1 Materialbegriffe

Der Begriff des Materials ist vielleicht nicht der offensichtlichste Kandidat als Ansatzpunkt für eine Theorie, die sich diesseits von Kunst und Künsten situiert und sowohl Beharrungskräfte als auch Überschreitungsbewegungen zu denken erlaubt. Er kann sehr verschiedene Fassungen annehmen, von der Vorstellung eines widerstandslosen Stoffes, der sich dem gestaltenden Zugriff fügt, über die Betonung gerade seiner Widerständigkeit bis zu starken Begriffen, die von einer eigenen Bestimmtheit des Materials ausgehen. Im letzteren Fall liegt wiederum eine große Bandbreite zwischen der Idee der Materialgerechtigkeit, wie sie sich in der Arts&Crafts-Bewegung und bei Adolf Loos formuliert findet,Footnote 1 der Adornoschen Vorstellung einer Eigenlogik des Materials und neovitalistischen Materiebegriffen, die im Kontext neuerer Materialismen und Realismen entwickelt wurden.Footnote 2 Es ist nicht mein Ziel, hier eine Diskussion all dieser Begriffe von Materie und Material zu versuchen. Stattdessen möchte ich an denjenigen Begriff des künstlerischen Materials anschließen, der bis heute am klarsten und differenziertesten ausgearbeitet ist: denjenigen Adornos. Material in diesem Sinne darf nicht mit Materialität verwechselt werden, und die Assoziationen des Zugrundeliegenden, des Widerständigen und Festen, die sich mit dem Materialitätsbegriff verbinden, sind bei Adorno zwar nicht abwesend, spielen aber eine ganz andere Rolle.Footnote 3 Am weitesten ist hier die Verbindung von Materialität mit Körperlichkeit entfernt, die zwar für Adorno höchst bedeutsam ist, seinen Begriff des künstlerischen Materials aber kaum informiert.Footnote 4

Allerdings ist gerade dieser Begriff mit vielen Zügen von Adornos Denken verbunden, die als besonders problematisch empfunden wurden: der apodiktischen Sicherheit und Strenge seiner Urteile, der Haltung des unbeirrbaren (sein Wort dafür ist ‚intransigenten‘) Richters, der ex cathedra preist und vor allem verdammt, die totalisierenden Motive des Zwangs- und Verblendungszusammenhangs, die keine Differenzierung mehr zu erlauben scheinen. In der Ästhetik ist es wohl das Motiv des Fortschritts, des eindeutigen historischen Standes, vor dessen Hintergrund jede künstlerische Arbeit bewertet und im Zweifel verworfen werden kann und dessen Hüter Adorno selbst ist. Für all dies findet sich Anhalt in seinen Texten, aber die Sache ist deutlich differenzierter, als diese karikaturhafte, aber verbreitete Charakterisierung es vermuten lässt. Material hat für den frühen Adorno in mehrfacher Hinsicht eine Scharnierfunktion: zwischen dem Einzelwerk und seinem historischen Hintergrund, zwischen künstlerischer Produktion und kritischer Reflexion und, über den Begriff der Produktivkräfte, zwischen Kunst und Gesellschaft.

Trotzdem könnte man dazu kommen, den Begriff so zu beschreiben, wie Rosalind Krauss es mit dem des Mediums getan hat, nämlich als „critical toxic waste“,Footnote 5 den man so tief wie möglich vergraben sollte, damit er den Diskurs nicht weiter kontaminiert. Nur wie es so ist mit Giftmüll: Irgendwann kommt er zurück, und auch Krauss versucht in dem zitierten Text den Begriff des Mediums neu zu fassen. Ähnlich möchte ich es hier mit Adornos Begriff des künstlerischen Materials machen, der mir gar nicht so sonderlich giftig zu sein scheint, sondern Möglichkeiten der kritischen Analyse künstlerischer Praktiken bietet, die man nicht leichtfertig aufgeben sollte. Dazu muss er allerdings, auf eine Weise interpretiert werden, die sowohl einer Situation der tendenziellen Entgrenzung der Künste als auch der Differenzierung und Pluralisierung in geographischer Hinsicht Rechnung trägt. Und schließlich muss er zum Begriff (und der Praxis) der künstlerischen Praxis in ein Verhältnis gesetzt werden, mit dem die Kunst sich von der Fixierung auf die Herstellung von Gegenständen zu befreien versucht hat. Auch wenn der Materialbegriff genau diese Assoziation des Herstellens und Bauens nahelegen mag, kann er ausgehend von Adorno deutlich weiter und flexibler gefasst werden.

2 Tendenz & Pluralität

Der Ausgangspunkt aller ästhetischen Überlegungen Adornos, ja vielleicht der Bezugspunkt seiner gesamten Philosophie, ist die Musik, und hier ist auch der Materialbegriff entwickelt worden. Das hat zur Folge, dass der Begriff zuerst einmal recht technisch daherkommt und von klar benennbaren und analysierbaren Verhältnissen ausgeht. Entwickelt wurde er in Auseinandersetzung mit dem Komponisten Ernst Křenek in den zwanziger und dreißiger Jahren. In den folgenden Jahrzehnten überträgt Adorno den Begriff auf andere künstlerische Disziplinen bzw. auf künstlerische Arbeit als solche, ohne dabei die Notwendigkeit zu sehen, diese Übertragung oder auch die Übertragbarkeit ausdrücklich zu reflektieren. Auch wenn er später aus dieser zentralen Position verdrängt wird, gehört er zum festen Begriffsrepertoire der Ästhetischen Theorie und verkörpert für Adorno offenbar weiterhin die Möglichkeit, Kunstwerke jeglicher Herkunft in ihrer Historizität zu fassen. Die einzige wirklich ausgearbeitete Fassung des Materialbegriffs, die auf die Musik bezogene, müsste sich demnach verallgemeinern lassen, ohne dass die Grundmotive dabei verloren gehen. Diesen Ansatz möchte ich hier verfolgen, wobei ich an bestimmten Stellen von Adorno abweichen werde, mich aber an diese Grundmotive halten werde.

Der Einsatzpunkt ist die Frage des Kritikers, wie man von einem Fortschritt in der Musik sprechen kann, ohne damit die unsinnige These zu verbinden, die Musik der Gegenwart sei „besser“ als diejenige Bachs und Beethovens, oder, noch allgemeiner, wie die Geschichtlichkeit der Kunst überhaupt gedacht werden kann. Material wird als der Ort eingesetzt, an dem diese sich vollzieht: „Den Schauplatz eines Fortschritts in Kunst liefern nicht ihre einzelnen Werke, sondern ihr Material“Footnote 6 Dies vollzieht sich aber nicht noch einmal irgendwo anders, sondern in ihrem eigenen Inneren.

Deutlich ist dabei, dass Material nicht ausschließlich, ja nicht einmal in erster Linie in einem materiell handfesten Sinne gemeint ist, was bei der Musik ohnehin problematisch wäre. Es besteht immer auch aus Formen und ist von kulturellen Assoziationen, konzeptuellen Konstellationen, sozialen Beziehungen und institutionellen Rahmungen durchdrungen. Jede künstlerische Arbeit bezieht sich auf andere, die ihr vorausgegangen sind, und benutzt Momente und Figurationen, auch Praktiken als spezifische Weisen, etwas zu tun und mit etwas umzugehen, für ihre eigene Gestaltung. Damit ist künstlerische Arbeit keine Information im Sinne einer formierenden Arbeit an einem noch nicht formierten Material, sondern immer eine Transformation von bereits Geformtem, und genau aus diesem Grund ist das Verhältnis, das ein Kunstwerk zu dem ihm Vorausgegangenen unterhält, ein Inneres, das äußerliche Vergleiche nicht erreichen werden.

Der Begriff des Materials, mit dem dies beschrieben werden soll, steht ein wenig quer zur Unterscheidung von Materialität und Medialität: Materialität im Sinne des objekthaft Vorliegenden, das erst zum Medium gemacht oder als solches aufgefasst werden muss, ist nicht Adornos Thema, und insofern wäre der Begriff im Bereich der Medialität zu verorten. Auf der anderen Seite ist er anders gebaut als der Begriff des Mediums; ich komme im folgenden Abschnitt darauf zurück.

Was ihn wiederum mit dem Begriff der Materialität verbindet, ist die Vorstellung einer untilgbaren Widerständigkeit und Unverfügbarkeit. Diese aber wird nicht im stofflich Festen verortet, das nie ganz in Sinn aufzuheben ist, sondern in seiner historischen Bestimmtheit als „sedimentierter Geist“,Footnote 7 mit dem nicht beliebig umgesprungen werden kann. Wenn wir dies auf eine ganz manifest mit widerständiger Materialität umgehende Disziplin wie Bildhauerei anwenden, so müsste man sagen, dass hier das Materielle und die historischen Formen untrennbar miteinander verschlungen sind: Holz oder Marmor sind keine neutralen Materialien, die sich lediglich in ihrer Bearbeitbarkeit und ihrem Aussehen unterscheiden, sondern zeigen sich in der künstlerischen Arbeit als durchdrungen von Formen. In diesem Sinne sind sie keine Naturstoffe, sondern durch und durch kulturell geprägte Materialien.

Wenn Material im vollen Sinne für Adorno im allgemeinsten Sinne alles ist, „womit die Künstler schalten“,Footnote 8 so können sie es nicht in einem Lager abrufen: Die Formen existieren nur in anderen, früheren Arbeiten. Von einer realen Trennung von (geformtem) Material und (material realisierter) Form kann nicht einmal für die Künstler*innen selbst die Rede sein, als hätte das Material unabhängig von der tatsächlichen Arbeit vorgelegen und man könnte darauf zeigen und dann auf das, was man damit gemacht hat. Für die Theoretikerin ist Material ein kritischer Reflexionsbegriff, indem im Material bestehender Arbeiten und dem Verhältnis, das sie dazu einnehmen, ihre Stellung in einem historischen Raum zu bestimmen versucht wird.

Nun will Adorno Geschichtlichkeit nicht nur als Bezug, sondern als Bewegung denken, die irgendwo zwischen dem Material und dem Umgang mit ihm situiert werden müsste. Zuerst einmal könnte man von einem bestimmten Stand des Materials sprechen, etwa der „Tatsache des objektiven und nicht redressierbaren Zerfalls der Tonart“.Footnote 9 Natürlich sind bereits solche Thesen anfechtbar und wurden auch bereits von Křenek angefochten, aber Adorno geht weiter, indem er auch die Bewegungsrichtung selbst zum Teil ins Material verlegt. Hier finden sich Formulierungen unterschiedlicher Härte, von der „geschichtlichen Tendenz der musikalischen Mittel“Footnote 10 über die „Bewegungsgesetze“ und „Forderungen“Footnote 11 des Materials bis zum „Zwang […], dem das Material uns unterwirft“.Footnote 12

Eine Materialgesetzlichkeit, die Komponist*innen zu bloßen Exekutor*inen der Zwänge, Gesetze und Tendenzen des Materials degradiert, wäre in der Tat „unhaltbar, unerwiesen, ja fast romantisch und falsch mythologisch“,Footnote 13 wie Křenek kritisiert; dann wäre Material in der Tat „wirkendes, bewegendes Prinzip der Geschichte“Footnote 14 in Nachfolge des Hegelschen objektiven Geistes, wie Dahlhaus es versteht. Dass dieser Eindruck entstehen kann, ist sicher auch darauf zurückzuführen, dass Adorno so weit wie möglich vom Bild der Künstlerin als schöpferisches Genie weg möchte, das in voller Freiheit und Souveränität seine Setzungen macht. Sein Ziel ist nicht, diese Freiheit ganz zu leugnen, sondern sie zu situieren. Wie wir gesehen haben, käme ohne den Impuls der Künstlerin das Material als solches überhaupt nicht in den Blick, geschweige denn etwaige Tendenzen. Hindrichs formuliert treffend: „Der Komponist unterliegt folglich einer Zwangslage, eine Tendenz aufzuspüren, die es ohne seine Arbeit gar nicht gibt.“Footnote 15 Von hier aus sollte man vielleicht besser von Problemstellungen und Fragen sprechen, die sich in der künstlerischen Arbeit aus dem Material ergeben, ohne dass es fertige Lösungen präsentieren würde, und vom Widerstand, den es dem gestaltenden Zugriff leistet.

Material und künstlerische Arbeit bestimmen sich so dialektisch gegenseitig, was Adorno in einem stark verdichteten Satz bereits 1930 formuliert, der für ihn unverändert gültig bleibt: „[I]n die Dialektik des Materials ist die Freiheit des Komponisten miteingeschlossen und im konkreten Werk vollzieht sich die Kommunikation beider in Strenge, meßbar an dessen Stimmigkeit, die darum, so unvergleichlich sie gegen das andere Kunstwerk sein mag, in ihren kleinsten Zellen über Fortschritt und Reaktion ohne Rücksicht aufs andere Werk entscheidet.“Footnote 16 Gelungenheit wird damit nicht als ahistorische Kategorie verstanden, denn sie muss die kritische Reflexion des Materials und somit ein eigenes Verhältnis zur Geschichte beinhalten – nicht als Ansprüche von außen, sondern im Hinblick auf die Stimmigkeit der Sache selbst. Allerdings ist die Wahrnehmung historischer Unstimmigkeiten offensichtlich auf sehr genau historisch informierte und sensibilisierte Betrachter*innen angewiesen.

Das Festhalten an den Kategorien von Fortschritt und Reaktion oder Regression verweist die Stimmigkeit auf ein Geschichtsmodell zurück, in dem beide jeweils klar voneinander unterschieden werden können. Auch wenn ein solches Modell problematisch geworden ist, bleibt die Frage, was man sich für Probleme einhandelt, wenn man die Unterscheidung ganz einzieht – etwa zugunsten der diffusen und etwas hilflosen Differenz von „guter“ und „schlechter“ Musik und Kunst, die es gänzlich aufgibt, das Verhältnis zu Geschichte und Gesellschaft in die Bewertung künstlerischer Arbeit einzubeziehen. Wenn man dem Materialbegriff seine kritische und damit normative Pointe ganz austreibt, hat man ihn verabschiedet.

Dabei ist es durchaus nicht zwingend, ihn mit einem starken Fortschrittsbegriff zu verbinden; seine normative Dimension hängt an der Art, wie sich mit ihm die Beziehung jedes Werks zu vorhergehenden Arbeiten beschreiben lässt und wird damit sozusagen lokalisiert. Diese Beziehung entstammt keinem nachträglich angestellten äußerlichen Vergleich, sondern prägt es als innere auf grundlegende Weise: Kunstwerke verkörpern ihre Geschichtlichkeit. Wenn ausnahmslos jede künstlerische Gestaltung Formen aus der Vergangenheit aufgreift und sich zu ihnen verhält, sei es bewusst und reflektiert oder nicht, kann dieses Verhalten im Hinblick darauf angesehen werden, wie differenziert es sich vollzieht, ob als Anschließen, Transformation oder Abgrenzung – wobei diese Kategorien als solche noch nichts darüber aussagen, wie überzeugend das Ergebnis ist. Für sich genommen sind künstlerische Arbeiten Setzungen, also gewissermaßen immer Endpunkte. Erst unter dem Gesichtspunkt der weiteren Arbeit (der für Künstler*innen ohnehin der entscheidende sein mag) zeigt sich, dass sie Anschlussmöglichkeiten eröffnen, Fragen aufwerfen, auch Wege verschließen. Diese Möglichkeiten erscheinen vor allem retrospektiv, so wie die neue Arbeit erst die Frage erscheinen lässt, auf die sie antwortet. Dann allerdings kann sie daraufhin angesehen werden, wie gut, wie überzeugend und wie bewusst sie dies tut.

Will man an dieser Perspektive festhalten, ohne damit die Vorstellung eines unilinearen Fortschritts zu unterschreiben, muss man einen Weg finden, in der Theorie kritisches Bewusstsein und historische Tiefe mit Pluralität zu verbinden. Es ist kein Zufall, dass alle, die dies getan haben, zu Raummetaphern gegriffen haben. So spricht Richard Klein vorsichtig von einem „mobilen Gedächtnisraum“,Footnote 17 Gunnar Hindrichs greift mit etwas kritischer Distanz auf Erich Dofleins Bild des „Deltas“ zurückFootnote 18 und Reinhard Kager mobilisiert Deleuze’ und Guattaris Motiv des Rhizoms: „Innerhalb eines der Stränge des zersplitterten Materials wäre dann zwischen innovativen und regressiven Ansätzen zu unterscheiden. Wenngleich keiner der Äste des materialen Rhizoms mehr einen exklusiven Anspruch erheben kann.“Footnote 19 Adorno selbst legt eine Fährte in diese Richtung, wenn er von „exterritorialen“ Strömungen in der Musik spricht, die selbst „einen in sich stimmigen und selektiven technischen Kanon ausbilde[n]“;Footnote 20 seine Beispiele sind Bartók und vor allem Janáček.

Kagers und Dofleins Bilder entsprechen sich im Großen und Ganzen, sind aber eher nicht mit dem Motiv des Rhizoms vereinbar, das für eine wuchernde Verflechtung steht, in der sich verschiedenste Strukturen und Verbindungen finden, aber keine „Äste“, keine voneinander abgegrenzte Stränge, innerhalb derer die alte Logik von Fortschritt und Regression unverändert weitergilt.Footnote 21 Irgendein räumliches Bild bleibt allerdings alternativlos, weil dem Nebeneinander von Unterschiedlichem Rechnung getragen werden muss, das sich nicht auf eine einzige Fortschrittsskala auftragen lässt. Ich würde dafür plädieren, das Bild der sich verzweigenden Stränge ein wenig weiter in Richtung des Rhizoms zuzuspitzen, um noch ganz andere Verbindungen denken zu können: Wie stabil und lang solche Stränge sind, wie klar sie sich identifizieren lassen, überhaupt was sich mit wem verbindet, sind Fragen, die sich nicht theoretisch vorentscheiden lassen. Nur so können auch intermediale und transdisziplinäre Arbeiten mit diesem Modell beschrieben werden.

Was dabei nicht fallengelassen werden muss, ist die Forderung nach kritischer Reflexion in der unvermeidlichen Mobilisierung von Aspekten anderer Werke als Material der eigenen Arbeit. Die Weise, in der dies geschieht, ist mit der Alternative der schlichten Fortsetzung und der Negation ungenügend beschrieben. Die bestimmte Negation ist Adornos Standardmodell für das Verhältnis von Kunstwerken zu ihren Vorgängern und zur Tradition insgesamt. Sie steht hegelianisch für das Festhalten des Verabschiedeten in seiner Negation, hier die Fortsetzung der Tradition durch den Bruch mit ihr. An dieser Stelle konvergieren Adornos philosophische mit seinen ästhetischen Bezugspunkten, denn dies ist auch genau die Weise, wie Schönberg und seine Schüler ihr eigenes Verhältnis zur Tradition rekonstruieren.

Mir scheint aber, dass diese Figur deutlich überstrapaziert wird, wenn man sie universalisiert. Die sehr verschiedenen Weisen, in der sich Kunstwerke auf ihre Vorgänger und den Raum ihres Erscheinens beziehen können, etwa über die Abweichung, die Verschiebung, die ironische Brechung, das Eröffnen unerwarteter Möglichkeiten oder auch die Weiterentwicklung von Potentialen, lassen sich nur gewaltsam auf den gemeinsamen Nenner der Negation bringen bzw. auf die Alternative Negation oder unkritische Fortsetzung (also letztlich Regression) projizieren. Keine dieser Formen ist per se kritisch, aber sie sind reale Möglichkeiten, deren kritischer Gehalt im Einzelfall untersucht werden muss. Dass das Ergebnis einer solchen Untersuchung selbst strittig sein wird, ist unvermeidlich.

3 Linien, Verschiebungen, Brüche

Nun sind Klein, Hindrichs und Kager von der Musik ausgegangen und nicht von den Künsten oder der Kunst im Singular. Wenn das Fortschrittsmodell aber bereits hier, innerhalb eines medial scheinbar klar abgegrenzten Bereichs, an sein Ende gekommen ist, wie ist dann mit einer Situation umzugehen, in der von einer Gliederung der Künste nach ihren Medien insgesamt keine Rede mehr sein kann, weil wir uns in einer „post-medium condition“Footnote 22 befinden, wie die eingangs zitierte Rosalind Krauss es nennt? Kommt Adorno mit seiner Skepsis gegenüber medialen Überschreitungen und Hybridisierungen hier nicht endgültig an seine Grenzen?

So sieht es Juliane Rebentisch, die eine Nähe des Materialbegriffs zu Clement Greenbergs Medienkonzept ausmacht, das bei der Diskussion um Medienspezifität in der Kunst im Hintergrund steht.Footnote 23 Auch wenn es für diese Nähe einige Indizien zu geben scheint, halte ich das für ein grundlegendes Missverständnis. Greenberg vertritt ein offensives Konzept medialer Spezifität, das in eine historische Großkonstruktion eingebettet ist: In der Geschichte der Künste gab es ihm zufolge vielfache mediale Vermischungen und wechselseitige Bezugnahmen; einflussreiche Leitmedien wie die Literatur im 17. Jahrhundert brachten auch andere Künste dazu, sich nach ihrem Vorbild auszurichten. All dies sind für ihn aber Irrwege oder Kinderkrankheiten, und die Aufgabe der Künste heute (d. h. in den vierziger bis sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts) ist es, sich zu immer größerer medialer Reinheit fortzubilden, indem sie auf die vor allem materiell bestimmte Beschaffenheit des eigenen Mediums und dessen Opazität reflektieren.Footnote 24

Adornos Skepsis hat eine vollkommen andere Quelle und setzt theoretisch auf einer anderen Ebene an. Rebentisch findet diese Skepsis auch noch im Vortrag „Die Kunst und die Künste“ von 1965 mit seiner berühmten Formulierung vom „Verfransungsprozeß“ der Künste.Footnote 25 Sie hält fest, dass Adorno für Übergänge und Aneignungsbewegungen ein klares Kriterium formuliert: Legitim sind nur solche Übergänge, „die in den jeweiligen Medien selbst angelegt sind“.Footnote 26 Nun ist diese Formulierung zwar nicht ganz falsch, aber irreführend, weil sie ihm von vornherein den Greenbergschen Medienbegriff unterschiebt. In der Tat ist das Legitimitätskriterium für Adorno, dass die Bewegung sich aus einer internen Entwicklung ergibt und nicht aus einer bloßen Laune, der Hoffnung auf Aufmerksamkeit, insgesamt dem Versuch, den sich stellenden Problemen und Fragen durch den Wechsel in ein anderes Feld zu entgehen. Die Bereiche, die als Ausgangspunkte solcher Bewegungen ausgemacht werden, sind tatsächlich die gleichen künstlerischen Disziplinen oder „Künste“ der Tradition, von denen auch Greenberg ausgeht, nur dass diese eben nicht medial bestimmt sind, sondern durch die Kontinuität ihrer Entwicklungen und Problemstellungen. Das Grundmodell ist nicht essentialistisch, sondern historisch; man könnte von einer (impliziten) historischen Ontologie der künstlerischen Disziplinen sprechen.

Der Einspruch geht daher auch nicht von unveränderlichen Medien aus, deren Reinheit erreicht und bewahrt werden müsste, sondern vom durch und durch historisch bestimmten Material. Wogegen Adorno sich wendet, ist ein bloßes Ausscheren aus dem historischen Entwicklungszusammenhang, das sich nicht um das Gewesene bekümmert und sich frei an diesem und jenem bedient. Kritisiert wird nicht Unreinheit, sondern Inkonsequenz, und mit ihr die Gefahr des Dilettantismus und des fröhlich unreflektierten Herumbastelns. Dass er dabei die Situation deutlich restriktiver angeht als etwa Dick Higgins, der im gleichen Jahr seinen berühmten Intermedia-Text publiziert, der das Ende der traditionellen Medien und Disziplinen einläutet,Footnote 27 kann man als Konservatismus kritisieren, aber es ist nicht dem Materialbegriff selbst zuzuschreiben. Von diesem aus gibt es kein grundsätzliches Argument dagegen, Materialverschiebungen über Genre- und Disziplinengrenzen hinweg bis hin zur Auflösung oder grundlegenden Transformation der traditionellen Disziplinen anzunehmen – zumal seit Adornos skeptischen Bemerkungen mehr als fünfzig Jahre vergangen sind.

Nun ist die Diskussion um den Begriff des Mediums in der Kunst seit Greenberg um einiges weitergegangen, und man könnte hier die Frage anschließen, ob nicht ein transformierter, historisch informierter und flexibilisierter Begriff des Mediums oder der Medien ein alternativer Ansatzpunkt wäre. So schreibt Stanley Cavell: „The idea of a medium is not simply that of a physical material, but of a material-in-certain-characteristic-applications“,Footnote 28 wobei diese Anwendungen sich als „strains of conventions“Footnote 29 darstellen. Hier anschließend unterscheidet Krauss das physische Medium als „technical support“Footnote 30 von den Weisen, wie mit dieser materiellen Grundlage umgegangen wird. Von hier aus muss der Medienbegriff weder reduktionistisch noch essentialistisch verstanden werden; pluralisiert nimmt er die Stelle der Künste und ihrer Traditionen ein.

Es ist diese Notwendigkeit von Traditionen, die sowohl Cavell als auch Krauss dazu veranlasst, am Begriff des Mediums festzuhalten, wobei Tradition weniger für das zu bewahrende Althergebrachte als für einen Kontext steht, der Verständlichkeit und Anschlussfähigkeit garantiert. Wenn dies, wie in der zeitgenössischen Kunstproduktion, nicht mehr vorausgesetzt werden kann, so liegt es am einzelnen Werk, einen solchen Kontext für sich herzustellen: „One might say that the task is no longer to produce another instance of an art but a new medium within it.“Footnote 31 Für Krauss ist die entscheidende Frage, ob sich Künstler*innen dieser Aufgabe stellen, wie sie es etwa Marcel Broodthaers, James Coleman, Christian Marclay und William Kentridge zubilligt, oder ob sie ihr aus dem Weg gehen, wie es in ihren Augen die (stereotypisierte) Installationskunst tut, für die sie nur Verachtung übrig hat. Ohne dieses Urteil zu teilen, kann man doch das Problem anerkennen, das sie benennt. Ob der Medienbegriff es lösen kann, sei dahingestellt; in jedem Fall ist er deutlich unterbestimmt.

Man könnte versuchen, ihn mit der Luhmannschen Unterscheidung zwischen Medium und Form zu erläutern, die für alle Kommunikationssysteme in Anschlag gebracht wird, aber im Zusammenhang mit der Kunst besonders differenziert ausgearbeitet wurde: Medien in Luhmanns Sinne bestehen aus lose gekoppelten Elementen und sind als solche nicht beobachtbar; Formen sind feste Kopplungen in solchen Medien, die sie aber nicht verbrauchen, sondern aktualisieren. Wenn wir Medien auf die Spur kommen wollen, müssen wir Formen beobachten, die in ihnen auftauchen, da „Medien nur an der Kontingenz der Formbildungen erkennbar sind, die sie ermöglichen“.Footnote 32 Das Medium wird dabei bestimmt als das Bleibende, das sehr verschiedene Formen ermöglicht, ohne sie festzulegen; Formen aktualisieren Möglichkeiten und schaffen potentiell neue, wodurch sie wiederum das Medium verändern können. Im Prinzip könnte das heißen, dass jede Form, also jede künstlerische Arbeit, den Auswahlbereich neu festlegt, der ihren Hintergrund bildet, also gewissermaßen in Cavells Sinne ein neues Medium schafft – wobei man die Überlastung, die dadurch dem einzelnen Werk aufgebürdet wird, ein wenig abmildern und statt von der Kreation eines neuen Mediums von der Transformation medialer Voraussetzungen sprechen sollte.

Die Luhmannschen Begriffe sind mit Bedacht sehr abstrakt und geben sicher nicht die normativen Unterscheidungen her, von denen Krauss ausgeht. Historische Zusammenhänge, Brüche und interdisziplinäre Kreuzungsbewegungen können zwar in ihrem Rahmen, aber nicht wirklich mit ihnen gedacht werden, weil sie keine Mittel dafür bereitstellen, eine innere Dynamik zu denken. Der Materialbegriff ist dafür deutlich besser geeignet, weil er von den Bezügen zwischen Werken als Ort ihrer Historizität und insofern von der transformierenden Arbeit von Künstler*innen ausgeht. Er erfüllt Cavells Forderung, weil er die materiellen Grundlagen von vornherein mit den Formen zusammendenkt, in denen mit ihnen umgegangen wurde, und muss doch weder von stabilen Traditionen noch von grundlegenden Neuschöpfungen ausgehen. Mit ihm lassen sich auch radikale Verschiebungen und Neuzuschnitte künstlerischer Zusammenhänge denken, ohne die historische Tiefe zu verlieren.Footnote 33

Ganz in diesem Sinn wird auch bei Adorno das Beharren auf Disziplinen und Gattungen durch die Diagnose eines zunehmenden Nominalismus in der Kunst ausbalanciert, die vor allem in der Ästhetischen Theorie eine wichtige Rolle spielt. Dort heißt es: „Wie im Stande des ungemilderten Nominalismus ohne Gewalt zu etwas wie der Objektivität von Form zu gelangen sei, ist offen; von veranstalteter Geschlossenheit wird sie verhindert.“Footnote 34 Nominalismus steht für die Auflösung von Allgemeinheit, also hier für den Verlust verbindlicher ästhetischer Formen und Normen (oder Medien), angesichts dessen jedes Werk vollständig auf sich gestellt ist. Die Frage wäre dann, wie es als radikal einzelnes eine Form von Überzeugungskraft und individueller Verbindlichkeit herstellen kann, ohne die es schlicht unverständlich und bedeutungslos würde, denn „[a]bsolute individuation destroys meaning“.Footnote 35 In letzter Konsequenz wäre das eine Situation, in der der Materialbegriff seine Funktion verliert, weil nicht einmal mehr von einer Pluralität von genealogischen Linien, Kreuzungen, Verzweigungen und Übergängen ausgegangen werden kann. Damit wäre die Möglichkeit abgeschnitten, das einzelne Werk sinnvoll auf jenen Gedächtnisraum zu beziehen, und ebenso jede Form der Vergleichbarkeit und des gegenseitigen Bezugs zeitgenössischer Arbeiten. Das ist die Situation, die Osborne beschreibt: „Under conditions of tendentially increasing aesthetic nominalism, each work must create the mediating conditions of its own intelligibility.“Footnote 36

Allerdings ist Nominalismus auch für Adorno kein Faktum, sondern der Name für eine Dynamik, in der die Dialektik von Besonderem und Allgemeinem immer prekärer wird, wobei das Allgemeine auch in der Ästhetischen Theorie noch vom Material vertreten wird: „Das substantielle Moment der Gattungen und Formen hat seinen Ort in den geschichtlichen Bedürfnissen ihrer Materialien.“Footnote 37 Was aber, wenn sich die Vorstellung eines solchen substantiellen Moments endgültig erledigt, wie es für Osborne der Fall ist?

Das Eigenartige ist, dass auch in diesem Bild Institutionen, Präsentations- und Rezeptionsformen und Ausbildungsstätten genauso wenig vorkommen wie die drastische Verschiedenheit der Diskurse in den unterschiedlichen künstlerischen Disziplinen. Das Nachleben der Künste findet innerhalb dieses zerklüfteten Feldes statt, in dem die Raummetapher noch einmal einen anderen Sinn bekommt bzw. zum Teil ganz wörtlich zu verstehen ist. Wenn wir den Materialbegriff – den Osborne anders als vieles andere von Adorno nicht übernimmt – nicht fallen lassen wollen und trotzdem die (auch) institutionelle Seite dieses Nachlebens zu fassen bekommen wollen, müssen wir ihm daher den des Ortes zur Seite stellen. Die Frage, was zu einem gegebenen Zeitpunkt möglich, unmöglich, geboten, produktiv oder unplausibel ist, muss um diejenige ergänzt werden, wo dies der Fall ist. Dabei ist dieser Ort kein ein für allemal Gegebenes, sondern wird von dem mitbestimmt, was an ihm stattfindet und von ihm ausgeht; er hat aber eine eigene Trägheit, die Teil seiner ermöglichenden Kraft ist.

Křeneks Insistieren auf der „Souveränität des Geistes gegenüber dem Material“Footnote 38 bleibt eine romantische Übertreibung, weist aber gerade unter den Bedingungen der Gegenwart auf das Moment der Entscheidung hin: Wo man sich situiert, in welchem Kontext, an wen man anknüpft, von wem man sich abgrenzt, ist nicht durch irgendeine Logik des Materials vorab geregelt, denn ein allgemeines künstlerisches Material gibt es nicht. Auch gibt es keinen allgemeinen Ort, ebenso wenig wie einen Nicht-Ort. Jede künstlerische Arbeit und ihre Präsentation finden irgendwo statt, in einem Hinterhofatelier oder einer quasi-industriellen Produktionsstätte, in einer Galerie, einem Theater, einem Konzertsaal, in einem Flüchtlingslager oder auf der Straße, in Venedig, Beijing, Düsseldorf, Miami oder Lagos, sie wird von Künstler*innen produziert, die eine institutionelle und disziplinäre Herkunft mitbringen, und sie situiert sich selbst im künstlerischen Feld, in dem sie ihr Material aus unterschiedlichsten Quellen bezieht.

Jedes Crossover, sei es eines des Materials oder ein realer Wechsel der künstlerischen Institution, was heute zumeist auf einen Wechsel in den Bereich der alles und alle willkommen heißenden oder auch verschlingenden bildenden Kunst hinausläuft, wird durch die Interferenzen des Ausgangs- und des Zielortes geprägt, und wenn man ihm gerecht werden will, muss ihm mit einem diskursiven Crossover begegnet werden – was für Theoretiker*innen und Kritiker*innen anspruchsvoll ist und für Künstler*innen nicht immer vorteilhaft ausgeht. Ort ist dabei sowohl im Sinne der Situierung des Materials und damit eher metaphorisch als auch der realen und institutionellen Verortung gemeint; das nächste Kapitel wird dies genauer ausführen.

Was von Dahlhaus als kritischer Einwand gegen den Materialbegriff gemeint ist, kann als treffende Beschreibung der Logik des Materials im postmedialen Zeiten gelten: „Die ästhetische Legitimität eines Werkes wie ‚Gruppen‘ [von Karlheinz Stockhausen, CG] beruht nicht auf der Stringenz, mit der geschichtlich fällige Konsequenzen gezogen wurden, sondern die ästhetische Plausibilität des Resultats veranlaßte dazu, die historischen Voraussetzungen so zu rekonstruieren, daß sie auf das Ergebnis zuzulaufen schienen.“Footnote 39 Auf unterschiedliche Weise an Cavell, Krauss und Osborne anschließend könnte man sagen, dass damit jede Arbeit sich im Prinzip ihre eigene Tradition schafft, die sie selbst plausibilisieren muss – im Prinzip, weil dies ganz ohne diskursive, institutionelle und künstlerische Unterstützung und Verortung, also ohne jede Form von Allgemeinheit nicht funktionieren kann.

Osborne schreibt über diese Allgemeinheit: „In flight from substantive universalities of genres and mediums, contemporary art distributes its universalities across critical isms and individual series.“Footnote 40 Mir scheint, dass das Motiv der Serie sich auch über die Werkserie hinaus mobilisieren lässt, die er hier im Sinn hat. In Abwesenheit eines allgemeinen Standes des Materials verläuft die künstlerische Entwicklung über genealogische Linien und Serien, die sich verzweigen, sich kreuzen, abbrechen, neu sortiert werden. Sie werden ermöglicht, geprägt und gebrochen durch die Orte, an und zwischen denen sie stattfinden. Hier gibt es eine offensichtliche Parallele zu George Kublers Modell der Geschichtlichkeit der Künste, das ein ganz ähnliches Bild zeichnet, die Serien und Sequenzen aber als „Lösungsketten“ für gemeinsame Probleme beschreibt, die spätere Beobachter aus ihnen ableiten können.Footnote 41 Der Materialbegriff erlaubt es demgegenüber, diese Geschichtlichkeit vom Inneren der einzelnen Arbeiten her, als sich ständig neu stellendes Problem der Anknüpfung, in den Blick zu nehmen. Das Problem des „deadening embrace of the general“,Footnote 42 gegen das Krauss den Medienbegriff in Stellung bringt, stellt sich nur für eine Theorie, die vom Feldherrenhügel die tatsächliche künstlerische Arbeit aus dem Blick verliert. Die Fragen, Probleme und Möglichkeiten, denen sich diese Arbeit gegenübersieht bzw. in denen sie sich findet, sind immer spezifisch. Sie setzen eine Situierung voraus, die zum Teil der eigenen Entscheidung entspringt, aber auch eine Menge mit der Durchlässigkeit von Grenzen und der Möglichkeit von Übergängen zu tun hat und in der man sich zum Teil schlicht findet.

Was sich bei all dem nicht retten lassen dürfte, ist die Vorstellung eines zwingenden Parallelismus zwischen den gesellschaftlichen und den künstlerischen Produktivkräften, durch den der Stand des Materials immer auch eine Verbindung zu dem der Gesellschaft unterhält; dass „die Auseinandersetzung des Komponisten mit dem Material die mit der Gesellschaft“Footnote 43 ist, wird man nicht mehr umstandslos festhalten können.Footnote 44 Man kann aber sagen, dass die gesellschaftliche Dimension bei der Etablierung neuer Materiallinien immer mitläuft, als Referenz auf Gehalte dessen, was zum Material der eigenen Arbeit wird, als Reflexion darauf, was institutionelle und/oder disziplinäre Übergänge mit diesem Gehalt machen, und als Auseinandersetzung mit den Orten selbst, der von diesen Übergängen angeregt wird. Teilweise findet auch ein direkter Austausch statt, indem soziale Konstellationen, politische Prozesse, Debatten und Symbole etc. selbst zum Material der Kunst werden oder diese in Gesellschaft hinein interveniert. Ob die Kunst sich auf diese Weise, über eine Arbeit an der Neuaufteilung des Sinnlichen, durch ihre explizite Abgrenzung oder in anderer Form zur Gesellschaft in Beziehung setzt, ist nicht ausgemacht. Wenn der Materialbegriff so auch nicht als Garantie einer sozusagen subkutanen Verbindung taugt, hält er doch zumindest die Frage offen, ob es eine solche Verbindung nicht auf bei solchen Arbeiten geben könnte, die radikal auf Autonomie und Distanzierung setzen.

4 Material & Praxis

Mit der Frage nach der Beziehung der Kunst zur Gesellschaft kommt ein weiterer Begriff ins Spiel, der zu dem des Materials in deutlicher Spannung steht: derjenige der Praxis. Bei aller Offenheit für künstlerische Arbeit, die sich nicht an einem starken Werkbegriff orientiert, scheint die Rede vom Material doch an die Produktion von identifizierbaren Entitäten gebunden, seien es Artefakte wie in der bildenden Kunst oder strukturell bestimmte Einheiten wie in der Musik. Man könnte hier die Aristotelische Unterscheidung von Praxis und Poiesis aufgreifen und einwenden, dass nur letztere es mit der Verarbeitung von Material zu tun hat. Genau in diesem Sinne argumentiert Carl Dahlhaus: „Der Begriff des Werkes, nicht der des Ereignisses ist die zentrale Kategorie der Musikhistorie, deren Gegenstand sich – aristotelisch gesprochen – durch Poiesis, das Herstellen von Gebilden, nicht durch Praxis, das gesellschaftliche Handeln, konstituiert.“Footnote 45

Nun mag die derart kategorische Entgegensetzung von Praxis und Poiesis einem bestimmten Stand in der Diskussion um die Kunstmusik und ihre Geschichtsschreibung angemessen gewesen sein, als allgemeine ist sie deutlich forciert. Künstlerische Praxis ist keineswegs in allen Fällen als Gegenbegriff zum Werk ins Spiel gebracht worden, sondern umschreibt in der Regel einen deutlich weiteren Zusammenhang, innerhalb dessen Werke als Instanzen künstlerischer Arbeit auftauchen mögen. Wenn etwa in einem fast beliebig gewählten Beispiel von der „künstlerischen Praxis Francis Bacons“Footnote 46 die Rede ist, so geht es offensichtlich nicht um ein Handeln, das sich von der Produktion von Artefakten abgewandt hat, sondern genau um den Zusammenhang dieser Produktion. Was sich hier zeigt, ist eine Perspektivverschiebung, die die Kontinuität künstlerischen Handelns gegenüber der Existenz diskreter Werke in den Mittelpunkt stellt. Die Frage, was Künstler*innen tun, muss dann derjenigen, wie ihre Produkte beschaffen sind, zumindest an die Seite gestellt werden.

Auf der anderen Seite ist dies natürlich nicht die einzige Lesart künstlerischer Praxis. Performative, partizipative und interventionistische Modi künstlerischen Arbeitens lassen die Rede von Produkten insgesamt als verfehlt erscheinen. Als „Katalysator“, mit dem sich künstlerische Strömungen im 20. Jahrhundert immer wieder aus Sackgassen zu befreien versuchen,Footnote 47 könnte man performative Arbeiten noch als (periodisch wiederkehrende) Übergangserscheinungen betrachten. Das mag auch noch für Happening und Fluxus und selbst viele der Arbeiten gelten, die Nicolas Bourriaud in den neunziger Jahren mit dem Titel „relationale Ästhetik“ beschrieben hat und die in der Herstellung sozialer Situationen statt in der Produktion bleibender Werke bestanden.Footnote 48 Nur: Auch wenn ihre Genealogie eher von Abbrüchen, Verschiebungen und Neuanfängen geprägt ist als von einer kontinuierlichen Entwicklung, sind auf Performativität und Praxis setzende künstlerische Arbeiten ein zentraler Teil der gegenwärtigen künstlerischen Produktion. Allgemein wird die Berufung auf Praxis heute vielfach so verstanden, dass sie auf „the shift away from the artwork or medium, and toward open-ended actions“Footnote 49 verweist.

Der Begriff des Materials bekommt in diesem Kontext eine gewaltsame Färbung, siehe etwa Shannon Jacksons Rede von „real people as material“Footnote 50 bei Rimini Protokoll und von „living bodies as material“Footnote 51 bei Santiago Sierra (wobei im letzteren Fall diese Brutalität vielfach tatsächlich Teil der Arbeiten selbst ist). Insgesamt fällt auf, dass mit den Begriffen recht lose umgegangen wird, so etwa wenn Bourriaud den Besucherstrom bei einer Arbeit von Julia Scher als „the raw material and the subject of the piece“Footnote 52 bezeichnet und ganz allgemein festhält, dass „the substrate is formed by intersubjectivity“,Footnote 53 oder wenn Claire Bishop von „using people as a medium“Footnote 54 spricht – Menschen als Medium, Gegenstand, Substrat und/oder Material. Es hilft, an dieser Stelle den Adornoschen Begriff anzulegen: Zu sagen, dass Menschen oder Körper das Material dieser Arbeiten bilden, ist in manchen Fällen irreführend und meistens deutlich unterbestimmt. Nicht Menschen sind hier Material (außer vielleicht bei Sierra), sondern Rahmungen und Konstellationen, Weisen, mit Darstellern und Publikum umzugehen, Modi, es einzubeziehen, auf seine Reaktionen zu bauen und es in spezifische Relationen zueinander und zu den künstlerischen Anordnungen zu setzen, mögen sie nun materiell sein, aus Darbietungen bestehen oder aus Handlungsanweisungen. Kurz: Es sind Verhältnisse und Verständnisse, die hier zum Material werden, Relationen, die teils durch die Kunstwelt und teils durch außerkünstlerische Kontexte vorgeprägt sind. Bourriauds Stichwort der „relationalen Ästhetik“ trifft dies im Prinzip gut, wenn man das Relationale nicht in seinem Sinne auf die Herstellung temporärer Sozialitäten begrenzt ist, sondern die gesamte Palette inner- und außerkünstlerischer Verhältnisse einbezieht.

Einen Ansatzpunkt dafür bietet Georgina Borns Unterscheidung von vier Ebenen sozialer Vermittlung in der Musik, die auf andere künstlerische Praktiken verallgemeinert werden kann: erstens die situativen Mikrosozialitäten, die in der Präsentation künstlerischer Arbeiten hergestellt werden, zweitens die imaginären Gemeinschaften, die sich über Identifikationen und Präferenzen ergeben, drittens der Umgang mit gesellschaftlichen Kategorien wie Hautfarbe, Geschlecht, Klasse, Nationalität etc. und viertens die institutionellen Formen, in denen die künstlerische Arbeit und Präsentation sich organisiert.Footnote 55 Alle diese Dimensionen finden sich als Material einer Kunst wieder, die sich auf ihre eigenen Kontexte und Vermittlungen bezieht.

Schwieriger wird es vielleicht im Fall partizipativer Arbeiten, die sich direkter in gesellschaftlichen Zusammenhängen außerhalb der Kunstwelt situieren, sei es als eine Art Sozialarbeit mit künstlerischen Mitteln, sei es als disruptive Intervention oder in noch ganz anderen Formen. Derartiges hat Peter Weibel im Blick, wenn er Kunst kurz nach Bourriaud als „offenes Handlungsfeld“ beschreibt und erläutert: „Die bisher geltende strenge Unterscheidung zwischen hoher Kunstsphäre und niederem Alltag, zwischen Künstler und Konsument, zwischen ästhetischer Kommunikation und sozialer Handlung werden fließend und diffus.“Footnote 56 Auch in diesem offenen Handlungsfeld mit diffusen Grenzen finden sich sehr verschiedene künstlerische Positionen. Karen van den Berg bietet einige hilfreiche Unterscheidungen an, mit denen sie sich einteilen ließen: Die Bandbreite reicht von Kunstprojekten zu politischen Themen über die Einbeziehung gesellschaftlicher Akteure bis zu kollaborativen Projekten, unter denen sich therapeutische, gemeinsam gestaltete, sozialarbeiterische/gesellschaftliche und kulturelle in Kunstinstitutionen finden,Footnote 57 wobei das künstlerische Selbstverständnis sich zwischen der Künstlerin als Arbeiterin, Produzentin, Forscherin, Sozialtechnikerin, Projektentwicklerin oder Aktivistin bewegt.Footnote 58

Die Frage, ob man all dies noch mit dem Begriff des Materials erschließen kann, hängt eng mit derjenigen zusammen, ob diese Projekte auch dort noch primär von der Kunst her zu begreifen sind, wo sie nicht mehr als Kunst auftreten. In manchen Fällen wird die Antwort klar negativ ausfallen, etwa bei therapeutischer Arbeit, die sich durch ein primär künstlerisches Verständnis eher diskreditiert als bestätigt fühlen würde, aber auch in den meisten anderen kommt man offensichtlich mit einem starken Begriff künstlerischer Autonomie nicht weiter, mit dem ja ohnehin niemand mehr etwas zu tun haben möchte. Trotzdem kann man sagen, dass Autonomie als Voraussetzung und Ausgangspunkt ihrer eigenen Infragestellung erhalten geblieben ist, auch in den hier diskutierten Fällen des Übergangs in politisches Handeln oder soziale Praxis: „the de-autonomizing of the artistic event is itself an artful gesture, more and less self-consciously creating an intermedial form that subtly challenges the lines that would demarcate where an art object ends and the world begins“.Footnote 59 Das gilt selbst dort, wo die Arbeiten selbst kaum künstlerische Ambition verraten, sondern ausschließlich als Sozialprojekte gedacht sind, aber aus Kunststiftungen finanziert werden, im Rahmen von Festivals stattfinden o. ä. Wenn wir zwischen der Autonomie künstlerischen Handelns, der Autonomie des Kunstsystems und der Autonomie des Kunstwerks unterscheiden, so sind es vor allem die ersten beiden, die als strategische Ausgangspunkte dienen, während die Vorstellung einer Produktion autonomer Werke einem großen Teil der zeitgenössischen künstlerischen Praxis fremd ist. So spricht van den Berg von einem „experimental free space“,Footnote 60 der durch die Rahmung als Kunst mit ihrer gesetzlich verbrieften Autonomie gesichert ist und so Spielräume eröffnet, die es sonst nicht gäbe. Der Kunstbereich bleibt ein privilegierter Ort für experimentelle Praxis, aber: „There would be no obligation to remain on that site – in fact one might say that there was an obligation to move“.Footnote 61 Trotz dieser Bewegung und unabhängig von ihrem Gehalt werden die Arbeiten so auf jener Grenze situiert, wodurch sich ein spezifisch künstlerischer Vergleichshorizont eröffnet. Autonomie wird von einer Gegebenheit zu einer Frage, einem Problem.

In diesem Vergleichshorizont situiert sich der Blick, der sie in Bezug auf ihr Material ansieht. Dabei ist es offensichtlich unplausibel, diesen Horizont auf die Kunst zu beschränken, denn indem sich die künstlerische Arbeit in das gesellschaftliche und politische Feld einschreibt, bezieht sie sich ebenso sehr auf dessen Formen. Der entscheidende Punkt scheint mir zu sein, wie dieser Bezug jeweils funktioniert. Material als Grundbegriff künstlerischer Arbeit ist ja gerade nicht inhaltlich bestimmt, sondern vielmehr als Art des Bezugs, als Modus der Geschichtlichkeit der Kunst. Für andere Bereiche gilt dies nicht auf die gleiche Weise. So verändert etwa auch jede politische Entscheidung das Feld politischen Handelns, und sei es nur um ein Geringes, und wer ein soziales Wohnprojekt einrichten will, wird sich in jedem Fall über andere vergleichbare Projekte informieren, deren Probleme und Erfolge zur Kenntnis nehmen und vor diesem Hintergrund mit den eigenen Rahmenbedingungen umgehen. In beiden Fällen kann man aber nicht sagen, dass das jeweilige Handeln das, was ihm vorausging, zu seinem Material macht, das es verändernd aufgreift. Künstlerische Arbeiten hingegen bestehen aus diesem Material und sind auf diese Weise Verkörperungen ihrer eigenen Geschichtlichkeit. Genau darin besteht die spezifisch künstlerische Historizität, die der Materialbegriff zu beschreiben versucht.

Für Arbeiten, die sich auf der Schwelle zwischen Sozialprojekt und Kunst halten, ergibt sich daraus eine Art Doppelbelichtung oder doppelter Codierung: Auch wenn es für sie entscheidend ist, ganz reale Auswirkungen zu haben, eignet ihnen doch immer auch eine Dimension der Darstellung, die über den stets begrenzten Kreis der unmittelbar Beteiligten hinaus wirkt; Bishop spricht von einem „mediating third term“,Footnote 62 mit dem sich die Arbeiten ins öffentliche Bewusstsein einschreiben. Diese Dimension lässt sich in Bezug auf ihr Material befragen, und für sie erscheinen auch frühere politische Entscheidungen und Wohnprojekte und der Umgang mit ihnen als Material. Auch als soziales Handeln hat künstlerische Arbeit eine reflexive Dimension, indem sie im Handeln mit diesem Handeln und an ihm arbeitet (was es nicht weniger wirklich macht).

Die Gefahr bei dieser Art von Doppelbelichtung ist, dass sie ganz auf die eine oder andere Seite kippt. Nicht wirklich gefährlich ist hier das restlose Aufgehen künstlerischer Projekte in sozialer Arbeit, auch wenn es Beobachter aus dem Kunstfeld enttäuschen mag; auf der anderen Seite aber liegt ein wirkliches Problem, nämlich das der Ästhetisierung sozialer Fragen. Eine solche Verkunstung des Sozialen wird keiner der beiden Seiten mehr gerecht und muss aus der Perspektive der Teilnehmer*innen als Verrat an der eigenen Person und ihren sehr realen Problemen erscheinen, die schlimmstenfalls wirklich zum bloßen Material künstlerischer Selbstdarstellung degradiert würden. Die doppelte Codierung derartiger künstlerischer Praktiken erscheint so als höchst prekäre Angelegenheit, deren Balance bei weitem nicht immer gelingt.

Insgesamt ist es wichtig zu sehen, dass es sich bei Material und Praxis nicht um einander ausschließende Kategorien handelt, sondern um unterschiedliche Akzente. Der Materialbegriff, wie ich ihn hier rekonstruiert habe, ist nur dann verständlich, wenn er Modi des Umgangs einschließt. Wenn im Tanz von Bewegungsmaterial die Rede istFootnote 63 oder improvisierende Musiker mit großer Selbstverständlichkeit von ihrem Material sprechen, so sind damit sogar primär Weisen gemeint, etwas zu tun. Die Grundfrage ist eher, ob wir die Entwicklung der Kunst als Folge von aufeinander reagierenden Setzungen oder als sich allmählich verschiebendes Ensemble von Praktiken rekonstruieren. Für beide Perspektiven lassen sich Argumente bringen, und wir sollten sie als komplementäre Möglichkeiten verstehen.

Der Materialbegriff ist gerade deswegen produktiv, weil er sowohl in der Produktion als auch in der kritischen Reflexion eine Rolle spielt und insofern zwar den Fokus weg von der Fixierung auf ästhetische Erfahrung verschiebt, aber trotzdem als Scharnier zwischen Produktion und Rezeption angesehen werden kann. Der Praxisbegriff kann diese Scharnierfunktion weder als verallgemeinerter erfüllen, der beide Seiten gleichermaßen beschreibt, noch als spezifisch auf künstlerisches Handeln bezogener, wo er als Gegenbegriff zu dem der Erfahrung auftritt. Das Motiv des Ortes ist aber für beide Begriffe gleichermaßen von Bedeutung. Die Frage nach dem realen und institutionellen Ort und der spezifischen Traditionslinie, in der sich die jeweilige Arbeit situiert oder die sie durch ihre eigenen Bezüge ausprägt, hängen dabei eng miteinander zusammen. Ihr wird sich das folgende Kapitel widmen.