1 Suchanweisungen

Das Motiv des Ortes wurde im vorigen Kapitel als Weiterbestimmung des Materialbegriffs eingeführt. Dieser Kontext ist sehr spezifisch, denn Ort wurde hier als Hinweis auf die kritische Situierung jeglicher künstlerischen Arbeit in einem heterogenen Feld von Bezugnahmen und mehr oder weniger gradlinigen, Grenzen kreuzenden, umgeschriebenen, abbrechenden und neu ansetzenden Traditionslinien verstanden. Damit erscheint der Begriff des Ortes erst einmal als Metapher, die zwar nicht beliebig ist, deren Verhältnis zum realen Raum aber vorerst ungeklärt ist.

Nun finden die Bezüge künstlerischer Arbeiten aufeinander nicht in der dünnen Luft eines Gipfelgesprächs der Werke statt, sondern im Rahmen von Institutionen der Ausbildung, Produktion, Präsentation und Zirkulation, und Ort muss auch in diesem Sinne verstanden werden. Hier changiert der Begriff zwischen einer realen räumlichen und einer institutionellen Bedeutung: Auch wenn bildende Kunst, Musik, Theater u. a. von den realen Orten geprägt sind, an denen sie stattfinden – also Ateliers, Galerien, Museen, Konzertsälen, Clubs, Stadttheatern, Off-Spaces etc. –, sind diese Orte doch selbst bestimmt von diskursiven Programmen, von Normen der Produktion, Präsentation und Rezeption. Die gern gepflegten Debatten um die architektonischen Qualitäten unterschiedlicher Museumsräume und Konzertsäle haben vor allem interne Bedeutung und relativieren sich deutlich, wenn man eine etwas distanziertere Perspektive einnimmt. Überdies setzen sich die jeweiligen Normen auch jenseits der Orte durch, die explizit auf sie ausgerichtet sind, und ein Konzert oder eine Ausstellung in einer Industrieruine sind immer noch ein Konzert und eine Ausstellung. Systemtheoretisch ist das nicht weiter überraschend – „im“ Kunstsystem aufzutauchen bedeutet hier schließlich nicht, an einem konkreten Ort stattzufinden, sondern einer bestimmten Unterscheidungsordnung anzugehören. Dass dabei die tatsächlichen Orte eine mitkonstitutive Rolle spielen, darf dabei allerdings ebenso wenig in den Hintergrund geraten.

Zuletzt ist Ort auch im geographischen Sinne zu verstehen, vom Unterschied zwischen dem Provinz- und dem Hauptstadttheater über regionale und auf Nationalstaaten bezogene bis zu kontinentalen Differenzen. Diese Differenzen spielen auch in der globalisierten Welt der bildenden Kunst eine Rolle, von anderen, deutlich stärker regional differenzierten künstlerischen Disziplinen wie dem Theater zu schweigen. Die gegenwärtige Diskussion um Dekolonialität und Postkoloniales, die keine theoretische Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen künstlerischen Produktion ignorieren kann, ist wesentlich von einem relationalen Verständnis von Orten geprägt, bei der sich geographische mit diskursiven Bestimmungen überlagern.Footnote 1

Es ist offensichtlich, dass die verschiedenen Bedeutungen des Ortsbegriffs zuerst einmal unterschieden werden müssen, sie aber gleichzeitig nicht voneinander getrennt werden sollten. Die künstlerische Arbeit, die sich im Zugriff auf und den Umgang mit einem bestimmten Material verortet, situiert sich damit auch dann innerhalb eines institutionellen und diskursiven Kontexts, wenn sie im schlecht geheizten Arbeitszimmer der sich gerade so über Wasser haltenden freischaffenden Komponistin stattfindet. Präsentiert wird sie an dafür gemachten Orten, auf die noch jeder ad hoc geschaffene Aufführungs- oder Ausstellungsort bezogen bleibt. Und sie findet an einem geographischen Ort statt und wird von dessen kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Voraussetzungen geprägt. In allen diesen Dimensionen ist Ort ein Begriff, der auf Produktion, Rezeption und Interpretation gleichermaßen anwendbar ist.

Außerdem ist er eine relationale Bestimmung: Orte stehen im Kontext anderer Orte, auf die sie bezogen sind, von denen sie sich abgrenzen, in denen sie einbegriffen sind oder die sie selbst umschließen. Orte sind niemals beliebige Stellen in einem neutralen Raum, sondern stets in sich bestimmt. Daraus ergibt sich ein Bild einer „simultaneous multiplicity of spaces: cross-cutting, intersecting, aligning with one another, or existing in relations of paradox or antagonism“.Footnote 2 Diese relationalen, ineinander verschränkten Räume und Orte sind nichts schlicht Gegebenes, sondern werden produziert und perpetuiert; ihre Bestimmtheit ist nicht statisch, sondern veränderbar und umkämpft. Die im vorigen Kapitel erwähnten Praktiken, die sich explizit außerhalb des Kunstsystem zu situieren versuchen, arbeiten genauer betrachtet mit an der Bestimmung dieser Orte der Kunst und ihres Außen, subvertieren und verschieben sie, ohne sich aber ganz von ihnen verabschieden zu können.

Wie Arjun Appadurai festhält, haben nicht nur moderne Institutionen, sondern jede Form lokaler Bestimmtheit dieses Charakteristikum des Gemachten. Örtlichkeit ist etwas, das durch physische Eingriffe, aber auch diskursiv und affektiv hergestellt werden muss, und zwar nicht erst unter den Bedingungen der Moderne und der Globalisierung. „Locality“ in diesem Sinne muss „as primarily relational and contextual rather than as scalar or spatial“Footnote 3 verstanden werden. Von hier aus muss auch der ethnologische Begriff des „lokalen Wissens“ neu gedacht werden, und die ethnographische Beobachtung und Beschreibung erscheint selbst als Agent im Prozess von Lokalisierung und Delokalisierung, statt mit stabilen autochthonen Orten konfrontiert zu sein. Eine Situation, „in which the power relations that affect the production of locality are fundamentally translocal“,Footnote 4 ist von hier aus als Verschiebung der Produktionsbedingungen von Örtlichkeit zu verstehen, von der wir gerade in unserem Kontext ausgehen müssen.

Neben der ethnologischen Theorie kann sich die Einbeziehung eines reichen Begriffs von Ort in die Auseinandersetzung mit der künstlerischen Produktion der Gegenwart auch auf kritische Ansätze in der Geographie, etwa auf die zitierte Doreen Massey und auf David Harvey, auf den ich noch kommen werde, und auf die Reflexionen der „ortsspezifischen“ Kunst (site-specific art) beziehen. Ob man nun die Rede von einem „spatial turn“ in den Kultur- und Sozialwissenschaften plausibel findet oder der turns müde ist, hinter die Erkenntnis, dass Räume und Orte als kulturell und gesellschaftlich produziert und mehrdimensional begriffen werden müssen, sollte man nicht zurückfallen. Wenn entsprechend festgehalten wird, dass „where things happen is critical to knowing how and why they happen“,Footnote 5 so muss dieses Wo in allen genannten Dimensionen verstanden werden.

In der ortsspezifischen Kunst war der Ausgangspunkt der Bezug auf den konkreten architektonisch und landschaftlich bestimmten Ort, bei dem allerdings nicht stehen geblieben werden kann, wenn die Sache nicht sentimentale Züge annehmen soll – vor allem die Musik ist für so etwas bis heute anfällig.Footnote 6 Die Fragen, was an einem Ort spezifisch ist, auf welcher Ebene nach dieser Spezifik zu suchen ist und inwiefern sie relevant, interessant und aussagekräftig ist und sich nicht doch als generisch, trivial und ersetzbar herausstellt, sind damit nicht beantwortet. Dem folgend hat die ortsspezifische Kunst eine Entwicklung vollzogen, die in Richtung immer stärkerer Diskursivierung ging und die Miwon Kwon folgendermaßen zusammenfasst: „the distinguishing characteristic of today’s site-oriented art is the way in which both the art work’s relationship to the actuality of a location (as site) and the social conditions of the institutional frame (as site) are subordinate to a discursively determined site that is delineated as a field of knowledge, intellectual exchange, or cultural debate.“Footnote 7

So sehr diese Zunahme an Reflexivität der tatsächlichen Situation angemessen ist, es verbindet sich mit ihr auch eine Gefahr: Die Fokussierung auf diskursive Orte kann dazu führen, dass die anderen beiden Ebenen allzu sehr in den Hintergrund rücken, so dass etwa konkrete gesellschaftliche Bedingungen wie Arbeitsverhältnisse, finanzielle und politische Abhängigkeiten, Rezeptionsnormen und Disziplinierungsformen oder auch tatsächliche architektonische und geographische Rahmenbedingungen aus dem Blick geraten. Die künstlerische Praxis hat hier insofern auch für die theoretische Auseinandersetzung Entscheidendes geleistet, als sie ein naives Verständnis von Lokalität unmöglich gemacht und auf die verschiedenen Ebenen hingewiesen hat, auf denen von Verortung gesprochen werden kann. Die Theorie kann es sich nicht leisten, irgendeine dieser Ebenen zu vernachlässigen; ihre Aufgabe besteht darin, ihr Zusammenwirken jeweils konkret zu untersuchen und zu beschreiben.

Auch hier kann sie zu einem gewissen Grad der künstlerischen Praxis folgen, nämlich dem, was James Meyer ausgehend von Robert Smithson und anderen als „functional site“ beschrieben hat, womit „a mapping of institutional and textual filiations and the bodies that move between them“ bzw. „a locus of overlap of text, photographs and video recordings, physical places and things“Footnote 8 gemeint ist. Die jeweilige spezifische Konstellierung wird von der einzelnen Arbeit hergestellt, folgt aber institutionellen Bezügen. Die prägnanteste, wenn auch noch weniger komplexe Formulierung hat dies in Smithsons Unterscheidung von Site und Nonsite gefunden: Site als offener, zwar konkreter, aber in seiner Beliebigkeit letztlich unbestimmter Ort, Nonsite als geschlossener, bestimmter, zentrierter, abstrakter Ort, für den als allererstes der Galerieraum steht.Footnote 9 Nonsites stehen nie für sich allein, auch wenn der Bezug nicht immer so direkt ist wie in Arbeiten von Smithson selbst, wo Material von anderen Orten in den Galerieraum transportiert wird und hier als dekontextualisierte Repräsentation jener Orte fungiert. Die Relationalität von Räumen der Kunst, die nie isoliert zu betrachten sind, deren Bezug zu ihrem Außen aber nur über die Form prekärer Transformationen stattfinden kann, wird hier konzeptuell auf den Punkt gebracht.

Dass mit der relationalen Kategorie des Ortes in einer Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Kunstproduktion etwas zu holen ist, setzt eine Heterogenität von Orten voraus, die nicht einfach auf den Nenner der Differenz zu bringen ist. Im vorigen Kapitel wurde gezeigt, dass das Wo im Hinblick auf Material einen Unterschied macht; die im zweiten Kapitel problematisierte Kategorie der Künste kann ebenfalls als Konstellation heterogener Orte neubestimmt werden. Und noch mehr: Wie Shannon Jackson bemerkt, ist die bildende Kunst durchaus nicht die einzige, die ihre eigene Lokalisierung reflektiert hat; auf ganz andere Weise ist dies auch im Theater geschehen. Dabei ist aber die Bestimmung dessen, was Ort und was Lokalisierung jeweils heißt, durchaus verschieden, so dass wir von ortsspezifischen Ausprägungen dessen sprechen könnten, was jeweils ortsspezifisch heißt. Die Aufgabe muss dann eben so als „coming to terms different ways of locating location“Footnote 10 formuliert werden.

Im hier vorgeschlagenen Sinne ist Ort also ein lokalisiertes, aber relational zu betrachtendes Ensemble von Bedingungen, die sich mit jedem Ortswechsel ebenfalls verschieben, und die Betonung von Ort muss als Suchanweisung – ein Begriff Dirk Rustemeyers – im Hinblick auf die Situierung der Produktion, Präsentation, Rezeption und Interpretation in disziplinärer, diskursiver, architektonischer und geographischer Hinsicht verstanden werden. Man kann dieser Anweisung in sehr verschiedenen Körnungsgraden folgen, von der allgemeinen Feststellung, in welchem disziplinären Kontext eine bestimmte Arbeit überhaupt auftaucht, bis hin zu Detailuntersuchungen zu individuellen Präsentationsformen und Rezeptionssituationen. Dabei ist nicht unbedingt gesagt, dass die feinkörnigere Untersuchung die aufschlussreichere ist, denn aus der Nähe mögen die institutionellen Rahmenbedingungen gerade wieder aus dem Blick geraten. Manchmal ist die Rindenstruktur eines einzelnen Baums doch nicht so bedeutend wie die Tatsache, dass man sich im Wald befindet und nicht etwa auf dem freien Feld oder in der Großstadt.

Wenn Orte also in keinem der hier genannten Dimensionen bloße neutrale Container sind, an denen sich Kunstwerke ungehindert und optimal entfalten können, sind sie ebenso wenig als determinierende Faktoren zu verstehen. Künstlerische Arbeiten setzen sich mit ihren Situierungen auseinander, reflektieren sie, widersetzen sich ihnen und haben zumindest prinzipiell das Potential, sie zu transformieren und an ihrer Produktion mitzuarbeiten. In diesem Sinne schreiben Filipovic, van Hal und Øvstebø: „Instead, artworks, at their best, define the positions that can contribute to, as much as resolutely resist, the exhibition frames within which we place them. They can, quite simply, undo the very arguments or classificatory systems thought to contain them.“Footnote 11 Auch hier muss man allerdings vorsichtig sein, nicht in eine romantische Emphase auf die Möglichkeiten der einzelnen künstlerischen Arbeit zu verfallen und so das Beharrungs- und Durchsetzungsvermögen von Institutionen zu unterschätzen. Trotzdem könnte man sagen, dass künstlerische Arbeit an einem Ort immer im doppelten Sinne zu verstehen ist: als Situiertheit und Gestaltung dieses Ortes.

2 Netzwerk und Dispositiv

Es ist naheliegend, an dieser Stelle andere etablierte begriffliche Vorschläge ins Spiel zu bringen, die einen klareren theoretischen und methodischen Fokus haben als das sehr offene Motiv des Orts. Auf die Systemtheorie bin ich bereits im ersten Kapitel eingegangen. Sie verlangt am deutlichsten eine take it or leave it-Haltung: So produktiv sie als Instrument der differenzierten Beobachtung sozialer Zusammenhänge ist, schwierig ist es, sich ihrer Motive zu bedienen, ohne Grundfestlegungen wie die der operativen Schließung und der Codierung zu übernehmen. Die Kunst der Gesellschaft ist hier interessanterweise vergleichsweise offen, gerade weil die Theorie mit dem Bereich der Kunst bei weitem nicht so gut zurechtkommt wie mit Politik oder Recht. Luhmanns Insistenz auf der Einheit des Kunstsystems aber, gegenüber der die sehr verschiedenen Institutionen aus dem Blick geraten, blendet einen wesentlichen Teil dessen ab, worum es mir geht.

Näher am hier Vorgeschlagenen sind der Netzwerkbegriff der Actor Network Theory und Foucaults Begriff des Dispositivs; warum ich sie zwar produktiv finde, aus welchen Gründen ich sie hier aber nicht verwenden möchte, sei im Folgenden kurz ausgeführt. – Bruno Latour hat sich mit dem Begriff des Netzwerks Offenheit und Flexibilität der Methode programmatisch auf die Fahnen geschrieben: Was womit auf welche Weise verbunden ist und interagiert, auch welche Art von Entitäten überhaupt an diesem Netzwerk beteiligt sein können, soll nicht vorweg theoretisch entschieden werden, sondern dem konkreten „Nachzeichnen von Assoziationen“Footnote 12 überlassen bleiben. Die materielle Seite von Institutionen kann dabei ebenso Berücksichtigung finden wie die ineinandergreifenden Handlungen, in die materielle Aktanten einbezogen sind und die sie vermitteln. Handeln ist in diesem Sinne immer schon einbezogen in solche Netzwerke, in denen es seinen Sinn hat und die es stabilisieren.

Stellt man an diese Rekonstruktionen die Frage nach dem Ort, so erweisen sich die komplementären Vorstellungen der rein lokalen Interaktion und der globalen Struktur als ungeeignete Abstraktionen. Stattdessen hält Latour fest: „In den meisten Situationen sind Handlungen bereits von Anfang an der Interferenz von heterogenen Entitäten unterworfen, die nicht dieselbe lokale Präsenz haben, nicht aus derselben Zeit stammen, nicht gleichzeitig sichtbar sind und nicht gleich viel Druck ausüben.“Footnote 13 Man könnte dies so formulieren: Orte sind niemals nur lokal. Sie sind durchzogen von Vermittlungen, die sie mit anderen Orten und Zeiten verbinden. Das ist genau die Position, die hier vertreten werden soll.

Das Problem ist dabei allerdings gerade das, was Latour als die große Stärke seiner Theorie versteht und was in der Tat genaue Rekonstruktionen der tatsächlich wirksamen Verbindungen von Akteuren ganz verschiedener Register erlaubt: die Insistenz darauf, die Ontologie flach zu halten, also keine „größeren“ oder „grundlegenden“ Entitäten anzunehmen und auch keine überregional wirkenden Prinzipien oder Strukturen. In seiner Perspektive sind derlei Annahmen vorschnelle, beinahe mythische Schlüsse, die einer genaueren Untersuchung im Wege stehen. Letztlich trifft dieses Urteil auch vieles, was als Institution angesprochen werden könnte oder müsste.

Nun ist es richtig, dass etwa die Feststellung eines „strukturellen“ Problems nicht davon dispensiert, sich die jeweiligen konkreten lokalen Zusammenhänge genau anzusehen. Mindestens genauso problematisch ist es aber, wenn die Aufmerksamkeit auf die Vielfalt dieser Zusammenhänge das alles durchdringende Problem verdeckt (wobei ebenso klar expliziert werden muss, wie genau dieses Strukturelle wirkt, wenn es nicht tatsächlich zu einer quasi-mythischen Erklärung werden soll). So ist es zum Beispiel wahr, dass es eine „Erstarrung, die der Begriff des Kapitalismus erzeugt“,Footnote 14 gibt, wenn er so verwendet wird, als sei damit bereits alles erklärt. Ohne ein Verständnis davon aber, dass die Aneignung des Mehrwerts und der Verwertungsimperativ über die verschiedensten lokalen Verhältnisse hinweg wirken, kann die mit diesem Begriff trotz allem treffend benannte Wirtschafts- und Gesellschaftsform nicht begriffen werden. Latour selbst spricht in seinem Terrestrischen Manifest, das sich globalen Zusammenhängen zuwendet, en passant von „Kräfte[n] des Kapitals“,Footnote 15 ohne darauf weiter einzugehen – was er von seinen Voraussetzungen her auch nicht kann, denn „Kapital“ ist für die ANT keine sinnvolle Kategorie.

David Harvey, der für eben solche Differenzierungen in der Analyse des Kapitalismus plädiert, macht diese wesentlich an der Geographie fest, also an Unterschieden des Ortes. Ort wird auch hier nicht verstanden als naturhafte Gegebenheit, sondern als geprägt von einer Dialektik von Vorgefundenem und Produziertem, innerhalb derer die beiden nicht voneinander trennbar sind.Footnote 16 Was er so beschreibt, sind die Bedingungen der „Produktion von Lokalität“ in Appadurais Sinne, durch die sich ein globales Wirtschaftssystem über lokale Differenzen reproduziert. Ohne solche Perspektiven der Analyse wird auch eine angemessene Untersuchung künstlerischer Produktion und Rezeption im globalen Maßstab nicht möglich sein.

Was die Netzwerke der ANT mit Foucaults Dispositiven gemeinsam haben, ist, dass sie Ordnungen theoretisch beschreibbar machen, die sich nicht auf einen einzigen Typ Element beschränken, sondern gerade in der Interaktion sehr verschiedener Entitäten und Relationen bestehen. Spätestens seit Überwachen und Strafen, wo der Begriff Dispositiv selbst noch nicht auftaucht, hat Foucault über Diskurse hinaus auch architektonische Verhältnisse und materielle Interaktionen mit in den Blick genommen. Kurze Zeit später beschreibt er ein Dispositiv an einer vielzitierten Stelle als Netz, das zwischen „eine[r] entschieden heterogene[n] Gesamtheit, bestehend aus Diskursen, Institutionen, architektonischen Einrichtungen, reglementierenden Entscheidungen, Gesetzen, administrativen Maßnahmen, wissenschaftlichen Aussagen, philosophischen, moralischen und philanthropischen Lehrsätzen“,Footnote 17 geknüpft ist; heute müsste man sicher noch Kommunikationstechnologien und Datenströme hinzufügen.

Auch wenn immer wieder von „dem“ Sexualitäts- oder Wahrheitsdispositiv die Rede ist, ist dieser Typ Analyse tendenziell von den Großformationen der Episteme abgerücktFootnote 18 und untersucht Typen von Ordnungen, die weder vollkommen spezifisch noch gänzlich allgemein sind, die sich bilden, verschieben und auflösen, die aber immer multiple Realisierungen haben. Für Foucault selbst liegt der Unterschied zwischen Dispositiv und Episteme dabei weniger im Umfang oder in der Reichweite als in der Heterogenität der einbezogenen Elemente. In jedem Fall entbindet der Ansatz bei Dispositiven nicht von der Untersuchung lokaler Netzwerke und Bedingungen, kann sie aber als Varianten allgemeinerer Ordnungen verstehen und analysieren.

Der Dispositivbegriff ist seitdem auch im Bereich der Kunst vielfach mobilisiert worden, es wurde vom Ausstellungsdispositiv, vom Konzertdispositiv, vom ästhetischen Dispositiv etc. gesprochen.Footnote 19 Bereits diese kurze Aufzählung macht deutlich, dass der Begriff auf Formationen sehr unterschiedlicher Reichweite angewandt worden ist. Die Frage, auf welcher Ebene er jeweils anzusiedeln ist, kann nicht in abstracto beantwortet werden; positiv formuliert hat dies immer mit dem jeweiligen Vergleichsgesichtspunkt zu tun, skeptisch könnte man sagen, dass sich damit eine gewisse Willkür verbindet. Im Prinzip muss die jeweilige Untersuchung selbst erweisen, wie sinnvoll es ist, etwas als „ein“ Dispositiv zu beschreiben, aber die Versuchung, den Begriff selbst schon als Vorgriff auf eine fertige Analyse zu nehmen, ist offenbar groß. Der Dispositivbegriff ist für unsere Zwecke in gewisser Weise zu weit und zu eng zugleich: zu weit, weil er sich quasi beliebig skalieren lässt und schlimmstenfalls nur noch dünne Allgemeinheiten übriglässt, zu eng, weil er die geographische und geopolitische Dimension außen vor lässt. Dispositiv ist ein Begriff der Ordnung, nicht des Ortes, der an bestimmten Stellen produktiv eingesetzt werden, aber den Ortsbegriff nicht ersetzen kann.Footnote 20

Dennoch muss auch dieser weiter angereichert werden, um ein produktives Analyseinstrument zu werden. Dies soll mit den Begriffen des Rahmens und der Institution geschehen, die ich weniger als alternative Begriffsangebote denn als Möglichkeiten verstehe, das Motiv selbst weiter zu entfalten.

3 Rahmen

Gregory Bateson, auf dessen Theorie des Rahmens und ihre Weiterentwicklung durch Erving Goffmann wir uns hier vor allem berufen können, versteht Rahmen als eine primär psychologische Kategorie, die aber auf die Funktion des materiellen Gegenstandes zurückbezogen werden kann, von dem sie abgeleitet wurde: „Der Bilderrahmen sagt dem Betrachter, daß er bei der Interpretation des Bildes nicht dieselbe Art des Denkens anwenden soll, die er bei der Interpretation der Tapete außerhalb des Rahmens einsetzen könnte.“Footnote 21 In diesem Sinne sind Rahmungen Interpretationsanweisungen, die darauf hinweisen, in welchem Sinne oder als was etwas betrachtet und verstanden werden soll.

Während der Bilderrahmen bereits eine besondere, vom Alltag abgehobene Ordnung markiert, geht Goffman davon aus, dass Rahmungen jegliche Situation strukturieren, denn „I assume that when individuals attend to any current situation, they face the question ‚What is it that’s going on here?‘“Footnote 22 Das soll nicht so verstanden werden, als würde jede Situation in jedem Fall für jeden von uns zum tatsächlichen Problem – die Selbstverständlichkeit, mit der wir uns normalerweise durch den Alltag bewegen, widerspricht dem auf offensichtliche Weise. Es macht aber einen Unterschied, ob man von einer Welt ausgeht, in der alles vorweg geklärt ist und nur in Ausnahmefällen problematisch und damit thematisch wird, oder von einer Lage, in der zwar etablierte Rahmungen die Frage nach der Einordnung des Geschehens oft bereits beantwortet haben, ehe wir sie explizit stellen können, diese Einordnung aber nie endgültig ist und jederzeit prekär werden kann. Dabei bleiben Rahmen in der Regel implizit, und ihre ausdrückliche Thematisierung hat einen Effekt von „alienation, irony, and distance“.Footnote 23

Interessanter für unseren Kontext sind die Fälle, in denen eine solche Brechung vorausgesetzt wird und auf die auch Bateson sich primär bezieht. Sein Ausgangspunkt ist dabei die Beobachtung des Spiels einiger Primaten im Zoo. Spiel und echter Kampf müssen dabei, so Bateson, „sowohl gleichgesetzt als auch unterschieden“Footnote 24 werden. Geleistet werden kann dies nur, wenn es eine metakommunikative Ebene gibt, auf der die Handlungen solcherart markiert werden können – eine Ebene allerdings, die in Abwesenheit jeglicher materieller oder institutioneller Stütze und auch der Möglichkeit einer expliziten sprachlichen Deklaration im Impliziten verbleibt. Mit dieser impliziten Metakommunikation wird um das Spiel als Ganzes und jede einzelne Handlung ein Rahmen gesetzt, der zwar offenbar recht stabil ist, aber trotzdem jederzeit zusammenbrechen und das Spiel zum bitteren Ernst werden lassen kann.

Gegenüber den Rahmungen, die in Bezug auf Alltagssituationen ins Spiel kommen, ist dieser Rahmen eine höherstufige Markierung. Entsprechend unterscheidet Goffman zwischen „primary frameworks […] rendering what would otherwise be a meaningless aspect of the scene into something that is meaningful“,Footnote 25 und „keys“ und „keyings“, die auf diese primären Rahmen aufbauen und sie transformieren.Footnote 26 Auch Batesons Spielsituation ist auf diese primären Rahmungen („Dies ist ein Kampf“ oder „Dies ist eine freundschaftliche Interaktion“) angewiesen und transformiert sie. Sie entspricht Goffmans „Modulation“, die er auf alle Formen eines „uneigentlichen“ Verständnisses bezieht. Verfremdung, Ironie und Distanz, die bei der Thematisierung primärer Rahmen deplatziert wirken, sind hier Charakteristika der Sache selbst. Mehr noch als die in der Regel harmlosen Unsicherheiten sind es diese Um-Rahmungen, die in Richtung einer Thematisierung des Rahmens führen. Man könnte sie als Rahmungen im starken Sinne bezeichnen. Auf diese Weise festzulegen, als was etwas gilt oder noch stärker: was etwas ist, ist nicht primär eine psychologische, sondern eine gesellschaftliche Tatsache, die Auffassungsweisen normativ festlegt – was nicht heißt, dass es nicht auch hier noch zu Irritationen und Dissonanzen kommen könnte.Footnote 27

Es ist kein Zufall, dass Bateson auf den tatsächlichen Bilderrahmen nur am Rande verweist und ihn als Gedächtnisstütze oder Orientierungshilfe, also letztlich als bloße Verdopplung der psychischen und kommunikativen Unterscheidung versteht. Er hat insofern recht, als die materielle Vorrichtung nicht einfach mit der Unterscheidung identifiziert werden kann, sondern selbst des erfolgreichen kommunikativen Anschlusses bedarf und insofern nichts grundsätzlich anderes vollzieht als die implizite Rahmung. Auf der anderen Seite kann er als Platzhalter für gesellschaftlich instituierte Strukturen gelten, die sehr unterschiedliche Grade der Explizitheit, Fixiertheit und materieller Stützung aufweisen, die aber in menschlichen Kommunikationssituationen berücksichtigt werden müssen. Das Spiel der Affen bildet demgegenüber eine Art Nullsituation der Institutionalisierung, die daran erinnert, dass die Grundunterscheidung nicht unbedingt auf materielle Anordnungen angewiesen ist, und dass deren bloßes Vorhandensein allein auch nicht ausreicht, sondern sie situativ aktualisiert – ins Spiel gebracht – werden müssen.

Je stärker die materielle Realisierung allerdings wird, desto deutlich ist die Frage, was etwas ist, mit derjenigen verkoppelt, wo etwas ist, ohne dass sie je vollständig mit dem Verweis auf einen geographischen Ort beantwortet werden könnte. Wenn die Primaten „im Spiel“ sind, sind sie innerhalb eines Verständnisrahmens, dessen realer Ort keine Rolle spielt; wenn sich ein Bild in einem Rahmen befindet und beide in einem Museum, fallen sie zusammen. In dem Moment, in dem man das Museum betritt, betritt man eine bestimmte Ordnung, die Auffassungsweisen, Publikumsrollen und Interaktionsformen gleichermaßen festlegt.Footnote 28 Tritt die Kunst auf der anderen Seite aus dem Museum heraus in die Öffentlichkeit, kann ihr institutionalisierter Rahmen übertragen und von Betrachter*innen situativ aktiviert werden. Die Doppelbelichtungen zwischen sozialer und künstlerischer Praxis, von denen im vorigen Kapitel die Rede war, können in diesem Sinne als doppelte Rahmungen verstanden werden, mit denen Unterscheidungen wie die zwischen Kampf und Spiel problematisch werden, indem sie zu oszillieren beginnen, Interferenzen und Dissonanzen produzieren, möglicherweise ganz zusammenbrechen und erst ex post, etwa in der Dokumentation, partiell wiederhergestellt werden können.

Es ist offensichtlich, dass die Begriffe Rahmen und Institution und das Motiv des Orts gerade in unserem Kontext eng verwandt sind. Die spätere ortsspezifische Kunst in der von Kwon skizzierten, nicht naiv-buchstäblichen Bedeutung geht in Institutionenkritik über, wobei diese Institutionen vielfach als Rahmungen beschrieben werden. Beispielhaft sind hier Daniel Burens Texte über Museum, Atelier und Ausstellung aus den frühen 1970er-Jahren, denen sich das sechste Kapitel noch einmal ausführlicher zuwenden wird. Im programmatischen Text „Grenzen/Kritik“ heißt es in diesem Sinne: „Wenn man das Museum/die Galerie nicht mit in Betracht zieht oder für natürlich/selbstverständlich hält, werden sie zum mythischen/deformierenden Rahmen für alles, was sich dort einschreibt.“Footnote 29 Buren beschreibt eine Staffelung von Rahmen von den materiellen Vorrichtungen, die ein Bild möglich machen (Keilrahmen und Rückseite), über die Leinwand als seinen Träger, die Institution des Museums oder der Galerie bis zu den kulturellen Diskursrahmen, in dem sich all dies situiert. Man könnte diese verschiedenen Ebenen als Medien und ihre Materialität, als Institutionen und Diskurse unterscheiden; die gemeinsame Charakterisierung all dieser Dimensionen als Rahmen hebt darauf ab, dass sie alle gleichermaßen die Kunst ermöglichen und (mit)prägen und sich dabei in die Unsichtbarkeit zurückziehen bzw. ihre eigene Rolle herunterspielen. Dabei wird der Fokus ganz im Sinne von Bateson und Goffman darauf gelegt, wie sie die Auffassung und das Verständnis des von ihnen Gerahmten prägen, während ihre geographische oder geopolitische Verortung und ihr inneres Funktionieren in den Hintergrund gerät; insofern passt der Begriff des Rahmens gut zum Fokus auf ästhetische Erfahrung. Um die innere Organisation solcher Rahmungen in den Blick zu bekommen und uns auch wieder stärker der Seite der Produktion zuzuwenden, müssen wir eher auf den Begriff der Institution zurückgreifen.

4 Institution

Anders als im Falle des Rahmens haben wir es hier mit einem der Grundbegriffe soziologischer Theorie seit ihren Anfängen bei Durkheim und Weber und mit entsprechend vielen theoretisch ausgearbeiteten Varianten zu tun.Footnote 30 Durkheims Bestimmung der „sozialen Tatbestände“ (faits sociaux) ist gleichzeitig eine der Institutionen; er spricht davon, dass „sie außerhalb des individuellen Bewußtseins existieren“ und „mit einer gebieterischen Macht ausgestattet [sind], kraft deren sie sich einem jeden aufdrängen, er mag wollen oder nicht“.Footnote 31 Die Assoziation von Institutionen mit Zwangsanstalten, die sich hier unweigerlich einstellt, führt allerdings nicht unbedingt weiter. Maurice Hauriou stellt denn auch die andere Seite an den Anfang, nämlich ihre Stabilität: „Die Institutionen bilden im Recht wie in der Geschichte die Kategorie der Dauer, der Beständigkeit und des Wirklichen […].“Footnote 32 Dass es gerade im Kontext der Kunst kaum möglich ist, sich Institutionen neutral, nüchtern analysierend zuzuwenden, lässt sich von diesen beiden Positionen aus gut nachvollziehen – das Wort selbst scheint die Ergänzung der Kritik wie von allein anzuziehen und umgekehrt zur Verteidigung der Beständigkeit aufzurufen.

Es wäre aber voreilig, Institutionen in erster Linie mit Herrschaft und Starrheit zu assoziieren und damit von vornherein im Hinblick auf ihre Kritik zu denken, auch wenn David Roesners Beobachtung zufolge die Trennung der verschiedenen künstlerischen Disziplinen heute vor allem auf der institutionellen Ebene wirkungsvoll ist. Er nennt als Beispiele „theatres, conservatories and drama schools, college and university departments, newspaper, radio and internet critics and ticket subscription schemes (like the popular abonnements in German, French or Swiss theatre, which usually are specifically for theatre, ballet/dance or opera performances)“.Footnote 33 Diese institutionellen Kontexte sind so produktiv wie restriktiv, und künstlerische Arbeit kann versuchen, sie zu verändern oder sich ihnen schlicht zu fügen, andere Institutionen zu etablieren oder ihren eigenen Ort zu wechseln, aber sie kann sich ihnen nicht vollständig entziehen. Insofern erscheint eine Formulierung wie die folgende als idealistisches Missverständnis: „Ist nicht am Ende der einzige Standpunkt, von dem es sich wirklich zu denken lohnt, die utopische Perspektive, dass nur die Zukunft eine wirklich gute Zukunft wäre, in der alle Institutionen überflüssig geworden sein würden?“Footnote 34 Man kann die Verhärtung mancher Institutionen beklagen, die Rigidität ihrer Grenzziehungen, und insgesamt auf Flexibilität und Verflüssigung setzen. Eine Zukunft ganz ohne Institutionen aber ist keine Utopie, sondern eine Unmöglichkeit, und sie würde die künstlerische Produktion nicht befreien, sondern beenden.

Als Ansatzpunkt sollen daher erst einmal Theorien dienen, die sie als Modi der Stabilisierung menschlichen Handelns verstehen, also sehr grundsätzlich ansetzen. Von hier aus hat die Vorstellung, eine Beschreibungsebene des Handelns auszumachen, die von ihnen unabhängig wäre, ebenso wenig Sinn wie der Versuch, sich vollständig außerhalb ihrer zu stellen. Eine solche Theorie hat etwa Arnold Gehlen formuliert, der vor allem als konservativer Verteidiger institutioneller Stabilität gegen kritische Anfechtungen jeglicher Art wahrgenommen wird – der er zweifellos war. Dennoch sind seine Ausführungen auch dort aufschlussreich, wo sie problematisch werden. Gehlen beschreibt Institutionen als Voraussetzung für gesellschaftliches, kulturelles menschliches Dasein, also: für menschliches Dasein als solches. Auf einer basalen Ebene sind Institutionen für ihn „Systeme[.] stereotypisierter und stabilisierter Gewohnheiten“.Footnote 35 Solche überindividuellen Gewohnheiten sind vereinseitigend und vereindeutigend, sie schränken Möglichkeiten ein, sind aber gleichzeitig nötig, damit menschliches Handeln einen „Außenhalt“ bekommt, dessen es aufgrund des Ausfalls der Instinktsteuerung bedarf. Die entscheidenden Stichworte sind auch hier Stabilität und Kontinuität, die auf die individuelle und die gesellschaftliche Ebene gleichermaßen anwendbar sind, weil sich beide gegenseitig bedingen. Aus einer denkbar weit von Gehlen entfernten Perspektive, die auf radikale Veränderung zielt, hat Paolo Virno dennoch ganz ähnlich festgehalten: „Institutions constitute the way in which our species protects itself from uncertainty and with which it creates rules to protect its own praxis.“Footnote 36

Korrelativ zu Goffmans Rahmen, die klären, was jeweils eigentlich vorgeht, beantworten Institutionen die Frage, was jeweils zu tun ist, und vor allem, wie es zu tun ist. Ihre normative Seite, Durkheims „gebieterische Kraft“, fasst Gehlen schwächer als „Sollsuggestion“,Footnote 37 nach der richtiges und falsches Verhalten unterschieden werden können. Träger dieser Suggestion sind immer auch materielle Einrichtungen, Werkzeuge, Architekturen etc., denn: „Es gibt eben keine unsinnlichen, abstrakten Institutionen, das gegenseitige Verhalten wird, sofern es sich auf Dauer einspielen muß, durchaus über Außenstabilisatoren gelenkt.“Footnote 38 Genau in Bezug auf diese materiellen Außenstabilisatoren verwendet interessanterweise auch Bruno Latour den Begriff des Rahmens, dem er ansonsten sehr skeptisch gegenübersteht, und grenzt so Batesons Situation der Primaten kategorial von derjenigen menschlicher Gesellschaften ab: Im Unterschied zu den Primaten, die ihre soziale Ordnung jederzeit handelnd aufrechterhalten oder herstellen müssen, weil sie über „[k]eine Markierungen, keine Kleider, keine klaren Zeichen“Footnote 39 verfügen, schaffen wir mit eben diesen Mitteln Entlastung, Klarheit und Einschränkung zugleich.

Das Handeln der Einzelnen wird von den so markierten Institutionen durch und durch geprägt. Gehlen geht so weit, von „Institutionen, unter die wir subsumiert sind“,Footnote 40 zu sprechen, so dass auch Ideen, Triebe, Bedürfnisse und Motive nicht unabhängig von ihnen zu denken wären. Die Tendenz von Institutionen, sich zu verselbständigen, ist dann kein bedauerlicher Makel, sondern konstitutiv: In dem Moment, wo sie sich von ursprünglichen Zwecksetzungen emanzipieren, die von ihnen geprägten Handlungen zum Selbstzweck werden und eigene Qualitätskriterien ausbilden, ist so etwas wie Kunst überhaupt erst denkbar. Das Gleiche gilt für die Wissenschaft: Ohne die von Ludwik Fleck beschriebenen „Denkkollektive“Footnote 41 mit ihren spezifischen Weisen des Beobachtens und Handelns gäbe es schlicht keine wissenschaftlichen Tatsachen, genauso wie es ohne die Formkollektive der verschiedenen künstlerischen Felder keine künstlerische Produktion gäbe.

Während Gehlen so ausschließlich auf die produktive und stabilisierende Kraft von Institutionen fokussiert, wird diese bei Mary Douglas, die sich wesentlich auf Fleck bezieht, immer auch auf ihre andere Seite bezogen, die Gehlen weitgehend unterschlägt: Die Ermöglichung von Identifikation, Klassifikation und Erinnerung impliziert Vergessen und Ausschluss im inhaltlichen wie im gesellschaftlichen Sinne. Als „legitimized social grouping“Footnote 42 stabilisieren Institutionen nicht nur menschliches Verhalten, sondern regeln auch, wer in ihnen agieren kann und an wen sie sich wenden. Sara Ahmeds Beschreibung von Institutionen als „kinship technologies“Footnote 43 weist auf diese ausschließende Funktion ganz unabhängig von den jeweiligen Inhalten hin. Wie auch immer jene Verwandtschaft definiert und formuliert werden mag: Wenn Kollektive die Träger jener Handlungs- und Beobachtungsnormen sind, sind sie notwendigerweise exklusiv. Ob zwischen den inhaltlichen und den sozialen Festlegungen ein Zusammenhang besteht, kann nicht im Vorhinein beantwortet werden; in manchen Fällen, etwa zwischen dem künstlerischen Autonomieparadigma und der Entwicklung der Institutionen bürgerlicher Selbstverständigung, liegt dies auf der Hand.

Unvermeidlich schließt sich hier die Frage an, wodurch sich institutionelle Festlegungen legitimieren. Douglas’ Beobachtung zufolge setzen solche Legitimationen in der Regel denkbar tief an: „A convention is institutionalized when, in reply to the question ‚Why do you do it like this?‘ although the first answer may be framed in terms of mutual convenience, in response to further questioning the final answer refers to the way the planets are fixed in the sky or the way that plants or humans or animals naturally behave.“Footnote 44 Für die Institutionen der modernen Gesellschaft, die sich etwas auf ihre Vernünftigkeit zugute halten und/oder längst ihre Kontingenz erkannt haben, ist es eine Zumutung, so beschrieben zu werden – man wird heute kaum noch eine explizite Berufung auf „Natürlichkeit“ finden, um die eigene Praxis zu legitimieren. Dennoch ist der Hinweis wichtig, wie tief bestimmte Grundunterscheidungen verankert sind und was es entsprechend bedeutet, sie zu kritisieren und zu verändern. Für die Kunst könnte man hier noch einmal an das Autonomieparadigma denken, das kritisiert, modifiziert, eingeschränkt und verworfen worden ist, aber weiterhin bei allen Debatten im Hintergrund steht; für das System der Künste gilt ähnliches.

Gehlen beschreibt die Dynamik von institutioneller Ordnung und Unordnung mit psychodynamischen Kategorien, die aber auf die Gesellschaft im Ganzen ausgeweitet werden. Die dominierende Metapher ist dabei die von dynamischen „Massen“, die von Institutionen gebändigt werden, bei ihrer Auflösung frei zu werden drohen und als umherschweifende Unheil verheißen: „Konfliktmassen“, „Affektmassen“, „Erfahrungsmassen“,Footnote 45 „Ereignismassen“, „Aggressionsmassen“, gar „Reflexionsmassen“.Footnote 46 Um der Tendenz zur Freisetzung dieser unkontrollierbaren Massen entgegenzuhalten, bleibt es dem Philosophen nur, die Bedeutung stabiler Institutionen zu betonen. Dass die „wohltätige“ oder „wohltuende Fraglosigkeit“,Footnote 47 für die sie sorgen, auch als einschränkend, oppressiv und diskriminierend erfahren werden kann, kommt von hier aus nicht in Betracht, so lange sie die wogenden Massen im Zaum halten. Man kann nicht anders, als diese Metaphorik auch auf die gesellschaftliche Ebene zu beziehen und damit auf potentiell revolutionäre Massen, die dann nicht nur eine politische Bedrohung sind, sondern anthropologische Grundfunktionen in Frage stellen. Mit der Infragestellung der gegebenen Institutionen drohen für Gehlen Zerfall und Chaos, gegen die fast jedes Mittel recht ist – in Institutionen „werden wenigstens die Menschen von ihren eigenen Schöpfungen verbrannt und konsumiert und nicht von der rohen Natur, wie Tiere“.Footnote 48

Douglas nimmt demgegenüber die entgegengesetzte Position ein: „For us, the hope of intellectual independence is to resist, and the necessary first step in resistance is to discover how the institutional grip is laid upon our mind.“Footnote 49 Das Pathos des Widerstands ist vertraut, auch und gerade aus dem Bereich der institutionenkritischen Kunst, überrascht aber von den Voraussetzungen her, die Douglas mit Fleck gemacht hat – schließlich wurden Denkkollektive nicht als behebbare Fesselung, sondern als Ermöglichungsbedingung wissenschaftlicher Erkenntnis beschrieben. Fährt man beides, die Drohrhetorik und das Widerstandspathos, ein wenig zurück, bleibt die Frage nach der Möglichkeit intellektueller und künstlerischer Unabhängigkeit bestehen. Dabei kann es nur um eine situierte Unabhängigkeit gehen, die institutionelle Spielräume auslotet und herausfordert, die Institution als solche umzubauen oder neue Institutionen aufzubauen versucht.

Institutionenkritik ist von hier aus dann produktiv, wenn sie von einem nicht naiven Verständnis von Institutionen ausgeht, wobei diese Naivität sehr verschiedene Formen annehmen kann. Rachel Mader sortiert die Positionen nach zwei grundsätzlich verschiedenen Haltungen, die sie mit den Standpunkten von Louis Althusser und Martin Warnke zusammenbringt: Während ersterem zufolge Institutionen Teile der „ideologischen Staatsapparate“ sind und insofern nur bekämpft werden können, beschreibt letzterer sie als „Ausgleichserzeugnisse“, als Ergebnisse gesellschaftlicher Auseinandersetzungen, die damit als prinzipiell beweglich begriffen werden müssen.Footnote 50 Althussers Position scheint mir dabei eine offensichtliche Verwandtschaft mit einer naiven und auch einer selbst offen ideologischen Auffassung zu haben: Den gesamten Kulturbereich als Teil einer weitgehend homogenen Maschinerie zu beschreiben, die im Dienste der herrschenden Klasse mit Ideologieproduktion und Indoktrination beschäftigt ist, ist die Kehrseite einer Haltung, die in Institutionen ausschließlich segensreiche Wirkungen erkennt oder sie der Befragbarkeit grundsätzlich entzieht. Sie lässt keine Lücken erkennen, keine Ansatzpunkte der Veränderung, keine Abstufungen und gerät in die Nähe eines Punktes, an dem Kritik in resignative Affirmation umschlägt.Footnote 51

Ein nicht-naives Verständnis müsste dort beginnen, wo ein schlichter Ausstieg wenn nicht als Unmöglichkeit, so doch als Scheinlösung erkannt wird. Entsprechend Andrea Fraser: „So if there is no outside for us, it is not because the institution is perfectly closed, or exists as an apparatus in a ‚totally administered society,‘ or has grown all-encompassing in size and scope. It is because the institution is inside of us, and we can’t get outside of ourselves.“Footnote 52 Frasers Punkt ist nicht das defätistische Eingeständnis, dass daran schlechthin nichts zu ändern ist, sondern die Erkenntnis, dass jede Arbeit an Institutionen immer auch eine Arbeit derjenigen, die unter sie „subsumiert“ sind, an sich selbst ist. Eine grundsätzliche Skepsis gegenüber Institutionen als solchen führt hier nicht weiter, ohne dass man Gehlens Optimismus bezüglich ihrer „wohltuenden“ Wirkung teilen muss. Jenseits der Institutionen liegt nicht die Freiheit, sondern andere Institutionen – die Frage ist nur, welche. Entsprechend ging es, wie Blake Stimson festhält, der künstlerischen Institutionenkritik zumeist darum, die Institutionen der Kunst mit ihrem eigenen Begriff, ihrem Versprechen auf Autonomie, Freiheit und Emanzipation zu konfrontieren und auf diese Weise nicht abzuschaffen, sondern zu erneuern.Footnote 53 Ganz in diesem Sinne ist auch der Anfang der 2000er-Jahre lancierte New Institutionalism zu verstehen, bei dem die Bewegung von Kurator*innen ausging und von den Institutionen gefordert wurde, sich zu flexibilisieren und mehr innere Heterogenität zuzulassen, indem sie von der Kunst selbst und den Künstler*innen lernen sollen.Footnote 54

Frasers Hinweis auf den internalisierten, habitualisierten Charakter von Institutionen weist noch einmal darauf hin, dass sie gleichzeitig auf der Ebene gesellschaftlicher Organisation und derjenigen individuellen Verhaltens fungieren und durch materielle Einrichtungen gestützt sind. Auf der grundlegenden Ebene umschreiben Institutionen Weisen, wie etwas zu tun ist, und deren Organisationsformen. Als solche sind sie immer geregelt und sanktioniert, wenn auch zu verschiedenen Graden. In diesem Sinne müssen die Strukturen der freien Musikszene ebenso sehr als Institutionen verstanden werden wie die Opernhäuser und Rundfunkorchester, auch wenn sie prekär und zerbrechlich sind. Nicht-institutionalisierte künstlerische Praktiken wären dann bestenfalls ein Grenzfall, der nicht zum Ideal künstlerischer Arbeit stilisiert werden sollte – auch wenn die Versuchung groß sein dürfte, einmal auf der Seite von Gehlens wogenden Massen zu stehen.

Bei all dem kann es keinen Zweifel geben, dass die Art der Institutionen, ihr Grad an Flexibilität und Offenheit, ihre Machtverhältnisse, Finanzierungsstruktur etc. einen gravierenden Unterschied machen, und genau dies ist der Grund, warum das Motiv des Ortes in der Auseinandersetzung mit der künstlerischen Praxis der Gegenwart eine zentrale Stelle einnehmen sollte. Die künstlerische und kuratorische Kritik lässt die Rolle der Institutionen besonders deutlich hervortreten, sie zeigt ihre prinzipielle Veränderbarkeit ebenso wie ihre Unentrinnbarkeit. Ebenfalls besonders aufschlussreich sind Fälle von Institutionenwechsel, wie sie das siebte Kapitel in den Blick nehmen wird, kontrastive Vergleiche etwa zwischen der Verankerung in staatlichen oder staatlich sanktionierten Institutionen, wie sie in Teilen der gegenwärtigen Theater- und Musiklandschaft gang und gäbe ist, und den Netzwerken, Plattformen und Projekten, in denen sich die freie Szene und zeitgenössische bildende Künstler bewegen, oder auch Felder, in denen Verortungen und Institutionen durchaus nicht klar waren, sondern diese Klarheit durch eine vereindeutigende und eindeutig verortende Arbeit sowohl der Protagonisten selbst als auch der späteren Geschichtsschreibung erst allmählich bzw. nachträglich hergestellt wurde.Footnote 55 Wo hier die künstlerische und persönliche Freiheit am größten ist, ist durchaus nicht immer klar auszumachen.

Orte als institutionell gestützte und geographisch bestimmte Rahmungen künstlerischer Praxis zu verstehen, formuliert eine Suchanweisung, die Situierung künstlerischer Arbeit in den verschiedenen Hinsichten und Ebenen in den Blick zu nehmen. Dabei hat der Ortsbegriff nur als relationaler einen Sinn, und durch diese Relationalität kann er umgekehrt die Begriffe des Rahmens und der Institution komplementieren. In der jeweiligen Situierung sind die Überlagerung und Kreuzung verschiedener Ordnungen, sind Übergänge und Verschiebungen eher die Regel als die Ausnahme, und gerade sie machen es erforderlich, die Orte dieser Arbeit stets mitzureflektieren und in ihrer Multidimensionalität zu beschreiben. Auf diese Weise kann er in Konjunktion mit dem Materialbegriff dazu dienen, die Topographie zeitgenössischer künstlerischer Arbeit zu erforschen. Die geopolitische Dimension des Ortsbegriffs ist entscheidend für die Frage der Dekolonisierung, der sich auch und gerade die Kunst nicht entziehen kann. Sie wird an verschiedenen Stellen auftauchen, ohne dass ich den entsprechenden Fragen und Diskussion damit gerecht werden könnte. Dies zu versuchen, würde den Rahmen eines Buches sprengen, dessen Fokus woanders liegt.

An dieser Stelle möchte ich von einer Exposition der begrifflichen Matrix in einige exemplarische Untersuchungen übergehen, die jeweils verschiedene Fälle von sich kreuzenden Materiallinien und Ortsveränderungen in den Blick nehmen. In seiner Untersuchung der Zusammenhänge von bildender Kunst und Pop unterscheidet Jörg Heiser vier Formen, in denen künstlerische Disziplinen sich aufeinander beziehen können: über die Adaption von Mitteln oder die Referenz auf Aspekte einer anderen Disziplin, den Kontextwechsel einer ganzen künstlerischen Produktion in eine andere Disziplin, das Doppelleben, bei dem Künstler*innen parallele Karrieren in zwei verschiedenen Disziplinen haben, und die Vermischung von Mitteln oder Medien mit dem Ergebnis einer hybriden Kunstform, einem Intermedium in Dick Higgins’ Sinne.Footnote 56 All diese Varianten kommen in den folgenden Kapiteln vor.