1 Gattung und Arten

Man könnte meinen, dass wir mit einer Fokussierung auf die Künste endlich die unproduktiven Verallgemeinerungen verlassen haben und uns der tatsächlichen Praxis nähern: Schließlich ist de Duves Welt, in der man weder Maler*in noch Bildhauer*in noch Komponist*in noch Schriftsteller*in noch Architekt*in, sondern einfach nur Künstler*in im Allgemeinen ist, (noch?) nicht die, in der wir leben. Auch wenn sie alle sich in Praktiken bewegen, die künstlerisch oder ästhetisch genannt werden können, stellen sie durchaus nicht mit jeder ihrer Produktionen die Frage nach der Kunst als solcher, und auch ihre Rezipient*innen tun dies nicht ständig. Und schließlich mag der Vergleichsgesichtspunkt der Funktion dazu taugen, das Kunstsystem vom Wirtschafts- und Wissenschaftssystem abzugrenzen, aber er sagt nicht genug darüber, womit sich Künstler beschäftigen und was die tatsächlichen Grenzziehungen, Auseinandersetzungen und Debatten sind.

In der Nachschrift zu seinem Text über „Intermedia“ von 1965 schrieb Dick Higgins 1981 in deutlicher Ernüchterung: „No reputable artist could be an intermedial artist for long – it would seem like an impediment, holding the artist back from fulfilling the needs of the work at hand, of creating horizons in the new era for the next generation of listeners and readers and beholders to match their own horizons too.“Footnote 1 Der ursprüngliche Enthusiasmus, einer „irreversible historical innovation“Footnote 2 beizuwohnen, die den verzopften alten Medien wie Theater und Malerei den Garaus macht und im übrigen zur klassenlosen Gesellschaft führt, ist hier einer eher kühl historisierenden Haltung gewichen. Auch dass die Opernhäuser nicht gesprengt werden würden, wie Pierre Boulez es 1967 im Gespräch mit dem SPIEGEL als „eleganteste Lösung“Footnote 3 bezeichnet hatte – ein Jahr, nachdem er das erste Mal in Bayreuth Wagner dirigieren durfte –, war vorauszusehen; nicht unbedingt allerdings, dass die Oper sich als unangefochtenes Format auch für zeitgenössische Komponisten bis heute halten würde, was auch immer Seidl, Imhof und Frank anstellen. Die Organisation künstlerischer Arbeit in Sparten und Disziplinen ist stabiler, als man es sich damals hätte vorstellen können.

Aber wovon sprechen wir, wenn wir von „Künsten“ sprechen? Gemeint sind offenbar zuerst einmal nicht alle möglichen aus heutiger Sicht als künstlerisch identifizierbaren Praktiken, inklusive rituell beigebrachte Narben, Keramik, Feuerwerkskunst und Louis-Bertrand Castels „Augenklavier“, sondern die im modernen „System der Künste“ zusammengefassten: Malerei, Skulptur, Architektur, Musik und Poesie. Angesichts dieser etwas antiquierten Liste wird sich Widerspruch regen, der sich auf die Einteilung bezieht oder einiges vermisst; letztlich ist das aber nicht entscheidend. Der zentrale Punkt ist vielmehr, dass die Künste, was auch immer ihre Zahl sei, einander als gleichberechtigt und vergleichbar beigeordnet werden können. Traditionellerweise würde man sagen, dass sie sich durch ihre Medien oder Materialien unterscheiden – beides vieldiskutierte, um nicht zu sagen umkämpfte Begriffe, auf die ich im nächsten Kapitel zurückkommen werde. In jedem Fall scheint man es mit in sich bestimmten, sich auf spezifische Weise voneinander unterschiedenen Typen von Praktiken zu tun zu haben, die in einer Hinsicht, nämlich als Künste vergleichbar sind – Arten einer größeren Gattung sozusagen.

Nun ist dies eine historisch sehr spezifische Auffassung, der eine bestimmte Organisationsform, ein „Betrieb“ in Luhmanns Sinne korrespondiert, und man könnte fragen, ob sie überhaupt noch der heutigen Wirklichkeit entspricht. Hier ist es immer noch lehrreich, sich Paul Oskar Kristellers klassischen Text zu ihrer Entstehung anzusehen.Footnote 4 Kristellers auf die Zeit von der Renaissance bis zum 18. Jahrhundert fokussierende, aber bis in die Antike ausgreifende Untersuchung macht deutlich, dass es um weit mehr ging als um die Zugehörigkeit einzelner Disziplinen zu einem Kanon der Künste – gehörten doch die heute selbstverständlich als Künste angesprochenen Praktiken vollkommen verschiedenen Kategorien an. Die über Jahrhunderte geläufige Unterscheidung war dabei diejenige zwischen Handwerken (wie der Malerei) und Wissensformen (wie der Musik als einer der artes liberales). So vergleicht noch Leonardo in seinem Paragone, der als einer der Quellentexte für das System der Künste gelten könnte, Malerei, Skulptur, Dichtung und Musik gerade nicht als Künste, sondern als Wissenschaften, also im Hinblick auf ihre Präzision als Erkenntnisinstrumente.Footnote 5 Ziel war es dabei, die Malerei erst einmal überhaupt in diesen Status zu erheben und sie dann als allen anderen überlegen zu erweisen. Die moderne Unterscheidung von Künsten und Wissenschaften ist demgegenüber nicht zu denken ohne die explosionsartige Entwicklung wissenschaftlicher Forschung im 17. und 18. Jahrhundert, mit der diese sich ein für allemal von der künstlerischen Praxis getrennt hat.

Vergleiche zwischen verschiedenen künstlerischen Äußerungsformen finden sich seit der Antike, sie finden aber immer mit einem spezifischen Fokus statt und umfassen nie alle der Bereiche, die wir heute als Künste bezeichnen würden. Es ist denn auch aufschlussreich, sich anzusehen, was jeweils nicht verglichen worden ist. In Platons Politeia etwa werden die Dichter, nachdem sie als Teil der mousiké im 3. Buch auf die Darstellung des Guten verpflichtet worden sind, im 10. Buch den Malern beigeordnet und verfallen mit diesen als bloße Abbildner Sokrates’ vernichtendem Urteil. Die Musik im heutigen Sinne hingegen, die ebenfalls Teil der mousiké ist, erfüllt eine vollkommen andere Rolle, nämlich die als Inbegriff des richtigen Maßes und Verhältnisses, der in allen Lebensbereichen Anwendung finden kann. Die musikalische Erziehung ist eine Schulung in Verhältnismäßigkeit, daher steht sie im Zentrum aller pädagogischen Anstrengung, denn „das Wichtigste in der Erziehung [beruht] auf der Musik“.Footnote 6 Von hier aus hat es keinen Sinn, Malerei und Musik als unter einer gemeinsamen Kategorie vergleichbare Praktiken aufzufassen.

Die Vorstellung der Künste als wohlgeordnete, unterscheidbare und vergleichbare Disziplinen entsteht erst viel später, und zwar zur gleichen Zeit wie der Begriff der Kunst im Singular und das Kunstsystem im 18. und 19. Jahrhundert; die drei sind unmittelbar aufeinander verwiesen. Erst in dem Moment, in dem Malerei, Musik, Dichtung etc. als analog gebaute, nur durch ihr Material unterschiedene Künste aufgefasst werden, kann einen Begriff der Kunst geben, mit dem die Hinsicht ihrer Vergleichbarkeit benannt wird, und ein Kunstsystem sich ausdifferenzieren, in dem sie alle ihren Platz haben.Footnote 7 Damit sind wir ganz bei Luhmanns Rekonstruktion. Der Befund, dass der Begriff der Künste selbst historischen Charakter hat und nicht ohne weiteres in die ferne Vergangenheit transponiert werden kann, ist ernst zu nehmen – ernster als Kristeller selbst dies tut, wenn er schreibt: „The various arts are certainly as old as human civilization, but the manner in which we are accustomed to group them and to assign them a place in our scheme of life and of culture is comparatively recent.“Footnote 8 Man muss es anders formulieren: Praktiken, die wir aus heutiger Perspektive als künstlerisch beschreiben würden, mögen so alt sein wie die menschliche Zivilisation. Diese Praktiken aber als „Künste“ zu bezeichnen, ist an genau das gebunden, was er als jüngeren Ursprungs identifiziert, nämlich ihre Zusammenordnung und der Ort, den sie in der Kultur der Moderne einnehmen.

Nun begibt man sich mit der These, dass wir für die Zeit vor der Etablierung des westlichen Kunstsystems weder von Kunst noch von Künsten sprechen sollten, scheinbar in gefährliche Nähe zu einem aus der Zeit gefallenen Ethnozentrismus; so wäre es für Davies „churlish, ethnocentric, and insulting to deny that art is present in all cultures“.Footnote 9 Das Problem liegt dabei offensichtlich darin, dass „Kunst“ hier, im Einklang mit der heute geläufigen Verwendung, als evaluativer Begriff, als eine Art Ehrentitel verstanden wird. Wenn etwas als Kunst zu bezeichnen es als hochkulturelle Leistung anerkennt, die sich über andere kulturelle Formen wie die Produkte der Unterhaltungsindustrie und das Kunsthandwerk erheben kann, dann muss die Verweigerung dieses Titels wie die pauschale Abwertung ganzer Kulturen und historischer Zeiten erscheinen.

Entscheidend ist aber, dass auch dieses Verständnis untrennbar mit dem modernen westlichen Kunstsystem verbunden ist und sich entsprechend gerade nicht verallgemeinern lässt; die „assimilation of the activities and artifacts of all peoples and all past epochs to our notions“Footnote 10 ist selbst ein Problem. Bei Davies und vielen anderen Autoren finden sich Feststellungen wie die folgende: „No culture is without music, narrative, drama, dancing, and picturing.“Footnote 11 Das mag so sein (auch wenn offensichtlich ist, dass in der Auswahl der scheinbar universalen Kategorien unsere Künste im Hintergrund stehen und insofern vermutlich viele Ethnologen widersprechen würden). Es handelt sich zweifellos um hoch entwickelte Gestaltungs-, Darstellungs-, Artikulations- und Kommunikationsformen, deren Differenziertheit und Komplexität sich mit derjenigen moderner, westlicher Künste messen kann. Die Frage ist, was damit gewonnen ist, diese Praktiken selbst als Künste oder verallgemeinernd als Kunst zu bezeichnen. Aufschlussreich ist hier die Diskussion um das Bild: So nimmt etwa Hans Belting Bilder „vor dem Zeitalter der Kunst“Footnote 12 in den Blick, und Philippe Descola geht im Kulturvergleich noch weiter, insofern er von ihnen jeweils zugrundeliegenden, ganz verschiedenen „Figurationen“Footnote 13 spricht. Dabei macht es einen Unterschied, ob wir hier Darstellungen aus der Vergangenheit oder Produkte anderer kultureller Räume im Blick haben: In letzterem Fall sind mit der Frage des Kunstbegriffs unter Umständen ganz reale Kämpfe um Legitimität, Anerkennung und Mittel verbunden.

Ein anschauliches Beispiel liefert die Ausstellung einiger der sogenannten Beniner Bronzen, Ende des 19. Jahrhunderts aus dem damaligen Königreich Benin geraubter Skulpturen, auf der Documenta 14. Ihre Einbeziehung verstand sich als eine Art Wiedergutmachung kolonialen Unrechts und grundsätzliche Befragung des westlichen Kanons der Kunst, indem die kategoriale Grenze zwischen dem Kunstmuseum als Ort der Selbstverständigung und Repräsentation westlicher Hochkultur und dem ethnologischen Museum, in dem die Artefakte anderer Kulturen gesammelt wurden, aufgebrochen wurde.Footnote 14 Man kann darüber streiten, ob dieser Versuch erfolgreich war. Worauf er in jedem Fall hinweist, ist, dass der Kunstbegriff niemals neutral war und dass die postkoloniale Diskussion dies noch einmal auf besonders deutliche und dringliche Weise thematisiert. Was ich in den folgenden Kapiteln vorschlagen möchte, ist eine Auffassung des künstlerischen Feldes, die seine innere Gliederung und seine Grenzziehungen in ihrer relativen Stabilität, aber gerade auch in ihrem stets umkämpften Charakter mit im Blick hat. Eine unterschiedslose Ausweitung der Begriffe der Kunst und der Künste auf alle möglichen gestalterischen Praktiken in Geschichte und Gegenwart scheint mir diese Situation aber eher unsichtbar zu machen und insofern den tatsächlichen Kämpfen keinen guten Dienst zu erweisen. Die Forderung nach Restituierung der Beniner Bronzen etwa, die nun erfreulicherweise erfolgreich zu sein scheint, ist mit den Begriffen der Diskussion um die Kunst und die Künste nicht angemessen zu beschreiben.

Nun muss ein Ansatz bei den Künsten ja nicht wiederum in die Falle unkontrollierter Verallgemeinerung einer historischen Kategorie tappen, sondern könnte sich auf das beziehen, was heute unter diesem Titel verhandelt wird, denn müsste man nicht sagen, dass eine Form des „Systems der Künste“ bei allen Verschiebungen und Erweiterungen als selbstverständlicher Hintergrund weiterhin wirksam ist? Auch wenn man mit Kristeller festhält, dass die Rede von den Künsten die von der Kunst voraussetzt und umgekehrt, dass es also wenig Sinn hat, die beiden als klare theoretische Alternativen gegeneinander auszuspielen, kann doch gefragt werden, auf welcher der beiden Seiten eher theoretisch produktiv gearbeitet werden kann.

Man könnte hier zuerst einmal darauf verweisen, dass der bei weitem größte Teil der theoretischen Auseinandersetzung mit künstlerischer Produktion in den Einzeldisziplinen stattfindet und hier vor allem in der Kunstwissenschaft eine Verbindung von Sachhaltigkeit und theoretischem Niveau erreicht hat, die man erst einmal zur Kenntnis nehmen muss. Dabei hat die Spezialisierung mit der Herausbildung differenzierter Fachkulturen auch zur Abschließung der verschiedenen Künste gegeneinander geführt, was durchaus als Problem wahrgenommen wird. Abhilfe ist hier aber nicht von einem Wechsel auf eine allgemeine Ebene zu erwarten, sondern von gegenseitiger Anregung und der Überschreitung von Fachgrenzen an konkreten Punkten, oft genug genötigt von künstlerischen Überschreitungsbewegungen.

Demgegenüber sind philosophische Untersuchungen, die sich mit der gleichen Differenziertheit den Grund- und Einzelfragen der verschiedenen tatsächlichen Praktiken zuwenden, wie sie die Konstruktion und Diskussion von Allgemeinbegriffen betreiben, höchst rar; hier ist Hegel tatsächlich fast unerreicht. Zieht man die historische Entwicklungsperspektive ab, könnte man an so unterschiedliche Unternehmungen wie Susanne K. Langers Fühlen und Form und Mikel Dufrennes Phénoménologie de l’expérience esthétique denken, die tatsächlich im gleichen Jahr erschienen sind.Footnote 15 Wenn sich demgegenüber in philosophischen Theorien, die von vornherein auf der Ebene der Kunst im Singular ansetzen, Bemerkungen zu einzelnen Künsten finden, so sind diese in der Regel sehr allgemein und eher illustrativ als für die tatsächliche Produktion erhellend. Auf der anderen Seite liegen zahlreiche philosophische Untersuchungen vor, die sich ebenfalls einzelnen Disziplinen zuwenden. Die Grundfrage könnte sein: Können Theorien der Kunst es je an Differenzierungsvermögen und Sachhaltigkeit mit Theorien einzelner Künste aufnehmen? Oder müssen sie sich dazu in Spezialuntersuchungen verzweigen, die doch wieder den verschiedenen Künsten gewidmet sind?

2 Mittlere Allgemeinheit

Hier liegt auch der Ansatzpunkt von Dominic McIver Lopes’ Beyond Art, das die letzte Frage ganz klar mit ja beantwortet. Auch seine Ausgangsbeobachtung ist, wie schwer es Theorien der Kunst fällt, zu allgemeinen Bestimmungen zu kommen, die für alle möglichen Künste zutreffen und dennoch informativ sind, also tatsächlich etwas Erhellendes zur Diskussion beitragen. Angesichts dessen setzt er ganz auf Theorien der Künste, in denen ihm zufolge ohnehin die entscheidende Arbeit stattfindet. Seine eigene „buck passing theory“, die den Schwarzen Peter von der allgemeinen auf die spezifische Ebene weitergibt, ist Theorien der Kunst im Singular überlegen, „if it is no less systematically informative, if it better grounds empirical art studies, if it better grounds art criticism, and if it deals more effectively with the hard cases“.Footnote 16 Ganz allgemein: „The right level of specificity is the one that is the most informative, and that might not be the top level.“Footnote 17 Dieses Ansetzen bei einer Ebene mittlerer Allgemeinheit ist im Prinzip genau die Position, die ich vertreten möchte. Aber: Was genau sind hier „Künste“?

McIver Lopes versucht diese Frage unter Rekurs auf den Medienbegriff zu beantworten, den er allerdings auf bestimmte Weise transformiert und disloziert. Die klassische, mittlerweile allerdings gründlich desavouierte Position geht hier von einem starken Begriff von Medienspezifität aus, wie er sich in Lessings Laokoon findet und wie er für die Kunst des 20. Jahrhunderts vor allem von Clement Greenberg propagiert worden ist.Footnote 18 Man kann sagen, dass dieser Medienbegriff der Versuch war, die Ordnung der Künste mit anderen Mitteln neu zu begründen und theoretisch zu verankern. Von einer solchen Definition der Künste aus den Wesenszügen der Medien, auf denen sie angeblich basieren, will McIver Lopes allerdings so weit weg wie möglich, ohne die Bedeutung von Medien ganz aus den Augen zu verlieren. Er schlägt daher vor, Künsten spezifische „media profiles“ zuzuordnen, die um ein bestimmtes Medium zentriert sind, wobei weder die Zentrierung noch die Profile unveränderlich sind; dass Künste aber medienzentriert sind, ist für ihn eine notwendige Bedingung. Wichtig ist dabei, dass man Medien nicht auf materielle Formationen beschränken darf, denn „media may include conceptual and symbolic resources and techniques; media are not necessarily material and the material conception of media is a holdhover from visual art theory“.Footnote 19

Von hier aus kann es kein essentialistisches Verständnis der Künste geben. Die Theorie gibt wohlweislich nur sehr allgemein an, wodurch sich Künste auszeichnen, ohne sich darauf festzulegen, was als Medium gelten kann und was gegeben sein muss, damit sich eine Kunst durch eine medienzentrierte Praxis individuiert. Diese Fragen können nur jeweils konkret beantwortet werden. Wenn also auch die Situation einer etablierten Ordnung der Künste als Ausgangspunkt genommen wird, in der McIver Lopes Kristeller folgt, so kann diese doch in keiner Weise festgelegt oder für unveränderlich erklärt werden. Letzterer hatte bereits 1950 Auflösungserscheinungen des „Systems“ der Künste beobachtet, das am Ende doch nur als ein wenn auch äußerst wirkmächtiges Postulat erkannt werde, als Versuch des diskursiven Ordnens eines nicht von sich aus derart geordneten Feldes.

Für McIver Lopes lässt der Zerfall dieses Systems bzw. seine schwindende Akzeptanz als universales Ordnungsprinzip künstlerischer Aktivität offenbar die Ebene der Künste intakt. Welche auch immer es sind und wie auch immer ihre kulturell approbierte Ordnung ist, es gibt Künste. Mir scheint, dass hier die Lektion des Historikers nicht ernst genug genommen wird: Im modernen „System der Künste“ bezeichnen sowohl das konkrete System als auch die Künste selbst historisch spezifische Konfigurationen. Der Zerfall oder das Verblassen dieser Konfigurationen eröffnen nicht nur die Frage, was dazu gehört und was nicht („the admission of new arts“Footnote 20), sondern könnten die Organisationsform einander beigeordneter Künste als solche zweifelhaft werden lassen.

Vielleicht kann man von McIver Lopes nicht erwarten, eine Liste der aktuell existierenden Künste anzugeben; ein paar mehr Worte zu konkreten Fällen wären hier aber schon interessant gewesen. So bleibt z. B. offen, ob für ihn Malerei und Skulptur noch als Künste gelten können oder ob von der bildenden Kunst in ihrer ganzen integrativen Heterogenität als einer Kunst zu sprechen wäre. Sicherlich ließen sich für beides Gründe angeben, aber die jeweiligen Kriterien wären vollkommen verschieden. Von Malerei als einer Kunst zu sprechen, würde seiner eigenen Minimaldefinition besser entsprechen, denn was sollte das zentrale Medium oder Medienprofil des riesigen Feldes der bildenden Kunst sein? Auf der anderen Seite wird im kunsttheoretischen und -philosophischen Diskurs schon lange nicht mehr so gesprochen, wo man Malerei als künstlerische Disziplin oder als Genre bezeichnen mag, aber kaum als eine der Künste. Oder nehmen wir das Beispiel Performance: Hier haben wir es mit einem heterogenen Feld mit sehr unterschiedlichen Quellen und Traditionen zu tun, das sich zwischen bildender Kunst, Theater und Tanz bewegt und in manchen Ausprägungen auch deutlich von der Musik beeinflusst ist. Man mag angesichts dessen zweifeln, ob es überhaupt sinnvoll ist, von „der“ Performancekunst zu sprechen.Footnote 21 Zwar hätte es durchaus sein können, dass sich eine bei aller Heterogenität zusammenhängende Praxis mit einem zumindest grob geteilten Selbstverständnis etabliert hätte; dafür hätte es aber nicht nur eines erkennbaren und anerkannten Medienprofils bedurft, sondern auch der Etablierung einer gemeinsamen institutionellen Basis, also Ausbildungs- und Aufführungsorten, und eines entsprechend einheitlichen theoretischen Diskurses – eine Dimension, über die McIver Lopes überhaupt nichts mehr sagt, nachdem er in seiner Kritik an der Institutionentheorie der Kunst dafür argumentiert hat, dass sie als Bestimmung nicht ausreicht.

Noch aufschlussreicher ist sein Umgang mit den „hard cases“, den schwierigen Fällen. Der paradigmatische dieser Fälle ist Duchamps Fountain, das hier gerade nicht als Initialmoment eines generischen Kunstbegriffs genommen wird, da ein solcher von der Anlage der Theorie her ausgeschlossen werden soll. Vom generischen Kunstbegriff aus müssten die schwierigen Fälle als „free agents“ verstanden werden, als Werke, die sich der Zuordnung zu einer der Künste entziehen und in de Duves Sinne Kunst als solche, „at large“ sind, wenn sie nicht gar das Ende einer medial motivierten Differenzierung nach Künsten markieren, wie Osborne behauptet. Wenn man aber wie McIver Lopes die Existenz solcher „free agents“ bestreitet, muss sich eine Kunst finden, der sie zugeordnet werden können.

Die Vorstellung, Fountain sei Kunst allein daher, dass jemand, etwa „some person or persons acting on behalf of a certain social institution (the artworld)“Footnote 22 sie dazu erklärt habe, ignoriert den tatsächlichen Hintergrund. McIver Lopes weist auf die „elaborate performance“Footnote 23 hin: Duchamps Einreichung des Urinoirs bei der Society of Independent Artists, sein Rücktritt aus dessen Vorstand, als seine Kollegen es abgelehnt hatten, seine Rekrutierung des etablierten Alfred Stieglitz als Fotografen, die Publikation der Zeitschrift The Blind Man als ironisch-polemische Aufarbeitung des „Richard Mutt Case“. Das erweiterte, nicht an Materialität gebundene Verständnis von Medien erlaubt es McIver Lopes, all dies als das eigentliche Medium des Werks anzusehen, also Ideen, Konzepte, Handlungen und Interventionen – und nicht Porzellan – und daraus zu schließen, dass es sich wie Cages 4’33” und Robert Barrys Inert Gas Series um ein Werk der konzeptuellen Kunst handelt, nur dass Duchamp hier Vorreiter einer Entwicklung war, die erst einige Jahrzehnte später wirklich in Gang gekommen ist. Nun dürfte dies weitgehend unstrittig sein, und der transformierte Medienbegriff eröffnet die Möglichkeit, auch hier noch von einem beschreibbaren Medium jenseits der Sprachfixierung der frühen Konzeptkunst auszugehen.Footnote 24 Aber kann man wirklich sagen, dass die konzeptuelle Kunst eine „der Künste“ ist?

Nun rächt sich, dass McIver Lopes in seinen Bestimmungen an keiner Stelle auf institutionelle oder diskursive Rahmungen eingeht, sondern die ganze Last den Medien bzw. Medienkonstellationen aufbürdet. Nur von hier aus wird man derartiges behaupten können. Die konzeptuelle Kunst war aber eine künstlerische Strömung, die sich aus ganz unterschiedlichen Quellen speiste und deren radikale Ausprägung in den sechziger Jahren ihre Hochzeit hatte. Man kann nicht sagen, dass sie heute noch als kohärente Position vertreten wird, dafür hatte sie aber einen tiefgreifenden Einfluss auf die zeitgenössische bildende Kunst und auch in zahlreichen anderen Feldern. Osbornes im vorigen Kapitel dargestellte postkonzeptuelle Kunst ist das Ergebnis ihrer Universalisierung und gleichzeitigen Transformation. Sie als eine der Künste zu bezeichnen, nun wohl neben Malerei, Skulptur, Fotografie, Musik etc., verfehlt diese Situation.

Begründet liegt diese Operation in der theoretischen Anlage des Buches. Der sehr produktive Versuch, jeweils nach der Ebene zu suchen, auf der am meisten Aufschluss zu erwarten ist, das Credo, einen Bottom-up-Ansatz zu pflegen und von den Theoretisierungen und Selbstverständnissen im Feld auszugehen, kurz: eine philosophische Auseinandersetzung mit der künstlerischen Praxis zu pflegen, die sich nicht von irgendwelchen Allgemeinheitsnormen die Hände binden lässt, wird seinerseits gefesselt von einer unfruchtbaren theoretischen Alternative: entweder die Kunst oder die Künste, und wenn letzteres, dann ein zwar veränderliches, aber jeweils eindeutig gegliedertes Feld. Die theoretische Flexibilität und Offenheit werden kassiert, kaum dass sie behauptet worden sind, so dass am Ende eine durchaus differenzierte Auseinandersetzung mit den für jede Theorie schwierigen Fällen in eine unplausible Behauptung mündet, die als deus ex machina zur Rettung der Theorie eingesetzt wird.

Dieses Scheitern ist aber nicht auf theoretische Marotten des Autors zurückzuführen, sondern zeigt exemplarisch, dass ein Ansatz bei einer Pluralität der Künste nicht als Alternative zu einer Theorie der Kunst taugt. McIver Lopes’ Konsequenz macht dies lediglich besonders deutlich und ist insofern aufschlussreich. Wenn wir wirklich „the right level of specificity“ erreichen wollen, müssen wir das Feld künstlerischer Praxis anders in den Blick bekommen.

Daniel Martin Feige setzt hier insofern anders an, als er Kunst und Künste von vornherein als komplementär versteht und sich daher nicht auf eine der beiden Seiten schlagen muss. An die Stelle des Schwarzen Peters, der hin und her gereicht wird, tritt eine Dialektik von Einheit und Pluralität, mit der sich deutlich mehr anfangen lässt. Die Künste beschreibt er als „jeweils spezifische Stillstellungen von etwas, das sich historisch als prozessuales und dynamisches Feld der Kunst als solcher beschreiben lässt“.Footnote 25 Dazu passt gut, dass Feige sich in Computerspielen und Design (und in gewisser Weise auch schon beim Jazz) mit Bereichen beschäftigt hat, deren Kunststatus und Verhältnis zu anderen Disziplinen durchaus nicht klar ist, sondern auf eminente Weise zur Debatte steht und im Fluss ist. Wenn man diese Ränder nicht vorweg aus der Kunst ausschließen möchte, bedarf es einer offenen und flexiblen Theorie der Kunst und der Künste.

Dabei setzt auch Feige auf Medien, die er allerdings anders und noch einmal flexibler beschreibt als McIver Lopes’ „Medienprofile“. Sie werden verstanden als „unbestimmte Bestimmtheiten“,Footnote 26 da sie in jedem historischen Moment abgegrenzte Felder – Künste – bilden, aber nicht festgelegt sind im Hinblick auf das, was jeweils aus ihnen werden kann. Selbst die Rede von „Möglichkeitsräumen“ ist ihm zu stark, weil sie eine Eingrenzung vornimmt, deren Zuschnitt niemals gedeckt ist und letztlich als präskriptive Verengung einer offenen Zukunft verstanden werden muss. Man könnte es mit Bergson so formulieren: Die Feststellung von konkreten Möglichkeiten ist entweder ein retrospektiver Akt oder eine präskriptive Projektion. Wir können bestenfalls sagen, dass etwas möglich gewesen sein wird, was aber nicht besonders informativ ist.Footnote 27

Für die Künste muss dann gelten: „Film, Musik, Literatur und Computerspiel sind nicht zunächst feststehende ästhetische Medien, die dann noch und bloß sekundär in einen Austausch miteinander treten. Sie sind vielmehr nichts anderes als etwas, was in und durch solche Austauschprozesse immer wieder re-konstituiert wird.“Footnote 28 Auch wenn sie als Ausgangspunkt ernst zu nehmen sind, wird damit allen Versuchen ein Riegel vorgeschoben, ihre Grenzen festzuschreiben und Überschreitungsbewegungen als illegitim abzutun; ob sie künstlerisch überzeugend und ergiebig für weitere Arbeit sind, ist eine andere Frage, die sich nicht vorab beantworten lässt. Feige überträgt das Motiv einer Selbstreflexion der Kunst in jedem Einzelwerk, das wir bei Bertram gefunden haben, auf die Ebene der Künste, wenn er schreibt, „dass mit jedem Werk nicht allein die Konturen der eigenen Kunst wie der anderen Künste neu ausgehandelt werden, sondern dass auch zur Disposition steht, welche Künste es überhaupt gibt“.Footnote 29

Dass dies deutlich von der Situation der Gegenwart aus gedacht ist und selbst hier eine Überlastung für das einzelne Werk darstellt, wurde bereits im vorigen Kapitel bemerkt; gemildert werden mag dies dadurch, dass es sich hier um eine prinzipielle Feststellung handelt, die nichts über den Konservatismus oder die Grenzen sprengende Kraft faktischer Arbeiten sagt. Dass die Grenzen im Prinzip zur Disposition stehen, bedeutet nicht, dass sie nicht in der Regel bestätigt werden. Trotzdem lässt sich von hier aus nicht genug über die faktische Stabilität und das Beharrungsvermögen der einzelnen Künste sagen. Es droht die Gefahr, das Feld der Kunst/der Künste als reinen Zusammenhang künstlerischer Arbeiten erscheinen zu lassen, die sich aufeinander beziehen, voneinander abstoßen etc. und auf diese Weise ihre eigene Ordnung hervorbringen und zumindest potentiell fortwährend verschieben. Diese Ordnung der Künste erinnert an diejenige der Zeichen, wie sie der frühe Derrida beschrieben hat, in der Iteration als Gleichzeitigkeit von Wiederholung und Abweichung jede Vorstellung einer stabilen, sich schließenden Struktur unterläuft.Footnote 30

Nun erkennt Feige die „institutionellen, sozialen wie diskursiven Bedingungen“ an und bemerkt, diese seien „nichts der jeweiligen Künste Fremdes oder Äußeres, sondern wären als integrale Dimensionen des entsprechenden Aushandlungsprozesses zu erläutern“.Footnote 31 In der Tat sind es vor allem, aber nicht nur sie, die Stabilität garantierten und dafür sorgen, dass disziplinäre Bestimmungen und Grenzen weitgehend aufrechterhalten werden und eben nicht in einem fluiden Feld ständig wechselnder Bezüge aufgehen. Die prinzipiell offene künstlerische Arbeit und die institutionellen Rahmungen nicht als einander gegenüberstehende Größen, sondern als miteinander vermittelt zu begreifen, erscheint mir als der richtige Weg, der bei Feige aber noch unterbestimmt bleibt. Der Medienbegriff kann diese Last nicht wirklich tragen; die nächsten beiden Kapitel werden versuchen, die Konstellation von Material und Ort an diese Stelle zu setzen, mit denen die Vermittlung von künstlerischem Handeln und Institution, von Offenheit und Stabilität, durch die die gegenwärtige Situation sich auszeichnet, besser gedacht werden kann. Eher als mit einem System der Künste hat diese Gegenwart es mit ihrem Nachleben zu tun.

3 Der Blick der Bildungsbürgerin

Kristeller gibt einen bedenkenswerten Hinweis, der die ganze Rede von den Künsten noch einmal in einem anderen Licht erscheinen lässt: „The fact that the affinity between the various fine arts is more plausible to the amateur, who feels a comparable kind of enjoyment, than to the artist himself, who is concerned with the peculiar aims and techniques of his art, is obvious in itself and is confirmed by Goethe’s reaction.“Footnote 32 Er bezieht sich hier auf die Invektive des jungen Goethe gegen den Enzyklopädisten der Künste Sulzer, die es wert ist, selbst zitiert zu werden: „Da sind sie denn, versteht sich, wieder alle beisammen, verwandt oder nicht. Was steht im Lexiko nicht alles hintereinander? Was läßt sich durch solche Philosophie nicht verbinden? Malerei und Tanzkunst, Beredsamkeit und Baukunst, Dichtkunst und Bildhauerei: alle aus einem Loche, durch das magische Licht eines philosophischen Lämpchens auf die weiße Wand gezaubert, tanzen sie im Wunderschein buntfarbig auf und nieder, und die verzückten Zuschauer frohlocken sich fast außer Atem.“Footnote 33 Ganz ähnlich noch Adorno, wenn er das „rührend Philiströse des Plurals“ vermerkt, hinter dem „eine Vielheit für den kontemplativen Betrachter ausgestellter Güter, von der Küche bis zum Salon“,Footnote 34 zu erwarten ist.

Die Vorstellung eines Systems ordentlich nebeneinander liegender Künste ist, folgt man Goethe, eine einem bestimmten Typ Rezeption entstammende, die mit der tatsächlichen Praxis der Künstler*innen wenig zu tun hat. Der Philosoph stellt von oben herab eine Ordnung des Lexikons auf, in der allein die homogene Gestalt der Einträge eine Homogenität der behandelten Gegenstände suggeriert, die es in Wirklichkeit nicht gibt, wobei er an die Perspektive des universal interessierten und kunstbeflissenen Laien anschließen kann, der vom Museum ins Konzert und von dort in den literarischen Salon geht und so seinen ästhetischen Sinn auf mannigfache Weise angesprochen findet. Das imaginäre Museum, das Sulzer durchwandert, enthält die Arbeiten aller Künste; zwar muss man den Ort und manchmal auch das sinnliche Register wechseln, um sie zu sehen oder zu hören, aber letztlich liegen sie alle auf der gleichen Ebene nebeneinander.Footnote 35

Hier darf sich auch ein Teil der gegenwärtigen philosophischen Ästhetik in Deutschland angesprochen fühlen, die seit geraumer Zeit von der Berufung auf ästhetische Erfahrung dominiert wird. Natürlich ist die Betonung der Erfahrung nicht gleichbedeutend mit einer schlichten Rezeptionsästhetik; sie war und ist wesentlich eine Reaktion auf eine einseitige Werkästhetik, die von einem objektivistischen und autoritativen Verständnis des Werks ausgeht und dabei unterschlägt, dass noch das geschlossenste Werk auf die entfaltende Realisierung in der Erfahrung angewiesen ist. „Erfahrung“ ist hier also eine Vermittlungskategorie und steht überdies als Chiffre ebenso für „Interpretation, Kommentar, Kritik“, die laut Adorno der „Schauplatz“ der geschichtlichen Existenz der Werke sind.Footnote 36 Über Adorno hinausgehend wurde dabei vor allem auch die untilgbare Offenheit und Unkontrollierbarkeit der Erfahrung hervorgehoben, die jedem objektivistischen oder allzu normativen Verständnis einen Strich durch die Rechnung macht. In der Debatte wurde dies auch als Möglichkeit verstanden, auch dann weiter von Werken zu sprechen, wenn ein starker Werkbegriff längst nicht mehr vertreten werden kann.Footnote 37

Es kann nicht darum gehen, hinter diesen Stand der Diskussion zurückzufallen. Trotzdem könnte in der Fokussierung auf Erfahrung eine nivellierende Tendenz liegen. Auf die Frage, wie „uns“ die Kunst „gegeben ist“, lautet die Antwort ohne Zögern „durch unsere Erfahrung“, und zwar „gleichgültig, ob wir in der Position von Produzenten oder Rezipienten sind“.Footnote 38 Es ist natürlich richtig, dass auch Künstler*innen sich erfahrend auf ihre eigenen Produkte beziehen müssen, und zwar bereits im Gestaltungsprozess selbst. Dennoch überrascht die kategorische Subsumtion der künstlerischen Praxis unter den trotz allem primär auf die Rezeption verweisenden Begriff. Wenn die Geschichte der Kunst nicht nur im Fortleben und der sich verändernden Auffassung der Werke der Vergangenheit besteht, sondern auch und vor allem im inneren Bezug künstlerischer Arbeiten auf andere, ihnen vorausgegangene, stellt sich die Frage, ob der Erfahrungsbegriff hier wirklich ausreicht.

Auch die Abgrenzungs-, Überschreitungs- und Hybridisierungsbewegungen, von denen Adorno, McIver Lopes und Feige alle auf unterschiedliche Weise ausgehen, lassen sich von hier aus kaum angemessen fassen. Für die universalisierte ästhetische Erfahrung macht es am Ende keinen wirklichen Unterschied, ob die Künste klar voneinander getrennte Disziplinen sind, ob mit ständigen Übergängen und Verschiebungen zu rechnen ist, ob sie geradezu „im Zeichen der Entgrenzung der Künste“Footnote 39 stattfindet, ob sie es mit Werken einer intern ausdifferenzierten Kunst im Singular zu tun hat oder gar ob ihre Gegenstände überhaupt aus der Kunst stammen. Alle diese Konstellationen müssen natürlich zur Kenntnis genommen werden, erscheinen aber im hellen Licht der Erfahrung als innere Gliederungen und Bewegungen eines letztlich einheitlichen Feldes, das von einem allseitig interessierten Publikum beliebig durchwandert und goutiert werden kann.

Mir ist klar, dass sich die meisten Proponent*innen der ästhetischen Erfahrung gegen diese etwas unfreundliche Zuspitzung verwahren würden. Sie soll auch weniger als Charakterisierung realer Autor*innen denn als im Begriff angelegte Tendenz verstanden werden. Mit Goethe müsste man fragen, wo hier die Perspektive derjenigen bleibt, die, in welchem Bereich und an was auch immer sie arbeiten, dieses einheitliche Feld niemals zu Gesicht bekommen, sondern deren Probleme immer spezifische sind, je nachdem, von wo aus, mit was und in welchem Kontext sie arbeiten. Damit ist natürlich nicht gemeint, dass Künstler*innen in jedem Fall in einer durch ihre Herkunft beschränkten Perspektive gefangen oder konstitutiv unfähig zu übergreifender Reflexion sind, sondern dass die künstlerische Arbeit immer konkret und spezifisch ist und dass auch Überschreitungsbewegungen und wechselseitige Inspirationen nichts daran ändern.

Meines Erachtens lässt sich diese Situation auf besonders produktive Weise mit dem Begriff des künstlerischen Materials beschreiben, der dem der Erfahrung zumindest an die Seite gestellt werden muss und den das folgende Kapitel ausarbeiten wird. Er schließt eher an die konkrete künstlerische Arbeit als an die Perspektive der Rezeption an, muss aber letztlich, nicht anders als ein gehaltvoller Begriff der Erfahrung, als Kategorie der kritischen Reflexion und insofern als philosophischer Begriff verstanden werden.