami Shoten verlegte, humanistisch-gesellschaftswissenschaftliche Fachzeitschrift Shisō dem gebürtigen Norddeutschen 1948 sogar ein Sonderheft widmete, stellte hierbei insofern eine publizistische Verbindung zu kyōyōshugi her, als dort bereits 25 Jahre zuvor ein Sonderheft zur kyōyōshugi-Leitfigur Raphael von Koeber erschienen war (Murata 1991: 175; Maeda 2010: 151).

Im Zusammenhang dieser gesteigerten Präsenz in allen Bereichen des intellektuellen Tagesgeschehens trat Thomas Mann weniger als Schriftsteller, sondern eher als Persönlichkeit von öffentlichem Interesse in Erscheinung: Während er mit dem Goethe-Essay von 1932 noch gezielt die junge japanische Bildungselite adressiert hatte, richteten sich die knapp zwei Jahrzehnte später erschienenen Zeitungsartikel an die gesamte japanische Nachkriegsöffentlichkeit, sodass Mann den bis dahin noch wichtigeren Goethe Anfang der 1950er-Jahre als Leitfigur der japanischen Intellektuellen ablöste (Keppler-Tasaki 2020: 120). Keppler-Tasaki zufolge dürften Thomas Manns wiederholte Japan-Adressen hierbei in erster Linie auf eine Rückendeckung des seinen Lebensmittelpunkt um 1950 nach Tōkyō zurückverlagernden Schwagers Klaus Pringsheim Senior abgezielt haben (ebd.: 116): Dass der Jude und Sozialdemokrat Pringsheim Senior der damals strafbaren Homosexualität bezichtigt wurde, machte nicht nur die Flucht aus Nazideutschland erforderlich, sondern gefährdete auch in Japan seine Stellung. Bereits 1937 war Pringsheim aus politischen Gründen aus seiner bisherigen Anstellung an der Musikakademie Tōkyō entlassen worden (Schauwecker 1994: 240–242, 248). Auch in den USA gelang es ihm nicht, beruflich Fuß zu fassen, sodass er 1950 mehr oder minder notgedrungen nach Japan zurückkehrte (Hayasaki 1994: iii). Vor diesem Hintergrund diente Thomas Manns japanische Öffentlichkeitsarbeit v. a. der dringend notwendigen sozialen Absicherung des Schwagers, dessen berufliches Auskommen ab 1951 tatsächlich durch einen Posten an der Tōkyōter Musashino-Musikakademie gesichert war (Keppler-Tasaki 2020: 117–118). Auch ein auf Goethes 200. Geburtstag im Jahre 1949 angesetzter Japanbesuch Manns wurde zwar mehrfach in Erwägung gezogen, kam aber letztlich nicht zustande (Murata 1960: 52; Murata 1991: 175; Keppler-Tasaki 2020: 128–129).

3.3.7 Mitte der 1950er-Jahre bis Ende der 1980er-Jahre

Während je nach Rezeptionsphase spezifische, durch Thomas Manns gezielte Öffentlichkeitsarbeit teils unmittelbar beeinflusste Auffassungen zu Autor und Werk die öffentliche Diskussion in Japan prägten, blieben ältere Konzepte wie das kyōyōshugi-Bildungsideal der 1920er-Jahre und die anachronistische Perspektivverzerrung (Yamaguchi 2018: 301) weiterhin relevant. Dies gilt insbesondere für die fünfte Rezeptionsphase, die in den 1950er-Jahren allmählich einsetzte und bis in die späten 1980er-Jahre andauerte.

Als gegen Ende der Nachkriegszeit auch die japanische Begeisterung für Thomas Mann als einem hauptsächlich aufgrund seiner Verdienste um die Demokratie geschätzten „Ritter des Humanismus“ (hyūmanizumu no senshi) allmählich abklang (Murata 1977: 441; Murata 1991: 175–177), erfolgte eine fachwissenschaftliche und literarische Rückbesinnung auf den Schriftsteller Thomas Mann. Insbesondere im Kontext eines popularisierten taishū-kyōyōshugi (Takeuchi 2007: 202–203) erfuhr bspw. die Erzählung Tonio Kröger durch eine Vielzahl von in den 1960er- und 70er-Jahren innerhalb von einschlägigen Sammelausgaben zur Weltliteratur (Sekai Bungaku Zenshū, 世界文学全集) erscheinende Retranslations eine zusätzliche Kanonisierung (Yamamuro 2018: 227). Spätestens ab den 1960er-Jahren galt Tonio Kröger demzufolge weniger als der intime Geständnisroman, über den sich einst die junge kyōyōshugi-Bildungselite definiert hatte, sondern war in einem auch für das Massenpublikum attraktiven Bildungs-Establishment aufgegangen. Folglich waren in den 1970er-Jahren – zusätzlich zu den genannten Sammelausgaben – fünf verschiedene Tonio Kröger-Taschenbuchausgaben von vier Übersetzern parallel auf dem japanischen Buchmarkt verfügbar (ebd.: 227). Hierzu dürfte auch Viscontis 1971 erschienene Verfilmung der Erzählung Der Tod in Venedig beigetragen haben (Horiuchi 1994: 15), da Film und Fernsehen die zeitgenössische Nachfrage nach Bestsellerpublikationen prägten (Okuyama 1980: 223).

Auch die fachgermanistische Thomas Mann-Forschung erlebte anlässlich des Jubiläumsjahres 1975, das den 100. Geburtstag des Literaturnobelpreisträgers markierte, eine erneute Blüte. Nicht von ungefähr begann auch der Shinchōsha-Verlag im Jahr 1972, die nach dem Abbruch der Mikasa-Gesamtausgabe über Jahrzehnte hinweg aufgeschobene japanische Thomas Mann-Gesamtausgabe zu publizieren (Potempa 1997: 1118–1121). In der Folge zeichnete sich die Forschung auch durch ein erstarktes Interesse an den im Oktober 1918 erstveröffentlichten (Blödorn/Marx 2015: 406) Betrachtungen eines Unpolitischen bzw. an Thomas Manns kulturkonservativ-patriotischer Haltung im Kontext des Ersten Weltkrieges aus (Murata 1991: 177–178). Die politischen Implikationen der Mannschen Essayistik waren also nach wie vor Thema; die heroischen Stilisierungen der unmittelbaren Nachkriegszeit wichen aber differenzierteren Untersuchungen. Weitere Impulse zu werkexternen Betrachtungen erhielt die japanische Thomas Mann-Forschung zudem durch die 1979 beginnende Veröffentlichung von Manns bis dahin unter Verschluss gehaltenen privaten Tagebüchern (Horiuchi 1994: 9).

Vor diesem Hintergrund wurden auch die japanischsprachigen Übersetzungstexte vereinzelt wissenschaftlich thematisiert, wie eine 1975 erschienene Untersuchung Fukais zu unterschiedlichen übersetzerischen Interpretationen einer Szene aus dem achten Tonio Kröger-Kapitel veranschaulicht. Hier suggeriert der Ausgangstext, dass die beiden Gestalten, die dem inzwischen erwachsenen Tonio Kröger in einem dänischen Seebad erscheinen, tatsächlich derjenige Hans Hansen und diejenige Ingeborg Holm sind, in die Tonio einst kindlich verliebt war: „Da geschah dies auf einmal: Hans Hansen und Ingeborg Holm gingen durch den Saal.“ (GKFA 306, Hervorh. Original). Einige Seiten später schafft die Formulierung „Sie waren es nicht so sehr vermöge einzelner Merkmale und der Ähnlichkeit der Kleidung, als kraft der Gleichheit der Rasse und des Typus“ (GKFA 310) jedoch insofern Klarheit, als Tonio eben doch nicht Hans und Inge sieht, sondern ein lediglich entsprechende Kindeserinnerungen weckendes fremdes Paar. Umso gravierender wirkt es sich daher aus, dass Takahashi Yoshitaka in seiner Übersetzung auf die zuletzt erwähnte explizite Klarstellung „sie waren es nicht“ verzichtet hat: „kono futari ga tomo ni kare o nayamaseta no wa, futari no hitotsu hitotsu no tokuchō ya ifuku no kyōtsūsei no tame to iu yori mo, shuzoku to ruikei no dōissei […] no tame na no de atta“ (Takahashi 2014 [1967]: 108). Durch die Kausativform des Verbs nayamu bzw. „leiden“ variiert Takahashi die Ausgangstextsemantik, sodass aus „sie waren es (nicht), weil […]“ sinngemäß „sie ließen ihn (nicht) so leiden, weil […]“ wird. Takahashis Übersetzungsvariante ist also eher so zu verstehen, dass das, was Tonio Kröger „leiden lässt“, nicht Merkmale oder Kleidung Hans Hansens und Ingeborg Holm sind, sondern der hierdurch repräsentierte Typus. Fukai zufolge lässt diese Übersetzungsvariante den surrealen Eindruck entstehen, dass der mittlerweile über 30-jährige Tonio in Dänemark den kaum gealterten Sehnsuchtsobjekten seines 14- bzw. 16-jährigen Ichs begegne (Fukai 1975: 71). Dass Fukai im Zuge dessen interpretative Konsequenzen und Potenziale der Übersetzung differenziert darstellt, ist ein insbesondere im zeitgenössischen Kontext seltenes Beispiel einer Selbstreflexion der japanischen Thomas Mann-Rezeption, die sich von der im kyōyōshugi-Umfeld vorherrschenden Konzentration auf die Muttergermanistik merklich abgrenzt.

Ferner waren insbesondere die 1950er- und 1960er-Jahre durch eine besonders intensive Auseinandersetzung der japanischen Schriftstellergeneration um Mishima Yukio, Kita Morio und Tsuji Kunio mit Thomas Manns literarischem Werk charakterisiert. Nachdem Mann in vorherigen Rezeptionsphasen bereits durch Mori Ōgai, Akutagawa Ryūnosuke und Kanbayashi Akatsuki sowie außerdem durch Shimazaki Tōson (島崎藤村) und Dazai Osamu (太宰治) rezipiert worden war (Yamaguchi 2018: 348, 372), bezog sich der spätere japanische Literaturnobelpreisträger Ōe Kenzaburō (大江健三郎) noch in seiner 1978 publizierten Romantheorie ausführlich auf Thomas Manns Erzählung Der Tod in Venedig (Ōe 1993: 101–122); ebenso wurde in Bezug auf den zeitgenössischen Schriftsteller Yoshiyuki Jun’nosuke eine Beeinflussung durch Thomas Mann diskutiert (Kobayashi 1976: 3). Während insbesondere Ōe jedoch als typischer Vertreter des neuen nachkriegszeitlichen Bildungssystems galt (Takeuchi 2007: 28, 34), dürften die Mitte der 1920er-Jahre geborenen Schriftsteller Mishima, Kita und Tsuji allesamt an den Oberschulen des alten Bildungssystems mit dem im zeitgenössischen kyōyōshugi-Umfeld praktizierten Thomas Mann-Kult in Berührung gekommen sein (Maeda 2010: 302). Diesbezüglich schrieb Tsuji Kunio später explizit, Thomas Mann sei neben Hesse und Rilke während der Oberschulzeit sein ständiger Begleiter gewesen (watashi no katawara ni atta; zit. nach Takada 2006: 20), wobei er insbesondere Tonio Kröger „mit seelischem Leid“ gelesen habe (zit. nach Oguro 2004: 247). Ein ausgeprägtes Interesse auch am technisch-theoretischen Aspekt von Manns Schreiben legte Tsuji noch während eines von 1957 bis 1961 währenden Parisaufenthaltes insofern an den Tag, als er den Roman Buddenbrooks nicht nur im deutschsprachigen Original las, sondern den ersten Teil des Textes auf Karteikarten kopierte, um Manns Romantechnik zu analysieren (Horiuchi 1994: 11).

Auch sein Schriftstellerkollege Kita Morio, den Yamaguchi als „Japans berühmtesten Thomas Mann-Liebhaber“ (Nihon de motto mo yūmei na Tōmasu Man-aikōka) charakterisiert (Yamaguchi 2018: 128), teilte mit dem einstigen Schulkameraden Tsuji ein sprichwörtlich gewordenes „Tonio Kröger-Erlebnis“ (Tonio Kurēgeru taiken) (Fukai 1975: 79). Von dessen Intensität zeugt bereits das Schriftstellerpseudonym „Kita Morio“, das dem Protagonistennamen „Tonio Kröger“ sowohl lautlich (in Hinblick auf den Vornamen „Tonio“ bzw. „Morio“) als auch semantisch (in Hinblick auf den „nordischen“ Familiennamen „Kröger“ bzw. „Kita“ als wörtlicher Übersetzung von „Norden“) nachempfunden war (Yamashita 1969: 79). Dokumentiert ist darüber hinaus, dass sowohl Tsuji Kunio als auch Kita Morio im Sommer 1966 während des gemeinsamen Besuches an Thomas Manns Züricher Grabstätte im Gedenken an die gemeinsame Oberschulzeit „plötzlich“ in Tränen bzw. „Schluchzen“ aufgelöst (totsujo oetsu shita) gewesen seien (Sekikawa 2009: 18).

Obwohl entsprechenden Darstellungen nach wie vor ein für kyōyōshugi charakteristisches Verehrungspathos anzumerken ist, bezog sich dieses nicht mehr schwerpunktmäßig auf die Schriftstellerpersönlichkeit Thomas Mann, sondern verstärkt auf das literarische Werk. Hierfür spricht nicht nur Tsujis Karteikartenanalyse des Romans Buddenbrooks, sondern ebenso Kita Morios 1963 veröffentlichter Roman Nire-ke no Hitobito, der Buddenbrooks nicht nur in Hinblick auf den japanischen Übersetzungstitel Buddenburōku-ke no Hitobito, sondern auch thematisch nachempfunden war (Miyauchi 2016, 2017; Yamashita 1969: 79): Den in Buddenbrooks geschilderten Niedergang einer Lübecker Kaufmannsfamilie verlegte Kita, dessen Vater Dichter und Psychiater war (Yamaguchi 2018: 128), dabei nicht nur nach Japan, sondern auf eine Psychiaterdynastie.

Ein in seinem emotionalen Pathos mit demjenigen Kita Morios und Tsuji Kunios vergleichbares Tonio Kröger-Erlebnis ist im Falle des Schriftstellers Mishima Yukio (三島由紀夫) zwar nicht explizit verbürgt, doch wiesen auch dessen in den 1950er-Jahren entstandene Romane Kinjiki und Kinkakuji signifikante Parallelen zu den Thomas Mann-Erzählungen Der Tod in Venedig und Tonio Kröger auf (Hijiya-Kirschnereit 1990). Diese Parallelen waren die neben den für das thematische Verständnis beider Autoren relevanten Aspekten der Unterdrückung homosexueller Neigungen (Keene 1987: 1183–1184) sowie der Kunst-Leben-Problematik (Murata 1991: 181) auch literaturtheoretisch fundiert: Nach eigener Aussage war Mishima insofern „in der Tat von Mann beeinflusst“ (Man ni wa, boku wa yahari, eikyō o ukete imasu), als er durch die Kunst-Leben-Problematik einen „westlichen“ Dualismus (nigenron) kennengelernt habe, der statt dem in der japanischen Literatur üblichen „Soft Focus“ (sofuto fōkasu) narrative Dramatik generiere (zit. nach Murata 1991: 181). Ferner habe Mishima Keene zufolge im Roman Kinkakuji versucht, die in Thomas Manns Der Zauberberg entfalteten weltanschaulichen Diskussionen literarisch nachzuempfinden (Keene 1987: 1200), wobei Mishima selbst die Beeinflussung durch Thomas Manns als „männlich“ empfundenen Stil (danseiteki na buntai) anhand der Formel „[Mori] Ōgai plus Mann“ zusammenfasste (Hayashi 1999: 123–124). Dem Tonio Kröger-Übersetzer Fukuda Hirotoshi zufolge habe der Schriftsteller außerdem die weltanschaulichen Implikationen des Zauberbergs auch im Rahmen seiner Essayistik diskutiert (Fukuda 1970: 148). Daneben wird Mishima der Versuch nachgesagt, die die Erzählung Tonio Kröger konstituierende Kunst-Leben-Problematik durch exzessive Überformung des eigenen Körpers bzw. Bodybuilding zu überwinden (Hayashi 1999: 138). Obwohl diese sämtliche Lebensbereiche erfassende Auseinandersetzung mit einem literarischen Text kurios wirken mag, entspricht sie dem im kyōyōshugi-Kontext verbreiteten Anspruch, die gesamte Lebensführung an literarischen Vorbildern auszurichten. Von Mishimas herausragender Tonio Kröger-Textkenntnis zeugt in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass er 1956 im Interview mit der Zeitschrift Bungakkai spontan begann, aus der Erzählung zu zitieren (Fukuda 1970: 145).

Von einem weitgehend exklusiven Lehrer-Schüler-Verhältnis nach kyōyōshugi-Auffassung kann hierbei dennoch insofern keine Rede sein, als Mishimas Romanpoetik neben Thomas Mann u. a. auch durch Goethe, Tolstoi (Keppler-Tasaki 2020: 72), Oscar Wilde, Dostojewski, Raymond Radiguet und François Mauriac (Keene 1987: 1173, 1191) beeinflusst war. Seine stilistische und thematische Orientierung an Mann war demzufolge Teil einer umfassenden Auseinandersetzung sowohl mit einer Vielzahl westlicher Autoren als auch mit Japans literarischer Tradition (Keene 1987: 1215), die in eigenständige literarische Produktion mündete. Damit repräsentierte die Schriftstellergeneration um Mishima Yukio, Kita Morio und Tsuji Kunio die literarische Überwindung einer im kyōyōshugi-Kontext schulisch anerzogenen Ehrfurcht vor der Schriftstellerpersönlichkeit Thomas Mann, an deren Stelle in der fünften Rezeptionsphase sowohl im literarischen auch im literaturwissenschaftlich-akademischen Bereich differenziertere Betrachtungen traten.

3.3.8 Ende der 1980er-Jahre bis heute

Gegen Ende der 1980er-Jahre flaute das Thomas Mann-Interesse der japanischen Allgemeinheit ab, was die sechste und voraussichtlich letzte Phase der japanischen Thomas Mann-Rezeption einleitete, die sich folglich als Schwundstufe beschreiben lässt. Den allmählichen Bedeutungsverlust belegen in diesem Zusammenhang die vom renommierten Iwanami-Verlag veröffentlichten Umfragen zu den jeweils 100 wichtigsten, von einer prominenten Jury ausgewählten Iwanami Bunko-Bänden. Während Saneyoshis Tonio Kröger-Erstübersetzung 1961 (Iwanami Bunko Henshūbu 2007: 438–439) und 1974 immerhin noch der Roman Der Zauberberg zu einer solchen exklusiven Lektüreliste gehörten (ebd.: 443–444), war Mann in der Umfrage des Jahres 1992 im Unterschied zu Übersetzungen Goethes, Kafkas, Hesses und Stefan Zweigs nicht länger vertreten (ebd.: 446–447). Dies dürfte auch darauf zurückzuführen sein, dass sich japanische Gegenwartsschriftsteller vom kyōyōshugi-bedingten Enthusiasmus früherer Rezeptionsphasen distanzierten. So gelangte z. B. Murakami Haruki (村上春樹) zum eher lakonischen Urteil, obwohl die Erzählung Tonio Kröger „veraltet“ (furukusai) und „nicht so großartig“ (toku ni taishita shōsetsu de mo nai) sei, fühle er sich beim Lesen der ihm aus der Mittelschulzeit schwach in Erinnerung gebliebenen Erzählung dennoch „bewegt“ (nakanaka jiwatto kokoro ni shimiru tokoro ga atta; Murakami 2008: 83). Diese eher milde japanische Kritik bezüglich der Aktualität und Relevanz Thomas Manns deckt sich mit der Einschätzung Walter Jens‘, Mann sei „ein Nachfahr, aber kein Ahnherr. Ein Letzter, kein Erster. Ein Vollender und kein Beginner“ (Jens 1994: 37). Dass der Blick des Goethe-Nachfahren Thomas Mann mehr in eine, wie sein Kritiker Bertolt Brecht 1941 über ihn schrieb, „3000-jährige“ Kulturvergangenheit (zit. nach Boes 2019: 19) und weniger in die Zukunft gerichtet gewesen ist, ist ein zentraler, bereits Anfang des 20. Jahrhunderts etablierter Bestandteil des ästhetischen Programms. „Alt“ wirkte Thomas Mann demzufolge bereits auf der Höhe seines literarischen Schaffens, sodass der nur zehn Jahre jüngere Schriftstellerkollege D. H. Lawrence im Herbst des Jahres 1912 über den damals 37-Jährigen schrieb: „But Thomas Mann is old – and we are young. Germany does not feel very young to me“ (zit. nach Arnold 1961: 34, 38). Darüber hinaus wurden Mann bedeutende historische „Versäumnisse“ angelastet, zu denen insbesondere die vollständige Ausklammerung des mit der Industrialisierung einhergehenden gesellschaftlichen Wandels gehörte (Kurzke 1997: 309). Auch hier bestehen beträchtliche Parallelen zur kyōyōshugi-Bildungselite, deren gesellschaftliche und politische Apathie im ausgehenden 20. Jahrhundert ebenfalls zunehmend kritisch hinterfragt worden ist (Takada 2006: 27).

Das Thomas Mann-Forschungsinteresse der japanischen Fachgermanistik ist dagegen bis in die jüngste Vergangenheit ungebrochen geblieben, wie insbesondere ein 2016 erschienenes Sonderheft der von der japanischen Gesellschaft für Germanistik herausgegebenen Neuen Beiträge zur Germanistik zum Thema „Redseligkeit und Stillschweigen in Texten Thomas Manns“ veranschaulicht (Oguro 2016). Dies ist auch darauf zurückzuführen, dass sich die Abkehr vom einstigen akademischen Establishment innerhalb der Fachgermanistik langsamer vollzogen haben dürfte als in anderen Gesellschaftsbereichen. So gründeten sich im Umfeld der Universitäten Kyūshū, Ōsaka und Fukuoka Thomas Mann-Forschungsgemeinschaften, die bis heute regelmäßige Tagungen veranstalten; außerdem stellte die Universität Kyūshū bereits 1983 eine durchsuchbare Online-Datenbank zum Gesamtwerk Thomas Manns ins Netz (Higuchi GM Corpus). Entsprechende Forschungspräferenzen der japanischen Fachgermanistik lassen sich zudem quantitativ belegen: Nakajima zufolge wurden zwischen 1982 und 1992 insgesamt 223 Aufsätze, Übersetzungen und Rezensionen zu Thomas Mann veröffentlicht, sodass diesem der Rang des drittpopulärsten Themas überhaupt innerhalb der japanischen Germanistik gebührt (Nakajima 1994: 255). Dass im o. g. Zeitraum zudem 34 Masteraufsätze zu Thomas Mann dokumentiert sind, was ihn zum am häufigsten gewählten germanistischen Masterarbeitsthema macht, indiziert eine zunächst ungeminderte Beliebtheit auch beim wissenschaftlichen Nachwuchs (ebd.: 256). Ebenso verzeichnete Shitahodo für den Zeitraum zwischen 1963 und 2003 ganze 840 wissenschaftliche Publikationen zum Thema Thomas Mann (Shitahodo/Scheifele 2009: 293).

Im Unterschied hierzu ist das in der japanischen Öffentlichkeit teilweise noch verbreitete Thomas Mann-Bild auf eine überschaubare Anzahl von Kerncharakteristika reduziert, die gängigen Deutschlandstereotypen als einer Nation „der spätbürgerlichen Prüderie und der sittenpolizeilichen Strenge“ entsprechen (Mishima 2001: 116). Da sich die japanische Auseinandersetzung mit Thomas Mann überwiegend auf die Schriftstellerpersönlichkeit konzentrierte, dürfte sich insbesondere die Mann zugeschriebene Verklemmtheit und Prüderie in Hinblick auf die Gegenwartsrezeption als problematisch erweisen. Besonders anschaulich wird dies anhand von Keppler-Tasakis Darstellung des anhaltend positiven japanischen Goethe-Bilds, auf das sich bspw. das 2006 gegründete Lifestyle-Magazin GOETHE bezieht (Keppler-Tasaki 2020: 152–157). Dieses bis heute monatlich erscheinende Format präsentiert sich auf seiner Internetseite als ein an Geschäftsleute gerichteter „Salon der Lebemänner“ (jinsei-nekkyō saron) und charakterisiert den deutschen Dichterfürsten nicht nur als Intellektuellen, sondern v. a. auch als Liebhaber des Reisens und der Frauen (tabi to josei o ai suru hito), als „Ikone des Erfolgs, des Stils und der inneren Balance, mithin als Idealbild eines weltoffenen Japaners“ (ebd.: 153). Auch die Tonio Kröger-Übersetzerin Hirano Kyōko bezieht sich auf eine solche von maskulinen Sehnsuchtsvorstellungen geprägte Tradition der Goethe-Rezeption (Hirano 2013: 2–3), in der „der Dichter und Staatsmann, der Liebende und Weise dezidiert als Mann, aber kaum einmal als Deutscher“ erscheint (Keppler-Tasaki 2020: 154). Als vom angestaubt wirkenden Deutschtum emanzipierte und trivialisierte Marke globalen Dandytums ist Goethe, der Europäer, mithin auch für ein japanisches Gegenwartspublikum interessant.

Eine vergleichbare Rezeption ist in Hinblick auf Thomas Mann undenkbar, da dessen anhand der den Tagebüchern anvertrauten „Intimitäten“ (Stunz 2011: 38) rekonstruierbares Verhältnis zur Sexualität zu ambivalent und mitunter problematisch ist, um als Vorbild moderner Dandy-Aspiranten in Betracht zu kommen. Gleiches gilt für sein Deutschtum: Im Falle Goethes ist der Spagat „zwischen nationalem Einheitsstifter und Bindeglied Deutschlands zur Welt“ (Keppler-Tasaki 2020: 16) insofern geglückt, als insbesondere die außerakademische Rezeption den Dichterfürsten weniger als Deutschen, sondern als Weltliteraten (sekaiteki bungō) wahrnimmt. Im Unterschied hierzu ist Manns Deutschtum selbst noch im US-amerikanischen Exil fest im ausgehenden 19. Jahrhundert verwurzelt gewesen und wirkt daher anachronistisch. Auch die vom Exilschriftsteller und NS-Gegner bereitwillig angenommene Rolle des Nachkriegsgewissens (ebd.: 119) erfüllte zwar die Funktion eines „Bindeglieds zur Welt“ nach Goetheschem Vorbild, erscheint aber spätestens mit dem Eintritt ins 21. Jahrhundert aufgrund von Manns aus gegenwärtiger Perspektive altväterlich-belehrendem und zuweilen rassistischem Tonfall (Mann 2009) ebenfalls überholt.

3.4 Zwischenfazit zum dritten Kapitel

Im dritten Kapitel wurde die äußere Übersetzungsgeschichte zur japanischen Auseinandersetzung mit Thomas Mann in Hinblick auf Kontexte zweiter Ordnung aufgearbeitet. Eine hinsichtlich dieser abstrakteren Einflussfaktoren zentrale Bedeutung kommt dem kyōyōshugi-Bildungsideal der japanischen Fachgermanistik zu, das eine kulturheteronome Unterordnung gegenüber dem westlichen Ausland impliziert. Zugleich konnte gezeigt werden, dass dieses Bildungsverständnis aufgrund der zeitgleichen japanischen Rezeption von aus dem 19. Jahrhundert stammenden deutsch-bildungsbürgerlichen Vorstellungen einerseits und der Bildungskritik der Jugendbewegung andererseits durch Ambivalenzen charakterisiert ist, die anschlussfähig an Thomas Manns eigene kritische Positionierung zum Bildungsbürgertum sind. Dargestellt wurde außerdem, dass entsprechende kulturheteronome Auffassungen keine moderne Entwicklung sind, sondern das japanische Übersetzungsdenken in Form der kanbun kundoku-Annotationsmethode seit dem Altertum geprägt haben. Vor diesem Hintergrund wurde abschließend eine Chronologie der japanischen Thomas Mann-Rezeption skizziert, die insbesondere in Hinblick auf die NS-Kompromittierung der kyōyōshugi-affinen japanischen Fachgermanistik erheblich vom sich zeitweilig auf die Vereinigten Staaten verlagernden internationalen Rezeptionsverlauf abweicht und maßgeblich vom Aufstieg und Bedeutungsverlust der kyōyōshugi-Bildungselite geprägt ist.