Zusammenfassung
Im intertextuellen Gewebe der Texte Ferdinand von Schirachs spielt Heinrich von Kleist eine besondere Rolle. Motive und Stoffe aus Kleists Werken sowie Anspielungen auf seine Biographie finden sich in zahlreichen Prosastücken und Dramen Schirachs. Eine thematische Nähe ergibt sich vor allem aus der Auseinandersetzung mit Rechtsfällen und -fragen, beide Autoren gehören der Tradition der Juristendichtung an. Auch poetologisch gibt es Ähnlichkeiten, etwa im Gattungsspektrum und in der Tendenz zur kleinen Form. In Hinsicht auf den Stil gibt es allerdings auch große Abweichungen zwischen Kleists komplexem Periodenbau und Schirachs Lakonie. Der Suizid, für den Kleist über sein Werk hinaus bekannt geworden ist, hat für Schirach als psychologisches Motiv große Bedeutung, literarisch wie biographisch. Der vorliegende Beitrag zeichnet die impliziten und expliziten Bezüge zwischen Kleist und Schirach nach, bis hin zu externen Zuschreibungen der Literaturkritik und der Kulturförderung.
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Notes
- 1.
Vgl. Ferdinand von Schirach: Kaffee und Zigaretten. München 2019, 9.
- 2.
Vgl. Ferdinand von Schirach/Sven Michael: „‚Es gibt wohl eine Begabung zum Glück – ich habe sie nicht‘“ [Interview]. In: Süddeutsche Zeitung Magazin 35/2022 (2.9.2022), 10–17, hier: 13.
- 3.
Ferdinand von Schirach/Matthias Wulff: „‚Wenn wir töten, tun wir es aus Lieb oder Gier‘“ [Interview]. In: Die Welt (2.1.2012): https://www.welt.de/kultur/literarischewelt/article13793804/Wenn-wir-toeten-tun-wir-es-aus-Liebe-oder-Gier.html (27.6.2023).
- 4.
Schirach/Michael: [Interview] (wie Anm. 2), 13.
- 5.
Ebd., 16. Schirach erwähnt außerdem den Einfluss seines Vaters, der aber nur für seine Jugend gelte. Der Vater starb, als Schirach 15 Jahre alt war.
- 6.
Vgl. Bernd Eilert: „Rede auf Ferdinand von Schirach zur Verleihung des Kleist-Preises 2010“. In: Kleist-Jahrbuch (2011), 22–29, hier: 28.
- 7.
Vgl. Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft: „Statut Kleist-Preis“. In: Website der Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft (2016): https://heinrich-von-kleist-gesellschaft.de/statut-kleist-preis/ (27.6.2023); vgl. auch Günter Blamberger: „Für Unruhestifter. Der Kleist-Preis“. In: Website der Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft: https://heinrich-von-kleist-gesellschaft.de/geschichte-kleist-preis/ (27.6.2023).
- 8.
Vorstand der Kleist-Stiftung: „Satzung der Kleist-Stiftung vom 18. März 1912“. In: Der Kleist-Preis 1912–1932. Eine Dokumentation. Hg. von Helmut Sembdner. Berlin 1968, 16–18, hier: 16.
- 9.
Die Reden von Eilert und Blamberger sowie die Dankesrede von Schirach sind im Kleist-Jahrbuch 2011 dokumentiert, vgl. Günter Blamberger: „Unberechenbare Seelen. Rede zur Verleihung des Kleist-Preises an Ferdinand von Schirach am 21. November 2010“. In: Kleist-Jahrbuch (2011), 17–21; Eilert: „Rede auf Ferdinand von Schirach“ (wie Anm. 6); Ferdinand von Schirach: „Rede zur Verleihung des Kleist-Preises 2010“. In: Kleist-Jahrbuch (2011), 30–33.
- 10.
Eilert: „Rede auf Ferdinand von Schirach“ (wie Anm. 6), 22.
- 11.
Ebd.
- 12.
Ferdinand von Schirach/Alexander Kluge: Die Herzlichkeit der Vernunft. München 92017, 189.
- 13.
Ferdinand von Schirach/Alexander Kluge: „Kleist oder das Wissen um den Menschen“. In: Dies.: Die Herzlichkeit der Vernunft (wie Anm. 12), 73–95, hier: 76.
- 14.
Ebd., 77.
- 15.
Alexander Kluge: Die Universitäts-Selbstverwaltung. Ihre Geschichte und gegenwärtige Rechtsform. Frankfurt a.M. 1958.
- 16.
Schirach/Kluge: „Kleist oder das Wissen um den Menschen“ (wie Anm. 13), 78.
- 17.
Vgl. Günter Oesterle: „Der Findling. Redlichkeit versus Verstellung – oder zwei Arten, böse zu werden“. In: Walter Hinderer (Hg.): Interpretationen. Kleists Erzählungen. Stuttgart 1998, 157–180, hier: 177–179.
- 18.
Vgl. Schirach/Kluge: „Kleist oder das Wissen um den Menschen“ (wie Anm. 13), 86. Zu den historischen Vorläufern vgl. François Gayot de Pitaval: Causes célèbres et intéressantes, avec les jugemens qui les ont décidées. 20 Bände. Paris 1734–43; Merkwürdige Rechtsfälle als ein Beitrag zur Geschichte der Menschheit. Nach dem Französischen Werk des Pitaval durch mehrere Verfasser ausgearbeitet und mit einer Vorrede begleitet herausgegeben von Schiller. 4 Bände. Jena 1792–1795.
- 19.
Schirach/Kluge: „Kleist oder das Wissen um den Menschen“ (wie Anm. 13), 77.
- 20.
Ebd., 78.
- 21.
Ferdinand von Schirach/Alexander Kluge: „Berliner Abendblätter“. In: Dies.: Die Herzlichkeit der Vernunft (wie Anm. 12), 97–104.
- 22.
Vgl. Schirach/Kluge: „Kleist oder das Wissen um den Menschen“ (wie Anm. 13), 95.
- 23.
Es stimmt daher nicht, dass es nach der anfänglichen Diskussion um den Findling im restlichen Gespräch zwischen Schirach und Kluge nicht mehr um Kleist ginge, wie Wolfgang Asholt behauptet, vgl. Wolfgang Asholt: „Die Herzlichkeit der Vernunft oder ‚was den Menschen im eigentlichen Sinne menschlich macht‘“. In: Von Sinn(en) und Gefühlen. Alexander von Kluge Jahrbuch 5 (2018), 287–300, hier: 293.
- 24.
Vgl. u.a. Hans Kiefner: „Species Facti. Geschichtserzählung bei Kleist und in Relationen bei preußischen Kollegialbehörden um 1800“. In: Kleist-Jahrbuch (1988/89), 13–39, hier: 39; Eugen Wohlhaupter: Dichterjuristen. 3 Bände. Tübingen 1953–1957, Band 1, 467.
- 25.
Zu Kleists juristischer Ausbildung vgl. Wohlhaupter: Dichterjuristen (wie Anm. 24), Band 1, 467–498; Christine Künzel: „Recht und Justiz“. In: Ingo Breuer (Hg.): Kleist-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2009, 272–275.
- 26.
Zur Gewalt als verbindendem Element zwischen Kleist und Schirach vgl. den Beitrag von Hans Richard Brittnacher im vorliegenden Band.
- 27.
Vgl. u.a. die Anekdoten Der verlegene Magistrat, Charité-Vorfall, Anekdote (Kapuziner), Sonderbarer Rechtsfall in England, Helgoländisches Gottesgericht, Beispiel einer unerhörten Mordbrennerei und Geschichte eines merkwürdigen Zweikampfs. Um Militärrecht geht es neben der Anekdote aus dem letzten Kriege auch im Drama Prinz Friedrich von Homburg.
- 28.
Vgl. v.S. [Friedrich Carl von Savigny?]: „Litterarische Bemerkung“. In: Berliner Abendblätter 63 (12.12.1810), 250. Zur Frage von Savignys Autorschaft vgl. Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke. Brandenburger [1988–1991: Berliner] Ausgabe. Kritische Edition sämtlicher Texte nach Wortlaut, Orthographie, Zeichensetzung aller erhaltenen Handschriften und Drucke. Hg. von Roland Reuß/Peter Staengle. Basel u.a. 20 Bände. 1988–2010, Band II/7.I, 319–320; vgl. auch Kleist-Digital. Digitale Edition sämtlicher Werke und Briefe Heinrich von Kleists. Hg. von Günter Dunz-Wolff: https://kleist-digital.de/berliner-abendblaetter/1810-63 (27.6.2023).
- 29.
Vgl. Eberhard Schmidthäuser: „Das Verbrechen in der ‚Marquise von O…‘. Eine nur am Rande strafrechtliche Untersuchung“. In: Kleist-Jahrbuch (1986), 156–175; Christine Künzel: Vergewaltigungslektüren. Zur Codierung sexueller Gewalt in Literatur und Recht. Frankfurt a.M. 2003, 23–89. Für weitere Hinweise vgl. Künzel: „Recht und Justiz“ (wie Anm. 25), 275.
- 30.
Gerhard Neumann: „Einleitung“. In: Ders. (Hg.): Heinrich von Kleist. Kriegsfall – Rechtsfall – Sündenfall, Freiburg i.Br. 1994, 7–11, hier: 9.
- 31.
Alexander Košenina: „Rechtliche und moralische Paradoxa oder Dilemmata. Kleists Sonderbarer Rechtsfall, Klingemanns Selbstgefühl und Schirachs Volksfest“. In: Hans-Edwin Friedrich/Claus-Michael Ort (Hg.): Recht und Moral. Zur gesellschaftlichen Selbstverständigung über „Verbrechen“ vom 17. bis zum 21. Jahrhundert. Berlin 2015, 269–284.
- 32.
Vgl. Ferdinand von Schirach: „Der Dorn“. In: Ders.: Verbrechen. Stories. München 2010, 161–175.
- 33.
Gerhard Neumann: „Ferdinand von Schirach, Verbrechen. Stories.; Ferdinand von Schirach, Schuld. Stories.“ [Rezension]. In: Arbitrium 30/1 (2012), 118–127, hier: 122.
- 34.
Ebd.
- 35.
Wegen der thematischen und dramaturgischen Ähnlichkeiten wurde die Uraufführung von Schirachs Terror am 3.10.2015 am Schauspiel Frankfurt vorbereitet durch eine Aufführung von Kleists Der zerbrochne Krug am Vorabend; beide Stücke wurden als „Doppelprojekt“ von Oliver Reese inszeniert. Vgl. Shirin Sojitrawalla: „In den Lücken des Rechtssystems“. In: Nachtkritik.de (3.10.2015): https://nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=11585:terror-und-der-zerbrochne-krug-oliver-reese-realisiert-die-ring-urauffuehrung-von-ferdinand-von-schirachs-gerichtsstueck-in-frankfurt-im-paket-mit-kleist&catid=83&Itemid=40 (27.6.2023).
- 36.
Vgl. Hans Kiefner: „Species Facti“ (wie Anm. 24).
- 37.
Schirach/Michael: [Interview] (wie Anm. 2), 12.
- 38.
Schirach/Kluge: „Kleist oder das Wissen um den Menschen“ (wie Anm. 13), 77.
- 39.
Ferdinand von Schirach: „DNA“. In: Ders.: Schuld. Stories. München 2010, 19–25, hier: 25. Zu Kleists Todesumständen vgl. Jens Bisky: Kleist. Eine Biographie. Berlin 2007, 461–469.
- 40.
Schirach: Kaffee und Zigaretten (wie Anm. 1), 11.
- 41.
Heinrich von Kleist: „Brief an Ulrike von Kleist vom 21. November 1811“. In: Ders.: Sämtliche Werke und Briefe. Hg. von Ilse-Marie Barth/Klaus Müller-Salget/Stefan Ormanns/Hinrich C. Seeba. 4 Bände. Frankfurt a.M. 1987–1997, Band 4, 513.
- 42.
Vgl. Schirach: Kaffee und Zigaretten (wie Anm. 1), 11, und Kleist: „Brief an Ulrike von Kleist“ (wie Anm. 41), 513.
- 43.
Vgl. Schirach: Kaffee und Zigaretten (wie Anm. 1), 13; Schirach/Michael: [Interview] (wie Anm. 2), 16.
- 44.
Schirach/Michael: [Interview] (wie Anm. 2), 16.
- 45.
Vgl. Ferdinand von Schirach: Nachmittage. München 2022, 16.
- 46.
Vgl. Schirach: Nachmittage (wie Anm. 45), 16.
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Nehrlich, T. (2024). Schirach liest Kleist. Spuren einer dichterjuristischen Wahlverwandtschaft. In: Nehrlich, T., Schilling, E. (eds) Ferdinand von Schirach. Kontemporär. Schriften zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, vol 17. J.B. Metzler, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-68787-1_17
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