1.1 Hinführung zum Thema

Als die japanische Übersetzerin Hirano Kyōko 2011 in der Taschenbuchreihe Kawade Bunko eine Neuübersetzung des Thomas Mann-Klassikers Tonio Kröger publiziert, stellt sie eine hundertjährige, mit der ersten japanischsprachigen Thomas Mann Übersetzung 1910 ihren Anfang nehmende Übersetzungstradition auf den Kopf (Murata 1991: 167; Murata 1982: 241): Obwohl allein Tonio Kröger bis 2011 13-mal ins Japanische übersetzt worden war, ist Hirano die erste Frau überhaupt, die Thomas Mann ins Japanische übersetzt. Hinzu kommt, dass ihre 13 Vorgänger schwerpunktmäßig als anspruchsvoll geltende Werke des deutschen Literaturkanons übersetzten. Diese Aktivitäten konzentrierten sich auf das fachgermanistische Umfeld der Kaiserlichen Universitäten in Tōkyō und Kyōto (Murata 1991: 168), das Thomas Mann ab den 1920er-Jahren im Sinne einer bildungsbürgerlichen Vorbildern nachempfundenen „machtgeschützten Innerlichkeit“ (Mann 1974b: 418–419) zur Galionsfigur einer idealisierenden Deutschland- und Europarezeption (kyōyōshugi, 教養主義) stilisierte (Murata 1991: 180; Murata 1977: 440). So, wie Thomas Mann selbst mit der Formel der „resignierten, machtgeschützten Innerlichkeit“ das deutsche Bürgertum bzw. Bildungsbürgertum kritisierte, impliziert auch der kyōyōshugi-Bildungshumanismus ein ähnlich ambivalentes Verhältnis zwischen dem Ideal einer persönlich-verinnerlichenden Bildung und einer diese ermöglichenden gesellschaftlichen Machtposition (s. Abschnitt 3.1.6).

Im Vergleich zu den Übersetzungs- und Forschungsaktivitäten dieser exklusiven Herrenrunde ist Hirano Kyōkos Übersetzungsportfolio deutlich bunter; vor Tonio Kröger hat sie z. B. 2005 eine Übersetzung von Walter Moers‘ Roman Die 13½ Leben des Käpt´n Blaubär veröffentlicht und ist hierfür 2006 mit dem Lessing-Übersetzungspreis der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet worden. Diese Ehrung hat erheblich dazu beigetragen, dass Hirano im fortgeschrittenen Alter von 66 Jahren das prestigeträchtige Tonio Kröger-Projekt in Angriff genommen hat (Hirano 2011: 251–252). Wieso aber stellt es eine solche Neuerung dar, dass eine nicht ausschließlich auf Höhenkammliteratur spezialisierte Berufsübersetzerin wie Hirano Kyōko Thomas Mann ins Japanische übersetzt hat? Zeichnet sich die nur wenige Jahre später erscheinende Tonio Kröger-Übersetzung ihrer deutlich jüngeren Kollegin Asai Shōko durch ein vergleichbares Innovationspotenzial aus? Spiegelt sich eine akademisch dominierte Thomas Mann-Übersetzungstradition, von der sich Hirano abgrenzt, auch in der Gestaltung der Übersetzungstexte wider? Und vor allem: Was sagt dieses Fallbeispiel über die japanische Übersetzungskultur i. A. aus? Diesen Fragen wird in der vorliegenden Arbeit einerseits mit einer werkexternen historischen bzw. literatursoziologischen Kontextualisierung der Übersetzungsaktivitäten, die im Folgenden als äußere Übersetzungsgeschichte bezeichnet wird, und andererseits mit einer unter dem Begriff der inneren Übersetzungsgeschichte zusammengefassten textbezogenen Übersetzungsanalyse auf den Grund gegangen. Nachvollziehen lässt sich so, inwiefern die Neuübersetzungen Hiranos und Asais nicht nur auf einen übersetzerischen Ausbruch aus der machtgeschützten kyōyōshugi-Innerlichkeit, sondern auf ein generelles Hinterfragen überkommener kulturheteronomer Auffassungen schließen lassen: Die die japanische Moderne seit Ende des 19. Jahrhunderts charakterisierenden, zivilisatorisch motivierten Verwestlichungsbestrebungen werden dabei allmählich abgelöst von Emanzipationsimpulsen, die das kategorische Innovationsbemühen nach westlichem Vorbild hinterfragen. Das in diesem Zusammenhang gewachsene Selbstbewusstsein der Kulturnation Japan manifestiert sich auf der Textebene bspw. dahingehend, dass insbesondere Hiranos Tonio Kröger weniger zum ins Legendenhafte stilisierten Thomas Mann als dem Repräsentanten einer als überlegen wahrgenommenen 3000-jährigen westlichen Kulturvergangenheit aufschaut (zit. nach Boes 2019: 19), sondern in erster Linie das japanische Publikum und seine Lesegewohnheiten im Blick hat.

Das auch in Hinblick auf Tonio Kröger zu beobachtende Phänomen der auf demselben Ausgangstext basierenden Mehrfachübersetzung bzw. Retranslation (Koskinen/Paloposki 2010: 294) bietet hierbei hervorragende Voraussetzungen für einen produktiven, die Zusammenhänge zwischen deutsch-japanischem Übersetzen und Japans kulturellen Selbstverortungen erhellenden Dialog von äußerer und innerer Übersetzungsgeschichte. Methodisch operationalisieren lässt sich dies erstmalig durch innovative Methoden der digitalen Geisteswissenschaften bzw. durch die Implementierung digitaler Themenmodelle, anhand derer sich nicht nur einzelne Textstellen, sondern vollständige Texte miteinander vergleichen lassen. Dies leisten die als Themenmodelle (Topic Models) bezeichneten Algorithmen, indem sie große Textmengen durch vollautomatisiert berechnete Topics bzw. Wortlisten inhaltlich strukturieren, wobei die Topics zugleich allgemeine Themenschwerpunkte dieser Textkorpora und die Verteilung der Themenschwerpunkte auf einzelne Textbereiche abbilden. Vor diesem Hintergrund bilden digitale Übersetzungskorpora den Ausgangspunkt für einen korpora- bzw. textübergreifenden Übersetzungsvergleich.

Das Hauptaugenmerk gilt dabei den Ähnlichkeitsbeziehungen nicht nur zwischen einzelnen japanischen Übersetzungen und dem deutschsprachigen Ausgangstext, sondern zwischen den Übersetzungstexten. Hierfür werden quantitative und qualitative Analyseverfahren, also Distant Reading und Close Reading (Moretti 2013) im Sinne von Stephen Ramsays 2007 erstmalig vorgestelltem (Jockers 2013: 18) und 2011 in einer Monografie dargelegtem Konzept des Algorithmic Criticism kombiniert: Während das Close Reading nur eine geringe Textmenge, aber dafür qualitative Nuancierung berücksichtigt, werden im Distant Reading große Textmassen in erster Linie quantitativ-digital ausgewertet. Der Algorithmic Criticism als digital gestützte Kombination beider Analysemodi wird im Rahmen dieses Projekts unter Berücksichtigung der ebenfalls quantitativ-qualitativ ausgerichteten Konzepte des Blended Reading und des Scalable Reading zu einem vierschrittigen Analyseverfahren weiterentwickelt (s. Abschnitt 2.4.2), durch das japanische Übersetzungskultur erstmals nicht ausschließlich in Bezug auf die äußere, sondern ebenso in Bezug auf die innere Übersetzungsgeschichte erschlossen wird.

1.2 Forschungsstand

Für den Dialog zwischen äußerer und innerer Übersetzungsgeschichte werden Forschungsergebnisse unterschiedlicher Disziplinen berücksichtigt, zu denen neben der im folgenden Abschnitt 1.3 thematisierten Übersetzungswissenschaft und der Rezeptionsforschung insbesondere die digitalen Geisteswissenschaften gehören. Forschungsarbeiten zu Letzteren werden im Methodenkapitel separat vorgestellt.

Geprägt wurde der Begriff der Retranslation bzw. retraduction insbesondere von Antoine Berman, der ihr dahingehend einen teleologischen Charakter zuschrieb, dass die Übersetzungen altersbedingt aktualisiert werden müssten, wobei Defizite der Erstübersetzung von den darauffolgenden Retranslations kompensiert würden (Berman 1990: 1–2, 5). Hieraus leitete sich die umstrittene Retranslation Hypothesis als Vorstellung eines linearen Übersetzungsfortschritts und einer Qualitätssteigerung durch Retranslation ab (Chesterman 2014: 23; Koskinen/Paloposki 2010: 296; Vanderschelden 2000). Jüngere Konzepte wie bspw. das der auf türkische Literatur spezialisierten Übersetzungswissenschaftlerin Şenaz Tahir Gürçağlar gehen jedoch eher von einem wechselvollen Übersetzungskampf um interpretatorische Vorherrschaft aus (2011: 235). Im Zusammenhang umfassender Übersetzungstheorien mit Retranslation auseinandergesetzt haben sich darüber hinaus auch Lawrence Venuti (2013) und Andrew Chesterman (2014).

Neben diesen theoretischen Überlegungen existiert eine Fülle von Textanalysen zur Retranslation, wobei Sprachpaare, zu denen das Englische gehört, klar dominieren. Hervorzuheben ist insbesondere der Übersetzungswissenschaftler Armin Paul Frank, auf den nicht nur das für diese Arbeit zentrale Theoriekonzept der historisch-deskriptiven Übersetzungsforschung zurückgeht (s. Abschnitt 1.3.4), sondern der auch gemeinsam mit Erika Hulpke eine Studie zu 31 deutschsprachigen Übersetzungen des Edgar Allan Poe-Gedichts The Raven publiziert hat (Frank/Hulpke 1987: 103–104). Dabei konzentrierten sich Frank und Hulpke allerdings auf die ersten drei Gedichtstrophen, also auf weniger als 20 Prozent des Textumfangs, die sie zudem nur in acht Übersetzungsvarianten untersuchten (Frank/Hulpke 1987: 107, 110–130). Gleichermaßen hat auch Sharon Deane-Cox in ihrer 2014 publizierten Fallstudie zu acht englischsprachigen Retranslations von Gustave Flauberts Roman Madame Bovary und sieben Retranslations von George Sands Roman La mare au diable (Das Teufelsmoor) jeweils nur spezifische Textbereiche berücksichtigt (Deane-Cox 2014). Auch die digital gestützte Analyse von Charlotte Bosseaux umfasst lediglich drei französischsprachige Virginia Woolf-Retranslations (Bosseaux 2007: 12). Eine weitaus größere Textmenge hat dagegen Marlies Gabriele Prinzl im Rahmen ihrer digitalen Korpusanalyse zu elf englischsprachigen Übersetzungen der Thomas Mann-Novelle Der Tod in Venedig untersucht (Prinzl 2016, 2017). Eingegrenzt ist bei Prinzl damit zwar nicht der Gegenstandsbereich, sehr wohl jedoch der sich auf quantitative Textaspekte wie die Anzahl der Neologismen beschränkende Analysemodus; auch auf historische Entstehungs- und Rezeptionskontexte geht sie kaum ein. Ebenso wie Prinzl hat sich außerdem auch Timothy Buck (1997) mit Thomas Mann-Retranslations auseinandergesetzt, bezieht sich aber dabei nur auf einzelne Textstellen aus zwei Zauberberg-Retranslations, wobei er eine ausgeprägte Tendenz zur Fehlermarkierung an den Tag legt.

Berücksichtigt wurde zudem die über die Übersetzungsthematik hinausgehende Forschung zur internationalen Thomas Mann-Rezeption. Deren Schwerpunkt bilden Untersuchungen zur Rezeption in den USA (Boes 2019, 2015, 2014) sowie diverse Arbeiten zur Übersetzung ins Englische (Prinzl 2017, 2016; Horton 2013; Lackner 2006; Gledhill 2003; Kinkel 2001; Hayes 1974) bzw. ins Englische, Französische und Italienische (Barter 2007). Daneben ist die Übersetzung ins Französische (Rossi 2005; Hellmann 1992), ins Italienische (Brandestini 2007), ins Kroatische (Cimer/Sesar 2017; Ðerek 2016) sowie ins Polnische (Feret 2015; Kucharska 2001; Pieciul 2000) ebenso untersucht worden wie die Thomas Mann-Rezeption in China (Debon 1990), in Korea (Bak/Kim 1997) und im Mittleren Osten (Abboud 1994; El Schimi 1989). Dabei thematisieren die genannten Arbeiten entweder die historischen Rahmenbedingungen der Rezeption, also die äußere Übersetzungsgeschichte (Boes 2019, 2015, 2014; Horton 2013; Kinkel 2001; Debon 1990; Bak/Kim 1997; Abboud 1994) oder – zumindest stichprobenartig – die innere Übersetzungsgeschichte mit linguistischer (Cimer/Sesar 2017; Prinzl 2017, 2016; Ðerek 2016; Feret 2015; Brandestini 2007; Rossi 2005) oder übersetzungstheoretischer (Barter 2007; Gledhill 2003; Kucharska 2001; Pieciul 2000; Hellmann 1992; El Schimi 1989; Hayes 1974) Schwerpunktsetzung. Zu einem Dialog von äußerer und innerer Übersetzungsgeschichte kommt es einzig in Angela Lackners Untersuchung zur US-amerikanischen Rezeption von Der Tod in Venedig, die sowohl den historischen Rezeptionsrahmen als auch Übersetzungscharakteristika auf Textebene berücksichtigt, sich aber auf zwei englischsprachige Retranslations beschränkt (2006: 5).

Eine solche Spaltung zwischen äußerer und innerer Übersetzungsgeschichte charakterisiert auch den Forschungsstand zur japanischen Auseinandersetzung mit Thomas Mann. Analysen zur inneren Übersetzungsgeschichte sind hierbei die Ausnahme geblieben: Während sich ein im Vorfeld dieser Arbeit entstandener Aufsatz in erster Linie mit methodischen Aspekten der digital gestützten Übersetzungsanalyse auseinandersetzt (Mueller 2017), wurden in Imai Atsushis Vortragsskript (2013) bereits wichtige Übersetzungsaspekte wie z. B. die freie indirekte Rede (s. Abschnitt 5.4.5.5) für zwei japanische Tonio Kröger-Übersetzungen vergleichend analysiert; dabei bevorzugt der Autor jedoch offenkundig Takahashi Yoshitakas ältere Übersetzung (1967 [1949]) gegenüber der eingangs erwähnten Neuübersetzung Hirano Kyōkos (2011). Außerdem hat Roland Harweg (1993) innerhalb eines kurzen deutschsprachigen Aufsatzes zwar drei japanischsprachige Übersetzungen von Thomas Manns Roman Der Zauberberg linguistisch verglichen, beschränkt sich dabei allerdings auf einen einzigen Satz. Ansonsten erschöpft sich die deutschsprachige Forschung zur japanischen Thomas Mann-Rezeption in kompakten Rezeptionschronologien (Shitahodo 2009; Oguro 2004, 2003; Murata 1977, 1960); im Zusammenhang mit dem kyōyōshugi-Bildungsideal thematisiert wird sie zudem in Maedas Wissenschaftsgeschichte der japanischen Germanistik (2010) sowie in Keppler-Tasakis Monografie (2020) zur japanischen Goethe-Rezeption. Die Übersetzungstexte als solche finden hier erneut keine Berücksichtigung.

Bezüglich der japanischen Forschung zur Thomas Mann-Übersetzung dagegen besonders hervorzuheben ist ein kurzer Aufsatz Fukai Hitoshis (1975), der sich als einzige japanischsprachige Arbeit mit der inneren Tonio Kröger-Übersetzungsgeschichte auseinandergesetzt, es aber bei zwei kurzen Textpassagen aus dem achten Kapitel belassen hat. Die äußere Thomas Mann-Übersetzungsgeschichte ist dagegen insbesondere vom Thomas Mann-Übersetzer Yamaguchi Tomozō (2018) mit besonderem Augenmerk auf das germanistische Institut der Kaiserlichen Universität Kyōto aufgearbeitet worden – dass der Begriff (dokubun-)ka (独文科) an dieser Stelle sowie im weiteren Verlauf dieser Arbeit mit „Institut“ übersetzt wird, stellt sinnvolle Bezüge zur Institutionalisierungsthematik her, ist aber, wie z. B. Kümmerle (2022: 101–102, 226–228) darlegt, keineswegs selbstverständlich. Als Alternativen kämen entweder „Seminar“ oder „Abteilung“ infrage, wobei ersteres insofern doppeldeutig ist, als damit auch auf ein spezifisches Veranstaltungsformat referiert werden kann, und Letzteres nach Einschätzung der Verfasserin den Aspekt der (akademischen) Institutionalisierung terminologisch nivelliert, da „Abteilungen“ im Unterschied zu „Instituten“ auch in Kaufhäusern zu finden sind.

Ebenfalls mit der äußeren Übersetzungsgeschichte Thomas Manns in Japan befasst haben sich darüber hinaus auch Horiuchi Yasunori (1994), Murata Tsunekazu (1991, 1982) und Kobayashi Kayoko (1976), wobei sich Kobayashi insbesondere auf die Rezeptionsaktivitäten der NS-Zeit konzentriert; zur NS-Kompromittierung der japanischen Germanistik bzw. zum in diesem Zusammenhang umstrittenen Thomas Mann- und Hesse-Übersetzer Takahashi Kenji hat außerdem Seki Kusuo (2007) eine Monografie publiziert. In ähnlicher Weise, wie Maeda Ryōzō (s. o.) dies in deutscher Sprache getan hat, hat außerdem auch die Germanistin Takada Rieko (2006) in einer Monografie die kyōyōshugi-Affinität der japanischen Fachgermanistik mit Blick auf die Thomas Mann-Rezeption kritisch untersucht. Dagegen hat Yamamuro Nobutaka in seinem Aufsatz (2018) zur Darstellung des Bildungsbürgertums in Tonio Kröger und der daraus resultierenden Übersetzungsproblematik zwar keinen Bogen von der äußeren zur inneren Übersetzungsgeschichte, aber von werkexternen Deutungskontexten zu werkimmanenten Aspekten geschlagen.

Dementsprechend existieren bisher noch keine Untersuchungen, die die äußere und die innere Übersetzungsgeschichte, also historische Kontextualisierung und Textanalyse anhand eines umfangreichen Gegenstandsbereichs zueinander in Beziehung setzen. Entsprechende Einschränkungen dürften in erster Linie auf methodische Operationalisierungsschwierigkeiten zurückzuführen sein, die sich erst in der jüngeren Vergangenheit mithilfe digitaler Methoden überwinden lassen. Wie im Rahmen des hier vorgestellten Projekts digitale Themenmodelle eingesetzt worden sind, um die skizzierten Forschungslücken zu schließen, wird im zweiten Kapitel dieser Arbeit ausführlich thematisiert. Theoretisch unterfüttert sind diese Überlegungen durch Konzepte der deskriptiven und der historisch-deskriptiven Übersetzungsforschung, die im folgenden Teilkapitel vorgestellt werden.

1.3 Theorie der historisch-deskriptiven Übersetzungsforschung

1.3.1 Die Äquivalenzforderung

Allgemein ist jegliche Übersetzung definiert als „das Resultat einer sprachlich-textuellen Operation, die von einem AS-Text zu einem ZS-Text führt, wobei zwischen ZS-Text und AS-Text eine Übersetzungs- (oder Äquivalenz-)relation hergestellt wird“ (Koller 2011: 9, Hervorh. Original). Diese Äquivalenzrelation besteht nicht zwischen Ausgangs- (AS) und Zielsprache (ZS), sondern zwischen Ausgangs- und Zieltext, d. h. auf der Ebene der Sprachverwendung (Kenny 2011b: 98). Anknüpfend hieran ist der relationale Charakter der Übersetzung durch eine doppelte Bindung an die konkurrierenden Erfordernisse von Ausgangstext und Rezeptionskontext charakterisiert (ebd.: 194; Lambert/van Gorp 2014: 46; Nord 1989: 105). Da Ausgangs- und Zielkontexte hierbei nicht austauschbar sind, ist das Übersetzen ein „zielgerichtetes Handeln durch historisch und sozial verwurzelte Individuen“ (Stolze 2003: 11). Diskrepanzen zwischen Ausgangs- und Übersetzungstext sind demzufolge auch durch die Übersetzenden selbst, durch ihre eigene Übersetzungsprogrammatik, ihr Werkverständnis und durch den darauf basierenden Gestaltungswillen bedingt (Koller 2011: 9–10). Diese individuelle Übersetzungsprogrammatik lässt sich anhand der in Paratexten und Fachaufsätzen ausformulierten expliziten Übersetzungstheorie erschließen; eine implizite Übersetzungstheorie ist hingegen als Gegenstück der expliziten Übersetzungstheorie nur am Übersetzungstext rekonstruierbar (ebd.: 28). Da explizite Übersetzungstheorien im Rahmen der japanischen Tonio Kröger-Übersetzung allenfalls fragmentarisch dokumentiert sind, beziehen sich die folgenden Ausführungen vorwiegend auf implizite Übersetzungstheorien.

Im Zentrum der impliziten und expliziten Übersetzungstheorien steht das Konzept der Äquivalenz (Chesterman 2004: 97): Texte gelten dann als Übersetzungen, wenn ein Äquivalenzverhältnis zu einer Vorlage besteht, das bei Adaptionen oder Bearbeitungen nicht gegeben ist. Dass Äquivalenzfragen schwerpunktmäßig in Hinblick auf literarische Übersetzungstexte debattiert werden (Jones 2011: 153), zeigt eine unmittelbare Verknüpfung mit dem Konzept der literarischen Autorschaft. Das Verhältnis zwischen Ausgangs- und Übersetzungstext lässt sich hierbei allerdings keineswegs nur durch semantische Äquivalenz beschreiben. Da der Text zugleich je nach Kommunikationszusammenhang eine spezifische pragmatische Wirkung hervorruft, kann Übersetzungsäquivalenz gleichermaßen als funktionale bzw. dynamische Äquivalenz definiert werden. Damit verlagert sich der Äquivalenzbegriff von der Ebene scheinbarer sprachsystemischer Entsprechungen (langue) auf die Ebene der konkreten Sprachverwendung (parole) bspw. in Texten (Pym 1997: 72), wo er die funktionale Orientierung an zielsprachlichen und -kulturellen Erfordernissen beschreibt (Koller 2011: 154–155). Die so verstandene funktionale Äquivalenz ist abgegrenzt von der formalen Äquivalenz als einer semantischen und stilistischen Orientierung am Ausgangstext (ebd.: 194). Aufgrund der doppelten Bindung des Übersetzungstextes an Ausgangstext und Rezeptionskontext wirken funktionale und formale Äquivalenz i. d. R. zusammen: Während die Bezugsgröße der formalen Äquivalenz eher der Ausgangstext ist, ist diejenige der funktionalen Äquivalenz der Rezeptionskontext, wobei zwischen beidem vermittelt wird. In diesem Zusammenhang entwickeln Übersetzende (implizite) Äquivalenzhierarchien, die formale und funktionale Äquivalenz in Hinblick auf unterschiedliche Texteigenschaften unterschiedlich priorisieren (Pym 1997: 72). Diese Äquivalenzhierarchien werden im Rahmen einer deskriptiven Übersetzungsforschung (s. u.) nicht als normatives Qualitätskriterium, sondern als multidimensionale empirische Kategorie aufgefasst, anhand derer Übersetzungstexte beschrieben werden können (Kenny 2011b: 97–98).

1.3.2 Die Thomas Mann-Übersetzung

Der literarische Text ist insofern „autoreflexiv“, als „seine strukturelle Anordnung zu einem der von ihm übermittelten Inhalte (der möglicherweise sogar sein wichtigster ist)“ wird (Eco 1991: 362); sein Inhalt und seine formale Gestaltung verhalten sich also dialektisch zueinander. Dies hat zur Folge, dass die Kriterien einer Äquivalenzbeziehung zwischen einem literarischen Ausgangstext und seiner Übersetzung nicht nur auf der inhaltlichen, sondern auch auf der Ebene der formalen Sprachgestaltung und der dadurch hervorgerufenen Wirkung zu verorten sind. In diesem Zusammenhang setzt die literarische Übersetzung eine Interpretation des Ausgangstextes voraus (Frank 1992: 369; Venuti 2013: 96), die als Sonderform der literarischen Interpretation im Idealfall selbst literatursprachlich formuliert ist (Frank 1987: XV; Fowler 1992: 20). Infolgedessen sollte bspw. auch Mehrdeutigkeit bei der Übersetzung literarischer Texte im Unterschied zur Sachtextübersetzung erhalten bleiben, um so ein in Bezug auf den Ausgangstext funktional äquivalentes Rezeptionsangebot zu erzeugen (Koller 2011: 291–292). Diesbezügliche Zweifel äußert Thomas Mann derweil in einem auf den 4. Mai 1951 datierten Brief: “The translation communicates my ideas, more or less, but what is an idea deprived of its native form? In art, content and form are too much one and the same to permit the content to remain entirely unchanged when lifted from its primary form and poured into another” (Mann 1971: 618, zit. nach Kinkel 2001: 122). Entsprechende Bedenken spezifiziert er in einem auf den 15. November 1951 datierten Brief an den ungarischen Übersetzer Jenö Gömöri, übersetzte Erzählprosa sei in der Regel pervertiert, ihr Rhythmus zerstört, die subtilen Bedeutungsschattierungen verloren sowie die ihr zugrunde liegende Intention, Geisteshaltung und intellektuelle Atmosphäre bis zum kompletten Missverständnis verzerrt (zit. nach Gledhill 2003: 19).

Während diese Alterszeugnisse Thomas Manns Unbehagen gegenüber Übersetzungstexten veranschaulichen, sah sich der junge Thomas Mann, als er kurz nach der Jahrhundertwende die Erzählung Tonio Kröger verfasste, durch die Sprachkrise um 1900 auch jenseits solcher Übersetzungsnöte zur Entwicklung neuer, „von der Wirklichkeitswahrnehmung und der Wirklichkeitsvermittlung eines problematisierten Ichs innerhalb einer problematisierten Wirklichkeit“ geprägter Ausdrucksformen veranlasst (Frizen 2005: 854). Angezweifelt wurde in dieser von tiefgreifenden Umwälzungsprozessen geprägten Zeit nicht nur das Ausdrucksvermögen der Sprache, sondern der Realitätsbegriff als solcher. In Manns Fall resultierte hieraus eine sprachliche Weitschweifigkeit und Umständlichkeit, die auch Tonio Kröger charakterisiert: Hier genügt das einzelne Adjektiv so gut wie nie, um dem Bezeichneten gerecht zu werden, sondern wird konsequent zu Attributhäufungen wie jener der Blonden und Blauäugigen, hellen Lebendigen, Glücklichen, Liebenswürdigen und Gewöhnlichen erweitert (GKFA 318). Auch diesbezüglich gilt Ecos Charakterisierung des autoreflexiven ästhetischen Textes, dessen „strukturelle Anordnung zu einem der von ihm übermittelten Inhalte“ wird (Eco 1991: 362): Sofern Tonio Kröger als literarischer Text interpretiert wird, wird Manns sprachliches Abtasten der Wirklichkeit an sich zur Aussage, d. h. wenn Thomas Mann kompliziert und umständlich schreibt, tut er dies, weil er eine fiktive Welt schafft, der man sich nur auf komplizierte und umständliche Weise sprachlich annähern kann. Vor diesem Hintergrund treibt auch Manns Syntax das Geschehen nicht aktiv voran, sondern verhält sich beobachtend, abwägend, sammelnd, ist „erörternd, analytisch-deskriptiv, nuancen- und proprietätenfreundlich, auch meditativ“ (Frizen 2005: 857). Für die literarische Übersetzung ist diese Formalcharakteristik insofern problematisch, als sie im Zielkontext der Übersetzung aufgrund unterschiedlicher Textnormen u. U. anders wahrgenommen wird als im deutschsprachigen Ausgangskontext. So könnte z. B. Manns komplexe Syntax in der japanischen Übersetzung nicht romanhaft, sondern quasi-wissenschaftlich argumentierend wirken (Murata/Lossa 2014: 128). Auch hier gilt es sich folglich an einer funktionalen Äquivalenz zu orientieren (Koller 2011: 251), die zudem an gattungs- bzw. literaturgeschichtliche Zusammenhänge geknüpft ist.

1.3.3 Die literarische Übersetzung und ihre soziokulturellen Kontexte

Aus derartigen Herausforderungen resultiert nach Tourys law of growing standardization vielfach eine Kompromissbereitschaft gegenüber literarischen Übersetzungen, von denen folglich eher habituelle Akzeptabilität als literarische Kreativität erwartet wird (Toury 2012: 303–304). Dies hat eine generelle Vereinfachungstendenz (Chesterman 2004: 94) sowie eine die Übersetzungen von den Ausgangstexten abgrenzende sprachliche Normgerechtheit und formalstilistische Verflachung (Koller 2011: 120, Kenny 2011a: 61) zur Folge. Dem entspricht es, dass Übersetzende auch laut Thomas Mann als „schweigendes Instrument“ Zurückhaltung üben sollten (zit. nach Kinkel 2001: 99). Unter soziohistorischem Aspekt ist diese notorische Degradierung zur unsichtbaren Übersetzungstätigkeit (Kinkel 2001: 99) traditionell weiblich konnotiert (Simon 1996), da das Übersetzen bis ins 20. Jahrhundert angehenden, sonstiger Ausbildungsmöglichkeiten entbehrenden Schriftstellerinnen die Möglichkeit bot, sich als handmaidens to authors Schreibfertigkeiten anzueignen (ebd.: 1–2). Diese Konnotationen sind auch dann relevant, wenn das traditionell weiblich konnotierte literarische Übersetzen wie im Fall der japanischen Thomas Mann-Übersetzung in männlich dominierte akademische Qualifikationsmechanismen eingebunden ist. Abstrahiert man in diesem Zusammenhang von gesellschaftlichen Wahrnehmungsdispositionen auf die sich so manifestierenden Machtverhältnisse, d. h. Übersetzen als traditioneller Wirkungsbereich der gering Geschätzten, erlaubt der selbstattestierte „ameisenartige[…] Fleiß der japanischen Thomas Mann-Forscher und Übersetzer“ (Takahashi 2010: 263) bemerkenswerte Rückschlüsse: Das Bild einer Vielzahl ameisenartiger japanischer Übersetzender, die sich emsig und weitgehend unbemerkt an Manns Großwerken zu schaffen machte, zeugt von einer zeitweilig verinnerlichten kulturellen Heteronomie gegenüber dem Westen, auf die im Abschnitt 3.1 ausführlicher eingegangen wird.

Übersetzungen und Interpretationen entstehen demzufolge innerhalb einer kulturellen Gemeinschaft; sie sind von Interpretationsnormen und -konventionen beeinflusst, deren kontextuelle Prägung Fish mit dem Konzept der Interpretationsgemeinschaften beschreibt (Fish 1980: 342–343). Als Mitglieder solcher Gemeinschaften teilen die Übersetzenden „die Auffassungen ihrer Zeit von den Ausgangswerken und deren Autoren“ und lassen sich „in ähnlicher Weise von den zu ihrer Zeit vorherrschenden Übersetzungskonzeptionen leiten“ (Frank 1988b: 203). Dieses Einschreiben von Eigenschaften des Rezeptionskontextes in die Übersetzungstexte wird im Rahmen dieser Arbeit unter dem Begriff der Übersetzungskultur zusammengefasst. Geprägt ist diese dem Konzept der komparatistischen Imagologie zufolge auch durch auf das kulturelle Umfeld des Ausgangstextes bezogene, im Zielkontext der Übersetzung wirksame Vorstellungen (Dyserinck 1991: 125–127), so dass sich das Deutschlandverständnis der japanischen Übersetzenden auf ihre Texte ausgewirkt haben dürfte.

Die auf den Übersetzungsprozess im Zusammenhang der äußeren Übersetzungsgeschichte mittelbar und unmittelbar einwirkenden Kontextfaktoren hat Jones in Orientierung an Milroy als Netzwerke erster, zweiter und dritter Ordnung (first/second/third order networks) beschrieben (Jones 2011: 155–156; Milroy 1987: 46–47). Da der Netzwerkbegriff als solcher in der vorliegenden Arbeit jedoch methodisch nicht operationalisiert wird, wird die Differenzierung nach erster, zweiter und dritter Ordnung zwar von Milroy und Jones übernommen, statt auf „Netzwerke“ aber auf „Einflusskontexte“ referiert. Als Netzwerke bzw. Einflusskontexte erster Ordnung gelten in diesem Zusammenhang Produktionsgemeinschaften sowie insbesondere die die Übersetzungen initiierenden, lektorierenden, veröffentlichenden und vermarktenden Verlage (Jones 2011: 155). Im Unterschied hierzu besteht bei Einflusskontexten zweiter Ordnung, zu denen auch abstraktere akademische Fachgemeinschaften gehören, kein direkter Kontakt zwischen den Beteiligten; auch die jeweiligen Zielsetzungen sind im Vergleich zu den Einflusskontexten erster Ordnung weniger klar definiert (Jones 2011: 155; Milroy 1987: 46–47). Im Unterschied hierzu gehören zu den Einflusskontexten dritter Ordnung abstrakte Konzepte wie „Kultur“ oder „Nation“, die den Übersetzungsvorgang nochmals indirekter tangieren. Dabei sind sämtliche Kontextsysteme historischem Wandel unterworfen: Die personelle und institutionelle Zusammensetzung von Einflusskontexten erster Ordnung kann sich kurzfristig ändern, während sich entsprechende Prozesse bei Einflusskontexten zweiter und v. a. dritter Ordnung über längere Zeiträume erstrecken.

1.3.4 Deskriptive und historisch-deskriptive Übersetzungsforschung

Diese Untersuchung verdankt der vom Göttinger Übersetzungswissenschaftler Armin Paul Frank entwickelten historisch-deskriptiven Übersetzungsforschung maßgebliche Anregungen (Frank 1988a). Sie ist aus der deskriptiven Übersetzungsforschung hervorgegangen (Hermans 2014: 13; Koller 2011: 210), deren Anspruch es ist, den Übersetzungstext als historisches Faktum in seinen objektiv erfassbaren Eigenschaften zu beschreiben, wofür oft korpusbasierte Übersetzungsanalysen genutzt werden (Kenny 2011a: 59). Da Übersetzungstexte zudem fast ausschließlich im sie rezipierenden Zielkontext, nicht aber im Ausgangskontext relevant sind – „translations are facts of one system only: the target system“ (Toury 2014: 19, Hervorh. Original) – priorisieren deskriptiv ausgerichtete Übersetzungsanalysen funktionale Äquivalenz gegenüber formaler Äquivalenz und grenzen sich so ebenso wie die historisch-deskriptive Übersetzungsforschung (Rühling 1992: 351) ausdrücklich von der die Übersetzungswissenschaft sonst vielfach prägenden Tendenz zur Fehlermarkierung ab (Frank 1987: XI): Der Fokus verlagert sich weg von dem, was der Übersetzungstext nicht ist (nämlich der Ausgangstext), und hin zu dem, wie er im Rezeptionskontext funktioniert.

Diese Schwerpunktsetzung teilt auch die historisch-deskriptive Übersetzungsforschung, welche die Notwendigkeit interdisziplinärer Zugänge besonders hervorhebt. Sie betrachtet Übersetzungstexte als ein „historisches Faktum der Literatur, das es wie jedes andere literarische Faktum unter den in der Philologie integrierten Perspektiven – wie der sprachwissenschaftlichen und historischen, der literaturhistorischen, poetologischen, medialen, der kultur- und geistesgeschichtlichen – zu erschließen und einzuordnen gilt“ (Frank 1988a: X). Dabei wird zwischen einer äußeren und einer inneren Übersetzungsgeschichte differenziert (Frank 1992: 381). Die äußere Übersetzungsgeschichte thematisiert, „welche Werke wann und wie oft von welchen Übersetzern unter welchen Umständen und in welchen institutionellen Zusammenhängen übersetzt worden sind“ (Frank 1988b: 195). Diese äußere Entstehungsgeschichte der Übersetzungstexte weicht oftmals dahingehend von der der entsprechenden Ausgangstexte ab, dass z. B. das Spätwerk noch vor dem Frühwerk übersetzt wird oder auch zu einem Ausgangstext unterschiedliche Retranslations (s. u.) entstehen können (Frank/Schultz 1988: 107). Dagegen setzt sich die innere Übersetzungsgeschichte mit der Beschaffenheit des Übersetzungstextes an sich sowie mit stil- und interpretationsgeschichtlichen Implikationen auseinander (Frank 1988b: 195), geht also über die durch das Determinatum „-geschichte“ suggerierte historische Übersetzungschronologie weit hinaus. Im Rahmen der vorliegenden Analyse werden erstmalig sowohl innere als auch äußere Übersetzungsgeschichte in ihrer gegenseitigen Bedingtheit untersucht: Unter welchen äußeren Umständen ein Übersetzungstext entsteht, wirkt sich auf seine sprachliche und thematische Gestaltung aus; zugleich beeinflusst die sprachlich-thematische Gestaltung den Publikationsrahmen und damit die Rezeption.

1.3.5 Theorie der Retranslation

Eine besonders ergiebige Grundlage für einen Dialog von äußerer und innerer Übersetzungsgeschichte bilden Retranslations, da sich hier die innere Übersetzungsgeschichte ein- und desselben Ausgangstexts in Abhängigkeit seiner äußeren Übersetzungsgeschichte nachvollziehen lässt: Bei auf unterschiedlichen Ausgangstexten basierenden Übersetzungstexten könnten voneinander abweichende Gestaltungsschwerpunkte auch durch die Ausgangstexte bedingt sein; bei Retranslations sind sie dagegen mit höherer Wahrscheinlichkeit durch die äußere Übersetzungsgeschichte bedingt. Da Ausgangstext und Zielsprache konstant bleiben, ist die die Retranslation bestimmende Hauptvariable also diejenige der Zeit mit sämtlichen zielkontextuellen Konsequenzen (Gürçağlar 2011: 236). Hierbei besteht oftmals ein unmittelbarer Zusammenhang zu religiösen oder akademischen Gruppenidentitäten und Institutionen (Venuti 2013: 97) sowie zur literarischen Kanonisierung: Zum einen kommen in erster Linie solche Texte, die im Zielkontext bereits kanonisiert sind, überhaupt für ein erneutes Übersetzen in Betracht; zum anderen tragen Retranslations ihrerseits zur Kanonisierung im Zielkontext bei (Venuti 2013: 96–98; Gürçağlar 2011: 233; Koskinen/Paloposki 2010: 295). Ferner zeichnen sich Retranslations nicht nur durch die die Übersetzung allgemein kennzeichnende Doppelbindung an Ausgangstext und Rezeptionskontext aus (Koller 2011: 194), sondern durch eine zusätzliche, sich bspw. durch systematische Abweichungen (Countertranslation) äußernde Bindung an andere Retranslations (Prinzl 2017: 286–287). Unterschieden wird außerdem zwischen aktiven und passiven Retranslations: Während passive Retranslations wie z. B. Bibelübersetzungen zeitlich oder räumlich so weit voneinander getrennt sind, dass es kaum zu Wechselwirkungen kommt, konkurrieren aktive Retranslations um dasselbe Publikum (Pym 1998: 82).

1.3.6 Verfremdung und Domestizierung in der deutsch-japanischen Übersetzung

Nachdem der allgemeine übersetzungstheoretische Rahmen dieser Arbeit abgesteckt wurde, werden zum Abschluss dieses Teilkapitels die speziellen Erfordernisse eines deutsch-japanischen Übersetzens mit besonderem Augenmerk auf die Übersetzungsstrategien Verfremdung und Domestizierung thematisiert. Sowohl Fremd- als auch Selbsteinschätzungen einer beeinträchtigten Übersetzbarkeit zwischen westlichen Sprachen und dem Japanischen sind weit verbreitet, sodass auch der Übersetzungswissenschaftler Kamei Shunsuke betont, dass eine westlich-japanische Übersetzung „nahezu unmöglich“ (hotondo fukanō) sei (Kamei 1994: 10, 25). Besonders offenkundig manifestieren sich die ein solches Urteil bedingenden sprachtypologischen und -genetischen Unterschiede in den jeweiligen Schriftsystemen. Während das Deutsche durch einen auf Graphem-Phonem-Korrespondenzregeln basierenden alphabetischen Schrifttyp verschriftlicht wird, besteht das japanische Schriftsystem aus drei Subsystemen, von denen zwei (Hiragana und Katakana) dem gleichfalls phonembasierten silbischen Schrifttyp angehören, das weitaus komplexeste (Kanji) jedoch ikonographisch ist. Aus dieser Schriftsystemkombination resultieren zwar erweiterte Ausdrucksmöglichkeiten (May: 1982: 148, 155), zugleich aber auch Einschränkungen in Bezug auf Übersetzung und Übersetzbarkeit.

Zu den typologischen Unterschieden zwischen den Sprachsystemen, die typisierbare Verschiebungen im deutsch-japanischen Übersetzungsprozess bedingen (Wienold 2004: 421), gehört außerdem der routinemäßige Wegfall des Satzsubjektes im Japanischen: Dass das Deutsche i. d. R. Eigennamen, entsprechende Nominalphrasen und Abkürzungen sowie Personalpronomina alternierend verwendet, während im Japanischen das Prinzip name or nothing gilt, wirkt sich tiefgreifend auf die Übersetzung von Erzählprosa aus (ebd.: 425). Gleiches gilt für Unterschiede im Tempusgebrauch: Während der europäische Roman zumeist im Präteritum realisiert ist, trifft dies auf seine augenscheinliche japanische Entsprechung, den shōsetsu des ausgehenden 19. und 20. Jahrhunderts, nicht zu (Miyoshi 1989: 153–154). Dies hat zur Folge, dass situative Schilderungen wie die Atelierszene zu Beginn des vierten Kapitels von Tonio Kröger im deutschsprachigen Ausgangstext im Präteritum (GKFA 267), in einigen japanischen Übersetzungen hingegen teilweise (Mukasa 1928: 75, 77; Morikawa 1966: 32; Maruko 1990: 285) oder sogar überwiegend im Präsens realisiert sind (Takeyama 1941: 167; Asai 1955: 40; Nojima 1968: 267; Asai 2018: 54). Verhandelt wird dabei zwischen einer formaläquivalenten Orientierung am Tempus des Ausgangstextes und einer funktionalen Orientierung an den literarischen Konventionen des Zielkontextes, denn u. U. funktioniert das Präsens dort ähnlich wie das Präteritum im Ausgangskontext. Entsprechende Übersetzungsstrategien lassen sich insofern als verfremdend bzw. domestizierend beschreiben, als das Festhalten am Tempus des Ausgangstextes im japanischen Zielkontext eine Verfremdung literarischer Normen zur Folge hat, während die Umwandlung zum für japanische Romane typischen Präsenstempus den Ausgangstext domestiziert (Koller 2011: 55, 237–238). Diese Dichotomie zwischen einem das Fremde domestizierendem Übersetzen, das eher mit einem funktionalen Äquivalenzideal korrespondiert, und einem das Eigene verfremdendem Übersetzen, das eher dem formalen Äquivalenzgedanken entspricht, ist für die folgende Analyse von zentraler Bedeutung.

Dabei erschöpft sich die deutsch-japanische Übersetzungsproblematik keineswegs in unterschiedlichen Sprachsystemen und literarischen Konventionen, sondern ist auch auf kulturelle Spezifika zurückzuführen. Veranschaulichen lässt sich dies anhand der Übersetzung religiös konnotierter Begrifflichkeiten, zu denen z. B. die innerhalb der Erzählung Tonio Kröger erwähnte „Erlösung“ gehört (GKFA 277). Da sich dieses einem christlichen Bedeutungszusammenhang entstammende Konzept nicht ohne Weiteres in den sprachlich-kulturellen Kontext Japans integrieren lässt, übersetzt es Satō Kōichi neutralisierend mit sukuwareta tokoro (Satō 1966: 33), also „Gerettet-sein“. Religiöse Bezüge gehen hier verloren; die Verständlichkeit der Aussage ist aber gewährleistet. Gleiches gilt für kyūsai als Standardübersetzung für „Erlösung“, die von allen Übersetzenden außer Satō Kōichi und Saneyoshi Hayao (s. u.) präferiert wird, den im Ausgangstext präsenten christlichen Erlösungsgedanken aber mit weltlichen Konzepten wie der Rettung aus wirtschaftlicher Notlage oder der Bergung im Katastrophenfall vermischt (Mukasa 1928: 109; Toyonaga 1940: 56; Takeyama 1941: 188; Asai 1955: 54; Fukuda 1965: 397; Morikawa 1966.5: 41; Takahashi 2014 [1967]: 61; Nojima 1968: 275; Ueda 1970: 53; Kataoka 1973: 284; Maruko 1990: 292; Hirano 2011: 68; Asai 2018: 73). Auf den Erhalt religiöser Konnotationen konzentriert sich wiederum der Tonio Kröger-Erstübersetzer Saneyoshi Hayao, indem er „Erlösung“ durch den buddhistischen Begriff gedatsu (Saneyoshi 2015: 62–63) übersetzt. Da die christliche und die buddhistische „Erlösung“ keine beliebig austauschbaren Konzepte sind, verändert sich jedoch auch hier die Semantik gegenüber dem Ausgangstext: Im Unterschied zur christlichen „Erlösung“ impliziert gedatsu keinen auch für die Tonio Kröger-Narration relevanten Gegensatz zur Sündhaftigkeit, sondern a priori die „Entsagung“ gegenüber allem Weltlichen. Dies hat zur Folge, dass Tonio Krögers Kunstverständnis in der Übersetzungsvariante Saneyoshis nicht dieselbe moralische Läuterung mit sich bringt, die der Ausgangstext an dieser Stelle impliziert. Die zuletzt aufgeführten Beispiele veranschaulichen außerdem, dass sich ein domestizierendes Übersetzen zugleich vereinfachend bzw. verständnissichernd (sukuwareta tokoro), neutralisierend (kyūsai) oder bedeutungsverändernd (gedatsu) auswirken kann.

1.4 Fragestellung

Das Hauptaugenmerk dieser maßgeblich durch die deskriptive und die historisch-deskriptive Übersetzungsforschung beeinflussten Arbeit gilt den Zieltexten bzw. Zielkontexten, wobei zwischen einer äußeren und einer inneren Übersetzungsgeschichte differenziert wird. In Bezug auf die innere Übersetzungsgeschichte spielen die übersetzungstheoretischen Konzepte der formalen und funktionalen Äquivalenz sowie des verfremdenden und domestizierenden Übersetzens eine zentrale Rolle. Zudem gewährleistet das Phänomen der Retranslation nicht nur Vergleichbarkeit im Dialog von äußerer und innerer Übersetzungsgeschichte, sondern bietet aufgrund seiner gruppendefinierenden Funktion besondere Erkenntnispotenziale hinsichtlich soziokultureller Kontexte. Da auch jenseits der Thomas Mann-Forschung bislang noch keine Untersuchungen existieren, die die äußere und die innere Übersetzungsgeschichte, also historische Kontextualisierung und Textanalyse, in Bezug auf einen umfangreichen Gegenstandsbereich zueinander in Beziehung setzen, betritt das im Folgenden vorgestellte Projekt hier methodisches Neuland.

Ausgehend vom zweiten Kapitel dieser Arbeit, in dem das verwendete Themenmodell sowie das auf dieser Grundlage entwickelte Analyseverfahren ausführlich vorgestellt werden, wird so gezeigt, dass sich die Implementierung digitaler Methoden nicht nur als anschlussfähig bezüglich vorhandener Forschungsinteressen und Theoriekonzepte erweist, sondern neuartige Erkenntnispotenziale erschließt. Im Zuge dessen wird der Gegenstandsbereich auf 16 Volltexte ausgeweitet; auch der Modus der Übersetzungsanalyse als solcher ändert sich durch die Implementierung von Digitalität: Übersetzungstexte werden nicht länger ausschließlich am monolithischen Ausgangstext gemessen, sondern in ihren typologischen Ähnlichkeits- und genetischen Einflussbeziehungen relational erfasst. Während die typologischen Ähnlichkeitsbeziehungen unabhängig voneinander entstehen können, sind genetische Einflussbeziehungen auf die direkte Auseinandersetzung mit vorherigen Übersetzungstexten zurückzuführen. Eine durch diese Kategorien geleitete digital gestützte Analyse erschließt eine innere Übersetzungsgeschichte in bisher nicht dagewesener Komplexität.

Ziel ist es daher, ein Analyseinstrument für den digital gestützten relationalen Übersetzungsvergleich zu entwickeln, das die Erkenntnispotenziale von quantitativen und qualitativen Analyseverfahren bzw. von Distant Reading und Close Reading im Algorithmic Criticism vereint und dabei auch die Konzepte des Blended Reading und des Scalable Reading berücksichtigt (s. Abschnitt 2.1.2). Hierdurch wird die die im Zentrum der japanischen Auseinandersetzung mit dem Literaturnobelpreisträger Thomas Mann verortete Tonio Kröger-Retranslation (Yamaguchi 2018: 147) sowohl hinsichtlich der Übersetzungsgestaltung auf Textebene, also der inneren Übersetzungsgeschichte, als auch in ihrer akademischen Quasi-Institutionalisierung im Umfeld der kyōyōshugi-Bildungsidee, also in ihrer äußeren Übersetzungsgeschichte, umfassend nachvollzogen. Analysiert wird, inwiefern die Tonio Kröger-Übersetzungen und die zwischen ihnen festzustellenden Einfluss- und Ähnlichkeitsbeziehungen durch gewandelte politische, gesellschaftliche, kulturelle und insbesondere bildungsgeschichtliche Kontextfaktoren geprägt sind und welche Rückschlüsse sich hieraus in Hinblick auf japanische Übersetzungskultur im Zusammenhang einer kulturheteronomen Moderne ergeben. Anhand der Frage, ob gesellschaftliche Macht- und Einflussstrukturen durch bestimmte Übersetzungsschwerpunkte sowie durch Einflussbeziehungen auf Textebene reproduziert worden sind und wie direkt oder indirekt sich entsprechende Zusammenhänge ggf. auf die Texte ausgewirkt haben, wird vor diesem Hintergrund die Rolle übersetzter Literatur bei der Aufrechterhaltung und Überwindung eines quasi-kolonialen kulturellen Abhängigkeitsverhältnisses gegenüber dem Westen untersucht. Dies tangiert zugleich die Kernfragen einer digital gestützten quantifizierenden Literaturwissenschaft, zu denen laut Jockers (2013: 28) der evolutionäre Charakter von Literatur, die Entwicklung literarischer Schulen oder Traditionen sowie die Entstehungsbedingungen von Kanonisierung und Popularität gehören. Auch diese Kernfragen werden im Folgenden am Fallbeispiel der japanischen Tonio Kröger-Retranslation auf Übersetzungstexte und ihre Rezeption bezogen.

1.5 Gegenstandsbereich und berücksichtigte Textfassungen

Gegenstand der Analyse ist mit der 1903 erstveröffentlichten Erzählung Tonio Kröger (Reed 2004: 131) ein Text aus Thomas Manns Frühwerk, der die japanischen Rezeptionsaktivitäten schwerpunktmäßig geprägt hat (Yamaguchi 2018: 147) und demzufolge repräsentativ für die japanische Thomas Mann-Rezeption ist. Neben dem deutschsprachigen Ausgangstext wurden 15 unterschiedliche japanische Tonio Kröger-Übersetzungstexte berücksichtigt; damit umfasst die Analyse alle publizierten japanischsprachigen Übersetzungen dieser Erzählung. Nichtsdestotrotz handelt es sich um ein verhältnismäßig kleines Korpus, das jedoch gerade aufgrund seines begrenzten Umfangs den qualitativ interpretierenden Rückbezug der quantitativen Ergebnisse auf bestimmte Textbereiche und -charakteristiken ermöglicht.

Zur Anzahl japanischer Thomas Mann-Übersetzungen und zu den jeweiligen Textfassungen generell liegen derweil unterschiedliche Angaben vor, wobei die Anzahl deutsch-japanischer Thomas Mann-Übersetzungen in jedem Falle den Wert 100 übersteigt (Potempa 1997: 1118–1139; Murata 1977: 439). Von einem ausgeprägten japanischen Thomas Mann-Interesse zeugt zudem die Tatsache, dass neben den Erzählwerken auch die nicht i. e. S. literarischen Schriften, also die theoretischen Werke ebenso wie die privaten Briefe und Tagebuchaufzeichnungen, nahezu vollständig ins Japanische übersetzt worden sind (Murata 1991: 170–171). Sich auf das die Jahrgänge 1912 bis 1955 umfassende Übersetzungsregister (Nihon Hon’yaku-Bungaku Mokuroku) der National Diet Library (Kokuritsu Kokkai Toshokan) berufend geht Murata dabei für den Zeitraum zwischen 1925 und 1959 von 182 japanischsprachigen Thomas Mann-Übersetzungen aus, was dem Lübecker Nobelpreisträger in der Rangfolge der am häufigsten ins Japanische übersetzten Schriftsteller Platz 22 zuweist – er ist damit weit abgeschlagen hinter Tolstoi auf Platz 1 (2198 japanische Übersetzungen im selben Zeitraum) sowie hinter Goethe (675 Übersetzungen), Hesse (363 Übersetzungen) und Schnitzler (225 Übersetzungen) (Murata 1991: 171–172; Murata 1982: 244–245). Dass Manns Einfluss auf Japans Intellektuelle dennoch zeitweilig sogar denjenigen Goethes in den Schatten stellte (Keppler-Tasaki 2020: 120), legt nahe, dass sich eine solche Wirkmacht nur teilweise quantitativ erfassen lässt.

In Bezug auf Tonio Kröger geht Yamamuro von 36 japanischsprachigen Übersetzungsausgaben aus (Yamamuro 2018: 227); laut Murata ist die Erzählung innerhalb des Mannschen Gesamtwerks sogar am häufigsten ins Japanische übersetzt worden (Murata 1991: 176; Murata 1977: 437). Dabei ist zu beachten, dass ein Großteil der Tonio Kröger-Übersetzungstexte nicht separat, sondern im Rahmen der von nahezu jedem größeren Verlagshaus herausgegebenen Sammelausgaben zur Weltliteratur erschienen ist (Murata 1991: 176–177). Hinzu kommt, dass sich die bibliografischen Angaben zu den einzelnen Textfassungen (z. B. Oguro 2016: 9; Oguro 2004: 257; Potempa 1997) vielfach auf bis heute verfügbare Neuauflagen beziehen, ohne dass vom selben Übersetzenden publizierte Erstausgaben erwähnt würden. Dies erschwert die Rekonstruktion der Publikationsabfolge beträchtlich. Dass die Übersetzungsbibliografien ältere Textfassungen teils nicht berücksichtigen, spricht allerdings dafür, dass auch die Übersetzenden teils Neuausgaben berücksichtigt haben könnten, sodass sich die im Zusammenhang der inneren Übersetzungsgeschichte untersuchten Einflussbeziehungen streng genommen auf spezifische Textfassungen beziehen müssten. Diese lassen sich im gegebenen Rahmen jedoch nicht rekonstruieren.

Tab. 1.1 Verzeichnis der Tonio Kröger-Übersetzungen

Identifiziert werden konnten 15 von jeweils unterschiedlichen Übersetzenden publizierte japanische Tonio Kröger-Übersetzungen, die neben dem Ausgangstext in der Fassung der Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe (GKFA) den Gegenstandsbereich der vorliegenden Untersuchung bilden (s. Tab. 1.1). Die erste japanischsprachige Tonio Kröger-Übersetzung wurde 1927 von Saneyoshi Hayao, der damals noch den Namen Hino Hayao (日野捷郎) führte, innerhalb eines Sammelbandes bei Iwanami Shoten (岩波書店) publiziert; separat erschien sein Text dagegen erst 1952 in der Iwanami Bunko (岩波文庫)-Taschenbuchreihe (Yamamuro 2018: 225). Da die Textausgabe von 1927 zum Zeitpunkt der Korporaerstellung nicht vorlag, wurde stattdessen eine überarbeitete Neuauflage der Textfassung von 1952 verwendet (Saneyoshi 2015). Eine ältere, 1940 publizierte Textfassung wurde vergleichend berücksichtigt (Saneyoshi 1940: 493–606); von der neueren Fassung unterscheidet sie sich v. a. durch eine deutlich niedrigere Frequenz an Kommata sowie durch vorkriegszeitliche Zeichenvarianten (kyūjitai, 旧字体).

Direkt im Anschluss an die Erstübersetzung publizierte Mukasa Takeo 1928 seine Tonio Kröger-Übersetzung bei Nanzandō Shoten (南山堂書店); hiernach dauerte es 12 Jahre, bis 1940 im Rahmen der kurz darauf abgebrochenen Thomas Mann-Gesamtausgabe Toyonaga Yoshiyukis Retranslation bei Mikasa Shobō (三笠書房) erschien (Potempa 1997: 1121). Im Folgejahr veröffentlichte Takeyama Michio seine Tonio Kröger-Übersetzung bei Shinchōsha (新潮社). Die erste japanische Übersetzung der Nachkriegszeit wurde 1949 von Takahashi Yoshitaka bei Kon’nichisha (今日社) publiziert (Takahashi 1967 [1949]); da diese Textfassung zum Zeitpunkt der Korporaerstellung ebenfalls nicht zugänglich war, wurde ersatzhalber eine 1967 in der Reihe Shinchō Bunko (新潮文庫) erschienene Textfassung analysiert. Im Todesjahr Manns, also 1955, wurde außerdem Asai Masaos Retranslation bei Hakusuisha (白水社) publiziert. Bereits 1963 erschien außerdem eine erste Fassung der Tonio Kröger-Retranslation Satō Kōichis (Potempa 1997: 1123) beim Verlag Kawade Shobō Shinsha (河出書房新社); in der vorliegenden Analyse wurde allerdings aus denselben Gründen wie bei Saneyoshi und Takahashi eine im Juli 1966 bei Shūeisha (集英社) verlegte Textfassung berücksichtigt. Demzufolge bezieht sich die Analyse jeweils auf die verfügbare Textfassung und deren Publikationszeitpunkt; in der Auswertung der Ergebnisse werden die Publikationszeitpunkte der Erstveröffentlichungen jedoch ergänzend berücksichtigt.

1965 veröffentlichte Fukuda Hirotoshi seine Tonio Kröger-Retranslation bei Chūōkōronsha (中央公論社), auf die im Mai 1966 eine bei Sanshūsha (三修社) verlegte Tonio Kröger-Übersetzung Morikawa Toshios sowie 1968 die Retranslation Nojima Masanaris im Kōdansha-Verlag (講談社) folgten. Anschließend publizierte Ueda Toshirō 1970 seine Retranslation bei Ōbunsha (旺文社); bereits 1973 erschien außerdem eine von Kataoka Keiji verfasste Tonio Kröger-Übersetzung im Verlag Rippū Shobō (立風書房). Nach einer siebzehnjährigen Publikationspause veröffentlichte Maruko Shūhei 1990 eine weitere Retranslation bei Shūeisha. Hieraufhin wurde nach weiteren 21 Jahren, d. h. 2011, die bisher längste Publikationspause in der Geschichte der japanischen Tonio Kröger-Übersetzung von Hirano Kyōko mit ihrer eingangs erwähnten, bei Kawade Bunko (河出文庫) verlegten Retranslation beendet. Darauf folgte 2018 die Neuübersetzung Asai Shōkos in der Reihe Kōbunsha koten shin’yaku bunko (光文社古典新訳文庫)

1.6 Weitere Quellen als Interpretationsgrundlage

Bei der interpretierenden Auswertung der Analyseergebnisse wurden neben einschlägigen Arbeiten der deutschsprachigen Thomas Mann-Forschung außerdem Manns Briefe (1968, 1963), Tagebücher (1989, 1980), Reden und Aufsätze (1974b, 1974c, 1974d, 1974e) sowie weitere autobiografische Schriften (1997) und Essays (2009) berücksichtigt. Einen Teilüberblick über die Übersetzungspublikationen ermöglichten darüber hinaus die Bibliografien Potempas (1997), Oguros (2004) und Muratas (1960).

Konsultiert wurden außerdem Quellen zu den Übersetzenden bzw. zum Publikationskontext der Übersetzungstexte. Dazu gehören die Paratexte bzw. insbesondere die in unterschiedlichen Übersetzungsausgaben mit Thomas Mann-Bezug enthaltenen Vor- und Nachworte (Maruko 1972; Satō/Takahashi 1953; Takahashi/Morikawa/Maruko 1961; Takahashi 1989). Als ergiebig erwiesen sich in diesem Zusammenhang außerdem sonstige Übersetzungspublikationen der Tonio Kröger-Übersetzenden (Asai 1978; Asai 1971; Asai 1953; Asai 1941; Fujimoto/Morikawa 1965; Kataoka 1984; Kataoka 1963; Maruko/Ōkubo 1976; Morikawa 1991; Morikawa 1964; Mukasa 1931; Mukasa 1930; Nojima 1952; Nojima 1959; Nojima et al. 1964; Saneyoshi 1949; Takahashi 1959; Toyonaga 1940a; Toyonaga 1940b; Toyonaga 1939).

Zudem konnten auch einigen wissenschaftlichen Aufsätzen der Übersetzenden wesentliche Informationen zu ihrem Thomas Mann-Verständnis (Satō 1966; Satō 1947; Takahashi 1947b) sowie zu ihrer Selbstwahrnehmung (Fukuda 1970) entnommen werden. Gleiches gilt für ihre fachgermanistischen Monografien (Hirano 2013; Kataoka 1983; Takahashi 1947a; Ueda 1994; Ueda 1993), wobei in diesem Zusammenhang insbesondere Satō Kōichis akademische Profilierung und Spezialisierung anhand zweier Bände zur deutschen Literaturgeschichte (1995, 1967) und dreier unterschiedlicher Thomas Mann-Monografien (1962, 1949, 1948) ersichtlich wurde. Einbezogen wurden ferner nicht i. e. S. wissenschaftliche Monografien der Übersetzenden (Fukuda 1980; Fukuda 1960; Kataoka 1976; Kataoka 1974; Kataoka 1971); besonders aufschlussreich waren hierbei die Essaysammlungen Takahashi Yoshitakas (Takahashi 2010; Takahashi 1987; Takahashi 1959). Den Schwerpunkt der jeweiligen akademischen Lehrtätigkeit der Übersetzenden erahnen ließen außerdem zwei ebenfalls berücksichtigte Deutschlehrbücher (Miura/Ebihara/Nojima 1955; Ueda 1955).

Fremdzeugnisse zu den einzelnen Übersetzungstexten und Übersetzenden sind dagegen rar. Einbezogen wurde eine Rezension des Buddenbrooks-Übersetzers Matsuura Kensaku (1963) zu Satōs 1962 erschienener Thomas Mann-Monografie ebenso wie ein anlässlich der Emeritierung des Tonio Kröger-Übersetzers Morikawa Toshio im universitätseigenen Publikationsformat der Hitotsubashi-Universität erschienener biografischer Abriss (Hitotsubashi Ronsō 1993). Auch die Fremdeinschätzungen des Germanisten Hamakawa Sakae (2003), des Historikers Watanabe Kyōji (2012), der Schriftsteller Kita Morio und Tsuji Kunio (Kita/Tsuji 1980) sowie des Literaturnobelpreisträgers Ōe Kenzaburō (1993) waren insofern zielführend, als sie sich explizit auf spezifische Übersetzungstexte beziehen. Monografien zu einzelnen Übersetzenden existieren hingegen nur zum Tonio Kröger-Übersetzer und Schriftsteller Takeyama Michio (Hirakawa 2013; Kan’no 1970). In Bezug auf die NS-Verflechtung insbesondere des Übersetzers Takahashi Yoshitaka bietet außerdem Ikedas (2006) Monografie zum Zusammenhang zwischen Faschismus und Literatur aufschlussreiche Informationen. In Hinblick auf den Publikationsrahmen der Übersetzungstexte wurden ferner historische Darstellungen zur japanischen Verlagsgeschichte (Okuyama 1980; Shimizu 1990) sowie anlässlich von Verlagsjubiläen erschienene Publikationen (Chūōkōronsha 1955; Iwanami Bunko Henshūbu 2007; Kawamori 2005; Noma 1990) ergänzend konsultiert.

1.7 Gliederung der Arbeit

Die vorliegende Arbeit besteht neben dem Einleitungs- und Schlussteil aus fünf inhaltlich aufeinander aufbauenden Kapiteln. In Kapitel 2 werden zunächst die methodischen Voraussetzungen für den digital gestützten Übersetzungsvergleich erörtert und neben den quantitativ-qualitativen Konzepten Algorithmic Criticism, Blended Reading und Scalable Reading insbesondere die Themenmodelle und ihre Potenziale für die literarische Interpretation und den Übersetzungsvergleich diskutiert. Ausgehend hiervon wird am Kapitelende ein vierschrittiges, am Konzept des Algorithmic Criticism orientiertes Analyseverfahren entwickelt.

Im Anschluss thematisiert das dritte Kapitel die äußere Übersetzungsgeschichte anhand abstrakterer Einflusskontexte zweiter Ordnung (Jones 2011: 155–156; Milroy 1987: 46–47), welche die japanische Thomas Mann-Übersetzung eher mittelbar geprägt haben. Den Betrachtungsschwerpunkt bildet dabei eine umfassende Darstellung zum kyōyōshugi-Bildungsideal und seinen Auswirkungen auf die Rezeption, wobei zuerst Kerncharakteristiken von kyōyōshugi vorgestellt und dann zu Manns Biografie sowie zur Erzählung Tonio Kröger in Beziehung gesetzt werden. Anschließend wird auf die historische Entwicklung und Spezifik des japanischen Übersetzungsdenkens eingegangen und vor diesem Hintergrund der historische Verlauf der japanischen Thomas Mann-Rezeption im Abgleich mit der internationalen Rezeption chronologisch nachvollzogen.

Hieran knüpft das sich ebenfalls mit der äußeren Übersetzungsgeschichte auseinandersetzende Kapitel 4 unmittelbar an, indem es sich mit Einflusskontexten erster Ordnung befasst (Jones 2011: 155–156; Milroy 1987: 46–47). Während im dritten Kapitel also der weiter gefasste historische Rahmen der japanischen Thomas Mann-Übersetzung abgesteckt wird, setzt sich das vierte Kapitel mit konkreteren, die Texte direkt tangierenden Kontextfaktoren auseinander, zu denen der jeweilige Publikationsrahmen, die öffentliche Wahrnehmung sowie die Individualbiografien der Übersetzenden gehören. Dass die Verlage dabei noch vor den Biografien der Übersetzenden thematisiert werden, entspricht der bereits ab dem dritten Kapitel angelegten Argumentationslogik, die mit den die Texte nur mittelbar tangierenden Kontexten zweiter Ordnung beginnt und dann über die Verlage als einem die Textgestaltung bereits direkter tangierenden Kontext bis hin zu den jeweiligen Übersetzenden als den die Texte nochmals unmittelbarer beeinflussenden Faktoren führt. Da jedoch die jeweiligen Übersetzungstexte in erster Linie anhand ihrer Verfasser*innen namentlich voneinander unterschieden werden können, ist es in diesem Zusammenhang unvermeidlich, dass die Namen der Übersetzenden bereits in den Kapiteltiteln des Abschnitts 4.1, also in den Kapiteln zu den jeweiligen Verlagen, genannt werden.

Das darauffolgende fünfte Kapitel erschließt durch Implementierung des in Kapitel 2 vorgestellten Analyseverfahrens erstmalig die innere Übersetzungsgeschichte der Erzählung Tonio Kröger in Japan. Dabei werden die vier Schritte des Analyseverfahrens samt den jeweiligen Ergebnissen in Teilkapiteln vorgestellt, die von der quantitativ untersuchten Skalierungsebene der Gesamttexte über Topics, Topic-Paare und Absatzdokumente bis hin zur qualitativen Analyse ausgewählter Übersetzungstokens führen. Die Teilkapitel zu den besonders komplexen Analyseschritten 3 und 4 beinhalten hierbei zusätzliche Bemerkungen zum jeweiligen Vorgehen und sind entsprechend untergliedert. Eine ausführliche Dokumentation sämtlicher Ergebnisse ist als elektronisches Zusatzmaterial zugänglich (Anhangskapitel 9, s. https://doi.org/10.1007/978-3-662-69569-2_5); in den Zitationen wird der Lesbarkeit halber mit dem Kürzel „EZM“ hierauf referiert.

Im sechsten Kapitel werden zunächst die Ergebnisse der relationalen Analyse mit den zuvor ermittelten Phasen der japanischen Thomas Mann-Rezeption abgeglichen und anschließend pro Übersetzungstext die aus den beiden vorherigen Kapiteln hervorgegangenen Erkenntnisse zur äußeren und zur inneren Übersetzungsgeschichte zu Profilen der Texte und der Übersetzenden zusammengeführt. Diese Profile werden daraufhin im Schlusskapitel noch einmal unterschiedlichen Teilgruppen bzw. Generationen zugeordnet, die einen Überblick über die Hauptströmungen der japanischen Tonio Kröger-Retranslation in ihrer historischen Komplexität bieten. Das besondere Augenmerk liegt hierbei auf dem Zusammenhang zwischen Macht, Einfluss und Übersetzen, wobei die zuvor im dritten Kapitel thematisierten abstrakteren Einflussfaktoren zweiter Ordnung ebenso Berücksichtigung finden wie Gesellschaft, Nation und Kultur als Einflussfaktoren dritter Ordnung bzw. des größtmöglichen Abstraktionsgrades. Ausgehend hiervon werden die Möglichkeiten und Grenzen des digital gestützten Übersetzungsvergleichs noch einmal reflektiert, wodurch sich auch zahlreiche vielversprechende Anknüpfungspunkte für weitere Forschung in diesem Themenfeld eröffnen.