Was ist eine „Oper in 8 Räumen“? So nämlich lautet der Untertitel von Hannes Seidls im Sommer 2021 in der basis in Frankfurt am Main realisiertem Projekt We Can Be Heroes.Footnote 1 Dass es sich dabei um eine Art Crossover mit unklarer disziplinärer Zugehörigkeit handelt, kann bereits diesem Titel und den äußeren Daten abgelesen werden: Die basis ist eine „Produktions- und Ausstellungsplattform“, also eine Institution der bildenden Kunst, Seidl ist Komponist, der in den vergangenen Jahren immer wieder mit installativen und partizipativen Arbeiten hervorgetreten ist (das Multimediale versteht sich mittlerweile beinahe von selbst). Der Selbstbeschreibung des Projekts zufolge handelt es sich um eine Oper, die nicht auf einer Bühne stattfindet, sondern begehbar ist, die nicht durch ihren Apparat definiert ist und in der das Publikum selbst im Mittelpunkt steht. Seidl selbst tritt hier gerade nicht als Komponist im engeren Sinne in Erscheinung, sondern als eine Art künstlerischer Kurator, der sieben andere Komponist*innen und Klangkünstler*innen eingeladen hat, je einen Raum zu gestalten. Er definiert den Rahmen der Arbeit, stellt die Leitfragen, koordiniert die einzelnen Arbeiten und arbeitet an ihrer Realisierung mit.Footnote 2

Offenbar hat die Frage, was We Can Be Heroes eigentlich ist, welcher Disziplin und/oder welchem Genre es angehört, keine klare Antwort. Darin unterscheidet es sich natürlich kaum von vielen anderen künstlerischen Arbeiten der Gegenwart; auch die irritierende Bezeichnung als „Oper“ hat Vorgänger. Anne Imhof wollte ihren Angst-Zyklus 2016 in Basel, Berlin und Montréal ebenfalls so verstanden wissen, und auch ihr Faust, das auf der Biennale in Venedig ein Jahr später den Goldenen Löwen gewann, wurde als Oper bezeichnet. Beide Stücke haben einen performativen Kern und arbeiten mit Musik, fanden aber ebenfalls in Institutionen der bildenden Kunst statt. Bereits ein Jahr zuvor hatte Patrick Frank bei den Donaueschinger Musiktagen, also diesmal im Kontext der Neuen Musik, seine „Theorieoper“ Freiheit – die eutopische Gesellschaft aufgeführt, bei der er ähnlich wie Seidl eine Reihe von Kolleg*innen für musikalische Beiträge und zusätzlich dazu noch einige Philosoph*innen für theoretische Vorträge eingeladen hatte (weitere Versionen fanden 2016 in Zürich und 2017 in Berlin statt). Das Programm dauerte mehrere Stunden, das Publikum saß an langen Tischen bei Bier und Brezeln.

Eine geläufige Diagnose wäre nun, dass wir eben in einer Situation sind, in der die Grenzen zwischen den künstlerischen Disziplinen oder Künsten zunehmend porös werden, wenn sie sich nicht ganz auflösen und wir uns einer singulären Kunst nähern, innerhalb derer mit den verschiedensten Medien und in den unterschiedlichsten Produktionsweisen und sozialen Konstellationen gearbeitet werden kann. Die vier „Opern“ gehen damit sehr verschieden um: Imhofs Angst II im Hamburger Bahnhof in Berlin war eine Art immersives Wagnerianisches Spektakel, „eine malerische Komposition, die sich aus Musik, Texten, skulpturalen Elementen und Akteuren, Falken und gesteuerten Drohnen zu einem Gesamtbild zusammenfügt“Footnote 3; Faust war demgegenüber etwas abgekühlt und bot auch eine begehbare Reflexion über ausgestellte Körper, Blick- und Raumregime; Freiheit – die eutopische Gesellschaft war ein musikalisch-diskursives Festival im Festival; We Can Be Heroes war ein reflexives Kammerspiel, das die Zuschauer*innen auf sich selbst zurückwirft und seine eigene Heterogenität nicht versteckt, sondern ausstellt. All das ist heute möglich. Scheinbar hat Hegel bereits die Situation nach dem Zerfall der romantischen Kunstform in ganz ähnlicher Weise beschrieben: „In dieser Weise steht dem Künstler, dessen Talent und Genie für sich von der früheren Beschränkung auf eine bestimmte Kunstform befreit ist, jetzt jede Form wie jeder Stoff zu Dienst und zu Gebot.“Footnote 4

So geläufig dieses Verständnis ist, es wirft doch einige Fragen auf. Die Durchlässigkeit künstlerischer Grenzen für Medien, Verfahren und, zu einem geringeren Grad, Personen kann schlecht bestritten werden, ebenso wenig die Infragestellung ihrer Autonomie. Wie sich diese Situation zu historischen Vorläufern wie dem interdisziplinären Aufbruch der 1960er-Jahre verhält, ist eine Frage, die nicht einfach zu beantworten ist.Footnote 5 In jedem Fall trifft Adornos berühmte Diagnose, dass nichts an der Kunst mehr selbstverständlich sei,Footnote 6 zweifellos auch auf die veränderten Bedingungen der Gegenwart zu. Aber haben wir es wirklich mit einer Tendenz ihrer Auflösung zu tun? Was ist mit der unverkennbaren Beharrlichkeit mancher Grenzen, etwa um die Neue Musik, aus der man zwar herauskommt, aber niemand hereingelassen wird, der nicht die entsprechende harte Schule durchlaufen hat? Was für einen Einfluss haben Medien- und vor allem Ortswechsel auf die konkrete künstlerische Arbeit? Gerade Seidls Arbeit zeigt die Reibungen und Interferenzen, die zwischen den einzelnen Disziplinen weiterhin herrschen, ihre unterschiedlichen Codes, Normen und Diskurse, und macht sie für sich produktiv. Bei allem Crossover geht hier gerade nichts ineinander auf.

Eher als von der Auflösung von Grenzen und Traditionen sollte man vorsichtiger anschließend an Adorno von einer alle Dimensionen ergreifenden Verunselbstverständlichung sprechen, von der jede Auseinandersetzung mit der Kunst der Gegenwart ausgehen muss. Die Frage ist dann, mit welchen Begriffen sich diese Situation am besten beschreiben lässt. Die Begriffe der „Kunst“ im Singular und der „Künste“ im Plural gehen von der Grundintuition aus, dass das Feld künstlerischer Arbeit auf irgendeine Weise zusammenhängt und sich von anderen Formen menschlicher Praxis abgrenzt, dabei aber nicht in Gleichförmigkeit aufgeht, sondern in jedem Fall auf irgendeine Weise intern gegliedert ist. Dafür sollten sie nicht gegeneinander ausgespielt, sondern in ihrer gegenseitigen Verwiesenheit verstanden werden.Footnote 7 Insofern sind diese Begriffe als komplementäre Beschreibungen kaum vermeidbar – von ihrer alltäglichen Verwendung ganz abgesehen.

Nun ist der Kunstbegriff in der Philosophie notorisch umstritten; er muss als „essentially contested concept“Footnote 8 gelten. Kendall Walton hat festgehalten, dass die Strittigkeit sich nicht nur auf den Gehalt des Begriffs oder die Strategie der Argumentation bezieht, sondern bereits auf die grundlegenden Frage, wonach eigentlich mit welchem Ziel und in welchem Kontext gefragt wird: „It is not at all clear that these words – ‚What is art?‘ – express anything like a single question, to which competing answers are given, or whether philosophers proposing answers are even engaged in the same debate.“Footnote 9 Was in unserem Kontext zur Debatte steht, ist nicht die äußere Abgrenzung von Kunst, sondern ihre innere Gliederung, das von zahlreichen Verbindungslinien durchzogene, aber alles andere als einheitliche künstlerische Feld der Gegenwart. Was kann der Kunstbegriff hier leisten?

Sicherlich ist ein Begriff von Kunst, der den inneren Verschiebungen und radikalen Infragestellungen des 20. Jahrhunderts Rechnung trägt, dazu besser geeignet als einer, der all dies ignoriert und die Heterogenität künstlerischer Arbeit durch großzügige Verallgemeinerungen oder auch normative Ausschlüsse zum Verschwinden bringt. Am produktivsten erscheint ein Begriff, der nicht einfach offen ist, sondern diese Offenheit systematisch auf die historische Entwicklung bezieht. Eine solche Theorie müsste erfassen können, dass der Begriff heute real ein anderer ist als vor zweihundert oder gar fünfhundert Jahren, dass diese Veränderungen aber als konstitutive Dimension seiner selbst betrachtet werden müssen. Auch muss sich ein solcher Begriff der Frage stellen, ob er radikalen Herausforderungen von außen, sei es im gesellschaftlichen, kulturellen oder geopolitischen Sinne, durch Erweiterung oder Transformation begegnen könnte oder ob er sich provinzialisieren und einschränken lassen müsste. Und dennoch: Ein flexibler, historisch informierter und kontextsensitiver Kunstbegriff bietet zwar den Rahmen, innerhalb dessen die innere Verfasstheit des Feldes der Gegenwart beschrieben werden kann, stellt aber selbst keine Mittel zu seiner Analyse bereit. Wenn wir wissen wollen, was jeweils konkret geschieht, müssen wir auf einer weniger allgemeinen Ebene ansetzen.

Prima facie scheint der komplementäre Plural der Künste genau dies zu leisten. Er leitet die Untersuchung auf die Ebene der internen Gliederung des Feldes der Kunst und kann mit Recht darauf verweisen, dass der größte Teil der wirklich interessanten und sowohl materialgesättigten als auch theoretisch informierten Diskussion auf der Ebene der Einzeldisziplinen stattfindet. Jenseits einer relativ unschuldigen Alltagsverwendung des Plurals sind die Probleme aber genauer betrachtet eher noch größer: Was darf als eine der Künste gelten? Ist die Performance eingeschlossen? Die Videokunst? Sind Malerei und Skulptur noch als Künste zu bezeichnen, oder ist es die bildende Kunst insgesamt? Was hält die einzelnen Künste zusammen, wodurch differenzieren sie sich? Auch wenn sich ihre Zahl und ihr Zuschnitt verändern mag, gibt es in jedem historischen Moment eine abzählbare Menge? Offenbar wird hier eine traditionsreiche, sehr spezifische Einteilung vorausgesetzt oder zumindest suggeriert, der kaum alle praktisch oder theoretisch Beteiligten zustimmen werden. Auch wenn sie historischen Wandel im Hinblick auf die Zahl und den Zuschnitt der so unterschiedenen Einheiten zugesteht, hat eine solche Einteilung doch strukturelle Schwierigkeiten mit Übergangs- und Hybridphänomenen, wie sie etwa unsere drei „Opern“ darstellen. Sie müssen mit anderen Begriffen beschrieben werden als mit denen der Kunst und der Künste.

Peter Osborne spricht in seiner Philosophie der zeitgenössischen Kunst, die vor allem im ersten und letzten Kapitel eine Rolle spielen wird, vom „afterlife of mediums within a post-medium condition“.Footnote 10 Der Medienbegriff im hier gemeinten Sinne des spezifischen Arbeitsfelds einer Kunst, das ihr Aufgaben vorgibt und Grenzen setzt, kann als Nachfolgebegriff der Künste verstanden werden, als Versuch, ihre Ordnung unter veränderten Bedingungen aufrechtzuerhalten. Insofern ist es von hier nicht weit, von einem Nachleben der Künste in der Gegenwart auszugehen, einer Situation, in der sie ihre scheinbare Substanzialität verloren haben und nicht mehr als unhintergehbare Grundlage für die Produktion und das Verständnis künstlerischer Arbeiten dienen können, aber auf diskursiver und institutioneller Ebene dennoch weiterhin wirksam sind. Es sind diese Institutionen, die das Nachleben eines Systems der Künste um einiges wirkmächtiger machen, als es ein bloßes Fortbestehen der künstlerischen Medien nach dem Ende ihrer Verbindlichkeit sein könnte.

Wenn es um diese Ebene der institutionellen und diskursiven Wirklichkeit künstlerischer Einteilungen geht, ist der Begriff der Disziplinen angemessener als der der Künste, der den Anschein von Substantialität kaum ablegen kann. Er hat den Vorteil eines Doppelsinns, der für unseren Kontext besonders produktiv ist: Zum einen weckt er vor allem akademische Assoziationen im Sinne einer Aufteilung in Fächer, die oft beklagt und deren Grenzen durch inter- oder transdisziplinäre Anstrengungen überschritten werden sollen, zum anderen verweist er aber auch auf eine bestimmte Praxis der Ausbildung, die in manchen Bereichen einer Abrichtung gleichkommt. Künstlerische Disziplinen sind durch ihre Institutionen, die in ihnen praktizierten Habitualisierungen der Produktion und Bewertung und die Art geprägt, wie sich ihr Selbstverständnis artikuliert. Grad und Art der Abgrenzung und Disziplinierung sind dabei durchaus unterschiedlich, fehlen aber nie. Von hier aus ist es auch sinnvoll, statt von Medienspezifität von „disciplinary specificity“ zu sprechen, wie es die Tanzwissenschaftlerin Erin Brannigan tut.Footnote 11

Um all dies in den Blick zu nehmen, möchte ich zwei andere Begriffe vorschlagen, mit denen die tatsächlichen Zusammenhänge und Heterogenitäten besser gedacht werden können: Material und Ort. Die Begriffe setzen auf einer anderen Ebene an und funktionieren anders als diejenigen der Kunst und der Künste, sie sind operative Begriffe, mit denen diachrone und synchrone Zusammenhänge und Bestimmungen aufgeschlossen werden können, und keine Allgemeinbegriffe, unter die die verschiedenen Praktiken, Arbeiten und Werke subsumiert werden können.

Die theoretisch anspruchsvollste Formulierung des Materialbegriffs findet sich bis heute bei Adorno, an den ich hier anschließen werde. Adorno hat seinen Begriff des Materials an der Musik entwickelt und auch nur dort wirklich ausgearbeitet. Er wurde in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten vor allem im Hinblick auf zwei Dinge kritisiert: zum einen weil er an einer scheinbar obsoleten Vorstellung von Fortschritt festhält, zum anderen weil ihm ein Medienpurismus unterstellt wurde, der ihn als Beschreibungsinstrument für die Verflechtungen und Überschreitungen der künstlerischen Gegenwart untauglich macht. Der erste Kritikpunkt ist beachtenswert und muss – neben einer genaueren Adornolektüre – zu einer größeren Flexibilisierung und Pluralisierung führen, ohne dass aber seine kritische Pointe fallengelassen werden sollte. Der zweite hingegen scheint mir auf einem Missverständnis zu beruhen, das Adornos Skepsis gegenüber solchen Überschreitungen mit der theoretischen Anlage des Begriffs selbst verwechselt. Der Materialbegriff, wie ich ihn hier rekonstruieren werde, ist ein Instrument, die Bezüge kritisch zu beleuchten, die künstlerische Arbeiten zu ihren Vorgängern unterhalten. Was als Vorgänger gilt, was für Traditionen in Anspruch genommen oder erst neu figuriert werden, muss vom jeweils Einzelnen aus beantwortet werden, so dass sich eher ein kompliziertes Feld von sich schneidenden, konvergierenden und divergierenden Bezugslinien ergibt als eine Reihe von einsträngigen Entwicklungen. Material in diesem Sinne ist ein der Kunst spezifischer Begriff, weil er keine äußerlichen Bezugnahmen beschreibt, sondern das, woraus künstlerische Arbeiten bestehen: Indem sie Formen, Verfahren, Praktiken und Materialien ihrer Vorgänger in sich aufnehmen und umarbeiten, verkörpern sie ihr eigenes Bezugsnetz.

Komplementiert werden muss dieser Begriff dafür durch den des Ortes, der als multidimensionale Bestimmung verstanden wird, die von der Situierung im Geflecht genealogischer Bezüge über reale physische Orte und Institutionen bis hin zu geographischen und geopolitischen Verortungen reicht. Wenn die viel kritisierte Vorstellung eines historischen Standes des künstlerischen Materials die Frage beantworten soll, was jeweils möglich ist, muss sie durch diejenige ergänzt werden, wo etwas möglich ist. Orte sind dabei relational und in ihrer gesellschaftlichen und kulturellen Bestimmtheit zu verstehen und insofern selbst Veränderungen und Verschiebungen unterworfen. Trotzdem führen sie eine Stabilität und ein Beharrungsvermögen ein, mit dem jede künstlerische Arbeit umgehen und die auch ihre theoretische Aufarbeitung berücksichtigen muss. Ihnen eignet eine bestimmte Gravitationskraft, die künstlerische Arbeiten ausrichtet, teilweise fixiert und damit überhaupt interpretierbar macht.

Bei Jacques Rancière findet sich eine gute Zusammenfassung der mehrdimensionalen Situierung künstlerischer Praxis:

„Es handelt sich nicht um die „Rezeption“ von Kunstwerken. Es handelt sich um das Gewebe sinnlicher Erfahrung, innerhalb dessen sie hergestellt werden. Es sind das ganz materielle Bedingungen – die Orte der Aufführung und der Ausstellung, Formen der Verbreitung und der Reproduktion –, aber auch Wahrnehmungsweisen und Empfindungsregime, Kategorien, die sie identifizieren, Denkschemata, die sie klassifizieren und interpretieren.“Footnote 12

Er trifft mit dieser Beschreibung sehr gut, was ich hier als Orte verstehen möchte, mit einer bedeutsamen Einschränkung: Es erscheint mir unplausibel, die „sinnliche Erfahrung“ als letzten Bezugspunkt zu wählen. Das gilt für beide Teile der Formulierung: Weder kann Sinnlichkeit als zentraler Schauplatz aller künstlerischen Arbeit heute verstanden werden, noch sollte Erfahrung auf diese Weise in den Mittelpunkt gestellt werden.Footnote 13 Der von der Produktion und der kritischen historischen Reflexion ausgehende Materialbegriff kann hier als Korrektiv dienen.

Es mag überraschen, dass der Begriff der Form nicht zum hier vorgeschlagenen Begriffsrepertoire gehört. Der Grund dafür ist nicht, dass ich eine Betrachtung der einzelnen künstlerischen Arbeit im Hinblick auf ihre Form für obsolet oder nicht produktiv halte; umgekehrt würde ich dafür plädieren, auch explizit politisch Stellung beziehende, partizipative und aktivistische Arbeiten auf ihre Form anzusehen. Nur ist die Perspektive der Form eine, die die einzelne Arbeit zuerst einmal individualisiert und ihre inneren Bezüge wenn überhaupt erst in zweiter Linie in den Blick bekommt.Footnote 14 Ein von Adorno übernommener und transformierter Begriff des Materials legt demgegenüber den Fokus auf die Weise, auf die sich die jeweiligen künstlerischen Formen aufeinander beziehen und ist so einer formalen Betrachtung gerade nicht entgegengesetzt, sondern richtet sie auf bestimmte Weise neu aus.

Insgesamt soll damit ein Blickwechsel vorgenommen werden, der weder die Betrachtung des Einzelnen noch die prekäre Intention aufs Ganze aufgibt, dieses aber eher von innen betrachtet, wohl wissend, dass der Blick auf dieses Ganze oder besser die Vorstellung des Ganzen selbst eine Fiktion ist – keine Illusion, sondern eine Konstruktion.Footnote 15 Hier hat die Philosophie keine prinzipiell privilegierte Position. Künstlerische Arbeit in und zwischen den verschiedenen Feldern bezieht sich synchron und diachron auf andere Arbeiten, schließt an sie an, transformiert sie, grenzt sich von ihnen ab etc. Bisweilen überquert sie Grenzen zwischen Disziplinen oder zwischen Kunst und Gesellschaft. Es mag aus philosophischer Perspektive ernüchternd erscheinen, dass, wie George Dickie festhält, hier „virtually no one is in need of a definition of ‚work of art‘“,Footnote 16 oder genauer: dass niemand eine Definition braucht, die von außen an die Praxis herangetragen wird. Bisweilen wird gesagt, dass Philosoph*innen einer solchen Definition bedürfen, um ihre Gegenstände korrekt identifizieren zu können – als fänden sie sich einem diffusen Feld gegenüber, in dem sie aus eigener Kraft Kunstwerke von anderen Gegenständen oder Vorgängen unterscheiden müssen. Die immer wieder erneuerten Definitionsversuche und zu einem gewissen Grad auch die Diskussion darüber, was die Kunst „ist“, was sie „kann“ etc. erscheinen mir wie ein Spiel, das nicht sonderlich produktiv ist und das ich hier nicht spielen werde.

Wenn die Frage der Grenzen der Kunst, ihres Grundverständnisses oder ihrer inneren Gliederung aufgeworfen wird, so geschieht dies immer wieder ganz real, durch konkrete Arbeiten: Was ist Kunst, wenn es In Advance of the Broken Arm und Untilled gibt? Was ist Musik, wenn es Music for a Solo Performer und The Total Mountain gibt? Was ist Tanz, wenn es Accumulation with Talking plus Water Motor und These Associations gibt? In Stanley Cavells Worten: „How can objects made this way elicit the experience I had thought confined to objects made so differently?“Footnote 17 Man kann durchaus sagen, dass dies philosophische Fragen sind, aber die Philosophen sind nicht die einzigen, die sie stellen und zu beantworten versuchen. Wenn sie sie verständlich machen können oder von ihnen aus selbst überzeugende (herausfordernde, neuordnende, produktive, überraschende, provozierende) neue Verständnisse vorschlagen, können sie einen substanziellen Beitrag zum Diskurs über Kunst liefern.

Man mag sich darüber streiten, ob die Aufgabe der Philosophie lediglich darin besteht, die Unterscheidungen des Feldes selbst zu sortieren und zu explizieren, oder ob sie sich kritisch dazu verhalten und selbst Position beziehen soll. Meinem Verständnis nach ist letzteres der Fall, aber auch dies sollte nicht von oben herab, sondern aus einem kritischen Nachvollzug der Bewegungen und Verschiebungen selbst geschehen. Unter diesen Bedingungen wird die Philosophin selbst zu einer Akteurin in diesem Feld, die vielleicht mit anderen Argumenten oder einem anderen Typ Begründung hantiert, aber kaum eine grundlegendere Wahrheit oder universale Geltung beanspruchen und auch nicht zu einer nicht mehr selbst situierten und perspektivischen Bestandsaufnahme künstlerischer Arbeit in ihrer Gesamtheit kommen kann.

Im Umgang mit künstlerischen Arbeiten unterschiedlicher Disziplinen kommt man überdies nicht umhin, sich mit den jeweiligen Diskursen auseinanderzusetzen und auf diese Weise mit den verschiedenen Weisen umzugehen, die jeweiligen Gegenstände zu beschreiben, zu kontextualisieren und historisch zu situieren. Die Interferenzen, von denen die Rede war, sind gleichermaßen künstlerisch und diskursiv. Shannon Jackson, die seit Jahren die Differenzen zwischen Performance, Theater und bildender Kunst bearbeitet, formuliert als theoretische Maxime: „To ‚resist singularity‘ in one’s scholarship, conception of theater, and conception of history means learning to value varieties of thinking that you do not share and (even more to the point) varieties of practice in which you do not excel.“Footnote 18 Die Aufgabe besteht darin, zwischen diesen Diskursen und Praktiken zu navigieren, ohne allgemeines Expertentum zu beanspruchen und ohne zu dilettieren. Das Nachleben der Künste verlangt einen differenzierten, vergleichenden Blick.

Konkreter Ausgangspunkt dieses Buches ist die Beobachtung, wie weit die künstlerischen Praktiken und Diskurse in Musik und bildender Kunst voneinander entfernt sind und wie wenig die Begriffe der Kunst und der Künste dazu beitragen, diese Differenz zu erhellen. Es stellt den Versuch dar, eine Situation, die von Übergängen und Grenzen, von Verfransungen und radikalen Heterogenitäten geprägt ist, mit einem anderen Repertoire an Begriffen in den Blick zu nehmen. Eine Theorie, die Situiertheit jeder künstlerischen und theoretischen Arbeit betont, kann ihre eigene Situiertheit nicht leugnen: Die genannte Beobachtung ging ursprünglich von der Musik aus. Aber sie wäre keine gute Theorie, wenn es ihr nicht gelänge, die Sache zumindest partiell von anderen Positionen anzusehen und so den eigenen Ausgangspunkt, die „Kunst“ der Musik, ebenso zu provinzialisieren wie die anderen „Künste“, mit denen sie sich beschäftigt (tatsächlich wird es nur am Rande um Musik gehen). Diese Künste werden anachronistisch und autoritär, wenn sie stur auf ihrem Eigenen, ihren Normen, Genealogien und Selbstbeschreibungen beharren. Insofern sie vielleicht an Substanzialität eingebüßt haben, aber doch nicht einfach verschwunden sind, muss die Auseinandersetzung mit ihrem Nachleben sie trotzdem als Situierungen zur Kenntnis nehmen, und zwar auch und gerade in der Differenz zueinander.

Die Forderung und Praxis der Dekolonisierung auch des Feldes der Künste taucht dabei an verschiedenen Stellen auf, bleibt aber weitgehend im Hintergrund. Das ist problematisch, hat aber mehr mit den Kompetenzen des Autors zu tun als mit einer bewussten Entscheidung. Allerdings könnte gerade eine Theorie, die auf Materiallinien und Orte setzt, einen geeigneten Rahmen für eine Erweiterung in diesem Sinne bilden, etwa wenn Rolando Vazquez schreibt, dass „decoloniality calls for an articulation of contextual histories“.Footnote 19 Dass es solcher „contextual histories“ bedarf, ist der entscheidende theoretische Punkt dieses Buches.

Das Buch gliedert sich in zwei Teile, von denen der erste der theoretischen Ausarbeitung gewidmet ist und der zweite einige Erprobungen des dort Ausgearbeiteten unternimmt. Die ersten beiden Kapitel wenden sich den titelgebenden Begriffen der Kunst und der Künste zu und begründen, warum beide für eine Beschreibung der Situation der Gegenwart nur bedingt geeignet sind. Es wäre vermessen, dabei den Anspruch zu erheben, die jeweiligen Debatten vollständig oder auch nur in ihren Grundzügen darstellen zu können. Stattdessen werde ich mich auf wenige exemplarische Positionen beschränken, die ich eher überzeugend finde, die aber trotzdem nicht das leisten können, um das es mir hier geht. Das erste Kapitel unterscheidet drei Varianten eines Kunstbegriffs im Singular: eine anthropologische, eine soziologische und eine aus der bildenden Kunst heraus argumentierende. Das zweite Kapitel problematisiert die Unterteilung des künstlerischen Feldes in Künste und argumentiert, dass der Begriff auch Theorien vor kaum lösbare Probleme stellt, die die historische Wandelbarkeit betonen und auf größtmögliche Flexibilität zielen. Das dritte Kapitel arbeitet den Materialbegriff ausgehend von Adorno aus und setzt ihn in ein Verhältnis zu denjenigen des Mediums und der Praxis. Das vierte Kapitel exponiert den Begriff des Ortes im skizzierten Sinne und konkretisiert ihn mit den Begriffen des Rahmens und der Institution.

Im zweiten Teil wendet sich Kapitel fünf der Institutionenkritik zu und stellt vergleichend drei Praktiken und Perspektiven nebeneinander: diejenigen von Daniel Buren, Helmut Lachenmann und Mierle Laderman Ukeles, die für ein formales, ästhetisches und infrastruktuerelles Verständnis der Institutionen stehen, in denen sie arbeiten. Kapitel sechs verfolgt die Einführung des score aus der Musik in verschiedene andere Kontexte und beschreibt die sehr verschiedenen Interpretationen und Herausforderungen, die sich damit jeweils verbanden. Kapitel sieben geht am Beispiel von Tanz im Museum dem Wechsel einzelner Künstler*innen oder ganzer Sparten in andere institutionelle Kontext nach. Kapitel acht stellt abschließend die Frage, ob es trotz allem so etwas wie generische oder universal zuständige Orte geben kann, und wendet sich einigen Beispielen zu: dem internationalen Netzwerk der Biennalen der bildenden Kunst, der kurzen Episode der Dercon-Intendanz an der Volksbühne Berlin und der Idee des Projektraums, die vor allem anhand der documenta fifteen erprobt wird. Besonders in diesen letzten Fällen lassen sich künstlerische nicht von (kultur)politischen und ökonomischen Fragen trennen.

Auch wenn die Betonung der hier vorgeschlagenen systematischen Perspektive auf einer Analyse der künstlerischen Gegenwart liegt, beschäftigen sich die ersten beiden Kapitel des zweiten Teils mit Positionen der 1960er-Jahre, über die bereits viel geschrieben worden ist. Der Grund dafür liegt darin, dass sie am Anfang einer Entwicklung stehen, der meines Erachtens anders als mit erweiterten Begriffen von Material und Ort nicht mehr wirklich gerecht zu werden ist und die sie paradigmatisch verkörpern. Daher ist ihre Analyse mit diesen Begriffen auch für die Gegenwart aufschlussreich. Die letzten beiden Kapitel nähern sich der zeitgenössischen Situation anhand von Positionen und Konstellationen, an denen sich die für diesen Ansatz zentralen Fragen von Übergang und Verallgemeinerung exemplarisch verhandeln lassen.

Alle diese Kapitel bieten eher mit den hier vorgeschlagenen Mitteln gewonnene Problembeschreibungen als Lösungen. Sie gehen nicht unbedingt von besonders gelungenen Beispielen aus, mit Interferenzen, Übergängen und Verallgemeinerungen umzugehen, sondern vielfach von Arbeiten, Bewegungen, Ereignissen und Veranstaltungen, an denen sich bestimmte Probleme besonders klar beobachten lassen. Das letzte Kapitel endet, wenn man so will, mit einem besonders gelungenen Scheitern, mit einer Leere: dem Kollektiv LE18 aus Marrakesch auf der documenta fifteen. Darauf folgt noch ein kurzer Epilog, so dass das Buch endet, so wie es begonnen hat: mit einer kleinen Skizze, diesmal von der Ausstellung von Pierre Huyghe 2014 im Museum Ludwig in Köln. Sie führt die Motive dieses Buches, vor allem Situierung und Zeitlichkeit, noch einmal auf eine Weise zusammen, die weder allgemein noch uneinholbar spezifisch ist, und in gewisser Weise komplementär ist zu Seidls eigentümlicher Oper.

Verschiedene Freund*innen und Kolleg*innen haben Passagen, Kapitel oder ganze Sektionen dieses Buches kritisch gelesen und/oder intensiv mit mir darüber diskutiert. Zu nennen sind hier Daniel Martin Feige, Pujan Karambeigi, Michael Lüthy, Christine Peters, Tilman Richter, Dirk Rustemeyer, Gerald Siegmund, Karen van den Berg und Jenny Perlin. Ihnen allen sei dafür herzlich gedankt, denn ohne sie hätte dieses Buch nicht geschrieben werden können – auch wenn sie immer noch mit manchem nicht einverstanden sein dürften, was es enthält.