2.1 Taphonomie

Bei den folgenden Bestimmungen wurden Knochen-, Geweih- und Zahnartefakte ohne Differenzierung insgesamt erfasst. Nagespuren von Kleintieren konnten an keinem der untersuchten Artefakte beobachtet werden und Wurzelfraß konnte nur vereinzelt an den Funden aus den Mineralbodensiedlungen entdeckt werden.

2.1.1 Materialbasis

Es wurden insgesamt fast 1000 Artefakte aus den sechs Siedlungen bearbeitet (Tab. 2.1 und 2.2). Zu den archäologischen Artefakten zählen anthropogen veränderte Knochen, Geweih und Zahn, die nicht auf die üblichen Spuren von Speiseabfällen zurückzuführen sind. Ein Großteil der archäologischen Artefakte, nämlich 67 %, kann einer bestimmten Aktionsgruppe oder einem Typ zugeordnet werden. Nur rund 30 % können nicht näher bestimmt werden und knapp 4 % zählen zum sogenannten Herstellungsabfall. Dieser ist im Vergleich zur hohen Gesamtzahl an archäologischen Artefakten recht gering, allerdings besteht hier die Schwierigkeit der Unterscheidung von Schlachtabfällen. Zu unterscheiden sind diese beiden nur anhand von Sägerillen beim Herstellungsabfall von Werkzeugen.

Tab. 2.1 Verteilung der Knochen-, Geweih- und Zahnartefakte pro Siedlung
Tab. 2.2 Prozentuale Anteile der archäologischen Knochenartefakte in den einzelnen Siedlungen unterteilt nach Werkzeug, Herstellung und unbestimmt

2.1.2 Konservierung der Knochen-, Geweih- und Zahnartefakte

Die Knochen-, Geweih- und Zahnartefakte müssen oft konserviert werden, wenn sie aus einem feuchten Milieu stammen. Archäologische Artefakte aus Mineralböden sind dagegen meistens bereits so stark mineralisiert, dass eine Konservierung nicht mehr notwendig ist.

Die Konservierung bei Feuchtbodenfunden ist für die Analyse der Gebrauchsspuren zum Teil problematisch. Noch in den 1980er und 1990er Jahren wurden Knochen-, Geweih- und Zahnartefakte mit wasserlöslichem Leim stabilisiert. Dafür wurde der Leim mit Wasser vermischt und die Artefakte wurden mehrere Wochen darin eingelegt. Mittlerweile weiß man, dass der Leim nicht in den Knochen eindringt, sondern nur als dünne Schicht die Oberfläche überzieht. Damit ist die Gefahr sehr groß, dass die Gebrauchsspuren in ihrer Ausprägung verändert werden. Nur durch den Vergleich mit unbehandelten archäologischen Artefakten kann die Veränderung bearbeitet werden. Es hat sich gezeigt, dass keine generelle Aussage zur Bestimmbarkeit der Gebrauchsspuren an den archäologischen Artefakten gemacht werden kann, die mit Leim konserviert wurden. Vielmehr ist die Bestimmbarkeit abhängig von der Leimschicht und der Sichtbarkeit der darunter liegenden Gebrauchsspuren. Deshalb muss immer von Fall zu Fall entschieden werden, ob der Leim die Gebrauchsspurenanalyse beeinträchtigt oder nicht. In den meisten Fällen konnten die Spuren ohne größere Probleme bestimmt werden.

Mittlerweile sind die Konservierungsmethoden weiter vorangeschritten, so dass die Oberfläche nicht mehr oder nur leicht überprägt wird. Sehr gut erhaltene archäologische Artefakte werden lediglich langsam an der Luft getrocknet. Bei schlechterer Erhaltung werden sie mit eine Polyethylenglykol-Lösung getränkt, die bei geübtem Einsatz keine sichtbaren Spuren an der Oberfläche hinterlässt.

Nur ein geringer Anteil der bearbeiteten archäologischen Artefakte wurde mit Leim konserviert. Deshalb wurde die Analyse der Gebrauchsspuren davon nicht beeinträchtigt.

2.1.3 Verwitterung und rezente Veränderungen

Zu den modernen Veränderungen gehören natürliche und anthropogene Einflüsse. Zu den natürlichen Einflüssen zählt in welchem Boden und in welchem Milieu die Funde lagerten und wie stark die klimatischen Einflüsse waren. Anthropogene Einflüsse, also Bearbeitung oder sonstige Verwendung durch den Menschen, sind meist an Schnittspuren oder Schleifspuren erkennbar.

Bei den untersuchten Artefakten handelt es sich um Feuchtboden- und Mineralbodenfunde mit unterschiedlichen Erhaltungsbedingungen. Durch Verwitterung finden verschiedene strukturverändernde Vorgänge statt (z. B. Rissbildung, Verrundung der Oberfläche, Absplitterung der Knochenoberfläche). Anna K. Behrensmayer unterteilt die Verwitterungsprozesse in sechs StadienFootnote 1. Bei den Funden aus den bearbeiteten Fundkomplexen sind nur die folgenden drei Stadien relevant:

Gut erhalten (1): Es sind keine Weichteile mehr am Knochen sichtbar; die Knochenoberfläche ist noch intakt; die Bruchkanten sind scharf.

Schwach korrodiert (2): Die Knochenoberfläche ist leicht beschädigt; es sind Risse sichtbar; die Bruchstellen sind leicht verrundet.

stark korrodiert (3): Die Knochenoberfläche ist stark beschädigt (Exfoliation ist erkennbar); die Bruchkanten sind stark verrundet.

Vor allem die Funde aus den Feuchtbodensiedlungen sind in erheblichem Umfang klimatischen und modernen anthropogenen Einflüssen unterworfen. Den starken Einfluss der neuzeitlichen Schifffahrt auf die Feuchtbodensiedlungen im Uferbereich von größeren Seen, kann man an den Funden aus Sipplingen-Osthafen und deren streckenweise schlechten Erhaltung erkennen. Auffällig ist, dass nicht nur die Funde der oberen Siedlungsschichten größtenteils eine schlechtere Erhaltung aufweisen, sondern dass es auch einzelne Grabungsschnitte gibt, in denen die Funde insgesamt schlechter erhalten sind. In diesen Bereichen ist der Boden durch die Schifffahrt auf dem Bodensee zum Teil bereits aberodiert. Auch die Knochen-, Geweih- und Zahnartefakte aus den Moorsiedlungen leiden häufig unter modernen anthropogenen Einflüssen, wie der Entwässerung der Moore und dem daraus resultierenden extremen Niedrigstand in heißen Sommern. Dadurch schwankt der Wasserpegel oftmals so stark, dass die obersten Fundschichten im Sommer trockenfallen. Der ständige Wechsel zwischen trocken und nass führt zu einer schnelleren Zersetzung der Funde. Zudem beeinflussen die lange Lagerzeit im Archiv, die Konservierung sowie der Transport den Erhaltungszustand der Funde. Es ist deshalb nicht auszuschließen, dass sich der Erhaltungszustand neben Beschädigungen bei der Bergung qualitativ verändert hat. Der Erhaltungszustand wurde nach Anna K. Behrensmayer bestimmtFootnote 2. Nur 13 % sind stark oder sehr stark korrodiert, mit über 50 % ist der Rest gut erhalten bis schwach korrodiert (Tab. 2.3). Der Erhaltungszustand wirkt sich auch auf die Bestimmbarkeit der Artefakte aus (siehe Abschn. 4.1.1).

Tab. 2.3 Gesamter Erhaltungszustand der Knochen-, Geweih- und Zahnartefakte

2.1.4 Natürliche Einflüsse

An natürlichen Einflüssen konnten vor allem Bissspuren an den Artefakten festgestellt werden. Allerdings sind nur weniger als 5 % der Artefakte durch Carnivoren verbissen worden (Tab. 2.4). Die Untersuchung, ob der Verbiss vor der Herstellung oder nach der Benutzung des Werkzeuges stattfand, ergab, dass beide Varianten gleich oft vorkommen. Dies bedeutet, dass wahrscheinlich auch Bruchstücke, die durch Carnivorenverbiss entstanden sind, zu Werkzeugen weiterverarbeitet wurden. Im Umkehrschluss bedeutet der Verbiss nach der Verwendung der Werkzeuge aber auch, dass diese immer noch für Carnivoren interessant waren. Das setzt voraus, dass sie noch nach Knochen gerochen haben, was nur der Fall ist, wenn sie nicht oder nur leicht ausgekocht wurdenFootnote 3.

Tab. 2.4 Prozentuale Anzahl der Verbissspuren an den Knochen-, Geweih- und Zahnartefakten in den einzelnen Siedlungen

2.1.5 Anthropogene Aktivitäten

2.1.5.1 Enthäuten-Zerlegen-Entfleischen

Schnittspuren an den Artefakten finden sich hauptsächlich im Bereich der Diaphyse oder des Schaftes. Damit entsprechen sie teilweise nicht den Schnittspuren, die von Angela von den Driesch und Joachim Boessneck als typische Entfleischungsspuren am Gelenkansatz erachtet werdenFootnote 4. Die Spuren am Schaft lassen dagegen eher vermuten, dass sie hauptsächlich durch das Entfernen des Periosts verursacht wurden. Zum reinen Fleischgewinn müsste dieses nicht entfernt werden. Ansonsten finden sich vor allem am Herstellungsabfall noch Hiebspuren oder Sägerillen, die für die Zerlegung des Knochens essentiell sind.

2.1.5.2 Thermische Veränderungen

Lediglich 13 % aller Knochen-, Geweih- und Zahnartefakte weisen Brandspuren auf (Tab. 2.5). Dabei finden sich alle Verbrennungsgrade, die nach Joachim Wahl bestimmt wurdenFootnote 5. In den meisten Fällen handelt es sich um die niedrigen Verbrennungsgrade, bei denen sich das Artefakt noch nicht weiß verfärbt. Erstaunlich ist, dass es kaum vollständig verkohlte oder kalzinierte archäologische Artefakte gibt, die als Werkzeug noch zu gebrauchen gewesen wären. Bei den meisten bereits weiß verbrannten archäologischen Artefakten handelt es sich um kleinere Bruchstücke. Dies deutet darauf hin, dass Knochenwerkzeuge nach einem irreparablen Bruch zum Teil im Feuer entsorgt wurden.

Tab. 2.5 Prozentuale Anzahl der Brandspuren an den Knochen-, Geweih- und Zahnartefakten in den einzelnen Siedlungen

2.1.6 Auswahl des Rohmaterials innerhalb der Siedlungen

Für die Herstellung von Knochenwerkzeugen wurden sowohl die Tierart als auch das Skelettteil sehr genau und auch sehr bewusst ausgewählt. Dies zeigt sich vor allem durch die homogene Verteilung in allen bearbeiteten Fundstellen. Ein Vergleich mit den Speiseabfällen würde dies noch unterstreichen, ist aber im Falle der bearbeiteten Fundstellen nur für Reute-Schorrenried möglich, da die Speiseabfälle aus den anderen Siedlungen entweder noch nicht ausgewertet sind (Stuttgart-Stammheim, Stuttgart-Hofen, Olzreute-Enzisholz, Bad Buchau-Bachwiesen I) oder bislang nur unzureichend publiziert wurden (Sipplingen-Osthafen). Im Allgemeinen wurden Knochenwerkzeuge hauptsächlich aus Röhrenknochen von großen (67 %) oder kleinen Haus- oder Wildwiederkäuern (15 %) hergestellt, wobei Metapodien meist dominieren. Plattenknochen wurden seltener zur Werkzeugherstellung genutzt, wenn dann wurden hauptsächlich Rippen verwendet. Haus- oder Wildschweinknochen wurden noch seltener verarbeitet (9 %) als Knochen von kleinen Haus- oder Wildwiederkäuern (Tab. 2.6 und 2.7).

Tab. 2.6 Verteilung der Artefakte aller Fundplätze nach Tierart
Tab. 2.7 Verteilung der Knochenartefakte aller Fundplätze nach Skelettteil
Tab. 2.8 Verhältnis von Wildtierknochen zu Haustierknochen innerhalb der einzelnen Siedlungen
Tab. 2.9 Vorkommen aller Tierarten und Skelettteile aufgeschlüsselt nach den einzelnen Siedlungen

Betrachtet man die Auswahl, der für Werkzeuge verwendeten Tierarten und Skelettteile, dominieren eindeutig die Röhrenknochen von großen Haus- oder Wildwiederkäuern – mit einem sehr großen Anteil an Rothirsch bei der Tierart und Metapodien beim Skelettteil (Tab. 2.8 und 2.9). Selbst wenn die Anzahl an Geweihartefakten nicht berücksichtigt wird, dominiert der Rothirsch immer noch. Kleine Haus- oder Wildwiederkäuer sind ebenfalls vertreten, wenn auch wesentlich schwächer. Hier dominiert das Wildtier (Reh). Aber auch Plattenknochen, hauptsächlich Rippen, spielen eine nicht zu unterschätzende Rolle. Ebenfalls verwendet wurden Zähne, meist Eckzähne, von Haus- oder Wildschweinen sowie Hund und Braunbär. Augenscheinlich eigneten sich schon damals eher Knochen von Wildtieren zur Herstellung von Werkzeugen als solche von Haustieren. Heute gilt Ähnliches für die Anfertigung von Repliken, denn selbst Knochen von Wildtieren, die im Gehege leben, haben an Stabilität und Elastizität verloren.

Der Blick auf die vorkommenden Tierarten und verwendeten Skelettteile in den einzelnen Siedlungen bestätigt größtenteils die allgemeine Tendenz (Tab. 2.10, 2.11, 2.12, 2.13, 2.14, 2.15, 2.16, 2.17, 2.18, 2.19, 2.20, 2.21, 2.22). Es wurden meist Knochen von großen Haus- oder Wildwiederkäuern genutzt. Bei den eindeutig bestimmten dominiert der Rothirsch. Zu Werkzeugen verarbeitet wurden hauptsächlich Röhrenknochen, vornehmlich Metapodien. Häufig wurden auch Rippen verwertet. Allerdings gibt es durchaus Siedlungen, in denen ein anderes Tierart-Skelettteil-Verhältnis zu beobachten ist. So dominieren in manchen Siedlungen die Werkzeuge, die aus Rippen hergestellt wurden. Dazu gehören Sipplingen-Osthafen H, J + K, Sipplingen-Osthafen M und Sipplingen-Osthafen Na-Nb2 (Tab. 2.17, 2.19, 2.20). Auch hinsichtlich der verwendeten Tierart gibt es durchaus Siedlungen, in denen nicht primär Knochen von großen Haus- oder Wildwiederkäuern oder Wildtieren herangezogen wurden. In Stuttgart-Stammheim wurden viele der Werkzeuge aus Röhrenknochen von kleinen Haus- oder Wildwiederkäuern hergestellt. Auch in Reute-Schorrenried ist die Zusammensetzung der verwendeten Tierarten etwas anders als bei den anderen Siedlungen (Tab. 2.13). Zwar dominiert auch hier der Rothirsch als Rohmateriallieferant, allerdings wurden auch viele Werkzeuge aus Knochen von Hausrindern gefertigt. Darüber hinaus handelt es sich bei Reute-Schorrenried um den einzigen Fundplatz, an dem sich bisher Knochenartefakte aus Pferdeknochen fanden. Pferdeknochen tauchen nicht sehr häufig im Spektrum der Speiseabfälle auf. Die Jagd auf Pferde und die Verwendung von Pferdeknochen hat eine starke zeitliche Abhängigkeit, die wahrscheinlich auf nahrungsökologische Veränderungen bei den Pferden zurückzuführen istFootnote 6.

Tab. 2.10 Verteilung von Tierart und Skelettteil in Sipplingen-Osthafen A
Tab. 2.11 Verteilung von Tierart und Skelettteil in Bad Buchau-Bachwiesen I
Tab. 2.12 Verteilung von Tierart und Skelettteil in Sipplingen-Osthafen B
Tab. 2.13 Verteilung von Tierart und Skelettteil in Reute-Schorrenried
Tab. 2.14 Verteilung von Tierart und Skelettteil in Sipplingen-Osthafen C
Tab. 2.15 Verteilung von Tierart und Skelettteil in Sipplingen-Osthafen D
Tab. 2.16 Verteilung von Tierart und Skelettteil in Sipplingen-Osthafen G
Tab. 2.17 Verteilung von Tierart und Skelettteil in Sipplingen-Osthafen H, J-K
Tab. 2.18 Verteilung von Tierart und Skelettteil in Sipplingen-Osthafen M
Tab. 2.19 Verteilung von Tierart und Skelettteil in Stuttgart-Stammheim
Tab. 2.20 Verteilung von Tierart und Skelettteil in Stuttgart-Hofen
Tab. 2.21 Verteilung von Tierart und Skelettteil in Sipplingen-Osthafen Na-Nb2
Tab. 2.22 Verteilung von Tierart und Skelettteil in Olzreute-Enzisholz

Ob für die Werkzeugherstellung eher Haus- oder Wildtierknochen verwendet wurden, ist im Falle der bearbeiteten Siedlungen sehr schwer zu beurteilen, da der Anteil der nicht näher in Haus- oder Wildtier unterscheidbaren Knochen nur im Falle von Stuttgart-Hofen unter 50 % liegt (Tab. 2.8). Ansonsten fällt die Häufigkeitsverteilung von Haus- zu Wildtier bei den Knochen- und Zahnartefakten meist zugunsten der Wildtiere aus. Das bedeutet, dass mehr Rothirschknochen verwendet wurden als Rinderknochen. Dies wird vor allem bei den Metapodien deutlich, denn hier stammen 3/4 vom Rothirsch. Interessant ist, dass für die Werkzeugherstellung vor allem Knochen von Wildtieren verwendet wurden, obwohl es sich bei den Siedlungen in der Regel um bäuerliche Gesellschaften handelt, bei denen allein schon durch die Haustierhaltung regelmäßig deren Knochen anfallen. Betrachtet man das Verhältnis in anderen Siedlungen, wird das Bild im Falle von Arbon Bleiche 3 bestätigtFootnote 7. Nicht so dagegen in Twann. Hier wurden Wild- und Haustiere gleich häufig genutzt oder es wurden sogar mehr Haustiere als Wildtiere für die Werkzeugherstellung verwendet. Nach Jörg Schiblers Ergebnissen dominieren Wildtierknochen nur da, wo diese anatomischen Vorteile, wie die dorsale Längsrinne im Metapodium, gegenüber den Haustierknochen habenFootnote 8.

Wie sich das Tierart- und Skelettteilspektrum der archäologischen Artefakte im Vergleich zu den Speiseabfällen verhält, kann nur an einer Siedlung, nämlich Reute-Schorrenried, gezeigt werden. Der Anteil der archäologischen Artefakte am Tierknochenmaterial beträgt in Reute-Schorrenried lediglich 3 %. Für die Herstellung der archäologischen Artefakte wurden überwiegend Röhrenknochen von großen und kleinen Wild- oder Hauswiederkäuern, Wild- oder Hausschweinen sowie Unpaarhufern verwendet (Tab. 2.12). Plattenknochen wurden nur vereinzelt herangezogen. Unter den archäologischen Artefakten fanden sich keine Werkzeuge, die aus Knochen von Tierarten hergestellt wurden, die kleiner sind als „Schaf/Ziege“.

2.2 Typologie

Insgesamt wurden fast 1000 Knochen-, Geweih- und Zahnartefakte aus sechs verschiedenen Fundorten identifiziert und aufgearbeitet. Das Verhältnis von Geweihartefakten zu Knochen- und Zahnartefakten beträgt 30 % zu 70 % und liegt somit im Rahmen der üblichen Verteilung während des Jung- und Endneolithikums. Im Vergleich zu anderen Fundstellen, wie Arbon Bleiche 3Footnote 9 und den Stationen am unteren ZürichseeFootnote 10, wurde Geweih über den gesamten Zeitraum seltener verwendet. Der Anteil der Geweihartefakte im Fundmaterial der einzelnen Siedlungen beträgt immer weniger als 50 % (Abb. 2.1). Durch den geringeren Gesamtanteil ist auch die Zunahme von Geweih ab dem 32. Jh. v. Chr. nicht so stark ausgeprägt, wie bei den Schweizer SeeufersiedlungenFootnote 11. Auch wenn die Zunahme an Geweihstücken deutlich geringer ausfällt, kann trotzdem ein Zusammenhang mit der zunehmenden Bedeutung von Zwischenfuttern gesehen werden. Denn in diesen Siedlungen stellen Zwischenfutter den Hauptteil des Geweihinventars. Dies trifft vor allem auch für die Siedlung Olzreute-Enzisholz zu. Dort zeigt sich vorzugsweise im Schmuckinventar und in weiteren Geweihartefakten (Einfaches Spangerät) aufgrund ähnlicher Funde ein Einfluss durch die Schnurkeramische KulturFootnote 12.

Abb. 2.1
figure 1

Verhältnis von Knochen-, Zahn- und Geweihartefakten in den einzelnen Siedlungen und die Anzahl der für Artefakte verwendeten Hirschknochen

Ob der geringe Anteil der Geweihartefakte im Gegensatz zu den Knochen- und Zahnartefakten zwischen dem 39. Jh. v. Chr. und dem 37. Jh. v. Chr. oder auch in der Siedlung des jüngeren Horgen in Sipplingen-Osthafen mit einer vorangegangenen Klimadepression zusammenhängt, wie sie für den unteren Zürichsee festgestellt werden konnteFootnote 13, kann leider nicht untersucht werden, da die entsprechenden Daten noch nicht publiziert sind. Weil nur ein sehr geringer Anteil der Geweihartefakte sicher als Abwurfstange oder als schädelechtes Geweih bestimmt werden kannFootnote 14, können diese auch nicht zur Untersuchung von Notsituationen, wie sie durch schlechte Ernten u.ä. hervorgerufen werden, herangezogen werden.

Für die Verarbeitung ist vor allem die Stärke der Kompakta von Bedeutung. Bei den allermeisten Geweihartefakten handelt es sich um Stücke von kapitalen Hirschen, die für einen normalen Hirschbestand sprechen. Somit deutet sich an, dass in Sipplingen-Osthafen ähnlich wie in Arbon Bleiche 3 das Rohmaterial Geweih in ausreichender Menge und mit einer befriedigenden Güte vorhanden warFootnote 15.

2.2.1 Knochenartefakte

Da im Verlaufe dieser Arbeit die archäologischen Knochenartefakte nach neuen Kriterien eingeordnet werden sollen, wird hier lediglich eine kurze Übersicht der nach Schibler bestimmten Typen gegeben. Eine genaue Beschreibung der jeweiligen Typen finden sich bei Schibler 1980, Schibler 1981 und Schibler 1997. Es wird hier auf einen kulturellen Vergleich der Zusammensetzung der Knochenartefakte verzichtet, da diese, wie später noch zu zeigen sein wird, nicht von der kulturellen Zugehörigkeit abhängig ist und siedlungsspezifisch betrachtet werden muss. Nur Knöpfe und andere Schmuckgegenstände werden in im folgenden auch kulturspezifisch aufgearbeitet.

Insgesamt konnten 58 % der archäologischen Knochenartefakte einem Typ zugeordnet werden. So kommen in allen bearbeiteten Fundorten 30 verschiedene Typen vor (Tab. 2.23). In einzelnen Siedlungen beträgt der Anteil der archäologischen Knochenartefakte, die nur dem Typ Artefakt mit Gebrauchsspuren zugewiesen werden konnten, oft mehr als 50 %. Dies trifft auf die Siedlungen Sipplingen-Osthafen A, B, C, D und Olzreute-Enzisholz zu. Bei diesen Siedlungen kann auch keine dominante Gruppe festgestellt werden. Deshalb wird im Folgenden lediglich der prozentuale Anteil von Spitzen, Beilen und MeißelnFootnote 16 sowie sonstiger Typen betrachtet (Tab. 2.24). Allgemein spielen die sonstigen Typen, wie Messer, Spatel usw. eher eine untergeordnete Rolle im bearbeiteten Fundmaterial. Insgesamt betrachtet dominieren Spitzen ohne Gelenkende, große Spitzen mit Gelenkende, Beile und massive Meißel. In Sipplingen-Osthafen A besteht ein Verhältnis von 1:3 zwischen Spitzen und Geräten mit querstehender Arbeitskante. Dagegen beträgt in Bad Buchau-Bachwiesen I und in Sipplingen-Osthafen B das Verhältnis 4:1 bzw. 3:1 zugunsten der Spitzen. In Bad Buchau-Bachwiesen I dominieren zudem die Spitzen ohne Gelenkende.

In Reute-Schorrenried treten wesentlich mehr Knochenartefakte mit querstehender Arbeitskante auf als Spitzen oder sonstige Artefakte. Zudem konnten hier nur 17 % der archäologischen Knochenartefakte keinem Typ zugeordnet werden. Spitzen ohne Gelenkende, massive Meißel, Ulna-Meißel, Röhrenmeißel und Messer zählen hier zu den dominierenden Typen in der Siedlung.

In Sipplingen-Osthafen C kommen mit 74 % deutlich mehr Beile und Meißel als Spitzen vor. Der Anteil der nicht weiter bestimmbaren Artefakte mit Gebrauchsspuren ist aber mit 80 % sehr hoch. In Sipplingen-Osthafen D dagegen ist das Verhältnis von Spitzen und Beilen/Meißeln mit 54 % und 42 % fast gleich, wobei sonstige Artefakte nicht vorkommen. Aber auch hier beträgt der Anteil der Artefakte mit Gebrauchsspuren über 50 %. Das Verhältnis von Spitzen und Beilen/Meißeln in Sipplingen-Osthafen G fällt zugunsten der Beile/Meißel aus. Sonstige Typen kommen nicht vor. Bei den Spitzen dominieren Rippenspitzen und bei den Beilen/Meißeln sind es die massiven Meißel, die am häufigsten auftreten. In Stuttgart-Stammheim und in Stuttgart-Hofen überwiegen Beile/Meißel. Die Dominanz ist in Stuttgart-Stammheim mit über 90 % deutlicher als in Stuttgart-Hofen mit 64 %. Dafür kann in Stuttgart-Stammheim kein dominierender Typ unter den Beilen/Meißeln festgestellt werden. In Stuttgart-Hofen dagegen dominieren die massiven Meißel.

Sonstige Typen kommen mit 13 % in Sipplingen-Osthafen M im Vergleich zu den anderen Siedlungen am häufigsten vor. Dies geht vor allem auf die hohe Anzahl der Messer zurück. Ansonsten dominieren Spitzen, jedoch sticht kein Typ aufgrund einer höheren Anzahl heraus. In Sipplingen-Osthafen Na-Nb2 und Olzreute-Enzisholz kommen Spitzen und Beilen/Meißeln fast gleich häufig vor. Sonstige Typen konnten nur in Olzreute-Enzisholz bestimmt werden. Bei den Spitzen dominieren bei beiden Spitzen ohne Gelenkende und Rippenspitzen.

Betrachtet man die Häufigkeit von Spitzen, Beile/Meißel und sonstige Typen bei allen Siedlungen, fällt auf, dass das Verhältnis ständig wechselt (Tab. 2.24). Selbst in den Siedlungen wie Stuttgart-Stammheim, Stuttgart-Hofen und Olzreute-Enzisholz, die der Goldberg III-Gruppe zugerechnet werden, gibt es keine einheitliche Tendenz beim Vorkommen der übergeordneten Typen. Im Umkehrschluss könnte dies bedeuten, dass die Zusammensetzung der verschiedenen Werkzeugtypen weniger von der kulturellen Zugehörigkeit abhängig ist, sondern sich vielmehr nach den Bedürfnissen jeder einzelnen Siedlung oder auch jeden einzelnen Haushalt in einer Siedlung richtet.

Tab. 2.23 Übersichtstabelle zu den im bearbeiteten Material vorkommenden bestimmten Typen
Tab. 2.24 Prozentualer Anteil der Artefakte mit spitz zulaufendem, quer verlaufendem und sonstigem Arbeitsbereich innerhalb der einzelnen Siedlungen

2.2.1.1 Knöpfe und anderer Schmuck

Bei den Ausgrabungen 2016 in Olzreute-Enzisholz wurden mehrere Artefakte ausgegraben, die ganz klar als Schmuck- oder Trachtbestandteile angesprochen werden können. Dabei handelt es sich um zwei Knöpfe und um ein Artefakt, das als Imitation einer Scheibennadel bezeichnet werden kann.

Die Imitation der Scheibennadel wurde aus einem Plattenknochen eines großen Haus- oder Wildwiederkäuers gefertigt. Sie besitzt wie die bronzenen oder kupfernen Nadeln eine annähernd runde Scheibe am oberen Ende. Diese Artefakte werden häufig auch als Fellschaber angesprochenFootnote 17. Bei den meisten ist die Scheibe im oberen Bereich ausgebrochen, so auch beim Artefakt aus Olzreute-Enzisholz. Allerdings sind kleine Bereiche der Basis erhalten. Da diese plan geschliffenen wurde zeigt sich, dass es sich hierbei nicht um einen Arbeitsbereich handelt. Die noch zu findenden Gebrauchsspuren geben keinen Hinweis auf die mögliche Nutzung. Da keine Experimente zur Nutzung von Nadeln an Kleidung durchgeführt wurden, kann nicht ausgeschlossen werden, dass es sich bei diesem Artefakt wirklich um eine Imitation einer metallenen Scheibennadel handelt. Die häufig als Fellschaber bezeichneten ähnlichen Artefakte datieren meist in die Horgener KulturFootnote 18.

Die beiden Knöpfe bestehen aus unterschiedlichen Materialien und weisen zudem unterschiedliche Formen auf. Der eine Knopf wurde aus einem durchbohrten Plattenknochen hergestellt, während der andere aus Geweih mit einer Öse gefertigt wurde. Der knöcherne Knopf ist nur zur Hälfte erhalten; ob der Knopf eine doppelte Durchlochung besaß, wie sie die meisten Knöpfe habenFootnote 19, kann nicht mehr gesagt werden. Das erhaltene Loch weist zudem kaum Abnutzungsspuren auf, weshalb davon ausgegangen werden kann, dass der Knopf nicht sehr lange getragen wurde und vermutlich aufgrund seiner geringen Dicke (ca. 2 mm) gebrochen ist. Zudem sind auf der Oberfläche des Knochens, die keinerlei Verzierung aufweist, noch die Schleifspuren von der Herstellung zu erkennen. Die Knochenknöpfe sind häufig mit strahlenförmig angeordneten Punktreihen verziert, die einfach oder doppelt angelegt sein könnenFootnote 20. Sämtliche bekannten Knöpfe stammen aus schnurkeramischen Siedlungen. Außerhalb der Feuchtbodensiedlungen finden sich solche Knöpfe vor allem als GrabbeigabenFootnote 21. Olzreute-Enzisholz datiert zwar in das ausgehende Jungneolithikum, allerdings endet die Belegzeit des Siedlungsplatzes aufgrund von Dendrodaten um 2800 v. Chr. Die ersten Schnurkeramiker treten in Mitteleuropa um 2600 v. Chr. auf. Wie diese Diskrepanz zu deuten ist, muss bei der Aufarbeitung der restlichen Funde und der Befunde aus der Siedlung diskutiert werden.

Knöpfe mit Öse lassen sich nur aus Geweih herstellen. Die Oberfläche des Knopfes ist komplett poliert, so dass keinerlei Herstellungsspuren mehr zu erkennen sind. Bisher konnte diese Knopfart nur in der Schweiz nachgewiesen werdenFootnote 22. Sie stammt meist auch aus schnurkeramischen Gräbern.

Die Knöpfe werden häufig mit dem Aufkommen der Wollverarbeitung korreliert. Beispielsweise finden sich V-förmige Knöpfe auf dem Balkan bereits ab ca. 3700 v. Chr. und auf Malta ab ca. 3300 v. Chr.Footnote 23. Für eine frühe Wollverarbeitung könnte indirekt auch der hohe Anteil an Knochen von kleinen Wiederkäuern sowie Schaf- und Ziegenköttel aus der Siedlung Olzreute-Enzisholz sprechen.