1 Das Versprechen des Zeitgenössischen

Gibt es Orte der Kunst, die nicht festgelegt sind und an denen alles möglich ist? Orte, die ein Versprechen auf Universalität verkörpern, auch wenn sie es immer nur partiell realisieren können? Nun ist Grauzone kein guter Titel für ein Versprechen, und Unklarheit und Offenheit reichen nicht als Utopie. Das Motiv des Generischen bietet sich erstmal nicht als Alternative an – es fällt schwer, mit ihm eine produktive Öffnung in die Zukunft zu verbinden: Die Assoziation mit einer „deadening embrace of the general“Footnote 1 liegt mehr als nahe, einer Neutralisierung und Nivellierung, in der alles Spezifische untergeht. Generische Orte erschienen dann als Nicht-Orte, ersetzbare Durchgangsstationen, in denen alles Mögliche vorkommen kann, aber nichts hängenbleibt.Footnote 2 Tatsächlich wohnt diese Gefahr dem generischen Kunstbegriff selbst inne: Wenn „artist at large“ zu sein und „art at large“Footnote 3 zu produzieren bedeutet, sich von jedem spezifischen Zusammenhang zu entkoppeln, droht diese Arbeit in einem grauen Raum abstrakter Möglichkeiten unterzugehen. Dieser Gefahr entgehen kann ein solcher Kunstbegriff nur dann, wenn er einen Möglichkeitsraum eröffnet, in dem Neuspezifizierungen möglich und nötig sind, und generische Orte können nur dann produktiv sein, wenn sie als Herausforderungen fungieren, auf reflektierte Weise an solchen Spezifizierungen zu arbeiten. Insofern müsste man das Generische in diesem Sinne mit dem Generativen zusammendenken, also nicht als bloßen Wegfall innerer Differenzierungen und äußerer Grenzen und damit unabsehbare Zunahme an abstrakten Möglichkeiten, sondern als Antrieb, von dem aus etwas entstehen kann, das trotz allem eine Art Notwendigkeit beanspruchen kann.Footnote 4 In diesem Sinne wäre es kein leeres anything goes, sondern verkörperte ein Versprechen auf Reflexivität in Bezug auf Differenzen und Möglichkeiten und Relevanz im Hinblick auf die gegenwärtige Situation – also das Versprechen des Zeitgenössischen.

Wenn sich mit der Idee, dem Generischen einen Ort zu geben, das Versprechen der als solche erfahrbaren Zeitgenossenschaft verbindet, so geht es nicht nur um die Überwindung disziplinärer Begrenzungen, sondern wesentlich auch um diejenige institutioneller und geopolitischer Limitationen. Ein anspruchsvoller Begriff des Zeitgenössischen hat die Reflexion auf die räumliche, geographische Dimension der Gegenwart in sich aufgenommen. Die Begrenzungen der jeweiligen Situiertheit zu überwinden, beinhaltet dann ein Versprechen auf Repräsentation, auf transnationale oder gar globale Relevanz, auf ein Verbinden auch des radikal Heterogenen, das dazwischen changiert, neue Verbindungen herzustellen und bestehende, aber nicht sichtbare Verbindungen darzustellen, und all dies erfahrbar zu machen. Ein Rückzug auf das disziplinär und lokal Eigene erschiene angesichts dessen als bewusste Borniertheit.

Wir können hier nochmal auf Peter Osborne zurückkommen, dessen im ersten Kapitel kritisch diskutierte Theorie der Kunst im Singular wesentlich mit einer bestimmten Fassung des Motivs des Zeitgenössischen verbunden ist.Footnote 5 Wenn, wie er behauptet, zeitgenössische Kunst postkonzeptuelle Kunst ist, so lässt sich die Entwicklung hin zu einer nicht auf mediale Logiken aufbauenden Kunst nicht von der Komplikation des Zeitgenössischen, die disziplinäre nicht von der geopolitischen Entgrenzung trennen. Osborne unterzieht den Begriff des Zeitgenössischen einer Neuinterpretation, indem er ihn weder primär als Periodisierung noch im Sinne des Alltagsverständnisses als schlichte Gleichzeitigkeit begreift, sondern als Komplikation zeitlicher und räumlicher Kategorien, die auf eine Neustrukturierung der globalen Temporalität, „eine neue Form historischer Zeit“Footnote 6 hinausläuft, die aber die Moderne nicht einfach ablöst.

Insofern in den vergangenen Jahrzehnten vor dem Hintergrund der notorisch problematischen Diskussion um Globalisierung weiterhin von Moderne die Rede war, so geschah dies unweigerlich unter den Bedingungen der weltweiten Ausdifferenzierung; Stichworte waren hier „global“, „alternative“ oder „multiple modernities“. Von einer „modernity at large“ kann nur gesprochen werden, insofern diese, wie bei Appadurai, als durch elektronische Medien und Migrationsbewegungen radikal diversifizierte kulturelle Form beschrieben wird.Footnote 7 Die vorausgesetzte weltweite Ausbreitung der Moderne war kein friedlicher Prozess, sondern kann nicht vom Kolonialismus getrennt betrachtet werden. Dies gilt auch in umgekehrter Richtung: Der Kolonialismus ist die Rückseite der europäischen Moderne, ihre „dunkle Seite“, wie Walter Mignolo sagt. Entsprechend spricht er im Anschluss an Anibal Quijano konsequent von „modernity/coloniality“ als zwei Seiten derselben Medaille.Footnote 8 Multiple Modernen könnten dann auf vergleichbare Entwicklungen an verschiedenen Orten bezogen werden, die aber von einer europäischen Tradition überformt wurden, die sich im Zuge der kolonialen Eroberung und der ökonomischen Globalisierung über die ganze Welt ausgebreitet hat und an den verschiedenen Orten sehr verschiedene Flexionen erfahren hat. Das Ergebnis dieser Flexionen als Heterochronie zu beschreiben, geht nicht mehr von unterschiedlichen Geschwindigkeiten oder Positionen auf einer gemeinsamen Zeitachse aus, sondern nimmt diese Flexionen als Formen mit eigenen Vorgeschichten, Entwicklungslogiken und Gegenwarten ernst.Footnote 9

Auf der anderen Seite gibt es eine manifeste Globalisierung im Sinne der weltweit beinahe ungehinderten Beweglichkeit des Kapitals, die aber nicht für eine Vereinheitlichung von Erfahrungswelten und Handlungsmöglichkeiten sorgt. Osborne beschreibt diese zwei Seiten als „play of forces between the abstractly unifying and temporally self-differentiating power of the universalization of exchange relations at the level of the planet and the persisting complexly interacting multiplicity of relatively territorially discrete, immanently self-differentiating modernities“.Footnote 10 Es gibt hier kein Handlungs- oder Erfahrungssubjekt, das die Stelle des Globalen einnehmen könnte.

Wenn das Zeitgenössische nun die Figur eines solchen Subjekts, eines gemeinsamen Erfahrungs- und Handlungsraums bilden soll, wird es als Idee, Problem, Fiktion und Aufgabe beschriebenFootnote 11 – man müsste Versprechen hinzufügen. Ein solches Subjekt müsste die fragmentierte Einheit miteinander unvereinbarer Zeitlichkeiten verkörpern, die nicht auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen sind. Es wäre fiktiv nicht im Sinne der bloßen Imagination, sondern als spekulative Projektion der einzigen Möglichkeit, unter den gegebenen Bedingungen das Ganze zu denken. Das heißt: Dieser Begriff des Zeitgenössischen negiert die irreduzible Pluralität von Perspektiven und Temporalitäten nicht, sondern setzt sie als Grundlage seiner Totalisierung gerade voraus, die als Bewegung verstanden werden muss und niemals als Faktum.

Für Osborne ist es unter gegenwärtigen Bedingungen einzig die Kunst, die ein solches Subjekt fingieren – darstellen – kann. Eine reale Existenz, die über die bloße Idee hinausgeht, kann es aber nur gewinnen, wenn diese Pluralität irgendeine Form der kommunikativen Wirklichkeit annimmt, etwa in Form der Biennalen der zeitgenössischen bildenden Kunst, in denen die Spannung zwischen Lokalem und Globalem innerhalb der Kunstindustrie und gegen sie ausgetragen wird und die Gegenstand des folgenden Abschnitts sein werden. Universal sind sie damit nicht, aber sie wären die einzigen Orte, an denen die prekäre Einheit des Zeitgenössischen überhaupt festgemacht werden kann. Träger dieser Einheit ist dann diese Form der Ausstellung eher als einzelne Kunstwerke, die mit einem solchen Anspruch maßlos überfordert sind: „it is the exhibition that is the unit of artistic significance, and the object of constructive intent.“Footnote 12

Der spekulative Überschuss dieses Anspruchs ist offensichtlich und wird von Osborne explizit gemacht. Aber das ist nicht der einzige Grund, warum jede einzelne Arbeit und jede einzelne Plattform dahinter zurückbleiben wird, das Zeitgenössische als solches zu verkörpern: Die Rede von der generischen Kunst im Singular, die von der bildenden Kunst aus gebildet ist, unterschlägt die unterschiedlichen disziplinären Logiken, die weiterhin im Spiel sind, und nimmt das Geflecht von Materiallinien nicht ernst genug. Wenn wir an dieser Stelle nun doch mit der Kategorie des Generischen arbeiten wollen, so muss dieses selbst spezifiziert werden. Es kommt nur in situierter und damit flektierter Form vor, die nicht deckungsgleich mit räumlichen Situierungen ist. Insofern kann es auch in dieser Hinsicht nur um relative, situierte Allgemeinheit gehen.

Eine der inneren Differenzierungen, mit denen umgegangen werden muss, weil sie nicht einfach zum Verschwinden gebracht werden können, ist der Unterschied zwischen Aufführung und Ausstellung. Das vorige Kapitel hat die Spannung zwischen beiden am Beispiel von Tanz im Museum nachgezeichnet. Nun ist das Format der Ausstellung nicht gleichbedeutend mit der dort im Mittelpunkt stehenden Institution des Museums, dessen Rahmen den von der Sammlung verkörperten Anspruch auf Ordnung und Repräsentativität einschließt. Aber auch Ausstellungen jenseits dieses Rahmens sind nicht neutral: Wo Museen wie das MoMA universale Zuständigkeit als Instanzen der Geschichtsschreibung beanspruchen, tendieren Ausstellungen dazu, universale Zeitgenossenschaft zu beanspruchen. Beispielhaft ist hier eine Aussage Hans Ulrich Obrists: „To go back to the Szeemannian idea, this Gesamtkunstwerk is possible today through the exhibition where you can incorporate all disciplines. So yes, I think the future is the exhibition.“Footnote 13

Ist die Ausstellung das generische Format schlechthin, gar das Format der Zukunft? Obrists Formulierungen zeigen, dass man diese Frage nicht abstrakt, sozusagen ortsunabhängig diskutieren kann. Alle Disziplinen einzubeziehen ist das eine, das andere ist, wo dies geschieht und wie mit ihnen umgegangen wird. Wenn der internationale Starkurator für das von ihm vertretene Format Universalität beansprucht, so ist dies gleichzeitig als Machtanspruch zu verstehen; dass er dafür mit Harald Szeemann die paradigmatische Position des Kurators als Künstler mobilisiert und noch einmal die Wagnersche Idee des Gesamtkunstwerks ins Spiel bringt, macht dies mehr als deutlich. Aufgerufen wird damit das Konzept eines künstlerischen Masterminds, das vollständige Kontrolle über die beteiligten Disziplinen ausübt und sie so zu einem organischen Ganzen zusammenfügen kann, in dem gerade nichts mehr offenbleibt. Vielleicht ist der Kurator heute die einzige Figur, die derartiges in Anspruch nehmen würde – als Vision einer Komponistin wäre es kaum mehr denkbar.Footnote 14 Es wäre eine freundliche Lesart, dies schon bei Szeemann selbst als Missverständnis oder eher losen und metaphorischen Bezug auf Wagner zu werten; selbst dann aber geht Obrists Anspruch über die Vorstellung eines Formats oder einer Plattform hinaus, die gegenüber dem in ihr Stattfindenden neutral sind und so zum Stützpunkt des Generischen – oder vielleicht erst einmal eines Miteinanders des sehr Verschiedenen – werden können.

Plausibel ist daran, auch diesseits kuratorischer Hybris, dass sich das Versprechen des Zeitgenössischen zu einem gewissen Grad von der einzelnen Arbeit auf den Ort der Präsentation verschiebt. Etwas Vergleichbares lässt sich für die Aufführung nur bedingt ausmachen – sie scheint zuerst einmal kein Format zu sein, das verschiedene künstlerische Disziplinen aufnehmen und in ihrem Zusammenhang darbieten kann. Das nächste Äquivalent zur Ausstellung als einzelnem Ereignis wäre wohl das Festival, das unterschiedliche Aufführungen zusammenbringt und an das sich in Bezug auf die disziplinäre Zusammensetzung und die Art des Zusammenhangs ganz ähnliche Frage stellen lassen. Es ist das Festival als Format und nicht die einzelne Aufführung, das als Träger „kultureller Öffentlichkeit“ verstanden worden ist.Footnote 15 Allerdings finden sich kaum Festivals, die einen vergleichbaren Anspruch auf disziplinäre Universalität erheben.

Wenn wir allerdings zwischen Ausstellung und Ausstellen, zwischen Aufführung und Aufführen unterscheiden, zeigt sich ein komplizierteres Bild.Footnote 16 Das Beispiel von Tanz im Museum hat gezeigt, wie dieser Unterschied auf unterschiedliche Weise bearbeitet werden kann, ohne dass er sich auflöst. Was Obrist von hier aus zu sagen scheint, ist, dass die Ausstellung gleichermaßen Raum für Ausstellen und Aufführen bietet. Rein architektonisch ist das sicher richtig – es ist weitaus einfacher, in einem Ausstellungsraum etwas aufzuführen als etwa in einem Theater etwas auszustellen. Trotzdem verändert der Gesamtrahmen das Aufgeführte: Wenn es sich nicht lediglich um eine Abendaufführung im Ausstellungsgebäude handelt (oder gar eine Aufführung in einem Theater, die aber im organisatorischen Rahmen einer Kunstbiennale stattfindet), wird auch das Aufführen ausgestellt und insofern anders beobachtet und bewertet. Einbeziehung kann dann produktive Verfremdung oder auch differenzblinde Eingemeindung bedeuten.

Umgekehrt könnte man die Frage stellen, ob nicht das Format der interdisziplinären Ausstellung selbst Momente des Aufführens beinhaltet: Als Teil solcher Ausstellungen werden selbst Bilder in eine Auftrittssituation gebracht und müssen sich in einem inszenierten Kontext behaupten, und manche Installationen sind von vornherein als temporäre Inszenierungen innerhalb der jeweiligen Ausstellung konzipiert. Darüber hinaus könnte man gerade die in regelmäßigem Turnus stattfindenden Großausstellungen insgesamt als eine Art Festivals ansehen, mit allen Charakteristika der intensiven Kunst- und Gemeinschaftserfahrung im temporären Ausnahmezustand.Footnote 17

In all diesen Fällen ist es offensichtlich, dass die Orte künstlerischer Produktion und Präsentation nicht neutral sind, sondern das in ihnen Situierte prägen und es überhaupt erst verständlich werden lassen. Ein Ort, der Allgemeinheit beansprucht, tut dies immer von einem bestimmten Kontext aus, und er muss diese Allgemeinheit entweder aktiv erzeugen und kontrollieren und damit paradoxerweise spezifizieren, oder er muss daran arbeiten, die eigene Bestimmtheit temporär zu suspendieren, um Verschiedenem Raum zu geben, so dass schließlich die konkrete Konstellation des tatsächlich Stattfindenden eine je eigene Bestimmtheit hervorbringen könnte. Das hebt die Situiertheit aber nicht auf, sondern transformiert und reflektiert sie. Darauf, das in ihm Stattfindende unter ein vereinheitlichendes Prinzip zu zwingen, müsste ein solcher Ort allerdings sicher verzichten, und insofern ist das Motiv des Gesamtkunstwerk hier wirklich fehl am Platze.

Meine drei Beispiele von Orten, die tatsächlich mit einem solchen Anspruch auftreten oder ihn verkörpern, sind sehr verschieden und müssen daher auch unterschiedlich diskutiert werden: das erwähnte transnationale Netzwerk der Biennalen, das kurze Projekt der Volksbühne unter der Intendanz von Chris Dercon und die Idee eines Projektraums, der einen offenen Ort bereitstellt und diesen über eine Betonung des Prozesshaften und Unfertigen davon abhält, sich zu vereindeutigen und zu schließen, also ein globales Format, ein Fallbeispiel und ein Konzept, das sehr verschiedene Realisierungen erfahren hat. Dabei spielt die Documenta insofern eine besondere Rolle, als an ihrem Beispiel im folgenden Abschnitt unterschiedliche konzeptionelle Ansätze in Bezug auf die Frage von Ausstellung und Aufführung diskutiert werden und im letzten Abschnitt die documenta fifteen exemplarisch für die Idee des Projektraums behandelt wird. Die Episode der Volksbühne steht für den Versuch, einen generischen Ort zu etablieren, der einmal nicht um die bildende Kunst sondern um die performing arts zentriert ist. Bei all dem geht es mir nicht in erster Linie um die Frage der Gelungenheit oder des Erfolgs – Dercon ist bekanntlich desaströs gescheitert –, sondern darum, wie unterschiedlich diese Fälle jeweils funktionieren und was sie über die Möglichkeiten des Generischen aussagen.

2 Dezentrierte Netzwerke: Biennalen

Das Format der Biennale – der Terminus hat sich als Oberbegriff für alle in einem regelmäßigen Turnus stattfindenden Großausstellungen der bildenden Kunst etabliert – hat in den vergangenen Jahrzehnten einen unvergleichlichen Siegeszug angetreten: Die Biennial Foundation listet heute fast 300 Ausstellungen auf, von traditionsreichen, international als Maßstab geltenden Ausstellungen wie der Biennale in Venedig, derjenigen in São Paolo und der Documenta bis zu eher regional relevanten Veranstaltungen.Footnote 18 Der Anspruch eines wirklich globalen künstlerischen Bewusstseins wird hier am ehesten einen Anknüpfungspunkt finden; in diesem Sinne spricht Charles Esche tentativ von „a global form of poetics, not grounded in any one local reality but generated through the interchanges between them in events such as these biennials“.Footnote 19 Obrists Behauptung, dass das Ausstellungsformat alle Disziplinen einschließen kann, ist hier in gewisser Weise die schlichte Beschreibung der faktischen Situation: Ausstellungen zeitgenössischer Kunst und insbesondere die Biennalen schließen in der Tat alle möglichen Disziplinen ein. Ehe ich genauer in den Blick nehme, unter welchen Bedingungen dies geschieht, soll es allerdings um die geopolitische Seite gehen.

Hier ist die andere Seite der Biennalen mindestens ebenso deutlich: Wenn die Globalisierung zuerst eine des Kapitals ist und zudem die zeitgenössische Kunst ein weltweit bedeutender Wirtschaftsfaktor, werden auch jene Großausstellungen als internationale Leistungsschauen dieses Wirtschaftszweigs auftreten oder wahrgenommen werden – die Ansammlung riesiger Yachten im Hafen von Venedig ist dafür der paradigmatische Ausdruck. In diesem Sinne nennt Oliver Marchart die Biennalen „Hegemoniemaschinen“,Footnote 20 und Osborne bezeichnet sie als „Research and Development branch of the transnationalization of the culture industry“,Footnote 21 jeweils ohne ihnen damit ihre Bedeutung für die Artikulation des Zeitgenössischen abzusprechen – tatsächlich sind sie als dezentriertes Netzwerk die einzige erkennbare institutionelle Realisierung der Idee des Zeitgenössischen in seinem Sinne. Inhaltlich ergibt sich eine unlösbare Spannung zwischen einer starken diskursiven Komponente und einem geschärften politischen Bewusstsein auf der einen Seite und auf der anderen einer Situation, in der „many exhibition works are presented to the viewer as if they were preloved objets de luxe with a guaranteed pedigree, recognized high expense and production values, and often the hint of a genealogy of previous consecrations by other curators“.Footnote 22

Die globalisierte Kulturindustrie hat damit die ursprüngliche Funktion der Biennale, nämlich nationale Repräsentation und Selbstvergewisserung aus westlicher Perspektive, zwar nicht zum Verschwinden gebracht, aber doch deutlich überlagert. Die neben den zentral kuratierten Räumen weiterhin bestehenden nationalen Pavillons in Venedig erscheinen heute als eigentümlicher Anachronismus, mit dem die verschiedenen Länder sehr unterschiedlich umgehen – wobei sich nur diejenigen Länder einen quasi postnationalen Umgang leisten können, deren Repräsentation gesichert ist. Herausgefordert wurde diese Repräsentation aber nicht nur durch die globalisierte Ökonomie, sondern wesentlich auch durch die Einrichtung wiederkehrender internationaler Ausstellungen an Orten, die abseits der wirtschaftlichen und politischen Zentren der westlichen Welt lagen. Entsprechend lässt Rafal Niemojewski die Geschichte der zeitgenössischen Biennalen nicht mit der Gründung der Biennale von Venedig 1895, sondern mit derjenigen in Havanna 1984 beginnen.Footnote 23

Auch die Biennale in Havanna war ein politisches Projekt, das von ihren Protagonist*innen als „utopisch“ beschrieben worden ist, was nicht bedeutet, dass sich damit nicht auch handfeste Interessen verbanden.Footnote 24 Wenn Luis Camnitzer als eines der damaligen Ziele festhält, „to put Havana back on the map“,Footnote 25 so benennt er vermutlich die Hauptmotivationen, heute eine solche Ausstellung einzurichten: Eine Biennale verspricht internationale Aufmerksamkeit, wobei gehofft wird, dass die kulturelle Aufwertung der jeweiligen Stadt sich in wirtschaftlichen Erfolg, steigende Touristenzahlen etc. ausmünzen lässt. Rachel Mader spricht treffend von „tensions between site-specific engagement, the event machine, and location marketing“.Footnote 26 In dieser Hinsicht war die Situation im Havanna der 1980er-Jahre anders, denn die Landkarte war hier noch eine vor allem politisch gedachte. Die Selbstdarstellung Kubas verband sich mit dem Versuch, kulturelle Verbindungen innerhalb der damals noch so genannten Dritten Welt herzustellen, in der ersten Ausgabe beschränkt auf Lateinamerika, ab der zweiten unter Einbeziehung von Afrika und Asien, und sich selbst als Knotenpunkt dieser Verbindungen zu etablieren.

Wenn die dritte Biennale von Havanna als Vorreiter einer tatsächlich globalen Kunstwelt bezeichnet wird, wird sie in der Regel in einem Atemzug mit der wenige Monate vorher in Paris eröffneten Ausstellung Magiciens de la terre genannt, die ebenfalls Fragen der Repräsentation der nicht-westlichen Welt verhandelte, aber allgemein als deutlich problematischer wahrgenommen wurde.Footnote 27 Interessant ist diese Gegenüberstellung, insofern wir hier zwei Versuche einer Dekolonisierung als Neuordnung der Kunstwelt vor uns haben, die von entgegengesetzten Positionen ausgehen: von der Peripherie und vom Zentrum. Von hier aus ging die weitere Entwicklung des transnationalen Formats der Biennale in die Richtung einer zunehmenden Infragestellung dieser räumlichen Kategorien selbst. Dass dies im Einzelnen nicht immer als Erfolgsgeschichte erscheint, zeigt Camnitzers ernüchterndes Resümee der Entwicklung der Biennale von Havanna: „The Biennial of Havana has gone from leadership of Latin America to a form of an artistic Ospaaal (Organization of Solidarity with the People of Asia, Africa & Latin America), to then become an alternative independent forum, and finally to become a provider to the international market.“Footnote 28

Diese Bewegung hat insofern zu einer tendenziellen Relativierung der räumlichen Differenzen geführt, als noch die entlegenste Biennale Teil eines internationalen Netzwerks ist, in dem bestimmte Typen von Kunst, bestimmte Diskurse und bestimmte Personen zirkulieren. Die „Transnationalisierung, Translokalisierung und Entnationalisierung“,Footnote 29 die sich damit vollzieht, hat unweigerlich zu einer partiellen Homogenisierung geführt. So wie das globalisierte Kapital führt auch die globalisierte Kunst zu einer Entspezifizierung der Orte, an denen sie sich niederlässt. Insofern die Kunstwelt ein Teil des globalisierten Kapitalismus ist, gilt allerdings auch für sie, was David Harvey festhält: „Geographical diversity is a necessary condition for, rather than a barrier to, the reproduction of capital. If the geographical diversity does not already exist, then it has to be created.“Footnote 30 Das im vierten Kapitel aufgegriffene Motiv der „production of locality“Footnote 31 beschreibt dies gut: Biennalen sind Teile der Selbstproduktion von Örtlichkeit in einem globalisierten, aber nicht homogenen Rahmen, in dem Unterschiede und deren Kultivierung trotz aller Homogenisierungstendenzen die Voraussetzung für die Einbindung in ein globales Kunstsystem sind.

Man muss dies komplementieren durch den Versuch der Dezentrierung des Zentrums selbst, für den emblematisch die von Okwui Enwezor kuratierte Documenta 11 von 2002 steht, dreizehn Jahre nach der dritten Biennale in Havanna. Dezentrierung war hier ganz wörtlich zu verstehen, da der Ausstellung in Kassel vier diskursive „Plattformen“ in Wien/Berlin, Neu-Delhi, auf St. Lucia und in Lagos vorausgingen, die ihr (als „Plattform 5“) formal gleichgestellt waren. Enwezor machte institutionellen Ernst mit einer Form, die nur von den allerwenigsten oder nur über die im Anschluss publizierten umfangreichen Sammelbände als ganze wahrgenommen werden konnte. Der Effekt der Dezentrierung stellte sich so auch für diejenigen her, die nur in Kassel waren, insofern ihnen ein als essentiell ausgewiesener Teil des Geschehens unzugänglich war und die Präsenz des selbst Gesehenen aushöhlte.Footnote 32 Adam Szymczyk wiederholte diese Geste noch einmal auf andere Weise, indem er die Documenta 14 auf die Standorte Kassel und Athen verteilte. In beiden Fällen ging es um die Infragestellung der Provinzialität des Zentrums, das sich für die ganze Welt hält.

Diese Selbstdezentrierung bleibt allerdings eher Projekt als Wirklichkeit, und ihre diskursive und kuratorische Hegemonie bleibt, „despite Documenta’s own antihegemonic claims“,Footnote 33 weitgehend erhalten – oder vielleicht paradoxerweise sogar deswegen: Welche Ausstellung im globalen Süden kann es sich schon leisten, sich auf derart aufwendige Weise in der Welt zu verteilen? Und welche Ausstellung fühlte sich nicht trotzdem bemüßigt, der „mother of all curatorial statements“,Footnote 34 wie Esche die Documenta nennt, nachzueifern?

Dazu kommen Spannungen zu eher lokal orientierten Traditionen und Widerstände gegen die hegemoniale postmediale Kunst, wie etwa die Etablierung der Dak’Art Off als alternativem Parallelprogramm zur Dak’Art Biennale von Dakar im Senegal zeigt.Footnote 35 Man könnte sagen, dass sich die Differenz von Zentrum und Peripherie hier auf neue, nicht mehr ausschließlich geographisch festzumachende Weise reproduziert: Das Zentrum hat sich verteilt bis zu einer Situation, in der „by virtue of their power of assembly, international biennales are manifestations of the cultural-economic power of the ‚centre‘, wherever they crop up and whatever they show“.Footnote 36 Insofern mag es sein, dass zwischen Zentrum und Peripherie nicht die halbe Welt, sondern nur die wenigen hundert Meter zwischen der Exposition internationale und den verteilten Orten der Dak’art Off liegen.

Es bleibt die Frage, ob nicht die Idee des Zeitgenössischen selbst von diesem Problem betroffen ist. So schreibt Rolando Vazquez: „The contemporary enforces the colonial difference by instrumenting a separation between those who belong to the now of contemporaneity and those that are relegated to its pastness.“Footnote 37 Selbst wenn die klare Abgrenzung, von der Vazquez hier spricht, für die von Osborne vorgeschlagene Idee des Zeitgenössischen nicht mehr gelten soll, könnte sie sich doch auf einer anderen Ebene wieder herstellen: Der Anspruch, die Heterochronie als solche zur Darstellung zu bringen, trennt noch einmal jene, denen diese Perspektive zur Verfügung steht und die über die entsprechenden künstlerischen, reflexiven und institutionellen Mittel verfügen, von denen, für die dies nicht gilt und die in ihrer eigenen Provinzialität eingeschlossen bleiben. Der Unterschied ist nur, dass dies nicht mehr eindeutig auf eine geopolitische Unterscheidung von Zentrum und Peripherie zurückzurechnen ist, sondern auch die in den Zentren produzierte Kunst mittendurch schneidet: Auch der größte Teil dessen, was in Venedig oder Kassel gezeigt wird, erfüllt diesen Anspruch offensichtlich nicht. Trotzdem ist davon auszugehen, dass diese Mittel weiterhin auch geopolitisch sehr ungleich verteilt sind. Ergebnis wäre ein „Allochronismus“ zweiter Ordnung, wenn man so will, ein „denial of contemporaneity“.Footnote 38

All dies macht deutlich, dass die globale, dezentrierte Reflexivität der Biennalen in der Tat eher eine Aufgabe oder ein Horizont ist als eine stabile Wirklichkeit.Footnote 39 Wenn die realen Orte der Biennalen auch unter globalisierten Bedingungen eine mitkonstitutive Rolle spielen, bleibt die Frage nach dem Ort auch hier relevant und aufschlussreich, und zwar weder als Residualkategorie, die für ein Minimum an Differenz aufkommt, noch als fixe Referenz, aus der sich klare Bestimmungen ableiten lassen. Die Perspektiven, die diese Unterschiede bedingen, durchkreuzen Differenzen wie die von Zentrum und Peripherie, ohne sie zum Verschwinden zu bringen.

Die Frage nach Unterschieden im Grad und der Art der Einbeziehung disziplinärer Pluralität steht quer zu diesen Differenzierungen, ist aber auch nicht vollständig unabhängig von ihnen – so war etwa einer der Beweggründe zur Etablierung der Dak’Art Off gerade die Abwehr eines postmedialen Kunstbegriffs und der Dominanz installativer Arbeiten zugunsten lokaler Traditionen der Malerei.Footnote 40 In dieser Hinsicht hat jener lokale Widerstand gewisse Parallelen dazu, wie Festivals Neuer Musik sich gegen mediale und diskursive Erweiterungen stemmen, auch wenn die Unterschiede offensichtlich sind: Es gibt hier kein vergleichbares transnationales Netzwerk, das von außen Druck auf einen Ort wie die seit mehr als hundert Jahren bestehenden Donaueschinger Musiktage ausübt, und es gibt auch keinen etablierten eigenen, von der Musik her gedachten, aber über ihre mediale Spezifität hinaus ausgeweiteten Begriff einer sozusagen anders flektierten generischen Kunstpraxis.Footnote 41 Ein Versprechen des Zeitgenössischen verkörpern diese Orte nur noch sehr bedingt. Auf geographische Orte lassen sich solche konzeptionellen Differenzen in keinem Fall zurückrechnen, und um ihnen nachzugehen, sollen noch einmal einige Ausgaben der Documenta als Beispiel dienen.

Am radikalsten war hier keine tatsächliche Ausstellung, sondern ein nicht realisiertes Konzept: Die ersten Entwürfe von Harald Szeemann, Obrists Gewährsmann für die Ausstellung als Gesamtkunstwerk, sahen vor, die Documenta 5 in ein „100-Tage-Ereignis“ zu verwandeln. Sie sollte als „Interaktionsraum, als begehbare Ereignisstruktur mit sich verschiebenden Aktionszentren“Footnote 42 begriffen werden, ausgehend von Fluxus, Happening und der beginnenden Performancekunst. Die Documenta wäre damit in gewisser Weise tatsächlich zu einer einzigen, kaum zu überblickenden Aufführung geworden, innerhalb derer nun umgekehrt das Ausstellen nur ein Element gewesen wäre. Bekanntlich ist es nicht dazu gekommen, und über die ebenfalls nur partielle Realisierung des neuen, vollkommen anderen Konzepts Befragung der Realität. Bildwelten heute sagte Szeemann dreißig Jahre später: „Ich konnte in Ruhe eine schöne Ausstellung machen.“Footnote 43 Dass diese Ruhe durch die teilweise harsche Kritik an der Figur des Kurators – bzw. des „Generaldirektors“, eines erstmals für die Documenta 5 geschaffenen Postens – und seinem Gestaltungsanspruch gestört wurde, steht auf einem anderen Blatt.Footnote 44

Auch wenn Szeemanns offensiver Gestaltungsanspruch nicht von allen seinen Nachfolger*innen geteilt wurde, ist die Verschiebung hin zum Kurator oder der Kuratorin als zentraler Figur, von dem oder der eine umfassende Vision erwartet wird, von Dauer gewesen. Der Anspruch auf einen repräsentativen Überblick, den die ersten Ausgaben noch als unproblematische Fortschritts- und Wiedergutmachungserzählung inszenieren konnten, ging dabei allerdings vorerst verloren. In einem Text zur Documenta 9 schrieb Stefan Germer über jene Tendenz, die für ihn mit dem damaligen Kurator Jan Hoet auf die absurde Spitze getrieben schien: „Aus legitimatorischer Not wurde kuratorische Tugend: weil die documenta anders nicht als durch subjektive Setzung zu rechtfertigen war, geriet sie zur Bühne des sie setzenden Subjekts.“Footnote 45

In dieser Hinsicht markiert Catherine Davids Documenta X eine Zäsur: Sie war sicher keine weniger starke kuratorische Setzung als die Ausstellungen davor, aber mit ihr kehrte die Vorstellung einer umfassenden Bestandsaufnahme zurück, und zwar nun das erste Mal explizit als Versprechen des Zeitgenössischen, das die globale Dimension thematisierte und von theoretischen Erwägungen flankiert wurde. Das voluminöse Begleitbuch formulierte einen fundamentalen Anspruch, der auch die Ausstellung selbst prägte: „Mit diesem Buch wird der Versuch unternommen, einen politischen Kontext für die Interpretation von künstlerischer Tätigkeit am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts abzustecken.“Footnote 46 Neben dem „100 Tage – 100 Gäste“-Programm, bei dem es in Vorträgen, Diskussionen und Performance um künstlerische und politische Fragen ging und bei denen auch Tanz, Theater, Literatur und Architektur vertreten waren, gab es ein mehrtägiges Film- und Theaterprogramm. Damit wollte David „die Heterogenität und widersprüchlichen Beziehungen zeitgenössischer kultureller Praktiken darstellen und die Kunst über die Kunstwelt hinausführen“.Footnote 47

Das „Theaterskizzen“-Programm ist für unseren Kontext besonders interessant, denn es unterscheidet sich deutlich von einem geläufigen Rahmenprogramm. Hier wurde eine Reihe von Künstler*innen eingeladen, die Documenta am Anfang zu besuchen und aufgrund ihrer Eindrücke die Skizze eines Stücks zu entwerfen; all diese Skizzen wurden dann gegen Ende der Ausstellung an einem einzigen Abend als „Theatermarathon“ aufgeführt (und noch zweimal wiederholt). Bemerkenswert ist daran sowohl das Format als auch die Zusammensetzung: Eingeladen waren unter anderem Jan Lauwers mit Needcompany, Meg Stuart, Christoph Marthaler und Anna Viebrock, Stefan Pucher mit Gob Squad und Heiner Goebbels, was im Programm als „Theatermacher (Regisseure, Choreographen, Komponisten)“Footnote 48 zusammengefasst wurde. Tatsächlich haben die Eingeladenen ganz verschiedene disziplinäre Hintergründe: Stuart im Tanz, Marthaler und Viebrock im Theater, Gob Squad in der Performance und Heiner Goebbels in der Musik und dem Musiktheater. Natürlich gibt es zwischen allen diesen Positionen Verwandtschaften, gerade im Hinblick auf die Infragestellung der jeweiligen Herkunftsdisziplin und der Überschreitung ihrer Grenzen, sie aber allesamt als „Theatermacher“ zu bezeichnen, verweist deutlich auf eine Außenperspektive, für die Gemeinsamkeiten wichtiger sind als innere Differenzen. Die übergreifende Kategorie wäre wohl die der performing arts; ich komme im folgenden Abschnitt darauf zurück.

In seinem Statement zur Pressekonferenz sprach der Kurator der „Theaterskizzen“, Tom Stromberg, davon, dass der Marathon „die einmalige Chance [ermöglicht], die Veränderungen und Perspektiven des Avantgarde-Theaters mit sämtlichen Uraufführungen an einem Abend zu erleben“.Footnote 49 Abgesehen davon, dass „Avantgarde-Theater“ sicher kein Begriff ist, den irgendeiner der Eingeladenen als Selbstbeschreibung gewählt hätte, weist dies noch einmal auf das ungewöhnliche Format: Ein Programm mit zehn kurzen Premieren an einem Abend hätte es vermutlich an keinem anderen Ort gegeben. Man könnte dies als Zumutung verstehen, als Versuch, den ungeduldigen Besucher*innen einer Ausstellung der bildenden Kunst einen Blitzkurs in aktuellen Entwicklungen des Theaters zu geben, aber auch als produktive Herausforderung, mit anderen Formaten und Kontexten zu experimentieren und die direkte Gegenüberstellung auszuhalten. Dass Stromberg selbst „Theatermacher“ ist, spricht eher dafür, dass sich hier nicht schlicht über die Bedürfnisse und Erfordernisse des Theaters im weitesten Sinne hinweggesetzt wurde, sondern die Zumutung als tatsächlich sehr bewusst gesetzte Herausforderung verstanden werden muss, die Bettina Masuch und Christel Weiler folgendermaßen formulierten: „[W]ie definiert sich Theater außerhalb des Theaters?“Footnote 50 Gemeint ist damit nicht lediglich ein Verlassen der traditionellen Theaterräume, sondern auch außerhalb seines raumzeitlichen Regimes insgesamt. Auf diese Weise, könnte man sagen, wurde das generative Potential der Ausstellung mobilisiert.

Bemerkenswert ist hier, dass aktuelle Entwicklungen im Theater (im Unterschied etwa zur Musik) für David offenbar ein auch für die Documenta relevanter Teil der zeitgenössischen künstlerischen Produktion waren und, neben den theoretischen Reflexionen und politischen Kontextualisierungen, zum Versprechen des Zeitgenössischen gehörten. Dennoch hatten all diese Veranstaltungen Aufführungscharakter in oder am Rande einer Ausstellung, die weiterhin zum allergrößten Teil aus Objekten und Installationen bestand. Das ist etwas anderes als das traditionelle Programm von Vorträgen, Konzerten, Filmaufführungen etc., aber noch nicht im eigentlichen Sinne Teil der Ausstellung, die als solche unangetastet blieb. Was Jan Lauwers als sein Ziel formulierte, scheint recht genau den Vorstellungen Davids zu entsprechen: „Ich wollte ins Herz der documenta kommen und etwas tun, ohne die documenta zu ändern.“Footnote 51

Für den größten Teil aktueller Großausstellungen ist dieser Zwischenstatus seitdem Standard: Eine Ausstellung ohne ein derartiges Begleitprogramm ist kaum noch denkbar, aber es dient eher der Kontextualisierung oder Vervollständigung als der wirklichen Erweiterung oder Transformation. Ob diese Art von Programm jeweils als integraler Teil der Ausstellung verstanden und auch so wahrgenommen wird, kommt auf die Haltung der Kurator*innen dazu an – so werden etwa auf der Webseite der Documenta 13 alle Teilnehmer*innen gleichberechtigt genannt, ob sie unter den Ausstellenden waren, an Abendveranstaltungen teilgenommen haben oder auch zur vorab publizierten 100 Notizen – 100 Gedanken-Reihe beigetragen habenFootnote 52 –, aber auch auf die Art der Präsentation und den Grad der Integration.

Mittlerweile finden sich überdies immer mehr performative, nun auch musikalische Arbeiten, die direkt in die Ausstellung integriert werden, was das Problem der unterschiedlichen Zeitregime noch einmal ganz unmittelbar aufwirft. Dass Performer*innen die ganze Dauer der Ausstellung begleiten, ist weiterhin die Ausnahme. Auf der Documenta 12 etwa wurden 2007 die beiden Stücke Floor of the Forest (1970) und Accumulation (1971) von Trisha Brown täglich, aber nicht kontinuierlich im Ausstellungsraum aufgeführt, womit „erstmals in der documenta-Geschichte 100 Tage lang Tanz-Performances im Museumsraum zu sehen“Footnote 53 waren; fünf Jahre später, bei der Documenta 13, lief Tino Sehgals This Variation tatsächlich kontinuierlich, ebenso sein Yet Untitled bei der Biennale in Venedig im folgenden Jahr; ebenfalls in Venedig saß der Musiker Marco Fusinato 2022 im Australischen Pavillon die meiste Zeit in seiner Installation DESASTRES und produzierte mit seiner E-Gitarre mehr oder weniger harschen Noise, wodurch auf einer riesigen Videoleinwand ein ständig wechselnder Bilderstrom gesteuert wurde.Footnote 54 Mit der zeitlichen Struktur seiner Performance hatte er sich ganz an die Bedingungen der Ausstellung angepasst: Es gab keinerlei narrativen oder teleologischen Rahmen, sondern einen kontinuierlichen Strom, in den man beliebig ein- und aussteigen konnte.

Es gibt natürlich ganz handfeste Hindernisse, diese Disziplinen als gleichberechtigte Teilnehmer in das Ausstellungsformat zu integrieren. Manche von ihnen sind ökonomisch und institutionell, und auch sie haben mit den verschiedenen Zeitregimen zu tun. Dass ein Künstler monatelang in der Ausstellung ausharrt, ist kaum zu erwarten; wenn die Daueraufführung von anderen Performer*innen bestritten wird, müssen diese angemessen bezahlt und verpflegt werden, Rückzugsräume haben etc. Tatsächlich ist das kaum je der Fall, und Sehgal ist hier weiterhin die Ausnahme. In einer bestimmten Hinsicht hat aber auch die partielle direkte Einbeziehung nichts am Gaststatus der performativen Arbeiten verändert: Das Format der Ausstellung als solches wird dadurch kaum in Frage gestellt oder transformiert.

Wenn die Biennalen ihren eigenen Anspruch ernstnehmen, kann das nicht das letzte Wort sein. Der generische Kunstbegriff wurde im ersten Kapitel im Hinblick auf die weiterhin bestehende Heterogenität disziplinärer Logiken kritisiert; die Alternative ist aber nicht ein unverbindliches Nebeneinander disziplinärer Verschiedenheit. Stattdessen müsste es darum gehen, neue Produktions- und Präsentationsformen anregen zu können, die über ein „harvesting (or even worse, co-opting)“Footnote 55 des woanders Produzierten hinausgeht, und darum, gegenseitige Kontextualisierungen zu ermöglichen und zu fordern, die dann aber auch alles einbeziehen, was in ihnen stattfindet. Das ist im Moment eher nicht der Fall. Der Anspruch, eine überhaupt nicht mehr flektierte Form des Generischen, einen wirklich universalen Ort zu stiften, erzeugt eine Spannung, innerhalb derer sich die Biennalen der zeitgenössischen Kunst heute bewegen. Sie wird nicht zu lösen sein; eher wird es darum gehen, sie möglichst produktiv zu bearbeiten, indem man sich die eigene Situiertheit eingesteht. Jennifer Lacey, die an Copelands im vorigen Kapitel behandelten Choreographierten Ausstellung beteiligt war, bemerkt lapidar: „I am not convinced that galleries are where the revolution is going to happen.“Footnote 56 Vermutlich hat sie recht.

3 Mischwesen: Volksbühne Berlin

Es ist bezeichnend, dass als generische, disziplinär offene Orte fast unvermeidlich Institutionen der bildenden Kunst genannt werden. Auch wenn man hier zu Recht den Imperialismus des Museums und die Hybris der Großausstellung kritisiert, muss man doch konzedieren, dass es keine wirklichen Alternativen gibt. Vor diesem Hintergrund werden Orte besonders bedeutsam, die von anderen Ausgangspunkten einen übergreifenden Anspruch versuchen. Die Berliner Volksbühne Berlin während der kurzen Intendanz des belgischen Kurators Chris Dercon gehört dazu: Man kann sie verstehen als Versuch eines disziplinär nicht festgelegten Ortes, der nicht von der bildenden Kunst, sondern von den performing arts ausgeht.Footnote 57 Wir haben hier einen vollkommen anders formierten, diesmal ganz konkreten Ort vor uns, an dem und von dem aus sich das Versprechen des Zeitgenössischen noch einmal auf andere Weise stellt, und zwar sowohl in Bezug auf den Zusammenhang des Lokalen und des Transnationalen und als auch auf das Zusammenwirken der verschiedenen Disziplinen.

Zwar handelt es sich um eine recht kurze Episode, die allerdings die künstlerische und kulturpolitische Diskussion in Deutschland auf eine Weise in Aufruhr versetzt hat, die doch bemerkenswert ist. Natürlich ging es um reale Probleme der künstlerischen, wirtschaftlichen und politischen Aufstellung der Volksbühne, ein wesentlicher Teil der Debatte drehte sich aber um symbolische Fragen bzw. wurde von symbolischen Fragen überlagert, die mit disziplinären Verortungen, ökonomischen Bedingungen, kultureller Vorherrschaft, lokaler Verankerung und internationaler Öffnung und mit der Möglichkeit linker Politik zu tun hatten. Das Theater ist es, was all dies verbindet – ein offenbar gerade im deutschen Kontext vollkommen überdeterminierter Begriff, bei dem sich Symbolisches und Reales nicht voneinander trennen lassen. Am Beispiel des Eröffnungsabends wiederum lässt sich die Idee eines disziplinär nicht festgelegten Orts exemplarisch behandeln, dessen Format die Aufführung ist und nicht die Ausstellung und für das das Theater als konkreter Raum von Bedeutung ist.

Als am 23. April 2015 offiziell verkündet wird, dass der belgische Kurator Chris Dercon die Leitung der Berliner Volksbühne von Frank Castorf übernehmen soll, war dem bereits eine intensive öffentliche Diskussion vorausgegangen, die durch Gerüchte und inoffizielle Meldungen ausgelöst worden war.Footnote 58 Dercon ist zu jener Zeit Direktor der Tate Modern und damit an einer der exponiertesten und prestigereichsten Positionen der internationalen Kunstwelt, die Volksbühne wird seit 23 Jahren von Frank Castorf geleitet, dessen Vertrag gegen seinen eigenen Willen nicht verlängert werden soll. Die Entscheidung ist auch diesseits jeder inhaltlichen Frage über Dercons Arbeit und seine Ziele ungewöhnlich, weil sie diesmal auf der Leitungsebene ein Crossover zwischen verschiedenen künstlerischen Welten bedeutet – offenbar traut man, genauer der damalige Staatssekretär für Kultur Tim Renner, dem Museumsmann die Kompetenz zum Führen eines Ensembletheaters zu. Das war damals und ist auch heute weit davon entfernt, Normalität zu sein, aber es hat, siehe Obrist, eine gewisse Folgerichtigkeit: Wer Ausstellungen macht, müsste im Prinzip alles können (wobei sich Dercon Marietta Piekenbrock als Programmleiterin an seine Seite geholt hatte, die vom Theater kam und zuvor Chefdramaturgin der Ruhrtriennale gewesen war).

Die Frage, ob die Volksbühne mit Dercon nicht zu etwas ganz anderem gemacht werden soll, begleitete die Diskussion von Anfang an. Dabei ging es um zwei miteinander verkoppelte, aber letztlich ganz verschiedene Punkte: zum einen um die künstlerische Ausrichtung des Hauses, also inwiefern das medial erweiterte Theater, das von Castorf und anderen hier etabliert worden war, fortgesetzt, noch einmal erweitert oder in eine ganz andere Richtung geführt werden würde, zum anderen um die Zukunft des Ensembles und des festangestellten Personals insgesamt. Kurz: Zur Debatte stand, ob die Volksbühne ein Theater bleibt. Wiederum, aber anders als im vorigen Kapitel im Zusammenhang von bildender Kunst, Performance und Tanz, ist „Theater“ hier ein mehrfach codierter Begriff, ohne dass immer klar wäre, welche der verschiedenen Bedeutungsebenen jeweils Spiel sind: Theater ist hier Disziplin, Institution und Präsentationsform. Die Dimensionen der Disziplin und der Institution waren die Kernpunkte, um die sich die Debatte drehte, während die Frage der Präsentationsform beim Eröffnungsabend auf exemplarische Weise zu beobachten war. Die kulturelle und politische Rolle der Volksbühne in Berlin wurde auf vielfältige, nicht immer überzeugende Weise mit all diesen Punkten verknüpft, und natürlich kann die Entwicklung nicht behandelt werden, ohne die politische und ökonomische Dimension miteinzubeziehen. Trotzdem ist es hilfreich, nicht die ganze Betrachtung von vornherein von ihr überlagern zu lassen.

In einem etwa in der Mitte seiner kurzen Intendanz gegebenen Interview bezeichnete Dercon das Haus als „neuartiges Mischwesen“ und sprach von einer „experimentelle[n] Produktionsform“.Footnote 59 Der ursprüngliche Plan für dieses Mischwesen umfasste mehr als die Volksbühne selbst, nämlich neben dem schon lange dazugehörenden Prater und das Kino Babylon noch einen riesigen Hangar am ehemaligen Flughafen Tempelhof, der mit dem Architekten Francis Kéré zu multidisziplinären, flexiblen Spiel- und Ausstellungsstätten umgebaut werden sollte. Zum mitgestaltenden Kreis sollten noch dazu die Choreograph*innen Mette Ingvartsen und Boris Charmatz, der Filmregisseur Romuald Karmakar, die Theaterregisseurin Susanne Kennedy und der Komponist Ari Benjamin Meyers gehören. René Pollesch, der die Kontinuität zur alten Volksbühne markiert hätte, war ebenfalls eingeplant, hatte aber abgelehnt. Offenbar schwebte Dercon tatsächlich eine Art generischer Ort vor, dessen Ausgangspunkt ausnahmsweise nicht Museum oder Biennale, sondern die Bühne im weitesten Sinne und deren primäres Format nicht die Ausstellung, sondern die Aufführung ist. Es ging um die Einrichtung einer interdisziplinären, auf mehrere, sehr verschiedene Orte verteilten Performing Arts-Plattform, also einer ganz anderen Flexion des Generischen als das postmediale Museum.

Aus der Perspektive des Theaters könnte man nun bereits diesen Schritt in Richtung interdisziplinärer Allgemeinheit als eine Art nivellierenden Übergriff verstehen, wie es auch vielfach geschah. Die Kategorie der „darstellenden Künste“ ist hierzulande vor allem auf organisatorischer Ebene relevant, aber kaum je als Beschreibung einer Einheit auf künstlerischem Gebiet. Es gibt zahlreiche Hochschulen für Musik und darstellende Kunst und eine noch größere Zahl an Mehrspartentheatern, in denen Sprechtheater, Tanz, Konzertmusik und Oper unter einem institutionellen Dach zusammengefasst sind, aber in beiden Fällen geht organisatorische Einheit meist mit klarer innerer Differenzierung einher. Die performing arts nun nicht als organisatorische, sondern als künstlerische Kategorie aufzufassen, kann hier wie die Drohung einer Entgrenzung erscheinen, durch die die einzelnen Disziplinen ihr Profil verlieren, das in allen der genannten Bereiche stark durch ein je spezifisches Metier, durch mühsam erworbenes disziplinäres Können geprägt ist. Insofern beruht das Operieren mit der Kategorie der performing arts hier weniger auf einem Missverständnis aus der Außenperspektive als auf einer bewussten Neusortierung, die allerdings durch Übergänge und Zwischenformen zwischen Tanz, postdramatischem Theater und Performance vorbereitet war (einmal mehr ist die Musik nur bedingt Teil dieses Kontextes). Selbst wenn auch diese Perspektive für manche inneren Differenzen und unterschiedlichen Bedürfnisse blind gewesen sein mag, hätte sie sich doch gerade in Form der Herausforderung des metierzentrierten Selbstverständnisses der einzelnen Disziplinen als produktiv erweisen können.

Was das für eine Veränderung bedeutet hätte, zeigen einige Reaktionen in der Presse: „Theater wird hier vom Format her gedacht. Vom, um bei Piekenbrocks Formulierung zu bleiben, ‚Setting‘, nicht von der Schauspielerpersönlichkeit.“Footnote 60 Format und Setting stehen für eine bestimmte Produktions- und Darstellungsform, und zwar für eine solche Form neben anderen. Voraussetzung ist ein vergleichender Blick, für den dieser Typ „Persönlichkeit“ tatsächlich Teil eines bestimmten Metiers ist, das er nicht unbedingt kategorisch verwirft, mit dem er sich aber so wenig wie mit irgendeinem anderen Metier vollständig identifiziert. Klar war aber, dass das Sprechtheater, das bei Castorf selbst längst in etwas transformiert worden war, das mit dem traditionellen Stadttheaterprogramm nur noch wenig zu tun hat, hier endgültig aus dem Zentrum verdrängt werden würde.

Interessanterweise wurde nun diese Art der Programmierung als solche mit dem Museum assoziiert: „Die Volksbühne atmet mehr den Geist eines Museums als den eines Theaters“.Footnote 61 Das Museum steht hier nicht für die Ausstellung, oder doch nur in einem übertragenen Sinne: Es ist die Interdisziplinarität, das Denken in Formaten, Gegenüberstellungen und Übergängen selbst, um die es hier zu gehen scheint. Insofern das zeitgenössische Museum als Inbegriff der disziplinär nicht vollständig festgelegten Institution gelten kann, wie erfolgreich auch immer es dabei agiert, ist die zitierte Beobachtung vollkommen richtig, denn zu einer solchen Institution sollte auch die erweiterte Volksbühne werden. In Abgrenzung zu allen Universalitätsansprüchen wäre diese aber klarerweise situiert gewesen, nämlich um ein Theater zentriert und auf die performing arts fokussiert – also gerade keine Erweiterung oder Variante des Museums, sondern eine Übertragung seines „Geistes“ auf einen disziplinär anderen Ort. Vielleicht hätte dieser Ort mehr von einem Mischwesen mit gleichberechtigten Anteilen haben können, als es dem Museum mit seiner kulturellen Dominanz und auch den Biennalen möglich ist. Er wäre in der Tat kein Theater im Sinne einer bei allen Erweiterungen disziplinär eindeutig definierten Institution mehr gewesen, aber auch nicht unbedingt, wie befürchtet wurde, Repräsentant einer „art-in-general“, die noch dazu „in the service of capitalist city marketing and event culture“Footnote 62 stehen würde – also letztlich eine Art Kunstbiennale im Theaterpelz.

Die Assoziation eines solchen Ortes mit den Institutionen der bildenden Kunst prägte allerdings auch die Wahrnehmung desjenigen, der ihn leitet. Dercon ist Kurator, was mittlerweile von einer Berufs- oder Tätigkeitsbezeichnung zu einer vollkommen überdeterminierten Figur geworden ist.Footnote 63 Die Diskussion über Macht und Eigenständigkeit des Kurators, die sich exemplarisch mit Szeemann verbindet, wurde und wird im Bereich der bildenden Kunst selbst geführt, aber als Figur hat sich der Kurator/die Kuratorin weit darüber hinaus verbreitet. Als reflektierte Form des Auswählens und Zusammenstellens, die sich ihrer gesellschaftlichen Verantwortung bewusst ist, wurde das Kuratieren auch in anderen künstlerischen Feldern als relevant aufgegriffen; in der Regel soll damit vor allem eine Zunahme an Reflexion und Geschichtsbewusstsein bezeichnet werden, nach der die Gegenwart verlangt.Footnote 64 Wenn nun ein Kurator zum Intendanten gemacht werden soll, ergibt sich eine ganze Reihe von Fragen. Die Vermutung lag nahe, dass Dercon die Intendantenrolle nicht einfach übernehmen, sondern mehr oder weniger deutlich in Richtung seiner eigenen disziplinären Herkunft umdefinieren würde. Ob dies wiederum als Drohung einer feindlichen Übernahme oder als Versprechen eines Anschlusses an die entscheidenden Diskurse der Gegenwart gewertet wurde, hing von der jeweiligen Perspektive ab. Besonders deutlich wird dies, wenn Dercon als „Kurator“ in Anführungszeichen bezeichnet wird – als handelte es sich nicht um eine etablierte und mehr oder weniger klar definierte Berufsbezeichnung, sondern um eine Art modischen Unfug, dem man sich nicht anschließen müsse.Footnote 65 Die aggressive Ignoranz, die hier zutage tritt, hinterließ ihre Spuren noch bei Verteidigern Dercons: Auf die Ankündigung des Bühnenbildners Bert Neumann hin, weder er noch eine*r der anderen Volksbühnen-Künstler*innen würden mit „irgendeinem Kurator“ zusammenarbeiten, verwahrte sich Peter Raue gegen diese Bezeichnung, die er als böswillige Diffamierung verstand.Footnote 66

Über die Frage hinaus, was es künstlerisch bedeutet hätte, das Prinzip des Intendanten, des in der Regel selbst künstlerisch tätigen künstlerischen und Verwaltungsleiters, durch das des Kurators zu ersetzen, verbinden sich damit organisatorische Fragen, die die Rolle des Theaters als Institution betreffen oder auch: grundlegend in Frage stellen.Footnote 67 Wenn die Aufgabe des Kurators das Zusammenstellen ist, so wird damit weniger die Ausgestaltung der Sammlung assoziiert als die Programmierung temporärer Konstellationen in Form von Ausstellungen, was die Frage nach Status eines festen Stabes an Mitarbeitern aufwirft. Dabei geht es vor allem um das schon zu Castorfs Zeiten relativ kleine Ensemble; auch die weit größere Zahl an sonstigen festangestellten Mitarbeitern, also der gesamte Apparat des Theaters, wäre in einem Haus, das sein Programm vor allem mit wechselnden Gastspielen bestreitet, zum Teil überflüssig. Berührt wird damit sowohl das deutsche Modell des Stadt- und Staatstheaters, das sich gegen ökonomischen Druck und politische Übergriffe zu wehren hat, als auch die spezifische Rolle der Volksbühne in Berlin und darüber hinaus. Über die institutionelle Form des Staatstheaters im Gegensatz zur freien Szene, den Wert finanzieller Sicherheit und die Balance zwischen institutionellem Apparat und künstlerischer Flexibilität ist viel diskutiert worden.Footnote 68 Ein solches Theater auf eine Weise umzuwidmen, dass die staatliche Förderung letztlich in andere Kanäle geleitet worden wäre, konnte kaum anders denn als Bedrohung eines ganzen künstlerisch-institutionellen Modells an einem seiner exponiertesten Beispiele verstanden werden.

An dieser Stelle haben Dercon und Piekenbrock offenbar mit wenig Fingerspitzengefühl agiert, um es vorsichtig zu sagen; das Gegenstück zum offen zur Schau gestellten Ressentiment wurde hier von vielen als weitgehendes Desinteresse wahrgenommen. Es mag nicht von Anfang an geplant gewesen sein, die Volksbühne zu einem Gastspielhaus umzubauen, wie es vielfach kritisiert wurde, aber die Entwicklung ging tatsächlich in genau diese Richtung – die offene Weigerung eines großen Teils der Mitarbeiter, sich überhaupt an der Sache zu beteiligen, hat die Sache sicher nicht besser gemacht. Dass die Vorstellung, die staatliche Finanzierung durch die massive Einwerbung zusätzlicher Fördermittel aufzustocken, unrealistisch war, war schnell zu erkennen; daran aber hing die Realisierung des ganzen Projekts. Insofern wäre es auch ohne den Widerstand gescheitert, der ihm von vielen Seiten entgegenkam.Footnote 69 Ganz abgesehen von der künstlerischen Ausrichtung sind Tate Modern und Volksbühne im institutionellen und geographischen Sinne kaum vergleichbare Orte – auch wer für ein Museum in London vermögende Förderer gewinnen konnte, wird daran bei einem Theater in Berlin scheitern.

Von der realen Finanzierungsstruktur und den tatsächlichen Plänen abgesehen ergab sich aus all diesen Motiven – Museum, Kurator, London, private Sponsoren, auch die Musikindustrie, aus der Kultursenator Renner kam – in der Debatte ein Assoziationscluster, durch das Dercon eindeutig als Repräsentant einer neoliberalen kulturpolitischen Wende erschien, als dessen Gegenbild man sich stilisieren konnte. Man muss einige der wirklich groben Entgegensetzungen in Erinnerung rufen, um eine Vorstellung vom Ausmaß der Stereotypisierung zu bekommen. So sprach der Theaterwissenschaftler Joachim Fiebach davon, „dass man das lästige, unangenehm politisch-kritische, anarcho-aufsässige und plebejisch-schmuddelige Haus satt hatte und es in sein philosophisches, kulturpolitisches und klassensoziales Gegenstück verkehren wollte: in ein lokales Zentrum leerer Jetset-Hochglanz-Darstellungen heutiger globalisiert charakterloser bürgerlicher Hochkultur“.Footnote 70 Die Kehrseite dieser Kaskade von Klischees ist Renners Rede von „Diversität und Soft Power gegen Chorgeist [gemeint ist wohl Corpsgeist, CG] und Machismo, Teamgeist gegen Heldenkult“Footnote 71 und die Diffamierung der Derconkritiker als reaktionäre Provinzler.

Vieles von dem, was in diesem Zusammenhang gesagt und geschrieben wurde, ist von erschreckender Grobheit, manches auch wirklich abstoßend,Footnote 72 aber es ist als Symptom doch aufschlussreich. Es macht deutlich, wie die mit den Namen Castorf und Dercon identifizierten Ausrichtungen weit über künstlerische Fragen hinaus wie Magnete wirkten, an denen sich Diskurse in einer Eindeutigkeit der Zuordnung und Entgegensetzung sortierten, die sich ansonsten kaum findet. Die scheinbare Konfrontation zwischen Neoliberalen und Reaktionären darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich auf beiden Seiten dezidiert linke Positionen fanden, deren Polarisierung an andere gegenwärtige Debatten erinnert. Diedrich Diederichsen sah „eine zuvörderst antirassistische, anti-antisemitische, feministisch-postkoloniale Richtung und eine eher zuvörderst gentrifizierungskritische, zuweilen antiimperialistische, sozial und lokal argumentierende Linke, die mit den Traditionen eines Arbeiterklasse-Marxismus nicht vollständig brechen wollte und von Touristen genervt ist“,Footnote 73 und wies darauf hin, dass diese klare Sortierung politisch kaum zu halten ist. Dass sie sich trotzdem gerade hier auf eine solche Weise hergestellt hat, spricht noch einmal dafür, was für eine Kohäsionskraft spezifische Orte in allen hier unterschiedenen Bedeutungen erzeugen – disziplinär, institutionell, räumlich/architektonisch und geopolitisch. Das Material, also die tatsächliche künstlerische Arbeit und die Linien, in die sie sich stellt oder die sie aufmacht, geriet demgegenüber weitgehend in den Hintergrund, und die beteiligten Künstler*innen mussten den Eindruck haben, in einer Debatte zerrieben zu werden, in der es nur noch peripher um ihre eigene Arbeit ging.

Nicht zuletzt wurde auch die Frage verhandelt, wie sich das Lokale und das Trans- oder Internationale zueinander verhalten. Aufschlussreich in Bezug auf die vor jeder Haltung oder Entscheidung unterschiedliche Wahrnehmung sind hier Dercons Entscheidung, die ‚Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz‘ in ‚Volksbühne Berlin‘ umzubenennen, und die Reaktionen darauf. Wo eine Kulturinstitution genau in ihrer Stadt situiert ist, mag aus der Perspektive desjenigen, der aus einem anderen Land auf sie blickt, eher wie verzichtbares Lokalkolorit erscheinen. Ein Beharren auf diesem lokalen Bezug würde sich einer internationalen Bedeutung geradezu in den Weg stellen, wenn es sich nicht ohnehin nur um ein Überbleibsel aus anderen Zeiten handelt, das problemlos beseitigt werden kann. Insofern mag es sein, dass die Namensänderung ursprünglich nicht einmal als sonderlich bedeutsamer oder kontroverser Schritt gedacht gewesen ist.

Aus der Berliner Perspektive stellte sich die Sache grundlegend anders dar, indem die Nennung der Adresse in doppelter Weise symbolisch aufgeladen ist: auf der einen Seite mit einem tatsächlich lokalen, aber politisch bedeutsamen Verweis auf einen Stadtbezirk, der in den Jahrzehnten seit der Wiedervereinigung durch und durch gentrifiziert worden ist und in dem die Volksbühne sich als der letzte Posten eines anderen Verständnisses urbaner Wirklichkeit verstehen kann, auf der anderen durch den Namen Rosa Luxemburg, der hier stellvertretend für eine linke Politik steht, die sich im Festhalten an einer sozialistischen Zukunftsvision der nivellierenden, kulturindustriell getriebenen Internationalisierung ausdrücklich widersetzt. Von hier aus gesehen muss die Streichung des Verweises auf diese reale und symbolische Verortung wie ein „affront beyond compare“Footnote 74 erscheinen, als Signal, dass die lokalen Gegebenheiten ignoriert und die Assoziationen mit Luxemburg als verzichtbare linke Folklore betrachtet werden. So betrachtet hatten Dercons Pläne einiges mit der Etablierung einer Biennale in einem Land abseits der europäischen und nordamerikanischen Zentren gemeinsam, die sich zu den lokalen Gegebenheiten wie ein Kolonisator verhält.

Natürlich kann man argumentieren, dass die Volksbühne nicht Inbegriff des Widerstandes gegen die Gentrifizierung von Mitte ist, sondern ein Teil von ihr, wenn nicht einer ihrer Motoren, und dass die Luxemburg-Referenz wenig mehr als eine Leerformel ist, durch die man folgenlos versichern kann, immer auf der richtigen Seite zu stehen. Trotzdem ist es richtig, dass die Pläne von Dercon und Piekenbrock sich eher wenig um die Einbettung in die kulturelle und politische Landschaft Berlins gekümmert haben.Footnote 75 Auch das Thema der Stadt als exemplarischer Schauplatz der Teilung und Wiedervereinigung, das durch die weithin sichtbare „OST“-Aufschrift auf der Volksbühne präsent gehalten wurde, schien keine wesentliche Rolle zu spielen. Das hat wesentlich mit dem Referenzrahmen zu tun, innerhalb dessen jeweils agiert wurde – eine internationale, post-mediale (Kunst-)Szene, deren Vergleichsgesichtspunkte eher die Zentren der zeitgenössischen Kunst sind, und eine eher regionale, aber international wahrnehmbare (Theater-)Szene, der es eher um die spezifische Rolle im unmittelbaren Kontext geht. Auch hier ist die Polarisierung nicht zwingend und eine Vermittlung nicht unmöglich, aber sie ist offenbar gescheitert.

Die Besetzung der Volksbühne durch das Kollektiv „Staub zu Glitzer“ im September 2017 hätte dem möglicherweise eine neue Perspektive hinzufügen können, und das erklärte Selbstverständnis als „a collective anticapitalist, feminist, antiracist, and queer transmedial theatre production“Footnote 76 schien geeignet, sowohl die polarisierende Spaltung der Linken, die Diederichsen beschrieben hat, als auch die künstlerische Alternative zwischen medienspezifischer und postmedialer Praxis zu unterlaufen. Man kann hier das Potential für einen Moment der Offenheit, des nicht Festgelegten erkennen, in dem künstlerisch und institutionell die Karten hätten neu gemischt werden können. Die unmittelbaren institutionellen Forderungen bestanden in der Absetzung Dercons (der ausdrücklich nicht persönlich angegriffen werden sollte), der Wiedereinstellung alles künstlerischen Personals, eines Neustarts der Diskussion um die Zukunft der Volksbühne und die Etablierung von kollektiven Strukturen.

Die politischen Erklärungen des Kollektivs, das sich mit der Besetzung in „B61-12“ (nach der Bezeichnung der kleinsten Nuklearwaffe der USA) umbenannt hatte, waren weitreichend, und die Vision eines kollektiv geführten, inklusiven Theaters schien fast gleichbedeutend mit der Überwindung des Kapitalismus zu sein: „This theater stands for a possible world – free of nationalism, free of military threat, free of exploitation and slavery, free of racism and gender injustice. The Volksbühne Ost on Rosa-Luxemburg-Platz stood and stands for a potential society without classes, in which all people can peacefully coexist in equitable living conditions.“Footnote 77 Dass solche Erklärungen die Rolle künstlerischer und kultureller Praxis in der Gesellschaft und den exemplarischen Charakter ihrer Räume maßlos überschätzten, ist das eine; das andere ist die offensichtliche Sympathie für die alte Volksbühne, die auch hier bisweilen zu einer Art real existierender Utopie verklärt wurde. All dies ließ es unsicher erscheinen, ob man es hier nicht vielleicht doch nur mit einer Mischung aus plakativer Nostalgie und Selbstüberschätzung zu tun hatte – wobei es ohne ein gutes Maß an Selbstüberschätzung vielleicht nicht geht. Wenig überraschend haben sich Dercon und der Berliner Senat nicht darauf eingelassen, das Theater nach einigen Tagen räumen lassen und so das Bild des autoritären Kolonisators auf das Schönste bestätigt.

Auch wenn sich Kultur- und Institutionenpolitik auf diese Weise durchgängig vor die künstlerische Arbeit geschoben haben, muss nun doch am Beispiel des Eröffnungsabends im Theater selbst ein Blick auf die tatsächliche künstlerische Arbeit geworfen werden. Man kann sagen, dass dieser Abend, dem schon einige Veranstaltungen am Flughafen Tempelhof vorausgegangen waren, in einem Belagerungszustand stattfinden musste, diskursiv ohnehin, aber auch real: Das Theater wurde von Polizisten bewacht, weil eine Wiederauflage der Besetzung befürchtet wurde. Im Innenraum war die funktionale Trennung der Räume aufgehoben, und alle Bereiche, die Foyers so sehr wie der Theatersaal, wurden zu Aufführungsorten. Dies bedeutete für das Publikum einiges an Unklarheit und Unsicherheit, weil es kaum eindeutig gerahmte Stücke gab und Übergänge nicht immer klar orchestriert waren. Geboten wurde ein Musikstück von Meyers im unbestuhlten Saal mit performativen Elementen von Sehgal, der lediglich die Theatermechanik agieren ließ, mehrere Stücke von Sehgal im Foyer unter den sich unterhaltenden Zuschauer*innen, parallel dazu laufende Filme und schließlich drei Stücke von Beckett im nun bestuhlten Saal, nach dem sich aus dem Publikum herausschälende Performer*innen singend die Stühle wegräumten und den Abend so spielerisch beendeten.

Ekkehard Knörer, der als einer der wenigen die „Intelligenz und Stringenz dieses Abends“ lobte und ihn einen „so faszinierenden wie beunruhigenden Anfang“ nannte, schrieb dazu: „Es geht um das Theater als Museum, Darstellung als Performance, Beginnen als Schon-begonnen-Haben, Interaktion als Aneinander-Vorbei. Also Zwischenzustände.“Footnote 78 Von Zwischenzuständen kann hier also institutionell, disziplinär, zeitlich und räumlich, mithin im Hinblick auf Material und Ort in jeglichem Sinne gesprochen werden, und wiederum wird dafür das Motiv des Museums bemüht. Theater im eigentlichen Sinne gab es mit Becketts Nicht ich erst ganz zum Schluss, und auch dort nur in einer Form, deren radikaler Reduktion das gegenwärtige Theater eher ratlos gegenübersteht. Während hier die Rezeptionssituation der Tradition folgte, war sie bei den ersten Stücken – oder, im Sinne des vorigen Kapitels, Situationen – recht unklar: Bei der Eingangsperformance wusste man nicht, was für einen Status das Gesehene und Gehörte hat, worauf man achten sollte, was die zeitliche Logik der Sache war, kurz wie man sich überhaupt dazu verhalten sollte; den späteren interaktiven Performances von Sehgal fehlte jegliche klare Rahmung, so dass sie sich mit dem Bedürfnis des Publikums nach Bier und Kommunikation überlagerten.

Das ist, könnte man sagen, eine Grauzone in Reinform, in der fast nichts vorab geklärt ist, und genau hier setzt Michael Lüthy mit seiner Kritik an. Wenn er von Grenzen der Entgrenzung spricht, so ist es ihm nicht um eine neuerliche Befestigung klarer disziplinärer Zuständigkeiten und Materialbestände zu tun, sondern um die „relationale Logik“, „die je besonderen Erfahrungsmodalitäten im Zusammenspiel von Werk und Rezipient, innerhalb derer die einzelnen Künste sich entfalten“.Footnote 79 Dass der Eröffnungsabend diesen unterschiedlichen Relationalitäten nicht genügend Aufmerksamkeit widmete, sorgte ihm zufolge nicht für eine produktive Verunsicherung, sondern für die Unmöglichkeit einer Rezeption, die den einzelnen Arbeiten gerecht wird. Für Lüthy zog dies auch die Beckettstücke in Mitleidenschaft, auch wenn die Situation hier recht traditionell blieb: Sie wirkten museal, schienen als Vorgeschichte der performativen Wende präsentiert zu werden und bildeten insofern eher ein Fenster in die Vergangenheit als ein Angebot an die Gegenwart – von der Schwierigkeit, sich nach der vorher herrschenden Diffusion noch konzentriert auf sie einzulassen, ganz abgesehen. Hier zeigt sich die mögliche Kehrseite der Einrichtung einer realen Grauzone: Wenn Genealogien und mit ihnen Rezeptionsnormen und Interpretationsformen unklar werden und den Zuschauer*innen nicht mehr eindeutig erkennbar ist, wie sie sich zu verhalten haben, kommt es schlimmstenfalls zu einer vollständigen Neutralisierung, in der alles im Nebel der Unklarheit verschwindet.

Das hat natürlich auch damit zu tun, dass der Theaterraum, anders als der Museumsraum, für gewöhnlich gerade nicht so funktioniert. Im Hinblick auf choreographische Arbeiten im Rahmen von Ausstellungen spricht Kirsten Maar von „architecture’s potential to assign and arrange, its ability to construct a specific situation, to include or exclude, to set up specific rules, to create transitions and counterpoints as well as a compositional syntax that the movement may or may not obey“.Footnote 80 Theaterräume sind hier rein architektonisch deutlich rigider und unflexibler; indem Dercon und Piekenbrock den in dieser Hinsicht mehr als eindeutigen Theaterraum aufgebrochen haben, konnten sie sich gerade nicht mehr auf das Regelungspotential der architektonischen Konfiguration verlassen, stellten aber auch nicht wirklich etwas anderes an seine Stelle. Hier ging es nicht um Verschiebungen wie die Platzierung des Publikums auf der Bühne, ein bespieltes Foyer oder im Publikum verteilte Schauspieler*innen, was man alles kennt, sondern um eine weitergehende Nivellierung der räumlichen Anordnung. Das Ergebnis hielt sich zwischen der produktiven Verunsicherung, die Knörer konstatierte, und der Verhinderung einer angemessenen Rezeption, die Lüthy fand. Man hätte dies als den interessanten, noch nicht endgültig durchdachten Anfang von etwas auffassen können, dessen genaue Gestalt sich noch finden muss – wenn der kulturpolitische Kriegszustand dies nicht bereits unmöglich gemacht hätte. So war es eher der Anfang eines sich längst abzeichnenden Endes.

Wenn wir Kulturpolitik mit Brandon Woolf als „a performative practice of infrastructural imagining“Footnote 81 verstehen, so hatten die Volksbühne unter Castorf, das gescheiterte Projekt Dercons und die kurze Besetzung durch B61-12 alle ihre eigenen Qualitäten und Probleme. Nachdem Dercon schließlich zurückgetreten war, reichte die infrastrukturelle oder institutionelle Phantasie offenbar nicht dazu aus, die Qualitäten aller drei Varianten – das Theater als medial erweitertes Zentrum linker Reflexion, die Einrichtung beweglicher transdisziplinärer Räume und die radikale Offenheit und Forderung nach kollektiven Entscheidungen und kollektiver Führung – in die weitere Planung einzubeziehen. So bleibt es dabei, dass die Intendanz von Dercon als unerfreuliche, aber glücklicherweise vergangene Episode einer Institution wahrgenommen wird, die keiner grundlegenden Überholung bedarf. Die Fragen aber, die die Dercon-Episode aufgeworfen hat, und die Möglichkeiten, die sie zumindest am Horizont hat erscheinen lassen, liegen weiterhin auf dem Tisch.

4 Projekträume

Die Auseinandersetzung mit den Biennalen der zeitgenössischen Kunst und mit der Volksbühne hat noch einmal daran gezeigt, dass auch der Anspruch des Generischen die Situiertheit allen künstlerischen Arbeitens nicht tilgen kann. Das mag trivial klingen, die theoretischen Erwägungen dieses Buches und die Auseinandersetzungen mit verschiedensten künstlerischen Arbeiten und Konstellationen sollten aber gezeigt haben, dass sich daraus alles andere als triviale Probleme und Möglichkeiten ergeben. Nicht Situiertheit ist das Problem, sondern ihre fehlende Reflexion, nicht die Unmöglichkeit wirklicher Allgemeinheit, sondern reale Schließung. Von hier aus möchte ich abschließend auf eine Organisationsform eingehen, die bisher noch überhaupt nicht Thema war: die Form des Projekts. Das Projekt, scheint es, verkörpert eine generative Form von Offenheit und kann damit eine Gegenkraft gegen die Übermacht institutionellen Beharrungsvermögens bilden.

Es mag überraschen, dass am Ende dieses Buches ausgerechnet auf die Form des Projekts gesetzt werden soll, und es ist in der Tat erklärungsbedürftig. Für die meisten zeitgenössischen Künstler*innen ist das Projekt die Organisationsform, die ihre tägliche Arbeit prägt, und die primäre Assoziation dürfte nicht oder nicht mehr das Versprechen von Offenheit sein, sondern eher die Prekarität realer Arbeitsverhältnisse. Projektarbeit ist immer noch einer der Schlüsselbegriffe gegenwärtiger ökonomischer Organisation, insbesondere des Unternehmertums und seiner Ideologie – der mittlerweile sprichwörtliche „neue Geist des Kapitalismus“. In ihrer Analyse der Managementliteratur des späten 20. Jahrhunderts finden Luc Boltanski und Ève Chiapello all das, was die Organisation künstlerischer Arbeit heute ausmacht – „schlanke Unternehmen, die mit einer Vielzahl an Beteiligten vernetzt arbeiten, eine Arbeitsorganisation in Team- bzw. Projektform, die auf eine Befriedigung der Kundenbedürfnisse abzielt, und eine allgemeine Mobilisierung der Arbeiter dank der Visionen ihrer Vordenker“.Footnote 82 Das Projekt steht im Mittelpunkt dieses Diskurses, den Andreas Reckwitz und andere mit einer Verallgemeinerung des Kreativitätsdispositivs zusammengebracht haben, über die die Künstlerfigur popularisiert und normalisiert wurde. Dabei ging es nicht um die Produktion von Kunstwerken, sondern um die Praxis der künstlerischen Arbeit, die wesentlich als projektförmig verstanden wurde.Footnote 83

Der tendenzielle Zerfall dauerhaft institutionalisierter Arbeitsverhältnisse und die Betonung von Projekt, Netzwerk und Mobilität hat gerade in der Kunst für eine Prekarisierung gesorgt, die noch um einiges drastischer ist als in anderen Bereichen.Footnote 84 Die nicht-, halb- oder parainstitutionellen Strukturen, von denen insbesondere die Welt der bildenden Kunst zunehmend geprägt ist, verlangen ständige Mobilität, die Bereitschaft und vor allem die soziale und ökonomische Möglichkeit, sich physisch an den Ort der Welt zu bewegen, an dem etwas zu sehen oder zu tun ist. Mobilität wird so, in Lane Relyeas Worten, zu einem „medium through which particularly oppressive forms of hierarchy now exert themselves“.Footnote 85 Damit geht eine inhaltliche Flexibilität einher, bei der größtmögliche Freiheit nicht mehr vom Zwang unterscheidbar ist, sich jederzeit alle Möglichkeiten offenhalten zu müssen. Relyea kommentiert die typische Selbstbeschreibung „I make stuff“: „All verb, no predicate. All open-ended adaptability and responsiveness, no set vocation.“Footnote 86 Man kann dies als neoliberale Außenseite der post-medium condition betrachten.

Es kann nicht diese Gestalt von Projektarbeit sein, auf die wir unsere Hoffnung in Sachen generative Offenheit setzen. Wenn die Idee eines Projektraums weiterhin einen Ort der Neuverhandlung disziplinärer Logiken, eine Befragung der eigenen geopolitischen Wirklichkeit und gesellschaftlichen Situierung verspricht, so muss damit eine andere Organisationsform künstlerischen Arbeitens beschrieben werden als die neoliberale Prekarisierung aller Arbeitsverhältnisse.

Man kann an dieser Stelle einen großen Schritt zurück zu einem philosophischen Begriff des Projekts machen. Das Motiv des Projektraums taucht an zentraler Stelle auch bei Osborne auf, wo es für eine vergleichbare Offenheit steht. Er bemerkt en passant, dass er sich nicht dafür interessiert, was in gegenwärtigen Institutionen als Projektraum firmiert – tatsächlich ist „a series of small exhibitions presented to inform the public about current researches and explorations in the visual arts“,Footnote 87 wie beispielsweise die langjährige Projects-Reihe am MoMA beschrieben wird, etwas ganz anderes. Insofern ist es produktiv, von einem philosophischen Projektbegriff auszugehen – auch wenn es kaum überzeugend ist, die Frage seiner tatsächlichen institutionellen Realisierung dauerhaft auszusparen.

Ansatzpunkt ist Friedrich Schlegel, in dessen Athenäums-Fragmenten sich ein Abschnitt findet, der eigens der Form des Projekts gewidmet ist. Projekte werden hier als „Fragmente aus der Zukunft“Footnote 88 bezeichnet. Sehr einfach verstanden könnte das Noch nicht der Projekte dem Nicht mehr eines herkömmlichen Verständnisses von Fragment gegenübergestellt werden. Auf diese Weise die Gleichzeitigkeit gegenwärtiger Unfertigkeit und der Idee zukünftiger Vollendung zu betonen und das Projekt als das jetzt noch nicht Fertige zu bestimmen, dessen Vollendung zwar scheitern kann, aber doch anvisiert ist, ist natürlich nicht falsch, aber eher trivial. Aber Schlegel geht weiter: Als Fragmente aus der Zukunft, die als solche komplementär zu Fragmenten aus der Vergangenheit sind, sind Projekte konstitutiv unfertig und als solche offen.

Projekt in diesem Sinne ist weder eine Organisationsform von Arbeit noch eine Momentaufnahme auf dem Weg zur Vollendung, sondern eine Form sui generis. Diese Form soll sich in der Spannung zwischen Gegenwart und Zukunft, zwischen realer Unfertigkeit und idealer Vollendung halten und diese kultivieren und darstellen. In Schlegels Worten wäre das Projekt „transzendental“,Footnote 89 indem es nicht einfach ein historischer Gegenstand ist, sondern mit seiner inneren Spannung im Hier und Jetzt zukunftsorientierte Geschichtlichkeit als solche verkörpert und reflektiert. Es stellt, wie es in einer berühmten Formulierung heißt, „das Produzierende mit dem Produkt“Footnote 90 dar, oder vielmehr: es ist das Produzierende als Produkt. Gemeint ist hier nicht die produzierende Person, sondern das künstlerische Verfahren, die Art und Weise künstlerischen Denkens und Gestaltens. Es geht also nicht darum, Künstler*innen bei der Arbeit zuzusehen, sondern um die Darstellung künstlerischen Denkens in Form eines endgültig unfertigen Produkts, das nicht vollständig der eigenen Verfügung entspringt bzw. über diese hinausgeht.

Ein Projektraum wäre dann ein Ort, der solche Darstellungen ermöglicht und ermutigt und der künstlerische Arbeiten so kontextualisiert, dass sie auf derartige Weise sichtbar werden, der also gerade nicht ihre Abgeschlossenheit und Autonomie hervorhebt. Philosophisch gesehen, so Osborne, müssten alle kritischen Kunstinstitutionen der Gegenwart derartige Projekträume sein – was sie offenbar nicht sind. Auch die Auflistung der mit dem Motiv assoziierten Attribute lässt skeptisch werden: „Each of the terms associated with the institutional history of project space – new, young, original, experimental, innovative, initiative, difficult, controversial, speculative, risky – derives its basic cultural significance from its place within the constellation of early Romanticism.“Footnote 91 Ungeachtet dieser Herkunft wirken sie in dieser Ballung heute so, als entstammten sie einer PR-Kampagne für das neoliberale Unternehmer- und Kreativitätsdispositiv insbesondere der Tech-Industrie.

Die Aufgabe wäre unter anderem, diese Attribute vom Anspruch an Personen zu lösen und als Eigenschaften von Räumen neu zu bestimmen. Insofern geht es weder um das unternehmerische Subjekt noch den „Projektemacher“ als faszinierende Sozialfigur an der Schwelle der Institutionalisierung, „[n]icht mehr belächelnswerter oder nur lächerlicher Bastler und noch nicht ehrenwerter Beamter“,Footnote 92 noch auch um die „Versöhnung experimenteller, radikaler Praktiken des einzelnen Künstlers mit den widerstrebenden, unvorhersehbaren und asymmetrischen Verhältnissen, aus denen sich die Welt zusammensetzt, in der solche Kunst entwickelt und hergestellt wird“.Footnote 93 Eine solche Gegenüberstellung künstlerischer Freiheit und Radikalität und institutionellen Zwängen und Hierarchien wird der Lage nicht gerecht. Das Problem ist dabei weniger, dass der Begriff der Versöhnung zu harmonistisch wirkt, als dass Offenheit, Experiment, Risiko etc. ganz auf der Seite der Künstler*innen verortet oder auch: sie ihnen aufgebürdet wird. Projektraum wäre die paradoxe Form eines institutionell garantierten, aber sich selbst deinstitutionalisierenden Raums, der generative Offenheit nicht nur zulässt, sondern aktiv ermöglicht. Er wäre keine Grauzone, die lediglich Bestimmungen verschwimmen lässt, und auch noch mehr als ein generischer Ort, der für reale Möglichkeiten steht. Er müsste ein reflexiver Ort sein, der darüber hinaus seine eigenen Bestimmungen, Verbindungen und Hintergründe thematisiert und erfahrbar macht. Entsprechend bestimmt Osborne Projekträume als „hubs in informational networks, in which the social relations conditioning artistic practices of various sorts are increasingly laid bare as an inherent part of those practices themselves“.Footnote 94

Die documenta fifteen erscheint mir exemplarisch dafür, die Idee des Projektraums nicht als umgrenzten Teil einer Ausstellung, als eingehegten Raum für den Ausnahmezustand innerhalb der Normalität zu realisieren, sondern die Ausstellung in ihrer Gesamtheit prägen zu lassen. Man kann an ihr sowohl die Möglichkeiten als auch die Probleme einer solchen Realisierung beobachten. In der öffentlichen Wahrnehmung wurde all dies weitgehend von der Diskussion um den Antisemitismus überlagert, um die es hier dezidiert nicht gehen soll. Nur so viel: Es gab in dieser Ausstellung Arbeiten, die sich nicht verteidigen lassen und die auch durch historische und kulturelle Kontextualisierung nicht zu retten sind. Zwar hatte man bisweilen den Eindruck, dass ein Teil der deutschen Öffentlichkeit nur darauf gewartet hatte, eine dezidiert postkoloniale, die Perspektive des globalen Südens in den Mittelpunkt stellende Ausstellung zur diskreditieren, es gab aber auch differenziertere Kritik, die sich direkt auf einen zentralen Punkt des postkolonialen Diskurses bezog, nämlich auf seine Betonung von Situation und Kontext und seine Ablehnung universalistischer Ansprüche.Footnote 95

Hito Steyerl fand hier ein eigenartiges Missverhältnis zwischen diesem Anspruch und der mangelnden Reflexion auf die reale Situiertheit in Deutschland und formulierte scharf, „dass in der postkolonialen Theorie alles situiert und kontextualisiert werden muss, außer es findet in Deutschland statt“.Footnote 96 Das allerdings trifft den Kern der Sache, um die es auch hier geht. Es handelt sich tatsächlich um eine neue Situation: Sensibilität für lokale Gegebenheiten zu zeigen ist eine Forderung, die vor allem für Veranstaltungen abseits der traditionellen Zentren erhoben wird. Nimmt man aber das Gebot der Dezentrierung, der „Provinzialisierung Europas“Footnote 97 ernst, so müssen die Kontexte dieser Provinz ebenso Berücksichtigung finden wie alle anderen – nicht als angeblicher Repräsentant eines Allgemeinen, sondern als selbst spezifisch. Natürlich sind Dezentrierung und Provinzialisierung weiterhin eher Postulate als Wirklichkeiten, so dass die Klage über Nichtberücksichtigung einen Unterton larmoyanter Selbstgerechtigkeit hat. Für Steyerl geht es aber weniger um die Befindlichkeiten einer weiterhin privilegierten Gesellschaft, sondern um ein Ausblenden realer Probleme in Deutschland, etwa der eigenen kolonialen Vergangenheit und des verbreiteten Rassismus, das auch für diese Gesellschaft selbst bequem ist.

All das ist richtig. Wenn ich hier eine freundlichere Lesart der documenta fifteen vorschlage, so nicht, weil ich diese Unzulänglichkeiten ignorieren möchte, sondern um zu zeigen, dass die Form des Projektraums im Prinzip die Möglichkeit bietet, sie zu adressieren. Dass die Reflexivität, für die er steht, faktisch Grenzen hat, ist wohl unvermeidlich. Beides, Reflexivität und blinde Flecke, Offenheit und ihre Grenzen lassen sich hier exemplarisch beobachten.

Dass die Reaktionen – und das Schweigen – der Kurator*innen auf die genannte Kritik mitunter wenig hilfreich und angemessen waren, hat unter anderem etwas mit der Dispersion von Verantwortung zu tun, die sich durch die Kollektivstrukturen ergab.Footnote 98 Diese Dispersion wiederum hängt tatsächlich mit der Form des Projektraums zusammen: Die grundlegende kuratorische Entscheidung von ruangrupa war es, die Verantwortlichkeit noch einmal über die eigene kollektive Struktur hinaus auszuweiten, indem zahlreiche weitere Kollektive eingeladen wurden, denen weitgehende kuratorische und, in einem definierten Rahmen, finanzielle Freiheit gelassen wurde. Die erste und entscheidende Setzung der Kurator*innen war so der Verzicht auf Setzung und Kontrolle, ein Setzen auf komplexe kommunikative Prozesse, in denen sich die Sache ohne zentrale Kontrolle entwickeln kann. Das bedeutet allerdings, dass dieses temporäre Kollektiv keine Adresse hat, an die sich Forderungen nach Einzelverantwortung richten lassen, so dass nach außen schlimmstenfalls jener Eindruck einer diffusen Nicht-Struktur, eines „kollektiven Zustand[s] ohne Zuständigkeit“Footnote 99 entstehen konnte, in der jedes individuelle Handeln neutralisiert wird. Auch ist es richtig, dass „[d]er Verzicht auf formale Hierarchie […] weite Räume für informale Hierarchien [öffnet], samt den nicht durch Formalität eingehegten Möglichkeiten des Machtgebrauchs“.Footnote 100 Es liegt in der Natur der Sache, dass solche informellen Dynamiken der Beobachtung von außen weitgehend entzogen bleiben; der Verdacht des massiven Machtmissbrauchs Einzelner scheint sich allerdings nicht bestätigt zu haben.

Die Ausstellung als ganze bewegte sich in einer Spannung zwischen dem Etablieren eines Projektraums und der Dokumentation oder gar dem Vorführen von Projekten. Das Augenmerk der Kurator*innen lag klarerweise auf ersterem; so bemerken sie im Handbuch zur Ausstellung: „[M]aking a ‚showcase‘ of collective practices, done by many already in many art centers, would be a trap“;Footnote 101 stattdessen sollte es um „dynamic activities that are experienced rather than viewed as static objects“Footnote 102 gehen. All diese Varianten haben ihre eigenen Schwierigkeiten. Beim Vorführen kollektiver Praktiken liegt das Problem am offensten zutage, weil es einem touristischen Blick entgegenkommt, für den das Gezeigte primär interessant ist und das Beobachten fremder Praktiken im Extremfall in die Nähe von Menschenausstellungen gerät. Die Dokumentation läuft demgegenüber Gefahr, auf ein reines Informieren hinauszulaufen, das weder Partizipation erlaubt noch künstlerisch interessant ist; umgekehrt kann sich die künstlerisch anspruchsvolle Gestaltung von Dokumentationen den Vorwurf einhandeln, die dargestellten Praktiken weiter zu neutralisieren, indem sie für ein internationales Kunstpublikum aufbereitet und so ästhetisch goutierbar gemacht werden.

Die Einrichtung eines Raums, in dem „dynamische Aktivitäten“ stattfinden können, statt lediglich dokumentiert zu werden, müsste eine der Grundbedingungen für einen wirklichen Projektraum sein. Aber was bedeutet es, dass sie „erfahren“ oder „erlebt“ werden? In einem einige Wochen vor der Eröffnung geführten Gespräch sagte Farid Rakun, Mitglied von ruangrupa: „Die documenta ist ein permanenter Prozess und so offen wie die meisten Werke oder Projekte. Alles wird sich während der 100 Tage weiterentwickeln.“Footnote 103 Die Beschreibung trifft das, was auch tatsächlich geschah. Der weiterhin zugängliche Kalender zeigt eine kaum überschaubare Menge an Einzelveranstaltungen, die sich an den drei „Meydan“-WochenendenFootnote 104 noch einmal bündelten; zusätzlich dazu waren viele der Ausstellungen nicht statisch, sondern veränderten sich ebenfalls. Die Vielzahl an performativen und partizipativen Aktionen, Konzerten etc. hätte es selbst dann unmöglich gemacht, alles zu sehen, wenn man 100 Tage vor Ort gewesen wäre – zumal manche Dinge erst im Kalender auftauchten, nachdem sie stattgefunden hatten. Die raumzeitliche Organisation verschob sich vom Vorhandensein des Ausgestellten zugunsten des Stattfindens verschiedenster Aktionen, und damit wurde auch die disziplinäre Gliederung deutlich weniger bedeutsam. Dass die Vorstellung einer Totalität, die man im Ganzen zur Kenntnis nehmen kann, damit endgültig verlorenging, war hier nicht das Ergebnis einer didaktischen Entscheidung der Kurator*innen auf Kosten einzelner Positionen, sondern ergab sich aus der kollektiven und parallelen Aktivität aller Beteiligten.Footnote 105

Die einzige Weise, eine touristische Beobachtung dieses „permanenten Prozesses“ zuverlässig zu verhindern, war eine tatsächliche und nicht lediglich inszenierte Beteiligung des Publikums – aber auch diese wird problematisch, wenn sie die Distanz verschleiert, die in vielen Fällen zwischen dem deutschen und internationalen Kunstpublikum und den vielen aus den Ländern des globalen Südens stammenden, offen politischen Projekten besteht. Vor diesem Hintergrund fällt noch einmal ein anderes Licht auf eine tendenziell frustrierende Erfahrung, die man als Besucher*in ebenfalls machen konnte: So viel Beteiligung und Einbeziehung es auch gab, vielfach hatte man den Eindruck, etwas sich real Ereignendes zu verpassen, weil es entweder bereits stattgefunden hatte, später stattfinden würde oder an einem anderen Ort stattfand. Aber das könnte genau der Punkt sein: nämlich dass ein beträchtlicher Teil der Aktivität nicht auf Beobachtung ausgerichtet ist und sich dieser notwendigerweise entzieht. Das ist noch einmal etwas anderes als die Verlagerung ganzer Teile der Ausstellung an andere Orte wie bei Enwezors Documenta 11 und Adam Szymczyks Documenta 14, weil hier sozusagen innere Lücken im Beobachtbaren reflexiv vorgeführt wurden.

Ich möchte ein konkretes Beispiel herausgreifen, das aber weniger besondere Gelungenheit, sondern eher das Problem markiert, mit dem ein Projektraum, der das Versprechen des Zeitgenössischen exemplarisch verkörpert, notwendigerweise umzugehen hat: das des Entzugs. Es geht um das marokkanische Kollektiv LE 18, das im Ganzen der documenta fifteen marginal war, aber dennoch exemplarisch ist. LE 18 beschreiben sich selbst als multidisziplinären, gemeinschaftsbasierten Kulturraum in Marrakesch, als kollektiven Raum eher als ein Kollektiv von Personen. Auf der Webseite heißt es prägnant: „LE 18 ist ein Raum, der Raum gibt.“Footnote 106 Vermutlich könnte man diesen konkreten Ort in Marrakesch als Projektraum bezeichnen; aufschlussreich ist aber vor allem sein Transfer nach Kassel.

Wenn man den dort von LE 18 gestalteten Ort unvorbereitet aufgesucht hat, fiel vor allem seine Leere auf: LE 18 bespielte mehrere gewölbeartige Räume, die vom Innenhof des WH22 abgingen und in denen sich einige dokumentarische Materialien fanden, Bücher, Broschüren, und eine Reihe von Sesseln und Sofas. Man konnte sich setzen und informieren, aber es gab keine besondere Aufbereitung oder Präsentation dieser Materialien. Am Ende befand sich ein sehr kleiner Raum, in dem ein Fernseher und ein Sessel standen und eine Auswahl an hierzulande kaum bekannten marokkanischen Filmen, die man sich ansehen konnte. Letzteres wirkte eher wie die Geste eines Angebots als eine echte Möglichkeit, denn die Rezeptionssituation war so eigenartig, dass vermutlich kaum jemand sie angenommen hat. Das Versprechen des Titels A Door to the Sky, or a Plea for Rain, der eine markante künstlerische Arbeit erwarten ließ, wurde nicht eingelöst.Footnote 107 Außer den Filmen gab es überhaupt keine Kunst zu sehen, und erst recht keine dynamische Aktivität.

Es waren die Diskussionsveranstaltungen mit Mitgliedern des Kollektivs, die die Sache aufschließen konnten. Sie berichteten davon, dass ursprünglich etwas ganz anderes geplant gewesen wäre, nämlich eine reguläre Ausstellung mit Arbeiten zahlreicher mit dem Ort verbundener Künstler*innen. Nach langer Planung und vielen Diskussionen hatten sie sich schließlich dazu entschlossen, dies abzusagen. Der Grund dafür lag in der radikalen Dekontextualisierung, der die Arbeit ausgesetzt gewesen wäre: Der Projektraum LE 18 wäre zu einer Ausstellung fertiger Arbeiten einzelner Künstler*innen geronnen, die nicht für den internationalen Kunstbetrieb gemacht worden sind und sich dort möglicherweise auch nicht behaupten könnten, und zwar nicht aus mangelnder Qualität, sondern weil ihnen ihr Kontext nicht äußerlich ist. Den Raum zu einem „Ort für Gespräche und Austausch über die Prozesse, Herausforderungen und Misserfolge, die während der Vorbereitung und Teilnahme an der documenta fifteen entstanden sind“,Footnote 108 zu machen, war insofern näher an der Idee des Kollektivs, als es eine Ausstellung gewesen wäre. Dabei ging es nicht nur um das eigene Projekt, sondern unter dem Titel „Undoing Documenta“ auch um den Austausch zwischen verschiedenen Kollektiven und Einzelnen. Dieser Ort war tatsächlich ein Projektraum, wenn auch in einem anderen Sinne: Die reale geopolitische und institutionelle Distanz zwischen dem Projekt in Marokko und der Ausstellung in Deutschland wurde weder ignoriert noch überbrückt, sondern diskursiv zum Thema gemacht, und zwar unter tatsächlicher Beteiligung aller.

Die Leere der Räume von LE18 ist etwas grundlegend anderes als die Leere der Eingangsräume des Fridericianums bei der Documenta 13, die nur von einem Luftzug durchzogen wurde (eine Arbeit von Ryan Gander), und der Rückzug des Kollektivs ist etwas anderes als Kai Althoffs Rückzug aus persönlichen Gründen, der durch die Kuratorin Carolyn Christov-Bakargiev zu einer konzeptuellen Geste aufgewertet wurde, indem sie seinen Absagebrief in diesen leeren Räumen ausstellte.Footnote 109 Im Gegensatz dazu machen LE18 die Abwesenheit von Kunst nicht neuerlich zu Kunst, sondern lassen sie als begründete Lücke bestehen.

Man mag hier eine Kapitulation der künstlerischen Arbeit und das Ausweichen auf ein anderes Feld sehen, aber die Motivation für diese Bewegung wurde klar benannt und konnte gemeinsam verhandelt werden. Gerade hier zeigte sich das Ziel von ruangrupa besonders deutlich: Die gesamte Ausstellung als Projektraum zu begreifen schloss die Möglichkeit ein, sich dem Imperativ des Ausstellens zu entziehen und so den realen Entzug der an einem anderen Ort situierten Praxis zu thematisieren. Der Rahmen der internationalen Großausstellung garantierte, dass diese Thematisierung wahrgenommen werden konnte und insofern nicht wirkungslos verpuffte. Als bescheidenes Fragment aus der Zukunft kann dieses Projekt insofern bezeichnet werden, als es auf nicht-naive Weise einen Austausch vorführt, der Hierarchien und Distanzen nicht leugnet oder ignoriert, sondern thematisiert. Es dekonstruiert jede Naivität in Bezug auf die Möglichkeit unmittelbarer Begegnung und bruchloser Übertragung von Praxisformen und -zusammenhängen und ermöglicht trotzdem reale Kontakte, deren Zukunft offen ist, ohne dass sie mit Erwartungen überlastet würden. Insofern hat auch sie ein offensichtliches generatives Potential.

Sowohl das Vorgehen von LE 18 als auch die grundsätzliche Herangehensweise von ruangrupa lassen sich mit dem zusammenbringen, was Raunig und Novotny als „institutierende Praxen“ bezeichnet haben, als kritische Arbeit innerhalb von Institutionen, die sich weder umstandslos vereinnahmen lässt noch ein reines Außen imaginiert, sondern eine Art inneren Exodus vollzieht, der gleichzeitig instituierend ist, indem er etablierte Kategorien und Organisationsformen zurückweist und transformiert. Es geht um „eine positive Form des Abfallens, eine Flucht, die gleichzeitig instituierende Praxis ist“,Footnote 110 und dies scheint mir vor allem ruangrupas Vorgehen gut zu beschreiben: Sie haben die Rolle des oder der Verantwortlichen übernommen und gleichzeitig evakuiert, indem sie die Verantwortung in ihrem eigenen Kollektiv und über es hinaus verteilt haben.

Die geläufige Vorstellung eines Projektraums denkt diesen als starke kuratorische Setzung, als institutionell garantierten und stabilisierten Ort, an dem Festlegungen zumindest temporär in der Schwebe gehalten werden können. Eine solche klare Rahmung und Eingrenzung ist gleichzeitig eine präventive Schadensbegrenzung: An einem solchen Ort, der in der Differenz zur neben ihm stattfindenden Normalität definiert ist, kann nicht so viel schiefgehen, und wenn etwas schiefgeht, bleibt es zumindest im Rahmen. Im Falle der documenta fifteen konnte tatsächlich eine Menge schiefgehen, oder besser: Sie war als ganze prekär und vom Scheitern bedroht. Die Idee des lumbung, der gemeinsam genutzten Reisscheune, das ruangrupa zur Grundlage der gesamten Ausstellung gemacht haben oder zumindest als Beschreibung ihrer Praxis angeboten haben, macht die ganze Sache im Prinzip zu einem gemeinsamen Projekt.Footnote 111 Natürlich wurde nicht jeder Aspekt der Documenta von dieser Kollektivität erfasst, aber das drohende Scheitern wäre ein gemeinsames Scheitern gewesen – mit der zusätzlichen Gefahr, dass die gemeinsame Verantwortung sich in eine bloße Dispersion von Verantwortlichkeit auflöst, bei der es, wie im Antisemitismusstreit, am Ende niemand gewesen sein will. Das Beispiel von LE18 zeigt überdies, dass Kollektivität und Teilhabe sich unter Umständen bei allem guten Willen nur bedingt herstellen lassen, vor allem zwischen geopolitisch weit voneinander entfernten Orten.

In gewisser Hinsicht lässt die documenta fifteen ein Nachleben nicht nur der Künste, sondern der Kunst im kollektiven Singular am Horizont auftauchen, von dem die gleichzeitig stattfindende Biennale in Venedig nichts erahnen ließ: eine internationale Großausstellung, die die Form der Präsentation von Werken in weiten Teilen unterläuft und die Grenzen zwischen Produkt und Produzierendem, zwischen künstlerischem und gesellschaftlichem Handeln, zwischen Kurator*innen, Künstler*innen und Publikum verschwimmen lässt, ein unübersichtlicher Projektraum, der trotz allem auf eine solche Weise nur im Rahmen der Institutionen der Kunstwelt stattfinden kann. Die Documenta, deren fünfjähriger Turnus die Singularität der einzelnen Ausstellung als Experimentierfeld und kuratorisches Statement besonders prägnant hervortreten lassen, garantierte größtmögliche Sichtbarkeit.

Mir scheint, dass Brandon Woolfs Idee einer performativen Praxis infrastruktureller Einbildungskraft gut beschreibt, was hier am Werk ist: die Verflechtung des Künstlerisch-Performativen, Gesellschaftlichen, Institutionellen und Spekulativen zu einem unübersichtlichen, kaum kontrollierten Projektraum.Footnote 112 Ein solcher Raum ist näher an van Eikels’ vorsichtiger Utopie einer temporären, beweglichen, nicht in der Projektion eines idealen Kollektivs gegründeten Synchronisierung als an Osbornes von einer klaren, normativen Vorstellung dessen, was an der Zeit und der Fall ist, geprägtem Raum: „Es atmet in mir nicht deshalb auf, weil Vieles mir wie Wiederholungen von Einem vorkommt, sondern das Viele deutet ein unterhaltendes Zusammenhängen an im Verweis auf ein Weiteres, wiederum aus Vielem Zusammengespieltes.“Footnote 113 Man darf vermuten, dass auf dieses Übermaß an spekulativer Einbildungskraft ein Rückzug in eine relativ eindimensionale Sicherheit kuratorischer und künstlerischer Normalität folgen wird. Aber auch hier gilt, wie im Fall der Volksbühne: Fragen und Möglichkeiten liegen ebenso auf dem Tisch wie Probleme und Kritik. Was aus ihnen gemacht wird, ist offen.