Am Eingang zur Ausstellung wird der Besucher von einer Art Zeremonienmeister empfangen, der nach seinem Namen fragt und diesen dann laut in den Ausstellungsraum ruft – ich bin als Gast anerkannt und angekündigt und betrete den Innenraum. Der Einstieg ist ein wenig manieriert, aber die Art der Markierung des Eintretens trifft den Charakter des Ganzen. Man betritt einen Raum, dem man nun für eine Zeit angehört, so wie alle anderen; allerdings nicht im etwas pathetischen Sinne einer temporären Gemeinschaft, sondern eher in einem losen Mit- oder Nebeneinander, in dem reale Interaktion und gegenseitiges Desinteresse gleichermaßen zugelassen sind. Die Ausstellung, die ich betreten habe, ist die zweite Station der ersten großen Retrospektive von Pierre Hyughe 2014 im Museum Ludwig in Köln. Sie soll hier im Hinblick auf ihre raumzeitliche Artikulation betrachtet werden.Footnote 1

Eine Retrospektive besteht für gewöhnlich in einer repräsentativen Auswahl der Arbeit eines einzelnen Künstlers oder einer Künstlerin, die einen vergleichenden Überblick über die Entwicklung erlaubt. In gewisser Weise steht sie für die endgültige Musealisierung auch dessen, was seinen Ort von Anfang an im Museum hatte. Auch wenn der Begriff der Retrospektive aus der bildenden Kunst stammt, gibt es auch in anderen Disziplinen Vergleichbares, etwa die Konzertreihe, und noch nicht einmal die angeblich ephemere, unwiederholbare Performance muss hier außen vor bleiben. Problematischer sind ortsspezifische Arbeiten, die sich nicht ohne weiteres ins Museum transferieren lassen, und Aktionen, die eine klare historische Situierung haben. Sie werden für gewöhnlich in Form der Dokumentation eingeschlossen.

Huyghe bewegt sich mit seinen Arbeiten genau in diesem nur schwer einzusammelnden Bereich, und seine Retrospektive funktioniert grundlegend anders. Sie umfasst Filme, Fotos, Zeichnungen, eine Partitur, Installationen, Objekte, lebende Wesen und Performances, also die ganze Palette an Materialien und Formaten, die man von postmedialer Kunst erwartet. Allerdings verfehlt diese Aufzählung, worum es geht: Die ganze Ausstellung ist eine einzige raumzeitliche Komplikation, und das jeweils Gezeigte ist ein Moment dieser Komplikation. Das degradiert es nicht zur bloßen Illustration einer Frage oder eines Prinzips; im Gegenteil geht es um das jeweils Spezifische. Auch für diese Ausstellung gilt, was Huyghe zwei Jahre vorher bemerkt hat: „Es geht um eine Verzeitlichung der Ausstellung, um ihre Programmierung und ihre Rhythmik – also ihre Präsentation oder ihr Verschwinden, ihr Zögern, ihre fragile Existenz, ihre Weigerung sich zu fixieren.“Footnote 2

Amelia Barikin beschreibt Huyghes Arbeit insgesamt als Versuch, „to get a handle on the present“.Footnote 3 Für ihn ist damit allerdings nicht nur die Zeit gemeint, sondern die Frage der Anwesenheit, des geteilten Raums: des Hier und Jetzt. Gegenwärtigkeit in den Griff zu bekommen hat hier nichts mit der Fetischisierung von Präsenz und Ephemeralität zu tun, sondern geht von vornherein von ihrer Komplikation aus bzw. erzeugt und vergrößert sie systematisch. Anwesenheit ist immer bezogen auf und durchzogen von Abwesenheit, denn hier verweist beinahe jede Arbeit auf etwas, das früher an einem anderen Ort stattgefunden hat: Videos und Fotos dokumentieren Aktionen und Installationen, ein Film zeigt eine reale Antarktisexpedition, die auf einer imaginären Expedition beruhte, und ihre Reinszenierung auf einer Eisbahn im New Yorker Central Park (A Journey That Wasn’t), ein paar Schuhe auf einem Podest sind die Reste einer Performance, die früher an einem anderen Ort stattgefunden hat (Singing in the Rain), ein Teppich aus dem Verwaltungstrakt des Museums zeigt die Spuren jahrelanger Wege (Teppichboden), eine durch die Ausstellung wandernde Person mit einem vor das Gesicht geschnallten leuchtenden Buch (Player) zitiert den Film The Host and the Cloud, der eine Aktion in einem verlassenen Museum dokumentiert, eine schrundige, schwärzliche Eisfläche wiederholt eine Installation aus dem Kunsthaus Bregenz, aber der Eisläufer, der auch hier noch auf ihr gefahren ist, ist nicht mehr da (L’Expédition scintillante, Acte 3 (Black Ice Stage)), die Statue eines Frauenakts, auf deren Kopf sich ein Bienenschwarm niedergelassen hat, und der Hund Human stammen aus der Arbeit Untilled auf der Documenta 13 zwei Jahre zuvor, selbst die temporären Wände der Ausstellung sind aus ihrer früheren Inkarnation im Centre Pompidou mitgenommen worden.

James Meyers im vierten Kapitel aufgegriffener Begriff der „functional site“ scheint eine perfekte Beschreibung dieser Verhältnisse zu bieten: „a locus of overlap of text, photographs and video recordings, physical places and things […] a temporary thing, a movement, a chain of meanings devoid of a particular focus“.Footnote 4 Was dieser Begriff beschreibt, ist nicht mehr eigentlich ein Ort, weder im physischen noch im geographischen, institutionellen oder diskursiven Sinne, sondern ein sich verschiebender Zusammenhang von Orten und Zeiten. Man könnte sagen, dass es das einzelne Werk ist, das diesen Zusammenhang herstellt oder besser: sich in diesem Zusammenhang verkörpert, wie es Osborne mit seinem Begriff der distributiven Einheit des postkonzeptuellen Werks tut, wo von einer „radically distributive – that is, irreducibly relational – unity of the individual artwork across the totality of its multiple material instantiations, at any particular time“Footnote 5 ausgegangen werden soll. Wir hätten es dann in Huyghes Ausstellung mit jeweils einer Dimension oder einem Aspekt der Werke zu tun, deren Distribution sich als Verweis auf ein Anderswo und eine andere Zeit zeigt, Werke, die wesentlich und notwendig zum großen Teil abwesend sind. Was wir tatsächlich sehen, sind Wiederholung, Überbleibsel, Spur, Dokumentation, Performance und Geschehen.

Letzteres scheint dabei eine besondere Rolle einzunehmen, beruht es doch auf gemeinsamer Anwesenheit, und während sich noch die mit Fischen und Krustentieren bevölkerten Aquarien als eine Art bewegtes Bild betrachten lassen, ist der durch die Ausstellung streifende Hund mit dem rosafarbenen Bein unzweifelhaft real und bewegt sich auf demselben Boden wie die Besucher*innen. Die Begegnung mit ihm, so scheint es, findet wirklich im Hier und Jetzt statt, ohne von sich weg zu weisen. Nur: Er reagiert so gut wie gar nicht auf Versuche der Kontaktaufnahme, weder mit Zu- noch mit Abwendung, sondern setzt seinen Weg unbeeindruckt fort, so dass am Ende die Interaktion mit den anderen Arbeiten, mit den Filmen, den Objekten, dem Staub auf dem Boden, realer erscheint als die mit dem lebenden Tier. Wenn es tatsächlich denselben Ort bewohnt wie ich, bewohnt es ihn nicht auf dieselbe Weise, so dass auch hier eine innere Differenz spürbar wird, die die gemeinsame Präsenz von sich selbst entfernt.

Auch wenn die Begriffe des funktionalen Ortes und der distributiven Einheit des Werks offensichtlich etwas an Huyghes Arbeiten treffen, stehen sie in gewisser Weise doch quer zur Erfahrung der Ausstellung. Sie suggerieren eine Erfahrung, die wesentlich von Abwesenheit und Lücken geprägt ist, so wie es Enwezor und Szymczyk systematisch herstellen wollten und wie es sich bei der documenta fifteen immer wieder von allein herstellte. Auch hier ist es zweifellos so, dass man das allermeiste verpasst hat und vermutlich nicht einmal die Filme, die auch hier keine Zeitsignatur tragen, alle im Ganzen ansehen wird – allein The Host and the Cloud ist über zwei Stunden lang. Aber die tatsächliche Erfahrung ist nicht die der Abwesenheit, sondern die einer sehr dichten und komplexen Präsenz. Die raumzeitliche Dispersion alles Ausgestellten zeigt sich schnell: Die Ausstellung ist kein Ganzes, sie stellt kein Ganzes dar und sie lässt sich nicht als ganze erfahren. Auch hier ist eine frühere Beschreibung von Huyghe selbst treffend: „Es gibt keine geteilte Erfahrung und keine ausgesprochene und domestizierende Anrede an einen Betrachter. Es gibt nur Zeugen in einem Garten.“Footnote 6 In Bezug auf einen Garten wäre das Ideal der Vollständigkeit, die Vorstellung, alles sehen zu können oder zu müssen, von vornherein abwegig, und tatsächlich überträgt sich etwas davon.

Man kann sich an manchen Orten sehr lange aufhalten, etwa bei der unwirklichen Licht- und Nebelinstallation L’Expédition scintillante, Acte 2 (Light Box) mit Musik von Erik Satie, oder auch nur kurz vorbeistreifen – wo es keine „domestizierende Anrede“ gibt, gibt es auch keine falsche Weise der Rezeption. Distribution und Dispersion sind hier paradoxerweise kein Hindernis für Präsenz, und dass sich keine der gezeigten Arbeiten bei sich selbst beruhigt, ist kein Grund für Unruhe. Am Ende relativiert sich noch die Vorstellung der distributiven Einheit: Das Fest, das Huyghe für die Bewohner des Ortes Streamside Knolls erfunden hat, ist eines, der Film, der dieses Fest dokumentiert (Streamside Day) ist ein anderes (und meine Erfahrung eines Teils dieses Films in der sehr spezifischen Situation und dann später noch einmal im Ganzen zu Hause am Computer ist ein drittes). Natürlich verweisen sie aufeinander, aber man muss sie nicht als Teile einer über Zeit und Raum verteilten Sache auffassen, und es ist nicht einzusehen, was damit gewonnen wäre, ihren Zusammenhang als eigenen Ort zu begreifen. Alles, was stattfindet, findet jetzt statt – selbst die Schuhe, die unverändert auf ihrem Podest stehen, und die Fotos, bei denen wirklich fast nichts von dem übrigbleibt, was sie dokumentieren.

In dieser Hinsicht hat die gesamte Ausstellung etwas von einer Aufführung. Während die Einbeziehung performativer Arbeiten ins Museum ein Ausstellen des Aufführens ist, haben wir es hier mit einem Aufführen des Ausstellens zu tun. Dies geht deutlich über die Betonung der „realitätserzeugende[n] Dimension“Footnote 7 aller Kunst hinaus, die mit dem Topos der Performativität bezeichnet worden ist, und es betrifft die Ausstellung als ganze. Sie wirkte wie ein komplexes Gesamtgeschehen, innerhalb dessen auch die für sich genommen relativ stummen und künstlerisch nur bedingt interessanten Fotos eine Rolle spielten. Die an diesem Geschehen beteiligten realen Personen und Organismen werden so gerade nicht in einer kategorialen Differenz zu den Objekten und Videos wahrgenommen, wie es normalerweise der Fall wäre. Dass ihr Handeln ausgestellt wird, wird durch den Aufführungscharakter der Ausstellung ausbalanciert.

Huyghes Material stammt aus Readymades, unterschiedlichsten Weisen, sich selbst entwickelnde Prozesse anzustoßen, performativen Arbeiten innerhalb der bildenden Kunst, inszenierter Fotografie, konzeptuellen Strategien und anderem mehr. Vor allem aber ist sein Material das Verhältnis zwischen all dem – Aktion und Dokumentation, Übergang und Relation, Handeln und Geschehenlassen. Woran auch immer er konkret arbeitet, immer sind es diese Beziehungen, auf die sich die Gestaltung bezieht. Für sich genommen ist auch dieser Museumsraum ein generischer Ort nur im Sinne des temporären Einsammelns und Versammelns, aber Huyghes Arbeiten machen ihn zu einem generativen Möglichkeitsraum im Sinne des vorigen Kapitels. Alles, was hier stattfindet, ist spezifisch, nichts allgemein, und vielleicht kann der Raum der Ausstellung in einem anderen Sinne als funktionaler Ort beschrieben werden, als ein Ort, der die Relationalität aller Orte und die Pluralität der Zeiten in sich aufgenommen hat und zur Darstellung bringt, ohne sie in einen einheitlichen Gesamtrahmen zu zwingen. Nichts ist nur hier und jetzt, und doch findet alles, was stattfindet, hier und jetzt statt, denn mehr ist nicht zu haben. Aber mehr braucht es auch nicht.

Die Ausstellung von Pierre Huyghe kann es sich leisten, mit Entfernung und Entzug auf eine Weise umzugehen, die nicht Mangel, sondern Fülle bedeutet. Es ist kein Zufall, dass es ein weißer, europäischer Mannes ist, der das Privileg hat, auf diese Weise zu arbeiten und ausgestellt zu werden, und dies scheint uns weit weg von den am Ende des vorigen Kapitels verhandelten Fragen zu bringen. Trotzdem bietet die Ausstellung ein Bild eines gelungenen Zusammenhangs von Orten und Zeiten an, das ihre Heterogenität nicht verschleiert oder verschleift und sie doch versammeln kann. Eine solche Versammlung muss nicht von einer einzigen Person verantwortet und zusammengehalten werden – ein Name ist am Ende zu wenig. Was, wenn wir die Art, wie sie Raum und Zeit artikuliert, als kollektiven Projektraum denken, der weder auf disziplinären Grenzen noch auf seinem festen Platz und seinem Status als Zentrum beharrt?