1 Events: George Brecht

Das mediale Format der Notation findet sich in den verschiedensten künstlerischen Bereichen. Die dominante Tradition aber, die uneingeschränkt notationsbasiert ist, ist die westliche Kunstmusik, und zwar trotz aller Infragestellungen, Verschiebungen und Medienrevolutionen bis heute. Wie sehr dies das philosophische Verständnis von Musik geprägt hat, sieht man etwa daran, dass Nelson Goodman seinen Begriff der „allographischen Kunst“ ohne jede weitere Einschränkung auf „die Musik“ anwendet, sie also als „zweiphasiges“ Unternehmen zwischen Partitur und Aufführung beschreibt.Footnote 1 Offensichtlich gilt dies nicht für jeden Typ Musik.

Die Begriffe Notation und Partitur bezeichnen dabei nicht ganz dasselbe: Notationen sind Typen der Aufzeichnung, Aufschreibesysteme, die in der Regel Aspekte von Schriftlichkeit und Bildlichkeit verbinden (und umgekehrt ist Schrift als Typ von Notation beschrieben worden),Footnote 2 die Partitur ist die konkrete Aufzeichnung eines Stücks, die auf einem bestimmten Notationssystem basiert. Während Notationen sowohl Nachschriften – also nachträgliche Aufzeichnungen musikalischer oder sonstiger Performances – als auch Vorschriften – also Kompositionen, die zur Aufführung bestimmt sind – sein können, ist die musikalische Partitur heute in jedem Fall eine Vorschrift. Die künstlerischen Arbeiten, denen ich mich hier zuwenden will, haben ihren Ausgangspunkt bei dieser Partitur, aber gerade nicht bei ihrer geläufigen Notation, sondern bei ihrer Funktion als Instanz in einer medialen Konstellation. Nun ist der Begriff der Partitur aber derart stark mit der musikalischen Standardnotation verbunden, dass ich an dieser Stelle auf den offeneren englischen Begriff score zurückgreifen möchte.Footnote 3 Es fiele schwer, die teilweise sehr kurzen, lapidaren verbalen scores von George Brecht, La Monte Young, Yoko Ono und anderen als Partituren zu bezeichnen, aber sie bleiben Vorschriften für mögliche Aufführungen.

1955 stellt John Cage in einem Artikel eine lapidar daherkommende Frage: „Composing’s one thing, performing’s another, listening’s a third. What can they have to do with one another?“Footnote 4 Diese Frage kann nur aus einer Perspektive als radikale Provokation erscheinen, für die der Zusammenhang dieser drei Tätigkeiten vollkommen klar und kaum antastbar erscheint – was in der westlichen Kunstmusik traditionellerweise in der Tat der Fall ist. Zwischen den Instanzen zirkuliert hier eine Entität, die de jure identisch bleibt, auch wenn das de facto niemals der Fall sein mag: das musikalische Werk.Footnote 5 Cages Frage kann als Aufforderung verstanden werden, diese Identität aufzubrechen, indem die verschiedenen Instanzen und die zwischen ihnen stattfindenden Transformationen ernstgenommen werden. Die notierte Musik wird so gerade nicht als jene medial vollständig integrierte, reine Kunstform gesehen, als die sie von Walter Pater bis Clement Greenberg zum Vorbild der bildenden Kunst genommen wurde, sondern als mehrstellige mediale Konstellation. Damit eröffnet sich die Möglichkeit, dass die einzelnen Instanzen dieser Konstellation ein Eigengewicht gewinnen, das sie zuvor nicht hatten, und gegenüber der Identität des Werks die Differenz zwischen diesen Instanzen hervortritt.Footnote 6

Cage selbst und die später als New York School zusammengefassten Freunde und Kollegen Morton Feldman, Earle Brown und Christian Wolff hatten mit neuen Notationsformen seit Jahren in diese Richtung gearbeitet; ein wichtiger Knotenpunkt der weiteren Entwicklung waren Cages Kurse für „Composition of Experimental Music“ an der New Yorker New School for Social Research in den späten 1950er-Jahren. Hier fand sich eine wechselnde Gruppe von Studierenden zusammen, von denen viele – und interessanterweise fast alle derer, die später selbst erfolgreich wurden – einen Hintergrund in der bildenden Kunst hatten. Die Schlüsselfigur für unseren Kontext ist hier der Maler und Chemiker George Brecht.

Berichten anderer Teilnehmer zufolge war Brecht derjenige, der Cages theoretische Interessen am ehesten teilte, und zwar sowohl in Bezug auf die Frage einer sehr genauen Analyse von Klanglichkeit als auch, zunehmend, im Hinblick auf grundsätzliche Fragen zu score und Aufführung, zur Rolle der Zuhörer und zur konzeptuellen Dimension der künstlerischen Arbeit. Wenn man sich seine Notizbücher aus jener Zeit ansieht, so lässt sich eine Verschiebung von mehr oder weniger aufwendigen Plänen für quasi-musikalische Stücke, die aufbauend auf einer komplexen Kombinatorik mit Licht und Klang arbeiten, hin zu immer minimalistischeren Aktionen beobachten, für die schließlich der Begriff des events steht – gerade kein herausgehobenes, aufwendig inszeniertes Ereignis, sondern kleine, fast beliebige Vorgänge oder Gegenstände, wobei manchmal unklar bleibt, ob diese durchgeführt bzw. hergestellt oder lediglich beobachtet werden sollen.

Während also die Medien variabel sind, in denen die Stücke realisiert werden, bleibt der score die einzige mediale Konstante. Auch wenn Brecht sich nicht als Komponist verstanden hat, wird die mehrstellige Relation zwischen dem vom Künstler gestalteten score und einer potentiell unbegrenzten Anzahl von Aufführungen, die von ihm selbst oder auch von beliebigen anderen Personen realisiert werden können, verbindlich für den größten Teil seiner Arbeit. Auch in den Fällen, in denen die scores Objekte aufrufen – etwa durch ein lapidares „SUITCASE“ –, geht es ihm nicht um deren Existenz oder Ausstellung, sondern um die Interaktion von Betrachter*innen mit ihnen, und sei es lediglich auf der gedanklichen Ebene. Es sind „indeterminate propositions: realizable equally as an object, a performance, or even a thought“,Footnote 7 die alle gleichermaßen als event aufgefasst werden.

Auch wenn scores einen, wenn nicht den Fokus der Arbeit in Cages Kompositionskurs bildeten, ist Brecht der einzige, der sie auf diese Weise weiterentwickelt und ihnen die zentrale Position in seiner künstlerischen Arbeit gegeben hat. Instruktiv ist hier der Vergleich mit Allen Kaprow, ebenfalls ursprünglich Maler, für den der Übergang zu intermedialen Performances direkt von der Malerei ausging und der schon 1958 in einem Text über Jackson Pollock „entirely unheard-of happenings and events“Footnote 8 anvisiert hatte. Kaprow nennt die Anweisungen zu seinen Happenings „programs“ und spricht ihnen keine entscheidende Rolle zu: Sie seien „just literature, not the happenings themselves“.Footnote 9 Aus dieser Perspektive schreibt er über Brechts Event scores: „Their language, like their scale, was minimal, uninflected, and apparently as small in scope operation as in implication. The impression was that you couldn’t do much with them, but they were very impressive and very elegant.“Footnote 10 Man kann in der Tat nichts mit ihnen machen, das mit Kaprows eigenen großen, auf Interaktion zwischen den Teilnehmern und mit der Umgebung setzenden Happenings vergleichbar wäre. Vielleicht sollte man sagen, dass sie selbst etwas tun, indem sie in die verschiedenen künstlerischen Kontexte eingespeist werden und dort grundlegende Strukturen in Frage stellen. Insofern sind die Implikationen dieses minimalen „nicht viel“ sehr weitreichend.

Es ist kein Zufall, dass all dies in einem Kontext entstand, dessen disziplinäre Zuordnung suspendiert war, einem sozusagen flottierenden Ort. Die Kurse fanden nicht an einer Musikhochschule statt, sondern an einer Reformhochschule, in der die Künste als Teil einer aufklärerischen Bildung verstanden wurden.Footnote 11 Der Musikbereich war nicht besonders ausgeprägt, aber mit Cage wurde jemand als Lehrer verpflichtet, der bereits weit über die Musik hinaus wahrgenommen wurde. In seinen Kursen wurden Fragen der künstlerischen Gestaltung zwar von den aktuellen Entwicklungen der Musik aus, aber nicht ausschließlich für die Musik verhandelt. Die Herkunft und die Interessen der Teilnehmer*innen waren so verschieden wie das, was sie aus diesen Kursen mitnahmen, scheinbar ohne dass dies den Austausch und die gemeinsame Arbeit beeinträchtigt hätte. Vielleicht ist dieser Zwischenort der einzige Ort, an dem das Potential radikaler Offenheit, das Liz Kotz benennt, wirklich zur Geltung kommen konnte: „Apparent differences between autonomous works of word art or poetry, instrumental forms of performance instruction, program note or score, and even critical essays and diagrams become indistinct.“Footnote 12 Dass sich die Unterschiede zwischen den genannten Formen allerdings schlicht verflüchtigen, trifft die Sache nicht; sie bleiben als offene Frage erhalten, die in jeder neuen Verortung tendenziell anders beantwortet wird.

Seine erste öffentliche Präsentation hat Brecht in Form einer Ausstellung in der Reuben Gallery im Oktober 1959; sie wurde, wie man in den Notizbüchern nachvollziehen kann, wesentlich in der Arbeit mit Cage vorbereitet und markiert eine Übergangssituation zwischen der Herstellung von Kunstwerken, der Zusammenstellung von Gegenständen und der Produktion von scores – ihr Titel war passenderweise „Toward events“. Auch in den folgenden Jahren wurden Brechts Arbeiten zumeist im Kontext der bildenden Kunst gezeigt, wo Combines, Assemblagen, Editionen und Aktionen die Szene zu dominieren begannen und die Einflüsse Duchamps und Cages gleichermaßen wahrnehmbar waren. Kotz spricht von zwei Entwicklungssträngen, „object/edition/store“ und „performance/instruction/score“,Footnote 13 wobei diese beiden im Werk Brechts zusammenkommen. Die Herausforderung, die der score bildet, wurde dabei allerdings noch kaum wahrgenommen.

Damit dies geschehen kann, darf er nicht hinter seiner Realisierung verschwinden, sondern muss selbst als Dimension der Arbeit aufgefasst werden können. Das war zum ersten Mal bei einer Gruppenausstellung 1961 in der Martha Jackson Gallery der Fall, wo Brecht sein Three chair events ausstellte. Zu sehen war im Ausstellungsraum der score selbst mit einem einzigen Stuhl; die anderen beiden standen auf der Toilette und vor der Galerie und wurden sicherlich nicht von allen Besuchern als Teil der Arbeit wahrgenommen. Der Überschuss, den der score über seine Ausführung hat, wird auf diese Weise fast ein wenig zu plakativ deutlich; entscheidend ist nicht das Fehlen eines Teils der benannten Gegenstände, sondern die (Aufforderung zur) Reflexion, die er verkörpert: über das Verhältnis von Objekt und Ereignis, über die Entscheidungen des Künstlers und das Verhalten der Rezipient*innen und die Rolle, die sie jeweils spielen, über die Kraft der Sprache, Situationen zu erzeugen, zu vereindeutigen und in der Schwebe zu lassen, über ihr Eigengewicht usw.Footnote 14 Die uneindeutigen, tentativ und definitiv zugleich wirkenden, je leicht verschiedenen Formulierungen der drei events tragen dazu entscheidend bei.

1962/3 schließlich veränderten sich die Präsentations- und Rezeptionsbedingungen insofern, als Brecht gemeinsam mit Robert Watts das Yam Festival organisierte, das in einem intensiven Monat von Ausstellungen, Konzerten und Performance im Mai 1963 kulminierte. Als Anfang des Festivals setzten sie 1962 eine Praxis fort, die Brecht bereits ein Jahr zuvor begonnen hatte: Sie verschickten scores per Post. Damit wird eine Eigenheit von scores jeglicher Art explizit, die kaum je vollständig ausgeschöpft wurde: Nicht nur können sie im Prinzip von jedem jederzeit aufgeführt werden, sie sind auch unbegrenzt reproduzierbar. Dass sie selbst dort, wo sie Gegenstände bezeichnen, die Möglichkeit zunichte machen, irgendeinen davon als „Original“ auszuzeichnen (was noch für Duchamps Readymades der Fall war), stellt eine grundlegende Herausforderung für die bildende Kunst dar. Aber auch im Bereich der Musik wird auf Verknappung durch Copyright und Lizensierung und damit auf Bedingungen gesetzt, die sich nicht aus den medialen Bedingungen der scores selbst ergeben. Brechts Idee, sie in der Zeitung zu veröffentlichen, läuft dieser Verknappung entgegen und zieht die letzte Konsequenz aus ihrer Reproduzierbarkeit.

Ebenfalls 1962 fand in Wiesbaden organisiert von George Maciunas das erste Fluxus-Festival statt, das sich auf eigenartige Weise zwischen den Kontexten der bildenden Kunst und der Musik verortete – es trug den Titel Fluxus. Internationale Festspiele neuester Musik, fand allerdings im Museum statt. Aufgeführt wurden neben Musikstücken im engeren Sinne und eher theatralen Aktionen (und allen Zwischenformen) auch einige von Brechts scores, und von diesem Punkt an wurden Brechts Arbeiten primär im Kontext von Fluxus wahrgenommen. Er selbst kommentiert: „In Fluxus there has never been any attempt to agree on aims or methods; individuals with something unnamable in common have simply naturally coalesced to publish and perform their work.“Footnote 15 So verschieden die jeweiligen Arbeiten auch waren, es gibt doch einen fast von allen geteilten, durchaus benennbaren Aspekt, nämlich eben die scores. Von der Musik aus ist dies natürlich nicht weiter bemerkenswert. Hier ist es die Verschiebung im Hinblick darauf, was hier notiert wird und wie dies geschieht: nicht mehr komplexe klangliche Konstruktionen, sondern potentiell alles überhaupt nur Denkbare (dass die Fluxusaufführungen bisweilen wie ein neodadaistisches Zirkusspektakel wirkten, lenkt davon eher ab), und zwar in welcher Form auch immer, in der Regel aber über sprachliche Anweisungen.

Die Verortung in der Musik bleibt aber vorläufig. Fluxus wurde als eine Art Kategorie für sich wahrgenommen, als intermedialer und interdisziplinärer Knotenpunkt von Aufführungen, Ausstellungen und Publikationen, an dem Künstler*innen unterschiedlicher Herkunft zusammenkamen und dessen institutionelle Anbindung von Fall zu Fall wechselte. In dieser Hinsicht bildete dies für Brecht in jener Zeit das perfekte Umfeld, denn wie Kasper König erinnert: „I think it has all become so entrenched that it is probably very difficult to imagine your kind of limbo between different fields at that time.“Footnote 16 Mit Fluxus konnte er sich zumindest temporär in jenem unklaren Zwischenort einrichten.

Gleichzeitig weist König darauf hin, dass dieser Zwischenort auch ein Zwischenstadium bleiben sollte, denn nach und nach kam es insofern zu einer Normalisierung, als Brecht und andere in ihre jeweiligen Disziplinen reintegriert wurden und Fluxus zu einer historischen Erscheinung wurde. Brecht schreibt nach 1963 keine Event scores mehr; von wenigen Ausnahmen abgesehen findet seine Arbeit wieder in der bildenden Kunst statt, und entsprechend dominieren materiell identifizierbare Werke, auch wenn Sprache ein wichtiges Thema bleibt – und er selbst eine Randfigur. Wenn Dick Higgins, ein weiterer Teilnehmer von Cages Kursen, seinen eigenen Intermedia-Text von 1966, der die Auflösung medialer Festlegungen und institutioneller Zuordnungen gefeiert hatte, sechzehn Jahres später kommentiert, ist der Ton von einer Abgeklärtheit, hinter der man ein gewisses Maß an Resignation vermuten darf und deren Kontrast zum euphorischen Ton des ursprünglichen Textes frappierend ist: „No reputable artist could be an intermedia artist for long.“Footnote 17

Auch für die 1963 von Maciunas unter dem Titel Water Yam veröffentlichte Edition von Brechts Event scores, die seitdem noch einige Male wieder aufgelegt wurde, hat sich in gewisser Weise die Normalität der bildenden Kunst wieder hergestellt: Zwar zirkulieren die scores fast unbeschränkt als Abbildung und lassen sich damit auch beliebig kopieren, aber die Exemplare der originalen (!) Edition sind heute Teil vieler Museumssammlungen, sie sind begehrt und teuer, weitaus teurer und schwerer zu bekommen als etwa die Erstausgaben von Büchern, die in jener Zeit in kleiner Auflage veröffentlicht worden sind, oder gar im engeren Sinne musikalische Partituren. Trotzdem erstreckt sich die Fetischisierung in manchen Fällen auch auf diese Partituren: So schreibt Henrik Folkerts anlässlich einer Ausstellung zu Cages 4’33”, dass „it is inevitable that the score will also continue to be treated as a resident of the category of material object“.Footnote 18 Es ist Folkerts offenbar vollkommen selbstverständlich, dass auch diese Partitur (bzw. Partituren, denn es gibt drei sehr verschiedene Notationen) in der bildenden Kunst zu verorten ist, denn außerhalb ihrer kann von einer derartigen „Unvermeidbarkeit“ keine Rede sein, wenn damit nicht schlicht gemeint ist, dass auch das beliebig Reproduzierbare irgendeine Form der Realisierung braucht, und sei es die als PDF-Datei, über deren Materialität man streiten kann. Die Edition Peters hat anlässlich von Cages 100. Geburtstag eine Partitur aufgelegt, die die drei Notationen vereint und die man sich für wenig Geld beschaffen kann. Autographen können in den Fällen bedeutsam sein, in denen sich von ihnen Rückschlüsse auf den Kompositionsprozess, Varianten etc. ziehen lassen – aber erstens reichen auch dafür gute Reproduktionen aus und zweitens ist bei Cage nichts davon der Fall. Alles andere ist von antiquarischem, aber nicht eigentlich künstlerischem Interesse, denn von einer Originalpartitur zu sprechen ist schlicht ein Kategorienfehler.

Nachdem ich mich recht ausführlich mit George Brecht beschäftigt habe, möchte ich nun anhand einiger Arbeiten kurz auf drei weitere Künstler*innen eingehen, deren teilweise wechselnde Verortung ebenfalls sehr aufschlussreich für unsere Frage ist: La Monte Young, Simone Forti und Yoko Ono, mit einem Seitenblick auf Bruce Nauman und Marina Abramović. Die drei Erstgenannten standen miteinander in Kontakt und waren alle mehr oder weniger stark von Cage beeinflusst.

2 Innenwelten: La Monte Young

La Monte Young war ursprünglich Jazzsaxophonist, kam also aus der musikalischen Praxis zu jenem intermedialen, interdisziplinären Schmelztiegel. Er hat nicht viele, aber dafür sehr einflussreiche verbale scores veröffentlicht, von denen hier drei von besonderem Interesse sind: die Nummern 7, 9 und 10 seiner Compositions 1960, allesamt der wichtigen von ihm selbst und Jackson MacLow 1963 herausgegebenen Anthology of Chance Operations veröffentlicht, in der auch Brecht vertreten war.Footnote 19 #7 besteht aus einem handgezeichneten Notensystem mit einer offenen Quinte aus h und fis mit der Anweisung „to be held for a long time“, #9 ist eine Karte, auf der lediglich eine horizontale Linie eingezeichnet ist, und #10 ist ein verbaler score mit den Worten „Draw a straight line and follow it“. #7 lässt zwar offen, auf welchem Instrument es zu spielen ist und wie lange es dauert, lässt sich aber nicht anders denn als minimalistisches Musikstück interpretieren. #10 hat eine offensichtliche Verwandtschaft damit, scheint aber auf ein anderes Medium, nämlich die Zeichnung, zu verweisen; in einem etwas metaphorischen Verständnis könnte aber auch #7 als eine mögliche Interpretation gelten. #9 schließlich lässt offen, wie überhaupt damit umgegangen werden soll – Reicht die Betrachtung aus? Sollte es auch als Anweisung verstanden werden? Wenn ja, um was in welchen Medium zu tun? –, könnte aber wiederum als Variante der anderen beiden gelten.Footnote 20

#10 hat beim ersten Fluxus-Festival eine legendäre Aufführung erfahren: Nam June Paik tauchte seinen Kopf und seine Krawatte in Tinte und zog sie über eine lange Papierbahn. Dies kann als extravagante, aber doch legitime Interpretation gelten, war aber für die Zuschauer*innen eher nicht als solche erkennbar. Durch seinen spektakulären Charakter stellt es den score weitgehend in den Schatten, und es ist vielleicht konsequent, dass es am Ende einen eigenen Titel bekam – Zen for Head –, so dass Paik selbst als eigentlicher Urheber erschien.

Dabei bleibt Young Musiker, und die Musik bleibt letztlich seine Referenz. In einem formal sehr stark an Cage angelehnten und fortwährend auf ihn bezugnehmenden Vortrag aus dem gleichen Jahr wie die scores erwähnt er die Idee „to get inside of a sound“ als Leitvorstellung seiner Praxis: „I began to see how each sound was its own world and that this world was only similar to our world in that we experienced it through our own bodies.“Footnote 21 Man kann dies als Beschreibung von #7 verstehen, aber es wirft auch ein Licht auf die anderen beiden Stücke, die auch vollkommen anders interpretiert werden können. Allerdings wird bereits hier ein Rahmen gesetzt, der die Ausrichtung von Youngs künstlerischer Praxis seit 1962 benennt und bis heute verbindlich bleibt: extrem lange, sehr laute Performances mit Drones, lang angehaltenen Tönen und Tonkombinationen, deren langsame Verschiebungen und innere Veränderungen in der Tat eine Innenwelt des Klangs eröffneten.Footnote 22

Damit hat er sich aus der medialen Indeterminiertheit der scores verabschiedet und sich einer musikalischen Praxis zugewandt, die sich zwischen Konzertperformances extremer Länge – als Theater of Eternal Music mit seiner Frau Marian Zazeela, Tony Conrad, Angus MacLise, John Cale und anderen – und immersiven Klang- und Lichtinstallationen bewegte. Man kann fast sagen, dass er damit nicht nur ein sehr eigenes Verständnis von Musik als räumlich organisierter Klanglichkeit etabliert, sondern sich einen eigenen Ort geschaffen hat: Die Konzerte fanden kaum je in normalen Musiksettings statt, sondern in eigenen Räumen, Lofts von Freunden, Galerien etc., ohne an irgendeinem dieser Orte real und institutionell wirklich zu Hause zu sein, und die Dream House-Installation hat seit 1993 einen eigenen, dauerhaften Ort in dem Haus in New York, in dem Young und Zazeela seit den 1960er Jahren wohnen. Young gilt heute nicht nur als Vater des musikalischen Minimalismus, sondern auch als einer der Ahnherren der Sound Art; am größten war sein Einfluss aber vermutlich in der Popmusik.Footnote 23 Die scores spielen bei all dem keine Rolle mehr, und die mit ihnen verbundene untilgbare Offenheit ist mit Youngs Selbstverständnis und Praxis unvereinbar: Er wurde als „fanatical on the question of artistic control“Footnote 24 beschrieben – eine Kontrolle, die sich auch auf den Ort und Kontext der eigenen Arbeit erstreckt.

3 Minimalismus und Musealisierung: Simone Forti

Simone Forti ist eine italienischstämmige Tänzerin und Choreographin, die sich in den Jahren, um die es hier geht, in denselben Kreisen bewegte wie Young; sie hatten sich bereits bei Anna Halprins San Francisco Dancer’s Workshop kennengelernt. Halprin arbeitete mit Improvisation, hatte aber auch bereits scores eingesetzt, die vor allem graphische Form hatten.Footnote 25 Wenn man so auch vermuten kann, dass die Idee, für den Tanz mit scores zu arbeiten, aus ihrer Zeit bei Halprin stammte, hat doch die Form, die sie selbst später wählt, mit diesem Vorbild nur noch wenig zu tun. 1961, zwei Jahre nachdem beide nach New York gezogen waren, lud Young Forti ein, einen Abend der Reihe von Performances und Konzerten zu gestalten, die er mit Yoko Ono in deren Loft veranstaltete. Sie nannte die Arbeiten, die sie für diesen Abend vorbereitete, Dance Constructions; sie bestehen aus minimalistischen, nüchtern auszuführenden Bewegungsaufgaben. Dieser Minimalismus, „an isolation of movement prompted by the constraints of a situation or set of rules“,Footnote 26 der sich denkbar weit vom Tänzerischen weg und auf Alltagsbewegungen, -aufgaben und -interaktionen zu bewegte, sollte höchst einflussreich für die spätere Arbeit des Judson Dance Theater werden, von dessen Protagonisten zwei, Yvonne Rainer und Steve Paxton, an der Realisierung der Dance Constructions beteiligt waren.

Allerdings hatte Forti die Tänzer*innen mündlich instruiert, was sie zu tun hatten. Es ist bedeutsam, dass es keine aufwendige Choreographie gab und keinen längeren Probenprozess brauchte, sondern eine Reihe von Instruktionen ausreichte. Dass diese Instruktionen direkt weitergegeben und vorerst nicht in Form eines score niedergelegt werden, macht aber doch einen Unterschied: Es ist kaum zu vermuten, dass Forti sich auf das unbedingt Notwendige beschränkt hat; sie wird auch über ihren Hintergrund, ihre Motivation, die gewünschte Haltung der Performer*innen etc. gesprochen haben. Erst nach der Aufführung bat Young sie, sich an seinem Buchprojekt zu beteiligen, das später zur erwähnten Anthology of Chance Operations werden sollte, und Forti schrieb zwei ihrer Konstruktionen in Form von scores auf: Huddle und Slant Board, die aber hier nur generisch als „Dance construction“ auftauchen. Zusätzlich dazu finden sich noch eine „Dance instruction“, die aus ähnlich minimalistischen Instruktionen besteht, und zwei „Dance reports“, die beobachtete Alltagssituationen skizzieren. Erst jetzt ist es notwendig, jene kondensierende Festlegung zu treffen, die der score erfordert: Entschieden wird, was das Wesentliche ist und wie es übermittelt werden soll. Ab jetzt ist kein persönlicher Kontakt mehr erforderlich, und im Prinzip kann jede*r Beliebige die Stücke aufführen.Footnote 27

Die Nähe zu Brecht ist offensichtlich, es fallen aber auch einige charakteristische Differenzen auf. Ina Blom beschreibt den Unterschied zwischen score und Aufführung für Brecht auf eine treffende Weise, die für Forti gerade nicht (und auch für Young nur eingeschränkt) gilt, als „extreme generality of the instruction for an event“, der die „extreme specificity of the realization of the instruction“Footnote 28 gegenübersteht. Die Spannung zwischen Allgemeinheit und Spezifität kann bei Forti für die Bewegung selbst in Anschlag gebracht werden, verzichtet sie doch auf jede Form von Stilisierung, Ausdruck, in gewisser Weise auf künstlerische Form selbst, ist aber in jeder Ausführung spezifisch und konkret. Dadurch lässt sie sich relativ problemlos in Form einer kurzen Beschreibung notieren, von der aus sie dann reproduziert werden kann.

Was auf diese Weise allerdings nicht gleichermaßen gegeben ist, ist das Eigengewicht des score, die Akzentuierung der Differenz zwischen ihm und seiner Ausführung und damit auch seine prinzipielle Offenheit. Diese scores beschreiben einfache, aber eindeutige Bewegungsabläufe, und sie sind ausschließlich als solche zu realisieren. Es besteht weder Offenheit in Bezug auf die Medien noch sonderliche interpretatorische Freiheit für die Performer*innen, die eine klare Aufgabe zu erfüllen haben (für die sie allerdings, wie Steve Paxton betont, ständig eigene Entscheidungen treffen müssen).Footnote 29 Entsprechend ist auch die genaue Form des score nicht von Bedeutung, und wenn Forti selbst Jahre später von Huddle berichtet, reproduziert sie gerade nicht die Anweisungen der ersten Version, sondern gibt eine etwas detailliertere Beschreibung dessen, was zu geschehen hat, und schließt auch noch eine Variante ein, die mit den Worten „The piece has also been formed in a way that …“,Footnote 30 also mit Bezug auf tatsächliche Aufführungen vorgestellt wird.

Wenn es dann, noch einmal einige Jahrzehnte später, um das Eingehen der Stücke ins Archiv geht, gehen die Anweisungen noch um einiges weiter: „The pieces come along with a whole package on how to teach each piece, including a video of me teaching each piece and a written narrative on how to teach each piece, what to look out for, how to introduce it …“ Als Grund dafür nennt Forti die Notwendigkeit, „the presence, the attitude, the aesthetic of the piece“Footnote 31 zu vermitteln. Es scheint, dass sie das Rad bis zu dem Moment zurückdrehen will, wo sie selbst die Performer*innen persönlich instruiert hat.

Es ist weder ein Zufall noch bedeutungslos, dass dieses Archiv ein Museum ist, und zwar nicht irgendeins, sondern das New Yorker MoMA, das sich so als eine Art universale Institution präsentiert, zu dessen Sammlung eben auch Tanzstücke gehören; ich werde im folgenden Kapitel darauf zurückkommen. Dass Forti auf eine derart umfangreiche Einführung besteht, hat sicher auch damit zu tun, dass das Museum für den Tanz zuerst einmal ein fremder Ort ist, in dem vieles von dem wiederhergestellt werden muss, was in seinem eigenen Kontext selbstverständlich wäre. Dazu kommt die zeitliche Entfernung. Dennoch ist das Ausmaß der Kontrolle, das hier ausgeübt werden soll, für so einfache Stücke wie die Dance Constructions überraschend. Wir haben es hier in jeder Hinsicht mit einer Musealisierung zu tun: Wo es kein materielles Original gibt, das in die Sammlung aufgenommen werden kann, wird doch zumindest versucht, eine autoritative Version des Stücks zu fixieren und als verbindlichen Maßstab für alle späteren Aufführungen zu definieren. Wenn man dies ernst nimmt, kann etwas nur dann als Aufführung von Huddle gelten, wenn es allen Anweisungen genau folgt, seine Haltung und seine Ästhetik trifft und es noch dazu angemessen einführt. Angesichts der Unmöglichkeit physischen Besitzes wird das Museum zu einer Art polizeilicher Instanz, die die Legitimität und Korrektheit von Aufführungen überwacht.Footnote 32 Der score, sei er nun ursprünglich bildlich oder sprachlich gewesen, wird durch ein multimediales Gesamtpaket ersetzt, in dem er und seine potentielle Offenheit endgültig untergehen.

4 Aufführung oder Reenactment? Yoko Ono und Marina Abramović

Mit einem ähnlichen, aber doch etwas anders gelagerten Problem haben wir es bei meinem letzten Beispiel zu tun, nämlich Cut Piece von Yoko Ono. Auch Ono war bereits früh Teil der New Yorker Szene – wie erwähnt war ihr Loft der Ort der von Young und ihr organisierten Reihe –, hatte Cage und auch Maciunas kennengelernt und auch bereits begonnen, scores zu verfassen, die sich zwischen kleinen, oft expressiven Aktionen wie Voice Piece for Soprano („Scream. / 1. against the wind / 2. against the wall / 3. against the sky“), zwischen Radikalität und Meditation changierenden Anweisungen wie Laugh Piece („Keep laughing a week“) und poetischen Evokationen wie Stone Piece („Take the sound of the stone aging.“) bewegten.Footnote 33 Vergleicht man von hier aus die vier hier behandelten Künstler*innen, so kann man sagen, dass es Brecht um eine zwischen Sprache, Handlung und Gegenstand zirkulierende Reflexion ging, Young um den Klang als Welt, Forti um Handlungen und Konstellationen von Körpern und Ono um Selbstreflexionen und meditative Übungen, auch wenn diese bisweilen drastische Formen annahmen. Das Verhältnis von Sprache, Denken und Wirklichkeit spielt dabei für sie eine ähnlich große Rolle wie für Brecht, wenn auch auf andere Weise.

Cut piece ist ihr sicher bekanntestes Stück, das mit seinem höchst aufgeladenen Aufbau sehr verschiedene Interpretationen erfahren hat.Footnote 34 Ono hat es 1964 konzipiert und zuerst selbst aufgeführt: Sie saß auf der Bühne vor einem Publikum, vor sich eine Schere. Das Publikum war aufgefordert, mit dieser Schere Teile ihrer Kleidung herauszuschneiden und mitzunehmen. Nach vorsichtigen Anfängen saß Ono schließlich mit nacktem Oberkörper da und bedeckte ihre Brüste mit den Händen. Die Performance endete, als sie selbst sie für beendet erklärte.

Zur Zeit der Aufführung gab es dafür keinen veröffentlichten score. Ono war nicht in Youngs Anthology vertreten, und auch Ideen einer von Maciunas gestalteten Edition hatten sich nicht materialisiert, aber sie hatte eine Sammlung von scores in Form eines Buchs mit dem Titel Grapefruit veröffentlicht. Obwohl Cut piece im Jahr der Publikation dieses Buchs aufgeführt wurde, ist es nicht vertreten; es erscheint erst in der zweiten, deutlich erweiterten Auflage 1970, nachdem es zum ersten Mal vier Jahre zuvor in einem Strip Tease Show betitelten Pamphlet gedruckt worden war.

Insgesamt kann man sagen, dass scores zwar ein wesentliches Moment von Onos Arbeit waren, sie sich aber nie ausschließlich auf sie verlassen hat. So schreibt sie zwei Jahre später in der Vorbemerkung für ihre 9 Concert Pieces for John Cage: „Since my pieces are meant to be spread by word-of-mouth, most pieces only have titles or very short introductions. Therefore, passing words as to how they were performed previously has become a habit.“Footnote 35 Während die erste Veröffentlichung von Cut piece die Form einer kurzen Beschreibung des Auszuführenden hatte, folgt diejenige in der zweiten Auflage von Grapefruit genau dem hier skizzierten Schema. Das Stück findet sich in einem Record of 13 concert piece performances überschriebenen Abschnitt, dem die eben zitierten Sätze noch einmal vorangestellt sind, wird also gar nicht wirklich als score, sondern als Beschreibung von etwas bereits Geschehenem vorgestellt. Auf das einzelne Wort „Cut.“, das für sich genommen an manche scores von Brecht erinnert, folgt die eigentliche Beschreibung, die davon spricht, wie das Stück normalerweise von Ono selbst aufgeführt wurde, dann aber mit den Worten „The performer, however, does not have to be a woman“ endet. Auch wenn es auf diese Weise eine Spannung zwischen den ikonischen Aufführungen von Ono selbst und dem score gibt, wird auch hier deutlich, dass das Stück durch eine Reihe von Anweisungen konstituiert wird, die immer wieder neu realisiert werden können und es auch wurden, von Männern wie von Frauen. Dass ähnlich wie bei Forti die genaue Form des score keine Rolle spielt, ist dafür unerheblich.

Wie Brecht wird Ono vielleicht nicht umstandslos als bildende Künstlerin wahrgenommen, aber doch mit diesem Teil ihres Werks im Bereich der bildenden Kunst verortet (ihre popmusikalische Karriere wird davon weitgehend losgelöst wahrgenommen).Footnote 36 Zwar ist Cut piece anders als Huddle nicht Teil von Museumssammlungen, aber es ist höchst aufschlussreich, wie die bildende Kunst und ihr Diskurs mit dem Stück bisweilen umgegangen sind.Footnote 37 Ingrid Pfeiffer begreift es als frühes, in früheren Aufarbeitungen oft vergessenes Beispiel für Performancekunst, für die sie Vito Acconci, Marina Abramović und Hermann Nitsch anführt;Footnote 38 ganz in diesem Sinne nennt Jennifer Allen Onos Wiederaufführung von 2003 ein Reenactment, das mit dem Ziel erfolgt sei, „to ensure the continued existence of her work“.Footnote 39 Das ist offensichtlich ein grundlegendes Missverständnis, und Kevin Concannon hat vollkommen recht, wenn er festhält, dass „the very notion that Ono reenacted her own work seems to miss the point of an event score entirely“.Footnote 40 So zu reden entspricht etwa dem, eine Aufführung von Beethovens 9. Symphonie als Reenactment der Uraufführung von 1824 zu bezeichnen.

Dass es Ono neben vielem anderen und berechtigterweise damals darum gegangen sein könnte, an ihre Arbeit zu erinnern, ist nicht von der Hand zu weisen. Deren Fortexistenz allerdings ist nicht gefährdet, so lange es noch Exemplare der scores gibt – und bereits die Neupublikation von Grapefruit ließ ein vollständiges Verschwinden unwahrscheinlich werden. Ono wird hier in einen Kontext einsortiert, in den sie nur bedingt gehört, denn die tatsächliche Sorge um die Fortexistenz und Historisierung des eigenen Werks ist etwas, das zahlreiche Performancekünstler seit einiger Zeit umtreibt, allen voran Abramović.

Fünf Jahre vor der großen Retrospektive im MoMA 2010, mit der sie dieses Ziel erreicht haben dürfte, hatte sie im Guggenheim Museum unter dem Titel Seven Easy Pieces eine Reihe ikonischer Performances wiederaufgeführt, darunter zwei eigene. Die Reihe begann mit einem vergleichbaren Missverständnis, wenn wir es nicht als gewaltsame Umdeutung verstehen wollen: Das erste Stück, Bruce Naumans Body Pressure von 1974, beruht auf einem score. Wenn es Teil einer Ausstellung war, wurde es nicht aufgeführt, sondern in Form eines großen, rosafarbenen Blatts ausgelegt und konnte mitgenommen und von wem auch immer wo auch immer realisiert werden. Abramović macht daraus etwas vollkommen anderes: Sie stellt eine große Glasscheibe auf ein kreisförmiges Podest und führt die Anweisungen, sich mit der größtmöglichen Körperoberfläche an eine Wand zu pressen, sich vorzustellen, man selbst drücke von der anderen Seite dagegen, und sich dann die Wand wegzudenken, an dieser Scheibe aus. Aus der intimen, beliebig wiederholbaren Aktion wird eine grandiose Selbstinszenierung.Footnote 41

Es ist bezeichnend, dass es sowohl bei Cut piece als auch bei Body pressure zu einer solchen Verwechselung kommt. Eine Performance, die zu einem bestimmten Zeitpunkt stattgefunden hat und unwiederbringlich vergangen ist, ist immer noch ein Original, bei dem die singuläre materielle Existenz durch eine singuläre zeitliche Existenz ersetzt worden ist, und mit solchen verlorenen Originalen kann die bildende Kunst offenbar besser umgehen als mit Arbeiten, bei denen die Frage nach dem Original vollständig ins Leere läuft. (Die Musik hätte damit weniger Probleme, erklärt sich aber vorweg für nicht zuständig.) Wenn das künstlerische Reenactment zu einer Art Routinebetrieb wird, transformiert dies ursprünglich als einmalige Aktionen gedachte Performances grundlegend und macht sie stillschweigend zu wiederholbaren Modellen,Footnote 42 deren Aufführung strengen Lizenzbedingungen unterworfen sind. Anwesenheit und Kontrolle der Künstlerin garantieren, dass es sich um als „original“ zertifizierte Reproduktionen handelt.

Dass dies allerdings die einzige Weise sein soll, der eigenen Arbeit ihre Fortexistenz zu sichern, ist kaum plausibel. Ein Gegenbeispiel wäre Chris Burden, der kurz vor Abramović mit seinen Performances begann und ähnlich wie sie auf drastische Körperlichkeit setzte. Allerdings waren Burdens Performances bei aller Drastik eigentümlich beiläufig und sperren sich eher gegen Reenactments – wer würde sich etwa nochmal in den Arm schießen (Shoot, 1971) oder für ein paar Minuten rücklings auf einen VW-Käfer nageln lassen (Trans-fixed, 1974) lassen, und was wäre damit gewonnen? Burdens Arbeiten existieren in einer Konstellation mit Foto- und Videodokumentationen und textlichen Bezügen, für die er teilweise selbst gesorgt hat: „Burden produced himself for posterity through meticulously organized textual and visual representations.“Footnote 43 Sie bilden „distributive“, historisch offene Einheiten, wie Peter Osborne es genannt hat, in denen wir es nicht mit einem Original und einer Reihe von bloß sekundären Dokumentationen und Interpretationen zu tun haben, sondern mit einer Reihe von Instanzen, die insgesamt das Werk bilden.Footnote 44 Dies haben sie mit score-basierten Arbeiten gemeinsam, wenn auch die Konstellation hier eine andere ist.

Mit den scores wird in der bildenden Kunst eine Materiallinie eröffnet, die vorher nicht zur Verfügung stand und die das Potential hat, einige grundlegende Momente in Frage zu stellen bzw. zu transformieren. Zur Debatte steht, was das Gezeigte überhaupt ist, wie die Medien verstanden werden müssen, was im Vordergrund steht, was bewahrt werden muss und kann etc.; für das Museum stellt sich etwa die Frage, wo der score verortet werden soll, „either the realm of the archive or the museum’s collection, as an index or reference to liveness or a veritable object of display“.Footnote 45

Der Musikbetrieb hat sich demgegenüber der Herausforderung durch die event scores im Grunde ganz entzogen, und Fluxus wird heute primär als Ereignis in der Geschichte der bildenden Kunst behandelt, auch wenn die musikalischen Inspirationen und Elemente natürlich immer erwähnt werden. Exemplarisch ist hier vielleicht der Titel eines Textes von Alexander Klar, der diese sehr klar benennt und aufarbeitet: „Die Geburt von Fluxus aus dem Geist der Musik“ – aber eben nicht als Musik.Footnote 46 Dass Ken Friedman insgesamt seine „musicality“Footnote 47 hervorhebt und damit gerade die Tatsache meint, dass die scores von jedem Beliebigen aufgeführt werden können, hat hier kaum einen Widerhall gefunden.

Von einer Infragestellung von Autorschaft als solcher kann man insofern kaum sprechen, als die Namen der jeweils Ausführenden zwar genannt werden mögen, aber sofort vergessen werden – eine seltene Ausnahme ist Paiks oben erwähnte Aufführung von Youngs Composition 1960 #10, die allerdings charakteristischerweise mit einem neuen Titel versehen wurde. Was allerdings tatsächlich radikal in Frage gestellt wird, ist „any idea of authorship as a consistent, cohesive, stylistic unity or development“.Footnote 48 Henry Flynt nennt dies treffend „constitutive dissociation“: „A constitutively dissociated situation comes about because the instigator of the situation alters the aims of the genre from the customary aims, without declaring so.“Footnote 49 Es scheint so, dass keine der beteiligten künstlerischen Disziplinen sonderlich gut mit diesen Dissoziationen umgehen kann. Der kürzlich verstorbene Alvin Lucier bringt die Sache für die Musik auf den Punkt: „The score specifies a task to be accomplished, not a composer’s idea of a fixed object.“Footnote 50 Damit wird auch für die Musik Objekthaftigkeit als problematisches Ideal beschrieben, und es ist diese Objekthaftigkeit, die in den jeweiligen Disziplinen auf unterschiedliche Weise unterlaufen wird: In der Musik im Sinne eines strukturell (mehr oder weniger) eindeutig bestimmten Stücks, das sich über die Medien hinweg als identisches durchhält, in der bildenden Kunst als Original, als materiell identisches Artefakt, und in der Performance als zeitlich und räumlich situiertes „Original“, das als einmaliges Ereignis fetischisiert und dann doch als Reenactment beliebig wiederholt wird.